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"In den Spiegeln" ist eine ironische, unterhaltsame und zugleich mysteriöse Geschichte über die Erlebnisse des jungen Jan-Marek Kámen. Der Sohn böhmischer Einwanderer lebt arbeitslos und zumeist bekifft in einer kleinen schäbigen Wohnungen in München. Er wird von obskuren Alpträumen geplagt und sein einziger Besitz ist eine umfangreiche Comicsammlung. Als er in ein Mietshaus im Westend umzieht, lernt er Manzio kennen, den anderen schrägen Charakter im Haus. Die beiden freunden sich schnell an, denn sie verbindet nicht nur die Passion für Cannabis sondern auch ein zynischer, abweisender Blick auf ihre Väter und die Welt, in die sie sich unfreiwillig geworfen fühlen. Mit der Zeit erwecken der seltsame Hausmeister und seine chinesische Ehefrau das Interesse der beiden jungen Männer. Durch sie entdecken die beiden Freunde im Keller des Mietshauses ein unbegreifliches Geheimnis.
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Seitenzahl: 176
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Aleš Pickar
In den Spiegeln
Teil 1
Das Haus der Kraniche
Aleš Pickar
In den Spiegeln
Teil 1 Das Haus der Kraniche
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© Ales Pickar 2003
Lektorat: Annika Ernst
Titelillustration:"le couloir 1"von Lagambet @ fotolia
Layout & Umschlaggestaltung: Anna macht Urlaub (www.annamachturlaub.de)
Hauptquartier: angelodaemonia.net
ISBN 978-3-9815154-0-4
Widmung
Für Ute Mörbitz, die es in unvergesslicher Weise versteht,
Danksagung
Ein besonderer Dank richtet sich an die
Wichtigsten Helfer dieses Unterfangens:
Daniel Kopper, Bernd Dost, Hanspeter Ludwig,
Vorwort
Das vorliegende Buch basiert auf den Aufzeichnungen von Jan-Marek Kámen. Es handelt sich hierbei um ein Manuskript, das er 2005 angeblich in einer psychiatrischen Anstalt schrieb. Auf dem Boden der Schuhschachtel, in der ich den zerknitterten und recht verschmutzten Papierstapel gefunden hatte, lagen auch einige ausgeschnittene Zeitungsartikel, tagebuchartige Vermerke und sogar kurze Sätze, die eilig an den Rand von Caféhaus-Quittungen gekritzelt worden waren. Nach der Überarbeitung des oft unübersichtlichen Haupttextes, fügte ich nach eigenem Ermessen einige dieser Bruchstücke an Stellen ein, die sich hierfür anboten.
Eine handgeschriebene Notiz mit der Überschrift »Spiegel sind Türen« scheint aus der Gesamtheit der mir vorliegenden Texte das jüngste Fragment zu sein, weshalb ich es an den Anfang setzte, als Prolog.
Der Wahrheitsgehalt dieses Textes ist umstritten. Das zeitgleiche Auftreten der neuen und unbekannten Störung »Holophrenie« in der psychiatrischen Fachpresse des frühen 21. Jahrhunderts bestätigte auf eine befremdliche Weise Aussagen, die ich in Kámens Manuskript fand, doch erhärtete zugleich die Möglichkeit, dass sich die vorliegenden Berichte aus akuten Wahnvorstellungen zusammensetzen.
»NICHTGEBORENSEIN
SCHEINTMIRDASHÖCHSTE...«
—Sophokles:Ödipus auf Kolonos
gedichtet von Friedrich Hölderlin
»INGIRUMIMUSNOCTEETCONSUMIMURIGNI.«
»WIRIRRENDESNACHTSIMKREISUMHER
UNDWERDENVOMFEUERVERSCHLUNGEN.«
—Lateinisches Palindrom
»ICHHABEGUTUNDBÖSEGEKANNT,
SÜNDEUNDTUGEND, RECHTUNDUNRECHT;
ICHHABEGERICHTETUNDBINGERICHTETWORDEN;
ICHBINDURCHGEBURTUNDTODGEGANGEN,
FREUDEUNDLEID, HIMMELUNDHÖLLE;
UNDAMENDEERKANNTEICH,
DASSICHINALLEMBINUNDALLESISTINMIR.«
—Hazrat Inayat Khan (1882 — 1927)
Prolog: Spiegel sind Türen
Nennt mich ruhig Victor Frankenstein. Denn ich habe ein Monster geschaffen. Einen Unhold, der mich nun quält. Doch mein Monster ist aus Papier, das aufbegehrt. Es empört sich gegen mich. Es ernährt sich von meinen Worten, doch seine Zeilen kriechen zurück unter meine Haut.
Mein Monster liegt vor mir. Ein Manuskript, dessen Seiten verknittert und angerissen sind; sie tragen trockene Blutspuren. Es war nie meine Absicht, diese Gedanken aufzuschreiben. Ich wurde dazu gezwungen. Ich musste meine persönliche Entscheidungsschlacht schildern, den Krieg zwischen Vorbestimmtheit und Willensfreiheit. Denn das ist meine Geschichte.
Nun blickt mich dieses Scheusal an und bestätigt den Grad des Wahnsinns, den ich durch meine Pforten ließ. Soll es nun jeder lesen und selbst sehen, was hinter verschlossenen Türen geschieht.
Ich lasse den Rauch aus meinen Lungen strömen und die Droge durch mein Blut rasen. Und ich weiß, es macht mich zurechnungsfähiger. Denn die Täuschungen der Realität sind mir unerträglich geworden.
1.01 Der Ausflug
Kanäle...
Schächte...
Gänge...
Bin ich ein Schatten, während das wahre Ich über mir spaziert und mir mit jedem Schritt die Fußknöchel zu zertrümmern versucht? Kanäle... Dort kenne ich keine Lügen. Nur den feuchten Geruch von Kalk und Zement: die Würze des Untergrunds. Dort sind die Gedärme der Hure aus Stahlbeton, die sich windet und wächst, während in ihren Adern Gift pulsiert — Blei und Stahl — tagaus, tagein. In ihren Arterien hasten, roten Blutkörperchen gleich, die Menschen. Auf der Jagd nach dem Unwiederbringlichen. Nach Träumen. Nach Sehnsüchten. Nach der verlorenen Zeit. Wir sind Erinnerungen.
Doch da unten, in den unbeachteten Gedärmen, wo alle Wege in den Anus der Großstadt führen, wird die Rastlosigkeit, die neurotische Hektik bedeutungslos.
Ich war nicht allein, als ich dort das erste Mal hinabstieg. Wir zogen mit gemeinsamen Kräften den Deckel beiseite, schalteten die — heimlich unseren Vätern entwendeten — Taschenlampen ein und sahen uns konspirativ um. Es war ein heißer Tag, inmitten des Sommers, inmitten der Schulferien. Die nördlichen Viertel von Prag — grauer Betondschungel, der nichts gemeinsam hatte mit den üblichen Wahrzeichen der goldenen Stadt — glühten und zitterten vor Hitze, die über den staubigen Asphaltstraßen ihre Bauchtänze aufführte. Die Menschen nahmen keinen Anteil am Tun der Kinder. Zu sehr waren sie mit ihrer eigenen fatalen Welt beschäftigt. Der Kanaldeckel befand sich am Rande einer Baustelle. Vaters Baustelle. Doch es war ein Sonntag. Und an einem Sonntag musste man hier nur Diebe fürchten, die kamen, um das liegengelassene Werkzeug zu stehlen.
Das Prag der Achtziger war nicht anders als das der Siebziger. Stillstand.
Was du nicht dem Staat stiehlst, stiehlst du deiner eigenen Familie, lautete ein modernes tschechisches Sprichwort. Der Staat war bereits zu syphilitisch, um dem etwas entgegenzuhalten. Es war nicht schwer, sich an einem Sonntag auf einer Baustelle herumzutreiben und dort Werkzeug oder Material zu stehlen. Bohrmaschinen und zusammengerollte Ballen mit Isolationsmaterial verschwanden auf diese Art genauso schnell wie Ziegelsteine und Säcke mit Zement. Das tat man im großen Stil. Und genauso unbeobachtet konnten wir hier einen Kanaldeckel öffnen und uns dabei vorstellen, in die Grabkammer eines ägyptischen Pharaos hinabzusteigen. Bevor uns die Welt der roten Blutkörperchen aufsaugt und uns trimmt auf Verpflichtung, Leistung, Bestimmung. Erwachsenes Benehmen. Bevor wir entsendet werden, um mit den anderen im Gift zu treiben, um in Kreisen und Bahnen unseren Sehnsüchten hinterher zu rasen.
Wir stiegen hinein, wie durch eine offene Wunde, denn so kam mir dieses Stück aufgerissene Erde vor, hinein in den dunklen Schacht, und kletterten eine in die Wand eingelassene Eisenleiter hinab. Unten angelangt standen wir in einem Tunnel. Er war niedrig und schmal — man konnte mit ausgebreiteten Armen links und rechts die Wände berühren. Verglichen mit der Sommerhitze über uns war die Luft hier kalt wie in einer Kirche. Es roch nach feuchtem Zement. Der Kanalabschnitt war neu und unberührt. Die Kegel der Taschenlampen reichten nicht weit genug, um eine Kurve oder ein Ende des engen Ganges zu beleuchten. In der Mitte verlief ein mit Glaswolle und Klebefolie umwickeltes Rohr, das einen großen Teil des Raumes einnahm. Ich fragte mich, was hier hindurchfloss. Nach Chlor riechendes Trinkwasser für all die Plattenbauten oder Fäkalien für die Moldau? Ich horchte an der mit silberner Folie um wickelten Röhre, konnte jedoch nichts hören. Wir gingen vorsichtig weiter und ich fühlte mich sehr wohl, als hätte ich schon immer darauf gewartet, hierherzukommen. Heute glaube ich mich zu erinnern, dass diese Expedition für mich einen geradezu erotischen Reiz besaß. Wenn Prag unsere Geburtsstadt war, bedeutete es, dass wir in den Schoß dieser Mutter hinabstiegen. Doch da war mehr. Etwas, das über das Freudsche Universum hinausging.
Wir sprachen wenig — der Älteste von uns war höchstens dreizehn, doch niemand schien Angst oder Sorge zu haben. Wir strahlten alle eine verantwortungsbewusste Umsicht und Gefasstheit aus, die ich später, bei Erwachsenen, kaum zu sehen bekam. Und wir hatten schließlich einen Hund dabei, der einem der Jungs gehörte und neugierig, fröhlich und ausgelassen vorauslief und ab und zu frenetisch bellte. Alle Schritte geschahen mit Bedacht, ständig achtete jeder auf den Freund vor ihm, unentwegt wurden einige Taschenlampen auch nach hinten gerichtet, um zu überprüfen, ob alle noch vollzählig waren, dass keiner zurückblieb. Wir nahmen unser kleines Abenteuer sehr ernst. Zumindest ich tat es. Als hätte ich eine unterschwellige Ehrfurcht vor Katakomben und Schächten. Denn wenn ich mich recht erinnere, kicherten einige der anderen unentwegt und zogen sich mit Faxen und kleinen Streichen auf.
Endlich erreichten die wild an den Wänden entlang huschenden Lichtkegel eine Biegung. Der Gang schien sich nach links zu wenden.
Wir blieben stehen, um uns kurz zu beraten.
»Hinter der Kurve ist keine Luft«, meinte Jirka.
Auch ich hatte diese Geschichte gehört. Am Ende langer Gänge reicht die Luft zum Atmen nicht mehr aus.
»Unsinn«, erwiderte Standa.
»Aber wenn doch...«
»Die Luft wird nicht gleich weg sein«, äußerte sich Milan, der letztes Weihnachten einen Chemiekasten bekommen hatte. »Sie wird erst langsam immer weniger.«
»Ich glaube, dein Hund frisst hier gerade eine tote Ratte«, meinte Emil, den wir wegen seiner großen, lupenartigen Brille Brejlarito nannten. Jirka herrschte sogleich den vierbeinigen Gourmet an und suchte ihn dabei hektisch mit seiner Taschenlampe zwischen den Füßen der Jungs.
»Nero! Lass das! Igitt! Nero!«
»Mein Vater spaziert hier ständig. Von fehlender Luft hat er noch nie erzählt«, konstatierte ich selbstbewusst und machte mich auf, weiterzugehen.
Die anderen zögerten und schienen vor der dunklen Biegung Respekt zu haben. Während ich mich entfernte, verfolgte die Gruppe jeden meiner Schritte mit einem Geflecht aus Lichtkegeln. Bald war ich um die Ecke verschwunden und meldete alle paar Sekunden meinen Zustand. Aus der Ferne hörte ich Neros Bellen. Ich fühlte mich großartig. Ich fühlte mich wie einer meiner Helden, über die ich in Abenteuerbüchern las. Biggles und Bertie. Ginger und Algy. Professor Lidenbrock und sein Neffe Axel. Es war der Rausch des Neulands. Es waren die letzten Tage der Unschuld im Leben eines Zehnjährigen.
»Komm zurück, Jarek!« riefen mir alle zu.
Ich hieß natürlich nicht Jarek, sondern Jan-Marek, doch die Tschechen neigen dazu alles nur Erdenkliche abzukürzen und zu verballhornen. So nannte mich in der Schule jeder Jarek. Sogar die Lehrer ließen sich davon anstecken. Als unsere Familie dann in den Westen floh, war es damit vorbei. Es kam mir vor, als wäre Jarek in Prag geblieben, während Jan-Marek nach Deutschland ging.
In der Dunkelheit des Tunnels begriff ich, dass meine Freunde Angst um mich hatten und gab nach. Ich verzog genervt meine Mundwinkel, verdrehte die Augen und kehrte zu ihnen zurück.
Wir traten den Rückmarsch an und stiegen einige Minuten später zurück in die gleißende Welt des Sommers. Während wir oben lachend und tollend über unsere Erlebnisse sprachen, stellte ich eine leise Stimme in mir fest. Die Stimme der Unzufriedenheit.
1.02 Remota
Ich greife vor, wenn ich erwähne, dass eine wichtige Erkenntnis in meinem Leben darin bestand, den Zusammenhang zwischen mir und dem Untergrund zu begreifen. Wann immer ich unter die Erde trat, herabstieg aus der Geborgenheit der Eloi in die Welt der Morlocks, geschah ein Unglück. War nun ich die Ursache dieser Ereignisse, oder war ich auserwählt, nur dann herabzusteigen, wenn ein Unglück bereitstand?
Im Herbst 1998 — über fünfzehn Jahre nach meinem nächtlichen Ausflug in die Kanalisation von Prag — befand ich mich erneut in bedenklicher Nähe zu jener feuchten, modrigen Dunkelheit, an einem beschissenen Ort, an dem ich nichts verloren hatte. Warum bin ich nur so verführbar? Als Kind spielte ich gerne in allerlei Rohren und Kanälen und träumte von der Gefahr, aber nun? Irgendwann sollte es doch genug sein. Irgendwann muss man doch beginnen, sich wie ein Erwachsener zu benehmen!
Ein endloser Gang unter der Stadt, überall große kalte Pfützen, in denen sich das herabtropfende Wasser sammelte. Und... schon wieder ich! Dummkopf! Draußen war kalter Oktober und hier drin roch es wie immer nach feuchtem Zement. Ich gab mir kopfschüttelnd immer noch Mühe, meine 250-Mark-Salamander-Schuhe aus diesem Ärger raus zu halten und an den großen Pfützen wie ein Storch vorbeizugrätschen. Sinnlos...
Manzio hingegen betrieb die Sache mit dem ihm so eigenen Enthusiasmus. »Komm schon, stell dich nicht so an. Es sind nur noch paar Meter.« Etwas in der Art raunte er mir mit halbleiser, konspirativer Stimme ständig zu. Mir kam der Weg übertrieben lang vor. Ich bemerkte, dass es hier kleine schwarze Drehschalter fürs Licht gab, wie sie in Kellern unter Mietshäusern eben vorkommen. Weiß Gott, warum Manzio darauf bestand, dass wir sie nicht benutzten und stattdessen mit den Taschenlampen herumfuchtelten.
Ich leuchtete auf meine Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. Mist. Was tat ich hier? Doch ich hatte keine treffende Ausrede. Noch vor wenigen Monaten hätte ich gejammert, dass ich am nächsten Tag früh aufstehen muss. Dass mein kalter Bürostuhl auf mich wartete, damit ich darauf optimistisch in die Welt lächeln konnte, während einige Investoren aus Nordrhein-Westfalen mit dem Geschäftsführer wie Thermalbadbesucher im Zeitlupentempo durch die Firma stolzieren und über Dinge sprechen, von denen ich nichts verstand. Von denen vielleicht niemand etwas verstand. Verfluchte Schwarzmagier in Anzügen. Satanisten...
Welche Ausrede habe ich nun?
Manzio riss mich aus den Gedanken.
»Schau mal, ist das nicht phantastisch?« flüsterte er mir zu. »Ist das nicht phantastisch?!«
Ich stellte mich neben ihn und blickte nach oben. Wir beobachteten die Welt. Ein kleines, schachtartiges Fenster zeigte nahe der Decke einen Ausblick hinaus aus diesen Katakomben. Das Glas war zerschlagen, nur wenige Scherben ragten noch aus dem Holzrahmen. Ein direkter, zu einem kleinen Quadrat eingeengter Blick in den Himmel — nicht größer als ein 14-Zoll-Monitor. Der Mond strahlte wie eine Offenbarung. Dunkle dramatische Wolken zerschellten an ihm, während draußen die letzten Regentropfen sanft an die Blätter der Gebüsche trommelten. Und in der Mitte der Erscheinung hing ein feuchtes, mit Wasserperlen geschmücktes Spinnennetz, in dessen Mitte eine große Kreuzspinne saß. Es war wie ein Bild aus einem Hergé-Comic. Es war erstaunlich.
»Es heißt, dass alle Dinge Zeichen sind«, sagte Manzio, ohne seine Augen von dem Fenster unter der Decke zu wenden. »Und dass alles, was uns begegnet, eine Entsprechung hat. Es soll uns helfen, zu verstehen, wohin uns das scheinbar nicht vorhersagbare Schicksal treibt. Aber wir können die Spuren im Sand der Welt nicht lesen.«
Manzio. Ja, Manzio. Er war mir stets einen Satz voraus. Immer wenn ich begann, den Banalitäten dieser Welt zu unterliegen, war er da und zerschmetterte die Pforten der Normalität. Das Schicksal stellte mir ständig Wächter zur Seite, die darauf achteten, dass ich kein Zombie mit Krawatte wurde.
Wir starrten eine ganze Weile auf das Fenster. Auf die Spinne, die sich die minutenlang keinen Augenblick regte. Draußen hob sich langsam der Wind. Wir konnten es an der leichten Bewegung des Netzes sehen. Ich begriff, wie nahe äußerste Hässlichkeit und äußerste Schönheit sich stehen. Wie sie sich gegenseitig aufheben. Und nur der Mensch muss sich entscheiden, ob er Ekel oder Entzückung verspürt. In einem solchen Augenblick ist mehr Wahrheit, als in den meisten Büchern. Außer der Mensch entscheidet sich nicht und ist nur Treibgut im Strom seiner Wahrnehmung. Und genau davon handelt unsere Geschichte. Von einer Welt, die sich verändert — unter der formgebenden Kraft der Entscheidungen, unter unseren neugierigen Blicken. Aber Sie fragen sich sicherlich, ob ich mir das schon damals gedacht habe. Nein, sicher nicht. Damals ahnte ich noch gar nichts. Nichts. Aber ich denke es nun, während ich mich daran erinnere. Eine sehr lebendige Erinnerung. Ein Augenblick, der noch nicht ganz Vergangenheit und noch immer ein wenig Gegenwart ist.
Die Spinne regte sich plötzlich. Nur eine kleine Bewegung der Beine entlang der silbernen, feuchten Fäden. Dann wieder der phantastische Nihilismus, hinter dem sich atemraubende Wachsamkeit verbirgt. Wir blickten uns an, als hätten wir gerade eine Sternschnuppe gesehen. Ich sah Manzio in dem kalten Mondlicht lächeln.
»Hör mal...« Ich räusperte mich und versuchte ein ernsthaftes Gespräch mit ihm zu führen. »Als ich ein Kind war, wollte ich immer in irgendwelche Höhlen und Katakomben klettern...«
Manzio zog die Augenbrauen hoch. »Und jetzt nicht mehr?«
Ich erinnerte mich plötzlich an damals. Wie viele Jahre hatte ich nicht mehr daran gedacht? Nur gelegentlich, wenn ich offene Löcher im Boden sah, Dampf der aus Kanaldeckeln aufstieg und eiserne Souterraintüren mit schweren Schlössern, wurde mir bewusst, dass es da etwas gab, das wie ein Schatten an meinen Fußknöcheln klebte. Dunkle Gänge und unterirdische Labyrinthe mied ich seitdem — ob bewusst oder unbewusst.
»Zeig mir, was du mir zeigen wolltest und dann hauen wir ab«, sagte ich plötzlich und steckte trotzig die freie Hand in die Tasche, während ich ihn mit meiner Lampe anleuchtete.
»Das Geheimnis liegt nicht weit entfernt. Du kannst es an der Spinne erkennen.«
Manzio war verführerisch, wie der Gott Pan. Ich wusste nie so richtig, was er meint. Aber auf eine pathologisch reizvolle, verdrehte Art ergab das, was er aussprach, stets einen Sinn.
»Spürst du nicht die Wärme hier in diesem Gang? Die Temperatur steigt, je weiter wir gehen. Es ist später Oktober. Es ist sehr kalt und du wirst kaum noch irgendwo eine Spinne im Gebüsch finden. Aber hier...« Er deutete auf das Fenster. »Der Heizraum ist ganz nahe. Hier steigt ständig Wärme auf, durch das kaputte Fenster. Die Kreuzspinne glaubt vermutlich, dass das der hässlichste August aller Zeiten ist. So fühlen sich Otto Normalverbraucher und Monika Mustermann auf dem Weg zu Arbeit.«
Er steckte sich eine Zigarette an. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe, die er sich währenddessen unter den Arm klemmte, tanzte chaotisch auf den grauen Betonwänden.
»Ab jetzt wird´s spannend«, brummte er und fischte nach etwas in seiner Tasche. Er zog einen Schlüssel hervor und ging zu der massiven Stahltür. Ich stellte mich hinter ihn. Ich spürte eine gewisse Wärme, wie eine künstliche Höhensonne, die sich gerade erst auflädt. Ich streckte meinen Arm aus und berührte die Tür. Sie war warm. Ich leuchtete auf die weißen Buchstaben: »Heizraum. Unbefugten Zutritt verboten.« Natürlich, was sonst? Warum wären wir sonst hier, wenn es nicht verboten wäre?
Manzio zog den Schlüssel wieder heraus und hielt ihn kurz vor meinem Gesicht.
»Frag lieber nicht, Digger«, flüsterte er mit einem verwegenen Blick.
Die Tür war erstaunlich gut geölt. Sie ging geräuschlos auf und wir traten ein.
Massive Wandschränke aus Metall erwarteten uns im Heizraum, mit grünen und weißen Lämpchen darauf. Nicht unbedingt psychedelisch, aber doch bei völliger Dunkelheit irgendwie spacig. Die Wärme hier fühlte sich gut an. Manzio raschelte mit den Schlüsseln und öffnete eine weitere Tür.
Es war eine Art Stauraum für Reinigungsmaterial und allerlei Zeug, das meine eigene Wohnzelle nie zu sehen bekam. Nachdem Manzio die Tür hinter sich verschlossen hatte, knipste er den Lichtschalter an der Wand an. Hässliches kaltes Licht überflutete uns. Wir waren umgeben von Chemikalien in Kartons, von Putzlappen, Besen und von einem Staubsauger.
»Fiese Sache hier, du wirst sehen...« Er zog eine leicht zerknüllte Tüte mit irgendwelchen Keksen und eine kleine, klischeehafte Flasche mit Weinbrand aus der Tasche. Diesen kleinen Flachmann, den Obdachlose mit Vorliebe an Tankstellen kauften.
»Hier endet die Zivilisation. Dieser Raum ist der letzte Vorposten. Dahinter ist der Orkus«, erklärte Manzio.
›Sehr theatralisch‹, dachte ich nur, sagte aber nichts.
Ich kaute eine Weile an dem Keks und blickte dann hoch zu ihm.
»Was ist das? Ist nicht gerade ein Verkaufsschlager, oder?«
»Das sind Hostien«, meinte Manzio ausdruckslos. »Mein Dad liefert die an einige Kirchen.«
Ich verzog mein Gesicht.
»Ist das häretisch oder so was?«
Manzio zuckte mit den Achseln.
»Ist doch nur Mehl, Wasser und Maizena. Ich würde sagen, solange das nicht ein Priester an sich nimmt, ist es erst mal nur eine Oblate in einer Plastiktüte.«
Er sah noch immer den Zweifel in meinem Blick.
»Mann, ist ja nicht so, dass ich die aus dem Tabernakel geklaut habe. Wir haben ungefähr zehn Kartons davon im Lager. Außerdem, wann warst du jemals in einer Kirche?«
Ich nahm noch einen Keks. Ich meine, eine Hostie... Ich meine, eine Oblate...
»Irgendwie süß«, stellte ich fest. »Ist das nicht... wohllebig, da Zucker reinzutun?«
»Wohllebig?« Manzio blickte mich kurz entgeistert an. »Was soll das denn sein?«
»Ich meine«, überlegte ich verkrampft, in der Hoffnung, dass bald die richtige Synapse zündete und mir den passenden Begriff aushändigte. »Ich meine... Na einfach nicht... äh, frugal genug...«
»Frugal?« Manzio machte nur eine abwehrende Handbewegung, während er einige der Kartons auf ihre Stabilität prüfte. »Du bist total dummgekifft. Abgefuckter Junkie.«
Ich kaute an der trockenen Oblate und spülte sie dann mit einem Schluck Weinbrand runter.
»Glaubst die Oblaten der Protestanten sind weniger süß?« murmelte ich mit einem verklebten Gaumen.
»Ganz bestimmt«, erklärte Manzio lakonisch, während er die Produktbeschreibung auf der Rückseite einer Flasche mit Reinigungsmittel studierte.
Wir tranken. Schwiegen.
Wie bin ich nur an Manzio geraten? Es war nur eine Frage der Zeit, bis wir zwei Schattengewächse uns erkannten und verbanden. Wenn ich abends, auf dem Weg zu meiner Wohnzelle an seiner Tür vorbeiging, roch ich nicht selten den markanten Duft von verbranntem Hanf. Es war nur eine Frage der Zeit.
Eines Tages klingelte es und er stand an meiner Tür. Er fragte mich, ob ich denn Papers