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Selten sind die bis ins hohe Alter hinein vitalsten Lebensantriebe des Menschen auf so eindringliche Weise dargestellt worden wie in dieser frühen, 1904 entstandenen Erzählung Hesses. Am Beispiel der vier Landstreicher und »Sonnenbrüder« – den Insassen des zu einem Armenasyl umfunktionierten ehemaligen Gasthauses »Zur alten Sonne« – schildert er das tragikomische Zusammenleben dieser von der Gesellschaft ausrangierten Existenzen, deren Eigenarten und Schwächen uns merkwürdig vertraut sind, die mit zunehmendem Alter immer deutlicher hervortreten.
Mit liebevoller Ironie und einem Sensorium, das Ergebnisse moderner Verhaltensforschung und »Gruppendynamik« veranschaulicht, beschreibt Hesse den letzten Lebensabschnitt des arbeitsscheuen Kleinfabrikanten Hürlin, des alkoholsüchtigen Lukas Heller, des glücklichen Schwachsinnigen Holdria und des Landstreichers Stefan Finkenbein, eines Bruders von Heeses Knulp. Mundartliche Sprachbilder sowie der Ortsname Gerbersau verweisen auf Hesses Schwarzwälder Geburtsstädtchen an der Nagold, an deren Ufer einst mehrere Gerbereibetriebe ihr Auskommen fanden.
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Seitenzahl: 72
Hermann Hesse
In der alten Sonne
Erzählung
Suhrkamp
In der alten Sonne
Wenn im Frühling oder Sommer oder auch noch im Frühherbst ein linder Tag ist und eine angenehme, auch wieder nicht zu heftige Wärme den Aufenthalt im Freien zu einem Vergnügen macht, dann ist die ausschweifend gebogene halbrunde Straßenkehle am Allpacher Weg, vor den letzten hochgelegenen Häusern der Stadt, ein prächtiger Winkel. Auf der berghinan sich schlängelnden Straße sammelt sich die schöne Sonnenwärme stetig an, die Lage ist vor jedem Winde wohl beschützt, ein paar krumme alte Obstbäume spenden ein wenig Schatten, und der Straßenrand, ein breiter, sanfter, rasiger Rain, verlockt mit seiner wohlig sich schmiegenden Krümmung freundlich zum Sitzen oder Liegen. Das weiße Sträßlein glänzt im Lichte und hebt sich schön langsam bergan, schickt jedem Bauernwagen oder Landauer oder Postkarren ein dünnes Stäublein nach und schaut über eine schiefe, von Baumkronen da und dort unterbrochene Flucht von schwärzlichen Dächern hinweg gerade ins Herz der Stadt, auf den Marktplatz, der von hier aus gesehen freilich an Stattlichkeit stark verliert und nur als ein sonderbar verschobenes Viereck mit krummen Häusern und herausspringenden Vortreppen und Kellerhälsen erscheint.
An solchen sonnig milden Tagen ist der wohlige Rain jener hohen Bergstraßenkrümmung unwandelbar stets von einer kleinen Schar ausruhender Männer besetzt, deren kühne und verwitterte Gesichter nicht recht zu ihren zahmen und trägen Gebärden passen und von denen der Jüngste mindestens ein hoher Fünfziger ist. Sie sitzen und liegen bequem in der Wärme, schweigen oder führen kurze, brummende und knurrende Gespräche untereinander, rauchen kleine schwarze Pfeifenstrünke und spucken häufig weitverächterisch in kühnem Bogen bergabwärts. Die etwa vorübertapernden Handwerksburschen werden von ihnen scharf begutachtet und je nach Befund mit einem wohlwollend zugenickten »Servus, Kunde!« begrüßt oder schweigend verachtet.
Der Fremdling, der die alten Männlein so hocken sah und sich in der nächsten Gasse über das seltsame Häuflein grauer Bärenhäuter erkundigte, konnte von jedem Kinde erfahren, daß dieses die Sonnenbrüder seien, und mancher schaute dann noch einmal zurück, sah die müde Schar träg in die Sonne blinzeln und wunderte sich, woher ihr wohl ein so hoher, wohllautender und dichterischer Name gekommen sei. Das Gestirn aber, nach welchem die Sonnenbrüder genannt wurden, stand längst an keinem Himmel mehr, sondern war nur der Schildname eines ärmlichen und schon vor manchen Jahren eingegangenen Wirtshauses gewesen, dessen Schild und Glanz dahin waren, denn das Haus diente neuerdings als Spittel, das heißt als städtisches Armenasyl, und beherbergte freilich manche Gäste, die das Abendrot der vom Schild genommenen Sonne noch erlebt und sich hinter dem Schenktisch derselben die Anwartschaft auf ihre Bevormundung und jetzige Unterkunft erschöppelt hatten.
Das Häuschen stand, als vorletztes der steilen Gasse und der Stadt, zunächst jenem sonnigen Straßenrand, bot ein windschiefes und ermüdetes Ansehen, als mache das Aufrechtstehen ihm viele Beschwerde, und ließ sich nichts mehr davon anmerken, wieviel Lust und Gläserklang, Witz und Gelächter und flotte Freinächte es erlebt hatte, die fröhlichen Raufereien und Messergeschichten gar nicht zu rechnen. Seit der alte rosenrote Verputz der Vorderseite vollends erblaßt und in rissigen Feldern abgeblättert war, entsprach die alte Lotterfalle in ihrem Äußeren vollkommen ihrer Bestimmung, was bei städtischen Bauten unserer Zeit eine Seltenheit ist. Ehrlich und deutlich gab sie zu erkennen, daß sie ein Unterschlupf und Notdächlein für Schiffbrüchige und Zurückgebliebene war, das betrübliche Ende einer geringen Sackgasse, von wo aus keine Pläne und verborgenen Kräfte mehr ins Leben zurückstreben mögen.
Von der Melancholie solcher Betrachtungen war im Kreis der Sonnenbrüder meistens nur wenig zu finden. Vielmehr lebten sie fast alle nach Menschenart ihre späten Tage hin, als ginge es noch immer aus dem Vollen, bliesen ihre kleinen Gezänke und Lustbarkeiten und Spielereien nach Kräften zu wichtigen Angelegenheiten und Staatsaktionen auf und nahmen zwar nicht einander, aber doch jeder sich selber so ernst wie möglich. Ja, sie taten, als fange jetzt, da sie sich aus den geräuschvollen Gassen des tätigen Lebens beiseite gedrückt hatten, der Hallo erst recht an, und betrieben ihre jetzigen unbedeutenden Affären mit einer Wucht und Zähigkeit, welche sie in ihren früheren Betätigungen leider meist hatten vermissen lassen. Gleich manchem anderen Völklein glaubten sie, obwohl sie vom Spittelvater absolut monarchisch und als rechtlose Scheinexistenzen regiert wurden, eine kleine Republik zu sein, in welcher jeder freie Bürger den andern genau um Rang und Stellung ansah und emsig darauf bedacht war, ja nirgends um ein Haarbreit zu wenig ästimiert zu werden.
Auch das hatten die Sonnenbrüder mit anderen Leuten gemein, daß sie die Mehrzahl ihrer Schicksale, Befriedigungen, Freuden und Schmerzen mehr in der Einbildung als in Wirklichkeit erlebten. Ein frivoler Mensch könnte ja überhaupt den Unterschied zwischen dem Dasein dieser Ausrangierten und Steckengebliebenen und demjenigen der tätigen Bürger als lediglich in der Einbildung begründet hinstellen, indem diese wie jene ihre Geschäfte und Taten mit derselben Wichtigkeit verrichten und schließlich doch vor Gottes Augen so ein armer Spittelgast möglicherweise nicht schlechter dasteht als mancher große und geehrte Herr. Aber auch ohne so weit zu gehen, kann man wohl finden, daß für den behaglichen Zuschauer das Leben dieser Sonnenbrüder kein unwürdiger Gegenstand der Betrachtung sei.
Je näher die Zeiten heranrücken, da das jetzt aufwachsende Geschlecht den Namen der ehemaligen Sonne und der Sonnenbrüder vergessen und seine Armen und Auswürflinge anders und in anderen Räumen versorgen wird, desto wünschenswerter wäre es, eine Geschichte des alten Hauses und seiner Gäste zu haben. Als chronistischer Beitrag zu einer solchen soll auf diesen Blättern einiges vom Leben der ersten Sonnenbrüder berichtet werden.
In den Zeiten, da die heutigen Jungbürger von Gerbersau noch kurze Hosen oder gar noch Röckchen trugen und da über der Haustüre des nachmaligen Spittels noch aus der rosenroten Fassade ein schmiedeeiserner Schildarm mit der blechernen Sonne in die Gasse hinaus prangte, kehrte an einem Tage spät im Herbste Karl Hürlin, ein Sohn des vor vielen Jahren verstorbenen Schlossers Hürlin in der Senfgasse, in seine Heimatstadt zurück. Er war etwas über die Vierzig hinaus, und niemand kannte ihn mehr, da er seinerzeit als ein blutjunges Bürschlein weggewandert und seither nie mehr in der Stadt erblickt worden war. Nun trug er einen sehr guten und reinen Anzug, Knebelbart und kurzgeschnittenes Haar, eine silberne Uhrkette, einen steifen Hut und hohe Hemdkragen. Er besuchte einige von den ehemaligen Bekannten und Kollegen und trat überall als ein fremd und vornehm gewordener Mann auf, der sich seines Wertes ohne Überhebung bewußt ist. Dann ging er aufs Rathaus, wies seine Papiere vor und erklärte, sich hierorts niederlassen zu wollen. Nun entfaltete Herr Hürlin eine geheimnisvolle Tätigkeit und Korrespondenz, unternahm öftere kleine Reisen, kaufte ein Grundstück im Talgrunde und begann daselbst an Stelle einer abgebrannten Ölmühle ein neues Haus aus Backsteinen zu erbauen und neben dem Hause einen Schuppen und zwischen Haus und Schuppen einen gewaltigen backsteinernen Schlot. Zwischendrein sah man ihn in der Stadt gelegentlich bei einem Abendschoppen, wobei er zwar anfangs still und vornehm tat, nach wenigen Gläsern aber laut und mächtig redete und nicht damit hinterm Berge hielt, wie er zwar Geld genug im Sack habe, um sich ein schönes Herrenleben zu gönnen, doch sei der eine ein Faulpelz und Dickkopf, ein anderer aber ein Genie und Geschäftsgeist, und was ihn betreffe, so gehöre er zur letzteren Sorte und habe nicht im Sinn, sich zur Ruhe zu setzen, ehe er sechs Nullen hinter die Ziffer seines Vermögens setzen könne.
Geschäftsleute, bei denen er Kredit zu genießen wünschte, taten sich nach seiner Vergangenheit um und brachten in Erfahrung, daß Hürlin zwar bisher nirgends eine erhebliche Rolle gespielt hatte, sondern da und dort in Werkstätten und Fabriken, zuletzt als Aufseher gearbeitet, vor kurzem hingegen eine erkleckliche Erbschaft gemacht hatte. Also ließ man ihn gewähren und gönnte ihm ein bestimmtes Maß von Respekt, einige unternehmende Leute steckten auch noch Geld in seine Sache, so daß bald eine mäßig große Fabrik samt Wohnhäuschen im Tale erstand, in welcher Hürlin gewisse für die Wollwebeindustrie notwendige Walzen und Maschinenteile herzustellen gedachte. Die Aufträge blieben nicht aus, der große Schlot rauchte Tag und Nacht, und ein paar Jahre lang florierten Hürlin und seine Fabrik auf das erfreulichste und genossen Ansehen und ausgiebigen Kredit.