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In dieser neuartigen Romanausgabe beweisen die Autoren erfolgreicher Serien ihr großes Talent. Geschichten von wirklicher Buch-Romanlänge lassen die illustren Welten ihrer Serienhelden zum Leben erwachen. Es sind die Stories, die diese erfahrenen Schriftsteller schon immer erzählen wollten, denn in der längeren Form kommen noch mehr Gefühl und Leidenschaft zur Geltung. Spannung garantiert! Da vorn, auf den Klippen oder ganz in der Nähe, gab es mehrere tanzende Lichter. Tina blieb reglos stehen und überlegte. Was konnte das sein? Ihre Augen schienen die Dunkelheit durchbohren zu wollen. Aber so sehr sie sich auch abmühte, sie konnte nur die tanzenden Lichter erkennen. Wer, um alles in der Welt, mochte sich um diese Zeit in der Nähe der Klippen aufhalten? Es herrschte ein scharfer Wind, der Tina Lindts rotblondes Haar durcheinanderwirbelte. Das Kreischen der Möwen hier im Watt machte sie fröhlich. Sie war gekommen, um Wilfried Sackberg zu vergessen. Eigentlich war es eine richtige Flucht gewesen. Nachdem Wilfried ihr erklärt hatte, dass er nicht daran dächte, sie zu heiraten, weil er die Tochter eines einflussreichen Mannes ehelichen wollte, hatte Tina nur noch den Wunsch gehabt, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Sie hatte ihre Stellung gekündigt. Dann war sie hierhergefahren, an den See, wo um diese Zeit kaum noch Kurgäste waren. Es wäre ihr unmöglich gewesen, noch länger in der Stadt zu bleiben, wo sie alles an Wilfried erinnerte, und an die verlorene Liebe, von der sie einmal geglaubt hatte, dass sie für ein ganzes Leben reichte. Unvorstellbar, einmal Wilfried begegnen zu müssen mit Inge, die er heiraten wollte. Über eine Woche war Tina nun schon in der kleinen Pension bei der freundlichen Meta Clasen, die ihren letzten Feriengast verwöhnte und bemutterte. Tina hatte bisher nur weite, einsame Spaziergänge gemacht und sich daran gehalten, sich nicht zu weit ins Watt vorzuwagen, weil das gefährlich sein konnte für jemanden, der sich nicht genau auskannte. Meistens ging sie bis zu dem alten Kahn, der im Watt lag, setzte sich auf ihn und saß ganz still, um die Möwen zu beobachten und die Strandläufer, die nach Nahrung suchten und emsig damit beschäftigt waren, im Schlick herumzustochern mit ihren langen Schnäbeln. Tina wusste, dass sie diesmal nicht allzu weit hinauswandern durfte, denn es war schon spät, und man musste bald merken, dass die Flut aufkam. Früher hatte sie immer geglaubt, dass man das kaum beobachten konnte.
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Seitenzahl: 146
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Da vorn, auf den Klippen oder ganz in der Nähe, gab es mehrere tanzende Lichter. Tina blieb reglos stehen und überlegte. Was konnte das sein? Ihre Augen schienen die Dunkelheit durchbohren zu wollen. Aber so sehr sie sich auch abmühte, sie konnte nur die tanzenden Lichter erkennen. Wer, um alles in der Welt, mochte sich um diese Zeit in der Nähe der Klippen aufhalten?
Es herrschte ein scharfer Wind, der Tina Lindts rotblondes Haar durcheinanderwirbelte. Das Kreischen der Möwen hier im Watt machte sie fröhlich.
Sie war gekommen, um Wilfried Sackberg zu vergessen. Eigentlich war es eine richtige Flucht gewesen. Nachdem Wilfried ihr erklärt hatte, dass er nicht daran dächte, sie zu heiraten, weil er die Tochter eines einflussreichen Mannes ehelichen wollte, hatte Tina nur noch den Wunsch gehabt, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen.
Sie hatte ihre Stellung gekündigt. Dann war sie hierhergefahren, an den See, wo um diese Zeit kaum noch Kurgäste waren.
Es wäre ihr unmöglich gewesen, noch länger in der Stadt zu bleiben, wo sie alles an Wilfried erinnerte, und an die verlorene Liebe, von der sie einmal geglaubt hatte, dass sie für ein ganzes Leben reichte. Unvorstellbar, einmal Wilfried begegnen zu müssen mit Inge, die er heiraten wollte.
Über eine Woche war Tina nun schon in der kleinen Pension bei der freundlichen Meta Clasen, die ihren letzten Feriengast verwöhnte und bemutterte.
Tina hatte bisher nur weite, einsame Spaziergänge gemacht und sich daran gehalten, sich nicht zu weit ins Watt vorzuwagen, weil das gefährlich sein konnte für jemanden, der sich nicht genau auskannte.
Meistens ging sie bis zu dem alten Kahn, der im Watt lag, setzte sich auf ihn und saß ganz still, um die Möwen zu beobachten und die Strandläufer, die nach Nahrung suchten und emsig damit beschäftigt waren, im Schlick herumzustochern mit ihren langen Schnäbeln.
Tina wusste, dass sie diesmal nicht allzu weit hinauswandern durfte, denn es war schon spät, und man musste bald merken, dass die Flut aufkam. Früher hatte sie immer geglaubt, dass man das kaum beobachten konnte. Aber in den wenigen Tagen, die sie hier war, hatte sie erkennen können, dass es erstaunlich schnell ging. Zuerst füllten sich die Priele, die wie kleine Flüsse aussahen, mit mehr Wasser. Und dann stieg der Wasserspiegel auch in den Lachen und Pfützen, vereinigte sich mit dem Wasser der anderen Pfützen, bis schließlich alles vom Meer erfasst und bedeckt war. Und dann musste man eigentlich schon auf dem sicheren Land sein, wenn man sich nicht in Gefahr bringen wollte.
Tina wusste, dass das Watt schon für manchen Menschen zur tödlichen Falle geworden war. Und so hielt sie sich dann auch immer strikt an Meta Clasens Weisungen und Warnungen, nicht leichtsinnig zu sein und sich nicht in eine Gefahr zu begeben, der sie dann nicht entrinnen konnte.
Tina schritt schneller aus. Sie wollte hinüber zur großen Düne, um von da aus zu beobachten, wie die Flut immer mehr stieg. Das fand sie beruhigend, und sie stellte sich dabei vor, wie die Tiere des Meeres mit dem Wasser auch wiederkamen und sich hier tummelten. Immer wieder hoffte sie, auch einmal einige Seehunde beobachten zu können. Aber das war ihr bisher noch nicht gelungen. Meta Oasen hatte ihr erzählt, dass sich die Tiere meistens bei den Klippen aufhielten, unterhalb der Burg, wie das große und mächtige Gemäuer hieß, das droben stand und schon sehr alt sein musste.
Tina fand das alte Gemäuer faszinierend, aber sie war noch nicht zu den Klippen hinübergewandert. Das hatte noch Zeit. Sie war sowieso entschlossen, noch mehrere Wochen zu bleiben, bis sie sich überlegte, was sie mm anfangen sollte. Sobald sie eine neue Stellung gefunden hatte, wollte sie ihre Wohnung in der Stadt aufgeben und irgendwo anders von vorn anfangen. Das konnte es ihr leichter machen, Wilfried und seinen schändlichen Verrat zu vergessen.
Und da war sie auch schon wieder mit ihren Gedanken bei Wilfried Sackberg angelangt, den sie doch so schnell wie möglich vergessen wollte! Tina blies die Wangen auf. So einfach, wie sie es sich wünschte, ging es wohl nicht, weil sie viel zu viel Gefühl in diese Sache investiert hatte.
Plötzlich schrie sie laut und entsetzt auf. Ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz. Und dann, als sie wieder ein wenig Luft schöpfen konnte, sah sie, dass sie mit dem Fuß in eine alte, rostige Ankerkette geraten war.
Nach Luft schnappend beugte sie sich hinab und erkannte sofort, dass sie sich nicht befreien konnte. Der Fuß steckte in einem der Kettenglieder, aber sie war nicht in der Lage, ihn wieder hervorzuziehen.
Was sollte sie nur tun? Wie sollte sie das Festland früh genug erreichen, um nicht von der Flut überrascht zu werden? Tina blickte ängstlich in die Runde und erkannte, dass es allerhöchste Zeit war, zurückzulaufen. Sie zerrte an dem Fuß, versuchte, die alte Ankerkette aufzuheben, um wenigstens mit ihr weitergehen zu können. Aber das war unmöglich. Die Kette war, obwohl stark angerostet, doch noch viel zu haltbar und auch zu schwer, um mit ihr laufen zu können.
Wenn der Fuß hineingeraten war, müsste ich ihn auch wieder herausziehen können, dachte sie aufgeregt und zerrte so lange, bis die Haut aufgeschrammt war und höllisch schmerzte. Aber den Fuß konnte sie trotz aller Anstrengungen nicht befreien. Er saß fest, als hätte man ihn in der Kette angeschmiedet.
»Hilfe!«, schrie Tina auf. Aber dann schwieg sie. Niemand hätte sie hören können, denn die Möwen kreischten viel zu laut, der Wind pfiff. Außerdem war auch weit und breit kein Mensch zu entdecken, der, ihr hätte Hilfe bringen können. Es wäre auch zu spät gewesen, denn das Wasser stieg unaufhörlich.
Resigniert ließ sie sich auf den nassen Sand sinken und schluchzte einmal auf.
So ist das also, wenn man den sicheren Tod vor Augen hat, dachte sie verzweifelt. Man kann sich nicht wehren und muss warten, bis er kommt und einen erlöst hat.
Und dabei hätte sie so gern gelebt. Mit dreiundzwanzig hat man normalerweise doch das Leben noch vor sich. Nur sie nicht. Es wäre gut, wenn ich mich auf den baldigen Tod vorbereiten würde, statt verzweifelt zu versuchen, noch einen Ausweg zu finden, obwohl ich doch genau weiß, dass es keinen gibt.
Es wird ein langsamer, qualvoller Tod sein.
Tina merkte, wie die Angst nach ihr griff. Sie wünschte sich, vorher ohnmächtig zu werden, damit sie nicht spürte, wie das Wasser in ihre Lungen geriet und sie erstickte.
Weinend legte sie das Gesicht auf die angezogenen Knie.
*
Dorian Hedensee pfiff laut und schrill. Der prächtige Airedaleterrier hob den Kopf und sah ihn aufmerksam an.
»Komm, Puck! Jetzt war es lange genug. Wir müssen heim!«, rief Dorian und lachte dem prachtvollen Tier zu. Puck kam sofort zurück und patschte folgsam neben ihm über den nassen Sand. Plötzlich blieb der Hund stehen, hob die viereckig aussehende Nase mit dem nach vorn gebürsteten Schnauzhaar hoch und bellte.
Dorian blieb stehen und sah sich um. Wenn Puck so unvermittelt Laut gab, dann war da etwas, was sein Misstrauen erregt hatte.
Der große, starke Mann mit dem dunklen Haar hob die rechte Hand über die Augen, um sie gegen die Sonne zu schützen, und entdeckte tatsächlich einen zusammengesunkenen Körper.
»Na los, sehen wir mal nach, Puck. Aber wehe dir, wenn es nur wieder einer der Seehunde ist«, sagte Dorian und lief über das Watt, bis er, wie vom Donner gerührt, stehen blieb und hervorstieß: »Aber … Das ist ja ein Mensch! Ein Mädchen!«
Es hockte im Wasser, sah nicht auf und schien nichts mehr wahrzunehmen.
Dorian fühlte, wie Zorn in ihm hochstieg. Zorn über den Leichtsinn mancher Menschen, die sich in Lebensgefahr begaben und darin umkamen, wenn nicht ein Wunder geschah. Aber das Wort blieb ihm im Hals stecken, als er sah, aus welchem Grund dieses zarte Mädchen im Wasser hockte. Ihr Fuß stecke in einer alten Ankerkette, die es hier und da noch gab.
Dorian wusste, dass auch er in Gefahr war. Er durfte keine Zeit verlieren. Und so ging er nicht gerade sonderlich sanft mit Tina um, die noch gar nicht zu begreifen schien, dass da in letzter Minute ein Retter gekommen war.
Er beugte sich zu der alten Kette nieder, sah sich den Fuß an, der schon stark geschwollen war, und sagte mitleidig:
»Beißen Sie die Zähne aufeinander, ich muss Ihnen jetzt sehr wehtun.« Aber er wusste nicht, ob seine Worte das Mädchen auch erreicht hatten, denn es reagierte kaum.
Er wusste nur, dass keine Zeit mehr zu irgendwelchen Erklärungen war. Und so stellte er sich auf eines der Kettenglieder und beugte sich zu Tinas Fuß hinab, nahm ihn und riss ihn empor.
Tina schrie auf, denn der Schmerz war so übermächtig, dass sie glaubte, den Verstand verlieren zu müssen.
Dass es Dorian gelungen war, ihren Fuß aus der Ankerkette zu befreien, bekam sie schon nicht mehr mit. Sie war ohnmächtig geworden.
»Na, dann wollen wir mal«, sagte Dorian und hob Tina auf die Schulter. Er konnte, da es wirklich um Minuten ging, nicht besonders zart mit ihr umgehen. Und so lief er denn, ein klein wenig gebückt und von dem fröhlich bellenden Puck umsprungen, zum Festland hinüber, wo sein Boot vertäut war.
Er legte die noch immer ohnmächtige Tina auf die Bank, warf den Motor an und fuhr los. Puck hatte sich vor Tina niedergelassen und ließ keinen Blick von ihr.
Das schnittige Boot erreichte die Fahrrinne und fuhr unter den Klippen entlang bis zu einem kleinen natürlichen Hafen. Dort wartete ein vierschrötiger Mann auf Dorian. Er hatte weißes Haar, breite Schultern, und man sah ihm an, dass er über unheimliche Kraft verfügen musste.
»Ich habe Sie schon beobachtet, Herr Hedensee, habe auch gesehen, wie Sie das Mädchen zum Boot trugen. Ich werde Ihnen helfen.«
»Gut, Paul. Trag sie hoch zur Burg. Wir müssen den Arzt benachrichtigen. Ich fürchte, der Fuß ist gebrochen, denn ich musste ihn mit Gewalt aus einer Ankerkette befreien.«
»Sie ist nass und ganz kalt. Die Frauen werden sich um sie kümmern müssen.«
Paul nahm Tina auf seine Arme, als bedeutete sie überhaupt keine Last für ihn. Und dann ging er, sicher und wie einer, der sich hervorragend auskannte, die Stufen empor, die in den Felsen gehauen waren. Puck hechelte hinter ihm drein. Dann folgte Dorian.
Der Wind zerrte an Tinas Haaren, als sie den Vorplatz der Burg erreicht hatten. Paul trug sie unentwegt weiter, bis sie endlich in der Halle standen, wo ihnen eine alte Frau erstaunt und abwehrend zugleich entgegensah.
»Kümmer dich um sie, Dora«, sagte Dorian und nickte der alten Frau zu. »Ich rufe den Arzt an.«
Die alte Frau im grauen Kleid wandte sich ab und folgte Paul, der schon die Treppe emporstapfte.
Es dauerte auch nicht lange, bis Dora den Riesen hinausschickte und Tina entkleidete. Sie rieb den kalten, nassen Körper trocken und ging hinaus, um wenig später mit einem Spitzennachthemd zurückzukommen, das sie Tina überzog. Dann sah sie sich den Fuß an, der dick angeschwollen war. Dora schüttelte den Kopf und legte ein Kissen unter den geschundenen Fuß, sodass er ein wenig höher gelagert werden konnte. Dann stand sie da und sah Tina in das wachsbleiche Gesicht. Keine Regung war ihren Zügen anzumerken, als sie sich abwandte und das Zimmer verließ, um dafür zu sorgen, dass man Wärmflaschen und eine heiße Suppe brachte. Die konnte das Mädchen bestimmt brauchen, wenn sie erst mal aus der Bewusstlosigkeit aufgewacht war.
Dorian hatte den Arzt angerufen und ging nun schnell in sein Zimmer, um sich umzukleiden, denn auch er war nass geworden, als er Tina aus ihrer misslichen und gefährlichen Lage befreit hatte.
Puck folgte ihm auf dem Fuße, und es schien niemand zu merken, dass die Hundepfoten überall nasse Recken hinterließen.
Niemandem in der Burg wäre es eingefallen, Puck hinauszujagen, denn alle wussten, dass er und Dorian unzertrennlich wären.
Als Dorian zehn Minuten später sein Zimmer verließ, fabelhaft aussehend in der grauen Hose und dem weißen Seidenhemd, traf er auf Dora, die gerade mit zwei Wärmflaschen in Tinas Zimmer verschwinden wollte.
»Was macht sie? Wie geht es ihr? Ist sie schon wieder zu sich gekommen?«, wollte er wissen.
»So schnell geht das nicht. Was hast du nur mit ihr gemacht? Der Fuß sieht ja schlimm aus, Dorian.«
»Das kann ich mir denken. Ich habe ihn mit Gewalt aus einer alten Ankerkette reißen müssen. Es war allerhöchste Zeit, denn die Hut kam. Ohne Puck wäre sie jetzt tot. Er hat sie entdeckt, und da war sie vor Angst und Schmerz schon mehr tot als lebendig.«
Dorian begleitete seine alte Kinderfrau in das Zimmer, in das sie Tina hatte legen lassen, und warf einen Blick auf die Gestalt. Tinas Gesicht drückte Zufriedenheit aus. Es schien, als spürte sie im Unterbewusstsein, dass sie noch einmal mit dem Leben davongekommen war. Aber sie hatte die Augen fest geschlossen und rührte sich nicht.
»Der Fuß ist gebrochen«, sagte Dora höchst überflüssigerweise.
Er nickte. »Das kann ich mir vorstellen. Dr. Jansen sagte, dass er sofort herkommen will.«
»Willst du sie in der Burg behalten, Dorian?«, fragte die Alte, ihre hellen Augen sahen ihn an.
»Kannst du mir einen anderen Vorschlag machen, Dora?«, wollte er wissen. »Soll ich sie ins Hospital bringen und mich nicht mehr um sie kümmern?«
»Ich sehe nur Schwierigkeiten, wenn sie hierbleibt«, murmelte Dora und sah auf Tinas Gesicht.
»Hör auf, dich wie eine Spökenkiekerin zu benehmen, Dora. Was sollten denn für Schwierigkeiten auftreten? Ich bin der Herr der Burg, und ich habe zu bestimmen, wer hier aufgenommen wird. Und dieses Mädchen braucht Hilfe.«
»Ich werde mich schon darum kümmern. Hauptsache, du kümmerst dich um alles andere«, sagte Dora leidenschaftslos. Man sah ihr nicht an, was sie wirklich dachte.
Der alte Landarzt kam eine halbe Stunde später, sah sich den Fuß an, betastete ihn vorsichtig und sagte lakonisch: »Der ist kaputt. Gips können wir nicht machen, weil der Fuß viel zu dick angeschwollen ist. Ich kann ihn nur mit Salbe behandeln. Scheint ein glatter Bruch zu sein. Am besten, wir bringen sie ins Hospital, Dorian.«
»Kommt nicht infrage!« Dorian wusste selbst nicht, was ihn sich so sehr dagegen wehren ließ, das unbekannte Mädchen ins Hospital zu fahren. »Wenn die Schwellung abgeklungen ist, bringe ich sie zu dir in die Praxis, Wilhelm. Und dann kannst du den Fuß dort röntgen und eingipsen. Aber ins Hospital kommt sie nicht. Dort liegt sie völlig allein.«
»Wenn mich nicht alles täuscht, wohnt sie bei der alten Meta Clasen. Die solltest du wenigstens benachrichtigen. Du weißt doch, dass die sich immer Sorgen um ihre Gäste macht, wenn sie mal nicht pünktlich heimkommen.«
»Das werde ich gleich tun«, versprach Dorian und verfolgte, wie Dr. Jansen den zarten Fuß, der so geschunden worden war, mit kühlender Salbe bestrich und dann vorsichtig und bemerkenswert geschickt einen Verband anlegte.
Schließlich sah der alte Arzt zu Dorian empor und sagte warnend: »Sieh zu, dass sie nicht erst versucht, aufzutreten. Ich kann dann für nichts garantieren. Ich lasse die Salbe hier. Dora ist geschickt genug, um den Verband am Abend und am Morgen zu erneuern. Sobald die Schwellung abgeklungen ist, kommst du mit ihr in meine Praxis. Und dann sehen wir weiter.«
»Danke, dass du so schnell hergekommen bist, Wilhelm.«
»Das ist ganz selbstverständlich, denn wenn ich zur Burg gerufen werde, weiß ich, dass jemand wirklich krank ist. Ich kenne euch alle und weiß demnach, dass ihr euch allesamt der besten Gesundheit erfreut.«
Dorian ging mit Dr. Jansen hinunter. Sie tranken einen Korn miteinander, und dann fuhr der alte Mann wieder los. Nachdenklich ging Dorian in die Burg zurück, wo Dora schon auf ihn wartete und ihn ansah.
»Du willst sie wirklich hierlassen, Dorian?«, fragte sie ihn.
Er nickte und erwiderte: »Aber ganz sicher wird sie hierbleiben, Dora. Sie wird in der nächsten Zeit Schmerzen haben und sich vielleicht auch ängstigen. Das wäre im Hospital noch schlimmer für sie als hier, wo man sich mehr um sie kümmern kann. Deshalb soll Egon nachher zu Meta Clasen fahren und das Gepäck der jungen Dame holen. Ich werde mit Meta Clasen sprechen und ihr alles erklären.«
»Du bist hier der Herr, Dorian, aber ich hoffe, du weißt, was du tust.«
Bevor Dorian noch etwas sagen konnte, war die alte Dame schon gegangen. Er blickte ihr unsicher nach. Was meinte sie eigentlich? Er fand überhaupt, dass sie, besonders in der letzten Zeit, reichlich seltsam sein konnte.
*
Tina seufzte schwer, warf den Kopf hin und her und schlug dann die Augen auf.
Alles war ihr fremd. Es war nicht ihr Zimmer, das sie bei Frau Clasen gemietet hatte. Um alles in der Welt, wo war sie nur? Und wem gehörte das teure Nachthemd, das ihr irgendwer angezogen haben musste?
Tina sah sich um und blickte dann in die wachen Augen eines jungen Mädchens.
Tina lächelte unsicher, aber das Mädchen blieb ganz ernst. Kein Muskel regte sich in seinem schönen Gesicht. Tina glaubte, noch nie ein so schönes weibliches Wesen gesehen zu haben.
»Wer sind Sie?«, fragte Tina, der es unter den Blicken des Mädchens unbehaglich wurde. »Was tun Sie hier? Und wie komme ich eigentlich hierher? Wo bin ich überhaupt?«
»Das alles wird Ihnen jemand anderes beantworten. Ich bin nur hier, weil ich Sie warnen möchte.«
»Warnen?«, wiederholte Tina verständnislos. »Vor wem und was denn?«
»Sie sollten allen Ernstes daran denken, die Burg so schnell wie möglich wieder zu verlassen.«
»Die Burg? Was für eine Burg?«, wollte Tina wissen. Sie begriff noch nichts. Und sie ängstigte sich auch, denn das Mädchen verzog immer noch keine Miene, sondern betrachtete sie eher mit zurückhaltender Neugier.