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Anstößig-steinig und zum großen Teil selbstverschuldet: Nachdem die Kundschafter des Neuen nicht gehört wurden, ist das Gottesvolk viele Jahrzehnte in der Wüste unterwegs. Was die Bibel beschreibt, kennzeichnet in gewisser Weise auch den Zustand der Kirche. Damals wie heute gibt es jedoch die Erfahrung: Gott kann gerade durch Wüstenwege sein Volk formen und neu ausrichten. Diese Neuausrichtung zielt sowohl auf strukturelle Elemente als auch auf eine erneuerte Kultur und eine dafür notwendige Haltung der einzelnen Akteure. Die Notwendigkeit von Strukturreformen voraussetzend ist der Autor mit unterschiedlichen Menschen und Verantwortungsträgern der Frage nachgegangen: Wo zeigen sich – gerade im "Sand und Staub" und in manchem "Schutt der Jahrzehnte" – kleine Pflänzchen, die auf eine künftige Kultur verweisen? Wie kann das Evangelium die gemeinsame Suche und Ausrichtung auf den Auftrag des Herrn für seine Kirche im Jetzt durchdringen und wie führt es zugleich Menschen in eine innere Freiheit? Der Autor stellt Prinzipien vor, die im Bistum Fulda die Basis für zukünftige Entscheidungen bilden werden und weit über Fulda hinaus anregend und hilfreich sind. Persönliche Praxisreflexionen von Bischof Gerber regen dazu an, eigenen Erfahrungen auf die Spur zu kommen und sich auf Wüstenwegen nicht entmutigen zu lassen.
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Seitenzahl: 158
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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: Krypta der Michaelskirche Fulda, eingeweiht 822 © Bistum Fulda, Foto: Marcel Schawe
Satz: Barbara Herrmann, Freiburg
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN Print 978-3-451-39748-6
ISBN E-Book (E-Pub) 978-3-451-83263-5
ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83262-8
Inhalt
Vorwort
Prolog: Ein Halleluja in dunklen Zeiten
1. Kirche auf Wüstenwegen: Das Beispiel Algerien
2. Persönlichkeitsentwicklung auf dem Glaubensweg mit Jesus Christus
3. Radikal vom Ziel zum Mittel
4. Menschen erfahren kirchliches Handeln als relevant und inspirierend
5. Not sehen und handeln und zum Handeln ermächtigen
6. Kirchliche Vielfalt in fruchtbarer Spannung der Einheit, die Jesus Christus schenkt
Schluss
Anhang
Vorwort
Tiefgründig oder doch eher abgründig? Was tritt zum Vorschein, wenn ein katholischer Bischof »in der Tiefe …« nach Perspektiven für Gottes Volk heute sucht?
Das vorliegende Buch entstand im zehnten Jahr, in dem ich Bischof bin, und im fünften Jahr als Bischof von Fulda. Die zurückliegenden zehn Jahre haben mich geprägt. Meine Zeit als Weihbischof war eine erste Phase mit der Frage: Was könnte es heute bedeuten, Bischof zu sein? Nach meinem Amtsantritt in Fulda wurde ich rasch mit drei schockierenden Ereignissen im Bistumsgebiet konfrontiert: die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke im Juni 2019, die Anschläge von Hanau Anfang 2020 und wenige Wochen danach die Amokfahrt am Rosenmontag in Volkmarsen. Nur Tage später wurde unser Leben geprägt vom Ausbruch und den Folgen der Corona-Pandemie. Aktuell erleben wir die großen Krisen in der Ukraine, im Nahen Osten und in weiteren Regionen der Welt. Sie stellen mir die Frage: Wo und wie sind wir dabei als Kirche gefordert? Wie widerstehen wir der Versuchung, angesichts aller innerkirchlicher Herausforderungen um uns selbst zu kreisen? Wo werden wir als inspirierend und relevant erfahren?
Wer sich auf die Suche nach dem Tiefgründigen begibt, darf die Auseinandersetzung mit dem Abgründigen nicht scheuen. Sonst besteht die Gefahr, dass das, was als tiefgründig dargestellt wird, sich bei genauerer Betrachtung als allzu seicht erweist. Auf eine meiner Predigten bekam ich zwei Tage später eine kritische Zuschrift: »Herr Bischof, wohin soll denn das noch alles führen?« Ja, genau, wohin führt das? Wir stehen als Gesellschaft und als Kirche in selten gekannter Radikalität vor der Grundfrage: reine Selbsterhaltung oder beherzter Einsatz für andere? Wie oft haben wir uns bislang nicht schon einseitig für die Option Selbsterhaltung entschieden …
Wenn mir nach menschlichen Maßstäben noch 20 Jahre als Bischof von Fulda gegeben sind, dann kann es mir nicht darum gehen, angesichts der Abbrüche im kirchlichen Leben noch möglichst viel in die Zukunft hinüberzuretten. Mir geht es um eine Qualität, die von Tiefe und Weite geprägt ist. Das schließt die Fähigkeit mit ein, bewusst loszulassen. Mich beschäftigt die Frage, wie wir tatsächlich noch mehr im Modus des Loslassens veränderungsbereit werden, weil wir als Christinnen und Christen in der Nachfolge dessen sind, der am Ende alles losgelassen hat – Jesus, der Gekreuzigte, der der Auferstandene ist. Er spricht zu Petrus: Ein anderer wird dich führen, wohin du nicht willst (vgl. Joh 21,18). Ich bin überzeugt: Dieses Wort Jesu gilt uns allen – gerade heute.
In den vergangenen beiden Jahren habe ich begonnen, mit Leitungsverantwortlichen im Bistum Fulda in einem größeren Prozess darum zu ringen: Wenn an die Kirche in diesem Sinne der Anspruch ergeht, sich in die Nachfolge Jesu zu begeben, nach welchen Prinzipien treffen wir künftig Unterscheidungen und Entscheidungen? Was sind die Kriterien für unsere Schwerpunktsetzungen? Fünf Prinzipien haben wir formuliert und seitdem mehrfach einer kritischen Prüfung unterzogen. Im zweiten bis sechsten Kapitel dieses Buches stelle ich diese fünf Prinzipien vor und erläutere sie über vielfältige Beispiele.
Das Ringen um diese Prinzipien geschieht auch in Auseinandersetzung mit dem Abgründigen, das in der Kirche zutage tritt. Allem voran sind das die verschiedenen Ausprägungen des Missbrauchs. Damit einher geht ein eklatanter Verlust von Glaubwürdigkeit sowie die deutlich nachlassende Bereitschaft, sich im kirchlichen Leben zu engagieren. In den vergangenen fünf Jahren ist in mir die Überzeugung gewachsen, dass es nicht genügt, diese schwierigen Themenfelder als solche zu bearbeiten. Unabdingbar sind einerseits Maßnahmen etwa der Aufarbeitung und der Anerkennung des Leids. Doch andererseits braucht es auch einen Prozess der Aufarbeitung an uns selbst, der Art und Weise, die Wirklichkeiten wahrzunehmen, die Art des Mitfühlens und das daraus resultierende Entscheiden, Handeln und Ausprägen von schützenden Strukturen.
Nach meinen ersten fünf Jahren in Fulda bin ich davon überzeugt: Ja, in unserer Kirche lässt sich das Tiefgründige finden. Im Leben der Kirche stoßen wir auf das, was unserem Leben Fundament und Orientierung gibt. Ja, es gibt IHN – Gott, der fortgesetzt als Handelnder erfahren werden kann. Die Tiefgründigkeit von Gottes Handeln zeigt sich gerade da, wo wir uns auch dem Abgründigen in der Welt und in der Kirche unserer Tage stellen. Gott spricht zu seinem Volk im Schrei, aber auch im Verstummen der Verletzten an Leib und Seele – und er fordert uns unvertretbar zum Handeln heraus.
In diesem Buch begegnen sich konkrete Menschen mit ihrem gelebten Leben – von vor 3000 Jahren aus der Zeit des Alten Testaments, bis hin zu Erfahrungen, die im August 2023 gemacht wurden. Die damit verbundenen Begegnungen prägen mich und unser kirchliches Leben. Ich bin deshalb sehr dankbar, dass mir die Personen, die hinter den aktuellen Erzählungen stehen, die Erlaubnis gegeben haben, ihre Geschichte in dieses Buch einzubringen. In einigen Fällen haben sie mich unmittelbar unterstützt, die richtigen Worte zu finden – vor allem an den Stellen, die auszudrücken versuchen, was kaum zu beschreiben ist.
Selbsterhaltung oder Hingabe? Bei der Erstellung meiner Doktorarbeit vor vielen Jahren habe ich gelernt, wie wichtig die ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Motivation ist. Gerade dort, wo wir als Entscheidungsträger oder auch als Gesellschaft insgesamt unter Druck geraten, ist es umso wichtiger, kritisch die eigenen Motive im Blick zu haben: Welche Erfahrungen und welche Visionen prägen mich im Kern? Diesem Themenkomplex gehe ich im Prolog und im ersten Kapitel nach.
Dankbar bin ich den Menschen, mit denen ich seit geraumer Zeit um die Formulierung und die Verlebendigung der fünf Prinzipien der Unterscheidung und Entscheidung ringe. Allen voran sind dies Generalvikar Christof Steinert und sein Stellvertreter, Domkapitular Thomas Renze. Von Anfang an haben sich intensiv in diesen Prozess eingebracht: Sr. Igna Kramp CJ, Gabriele Beck, Stefan Groß und mein persönlicher Referent Peter Zürcher. Sie haben sich zudem auch kritisch-engagiert an der Entstehung dieses Buches beteiligt. Für mich war und ist dies eine in der Tiefe des Wortes synodale Erfahrung. Danken möchte ich auch jenen, die die weiteren Schritte bis zur Veröffentlichung begleitet haben: Martina Gaymann, Stefanie Orth und Claudia Switalla durch ihre kritische Lektüre und Dr. Stephan Weber vom Verlag Herder.
Wer dieses Buch liest und mich als Bischof von Fulda erlebt, wird möglicherweise sehr schnell entdecken, wo ich hinter meinen eigenen Ansprüchen auch zurückbleibe. Auch das gehört zum Ringen inmitten von Abgründigem und Tiefgründigem: das Bruchstückhafte des eigenen Handelns zu erkennen und dies von anderen immer wieder schonungslos gespiegelt zu bekommen. Doch zugleich verbinde ich mit diesem Buch die Hoffnung, dass wir uns vom Erkennen der eigenen Grenzen nicht entmutigen lassen, sondern um Christus und der Menschen willen miteinander um das ringen, was vom Evangelium und von den Zeichen der Zeit her heute von uns gefordert ist.
Prolog: Ein Halleluja in dunklen Zeiten
Zitternd nehme ich das Mobiltelefon in die Hand und wähle die Nummer meiner Schwester. »Papas Gesundheitszustand hat sich rapide verschlechtert!« – Das war ihre Botschaft am Vorabend. Gut zwei Jahre ist es her, dass bei unserem Vater eine Krebserkrankung ausgebrochen ist. Eine Zeit voller Herausforderungen mit vielen Höhen und Tiefen liegt hinter uns. Nachdem meine Schwester mir am Vorabend die Lage geschildert hat, haben wir für den Sonntagmorgen nach der heiligen Messe einen erneuten Kontakt vereinbart.
Nach nur wenigen Klingelzeichen nimmt meine Schwester den Hörer ab. Unvermittelt schildert sie mir die Situation: »Du kommst gerade zum Sterben von Papa dazu. Einen Moment – ich gebe ihn Dir noch mal.« Was dann folgt, ist eines der wohl eindrucksvollsten Telefonate meines Lebens. Am anderen Ende der Leitung höre ich die Stimme meines Vaters – schwächer werdend, aber noch deutlich vernehmbar. Bei dem wenigen, was er mir noch sagen kann, kommt kein Zweifel auf, dass es meinem Vater sehr bewusst ist, in welcher Situation er sich befindet und dass er in diesem Moment Abschied von seinem Sohn nimmt. »Jetzt ist es vollbracht – Halleluja«, beschließt er unser Telefonat. Trotz aller Schwäche klingt das »Halleluja« fast freudig, in jedem Fall aber kraftvoll und zuversichtlich. Keine 40 Minuten später klingelt erneut das Telefon: »Papa ist jetzt gerade gestorben.«
Wir vereinbaren, dass ich mich sogleich auf den Weg in die Heimat mache. Während ich meine Sachen packe, klingt in mir bei allem Schmerz jenes letzte Halleluja meines Vaters sehr intensiv nach. Mein Eindruck: In diesem Halleluja im Angesicht des Todes kam das große Gottvertrauen zum Klingen, das meinen Vater sein Leben lang geprägt hatte. Sein Lebensweg kannte insbesondere in den letzten Jahrzehnten manch steinige Passage. Mitte der 80er Jahre war unsere Mutter schwer an Rheuma erkrankt. Es folgten unzählige Operationen, Klinikaufenthalte und insbesondere eine ständige Anspannung, welcher Entzündungsschub als nächstes anstehen würde. Wir Kinder haben unsere Eltern sehr bewundert, wie sie diese Herausforderungen annehmen konnten. Dabei hatten wir den Eindruck, sie selbst und damit auch ihre Beziehung waren in dieser Zeit der Bewährung weiter gereift. Schließlich war mein Vater nach dem frühen Tod unserer Mutter mehr als 20 Jahre Witwer. In dieser Lebensphase habe ich nie erlebt, dass er mit seinem Schicksal haderte. So dankbar, wie er auf die gemeinsame Zeit mit unserer Mutter zurückschaute, so entschlossen ging er die neue Lebensphase an. Er brachte sich so gut es ging in unterschiedliche Projekte ein und gestaltete seinen Lebensalltag.
Gut eine Stunde nach Erhalt der Todesnachricht lenke ich mein vollbepacktes Auto auf die Autobahn. Die ersten 100 Kilometer nach Süden bis Hanau führen durch das Bistum Fulda. Auch an diesem Sonntag mache ich die kleine Übung, die ich gerne praktiziere, wenn ich mit dem Auto oder mit der Bahn durch das Bistum fahre. Dabei vergegenwärtige ich mir, durch welche Pfarrei ich gerade fahre, und versuche, mich in einem kurzen Stoßgebet mit den Menschen dort zu verbinden. Jetzt, um diese Uhrzeit, werden in etlichen Pfarrkirchen gerade die Sonntagsgottesdienste gefeiert. Unwillkürlich geht mir durch den Kopf: »Heute weißt du sogar, was die Pfarrer predigen – nämlich dein eigenes bischöfliches Hirtenwort.« Traditionell wird im Bistum Fulda – wie in vielen Bistümern – am Ersten Fastensonntag ein Predigttext verlesen, den der Bischof verfasst hat.
Impulsgeber für mein Hirtenwort ist in jenem Jahr das Jubiläum der Michaelskirche. Die bedeutende Rundkirche unweit des Fuldaer Doms wurde im Jahr 822 eingeweiht. Dieses älteste Kirchengebäude des Bistums Fulda ist für mich zu einem Sinnbild für unsere Kirche geworden. Es wurde in den vergangenen 1200 Jahren mehrfach zerstört. Der Wiederaufbau geschah zwar so, dass der ursprüngliche Plan erkennbar blieb. Jedoch handelte es sich in der Regel nie um eine exakte Rekonstruktion. Immer wieder wurden zeitgenössische Elemente mit aufgenommen. Doch bei allen Erschütterungen ist ein bestimmter Teil der Kirche tatsächlich seit 1200 Jahren unverändert geblieben: Die Krypta mit ihrer eindrucksvoll archaisch wirkenden Säule unterhalb der Rotunde hat alle Zerstörungen unbeschadet überstanden. Sie ist weiter das Fundament für die Kirche geblieben.
Bei meiner Fahrt nach Süden schießt mir durch den Kopf: »Diese Krypta erzählt auch etwas von deinem Vater.« Erschütterungen hat mein Vater viele erlebt, angefangen von der Kindheit und Jugend im Zweiten Weltkrieg. Aber – und das haben gerade die letzten Wochen seines Lebens sehr eindrücklich gezeigt – in seinem Leben, auf dem Grund seiner Seele, muss es so einen Ort wie jene Krypta in der Michaelskirche gegeben haben. Die Art und Weise, wie er gerade in Krisenmomenten reagiert hat, zeigte deutlich: Da gibt es ein festes Fundament, das trägt und Orientierung gibt angesichts zahlreicher Erschütterungen.
Auf der Fahrt kommt mir jene Situation in den Sinn, die mir meine Schwester kurz zuvor geschildert hat. Gut drei Wochen vor dem Tod war der Moment gekommen, dass der behandelnde Arzt meinem Vater eröffnete, dass nun wohl eine sehr späte und womöglich letzte Phase der Krankheit angebrochen sei. Mein Vater hat darauf mit einer ungewöhnlichen Gelassenheit reagiert. Er, der sehr gerne gelebt hat, der sich auch bei fortschreitender Krankheit und damit verbundenen Einschränkungen an vielen kleinen Dingen des Lebens erfreuen konnte, er reagierte auf diese Nachricht mit einer bewussten Annahme dessen, was ihm bevorstand, und zugleich voller Zuversicht. Diese Haltung zeigte sich auch in den folgenden Wochen– bis hin zu seinem Halleluja am Telefon.
Auf der gut dreistündigen Fahrt zu meinem toten Vater fügen sich in mir mehrere Erfahrungslinien und Gedankengänge zusammen. Ich komme zu der Überzeugung, in meiner Biografie auf etwas gestoßen zu sein, was zum integralen Auftrag der Kirche gehört. Mein Leben ist geprägt von Menschen, angefangen bei meinen Eltern, die manch existenzielle Erschütterung erlebt haben und die zugleich erleben durften: Da gibt es – bildlich ausgedrückt – eine Krypta, ein Fundament, einen Raum des Heiligen. Dieser Raum trägt gerade auch in Situationen, die mit Grenzerfahrungen verbunden sind. Diese Erschütterungen hinterlassen deutliche Spuren. So waren meine Eltern im Laufe der Jahre mehr und mehr von ihrer jeweiligen Krankheit gezeichnet. Und doch – was da geworden ist, war zugleich Ergebnis eines neuen Prozesses des Wachsens und des Reifens. Darin zeigt sich verborgen die Bedeutung einer solchen »Krypta«.
Schauen wir auf die ersten Jahre der Kirche. Die Apostelgeschichte zeichnet uns wesentliche Linien. Wir stoßen auf Menschen, in denen sich eine solche »Krypta« geformt hat: Maria, die Mutter Jesu, Maria von Magdala, Petrus, Paulus, Stephanus und viele andere. Sie werden vor große Herausforderungen gestellt. Und doch – sie wachsen an diesen Herausforderungen, werden mehr und mehr sie selbst. Sie werden mehr und mehr diejenigen, die das Evangelium verkünden und es vor allem mit der Art und Weise bezeugen, wie sie leben.
In der Schilderung der Mutter Jesu zeigt sich das für mich besonders deutlich. Die »Ankündigung der Geburt Jesu« (vgl. Lk 1,26–38) enthält aus meiner Sicht wesentliche Elemente einer solchen Krypta-Erfahrung. Es geht um ein existenzielles, lebensprägendes Ereignis. Maria soll Mutter werden, ohne ganz zu begreifen, wie das in diesem Falle zu verstehen ist. Zugleich ist sie in diesem Vorgang als nachdenkende und kritisch nachfragende Person ernst genommen. Schließlich geht es um ihre freie Zustimmung. Eine Krypta-Erfahrung ist eben nicht eine »einfach nur schöne« Erfahrung, sondern kann sehr wohl mit existenziellen Herausforderungen verbunden sein. In jedem Fall ist sie aber eine Erfahrung, als Subjekt ernst genommen zu sein. Sie ist zugleich eine Erfahrung der Fülle, des Beschenktwerdens, wie es in dem Wort des Engels zum Ausdruck kommt, Maria habe bei Gott Gnade gefunden.
An diese Krypta-Erfahrung kann Maria später in weiteren existenziell herausfordernden Situationen anknüpfen. Die Geburt Jesu und später die Suche des Zwölfjährigen im Tempel werden von Maria nicht nur einfach »irgendwie durchgestanden«. In beiden Fällen heißt es, Maria habe das, was sie erlebt und vor allem, was sie gehört hat, in ihrem Herzen erwogen. Es zeigt sich hier die Fähigkeit, ein herausforderndes Erlebnis schließlich zu einem wertvollen und prägenden Erfahrungsschatz werden zu lassen.
Auch wenn der historische Kern der Kindheitsgeschichten Jesu immer wieder wissenschaftlich angefragt wird, so zeigt sich meines Erachtens in den Schilderungen der Evangelien ein Charakterzug, den die Christinnen und Christen der ersten Jahrzehnte zu Lebzeiten Marias bei ihr wahrgenommen haben. Bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–11) wird dies sehr deutlich. Im Raum ist eine große Spannung. Der Wein ist ausgegangen. Maria selbst erlebt in der unvermittelten Reaktion Jesu auf ihren Hinweis eine weitere und sehr persönliche Spannung. »Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.« (Joh 2,4) Doch Maria handelt bei all dem aus einer inneren Ruhe und Gelassenheit, die ausstrahlt und überzeugt. Mit ihrem Hinweis an die Diener eröffnet sie die entscheidende Perspektive. Maria wird später in der kirchlichen Tradition als »Mutter und Urbild der Kirche« bezeichnet. Ich frage mich, ob der Autor des Johannesevangeliums hier bei der Schilderung Marias nicht einen Charakterzug darstellt, der nicht nur auf die Mutter Jesu zutrifft, sondern auch auf viele der ersten Christinnen und Christen, und ob genau das die Zeitgenossen so fasziniert hat.
Auch in der neueren Forschung wird weiterhin der Frage nachgegangen, weshalb trotz aller Verfolgung das Christentum in der Antike als eine attraktive Alternative zu den bestehenden Religionen erfahren wurde. Zentral ist dabei die These von der »Präzisierung des Monotheismus« (Paul Veyne): Die Götter des Olymp werden so geschildert, dass sie oft mit sich selbst und ihren Machtspielen beschäftigt sind. Demgegenüber ist der Gott Israels und der Gott Jesu Christi einer, der sich den Menschen und dem einzelnen Menschen in Liebe zuwendet. Die Faszination der Zeitgenossen wurde jedoch nicht nur durch eine explizite Verkündigung der ersten Christinnen und Christen angeregt. Vielmehr haben die Zeitgenossen erlebt: In ihnen begegnen uns Menschen, die bei allen eigenen Herausforderungen eine große innere Freiheit gefunden haben, mit der sie sich uns in Liebe zuwenden können.
Gerade aus diesem Grund bin ich überzeugt: Heute gehört es zutiefst zum Auftrag der Kirche, Menschen so zu begleiten und zu fördern, dass sie einen Zugang finden zur »Krypta ihres Lebens«. Das ist ein Prozess, der sich nicht planen lässt. Er ist mitbestimmt von vielen äußeren Faktoren. In diesem Sinne braucht es vor allem eine Aufmerksamkeit dafür, welche günstigen, äußeren Rahmenbedingungen sich dafür gestalten lassen. Vor allem aber setzt der Prozess den unbedingten Respekt vor der Freiheit der jeweiligen Person voraus. Noch deutlicher ausgedrückt: Das Entdecken der eigenen »Krypta« soll die innere Freiheit der Person entscheidend stärken.
Neben der tragenden Tiefe hat die Krypta der Fuldaer Michaelskirche noch eine weitere Dimension. Der Raum findet seine Mitte in einer archaisch-gedrungen wirkenden Säule. Gerne wird sie als Symbol für Jesus Christus gedeutet. In ihm – Christus – findet meine »Krypta« eine Mitte. Das ist das Zeugnis der ersten Christinnen und Christen und später unzähliger weiterer Frauen und Männer, bis hin zu meinen Eltern.
Die Zeiten scheinen alles andere als günstig zu sein, dass die Kirche diesem Auftrag gerecht werden kann. Wenige Wochen vor dem Tod meines Vaters sind die Gutachten zum Ausmaß sexualisierter Gewalt der Erzbistümer Köln und München-Freising erschienen. Wenige Tage vor dem Ersten Fastensonntag haben russische Truppen die Ukraine überfallen. Wie kann ein Zeugnis glaubwürdig sein, wenn kirchliche Amtsträger Schutzbefohlenen unsägliches Leid zugefügt haben und Christen gegeneinander Krieg führen? Kann in einer solchen Situation eine Krypta-Erfahrung möglich sein?
Der Blick auf die »Krypta« meiner Eltern ermutigt mich. Ihre »Krypta« wurde wesentlich in sehr dunklen Stunden ihres Lebens geprägt. Das waren Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges, aber auch manche für sie sehr irritierende Erfahrungen mit der Kirche, insbesondere in den 50er und frühen 60er Jahren. Mit meinem Vater konnte ich darüber wenige Wochen vor seinem Tod noch ausführlich sprechen. Zugleich war im Leben und im Wirken meiner Eltern aber auch erfahrbar, welches Potential in unserer Kirche liegt, um in ihrer Mitte Menschen solche Krypta-Erfahrungen zu ermöglichen.