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Zwölf Jahre nach der Affäre seiner Frau Irene mit dem Architekten Philip Bosinney verliebt sich Soames Forsyte in die junge Französin Annette Lamotte. Er möchte sie heiraten. Von Irene lebt er inzwischen getrennt, doch die Scheidung steht noch aus. Soames sucht nach Beweisen für ein Fehlverhalten Irenes, um eine Scheidung in die Wege zu leiten. Dabei wird er sich seiner Gefühle unsicher: Soll er sich von der Vergangenheit befreien und mit Annette die Familie gründen, die er sich so sehr wünscht? Oder soll er versuchen, Irene zurückzugewinnen? Zudem scheint auch die Ehe seiner Schwester Winifred mit Montague Dartie gescheitert. Zwei Scheidungen würden den Ruf der Familie schwer belasten. Die Situation spitzt sich zu, als Soames der Verdacht kommt, dass Irene und der junge Jolyon, der nun ihr Treuhänder ist, Gefühle für einander haben. In "Die Forsyte Saga" werden der Auf- und Niedergang einer Familie, die der oberen Mittelschicht Englands Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts angehört, erzählt. Grundthema ist das Leben der fiktiven Familie Forsyte in ihren verschiedenen Facetten. Wiederkehrende Figur ist Soames Forsyte, Prototyp einer ökonomisch erstarkten bürgerlichen Klasse. Er versucht die vom viktorianischen Lebensgefühl geprägten Familienideale und sein Vermögen zu wahren. Geprägt von konfliktreichen, dramatischen Ereignissen, die den Kampf zwischen Familientradition und Befreiung von gesellschaftlichen Fesseln zum Gegenstand hat, gestaltet sich eine unterhaltsame Familiengeschichte über vier Generationen hinweg. Die komplett neue und moderne Übersetzung trägt dazu bei, die zahlreichen Mitglieder der weitverzweigten Forsyte-Familie in Erscheinung treten zu lassen und das Ende einer Epoche aufzuzeigen. Liebhaber der TV-Serie "Downton Abbey" werden ihre Freude an "Die Forsyte Saga" haben.
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Die Forsyte Saga In Fesseln
John Galsworthy
aus dem Englischen von Johanna Bönisch
edition oberkassel
I
II
III
IV
V
Bei Timothy
Abgang eines Mannes von Welt
Soames leitet Schritte in die Wege
Soho
James hat Visionen
Der nicht mehr junge Jolyon zu Hause
Val und Holly
Jolyon waltet seines Amtes als Treuhänder
Val erfährt die Neuigkeit
Soames empfängt die Zukunft
Und besucht die Vergangenheit
An der Forsyte’schen Börse
Jolyon findet heraus, wo er steht
Soames findet heraus, was er will
Die dritte Generation
Soames will es wissen
Besuch bei Irene
Was Forsytes scheuen
Jolly sitzt zu Gericht
Jolyon im Zwiespalt
Dartie gegen Dartie
Die Herausforderung
Abendessen bei James
Tod des Hundes Balthasar
Timothy schiebt dem Unsinn einen Riegel vor
Die Jagd geht weiter
›Da wären wir wieder!‹
Eine sonderbare Nacht
Soames in Paris
Im Spinnennetz
Richmond Park
Über den Fluss
Soames handelt
Ein Sommertag
Eine Sommernacht
James in Wartestellung
Aus dem Spinnennetz heraus
Das Ende eines Zeitalters
In der Schwebe
Ein Forsyte wird geboren
Man sagt es James
Seines
Dank an die LeserInnen
John Galsworthy
Impressum
Titelbild
Inhaltsverzeichnis
Für Andre Chevrillon
»Und kurz nur währt des Sommers Herrlichkeit.«
Shakespeare
Am letzten Maitag Anfang der 1890er Jahre gegen sechs Uhr abends saß der alte Jolyon unter der Eiche unterhalb der Terrasse seines Hauses in Robin Hill. Er wollte noch warten, bis die Mücken ihn stachen, ehe er sich von der Herrlichkeit des Nachmittags verabschiedete.
In seiner dünnen braunen Hand, auf der blaue Venen hervortraten, hielt er einen Zigarrenstummel zwischen den nach oben hin schmäler werdenden Fingern mit den langen Nägeln – spitze, polierte Fingernägel hatten mit ihm jene früheren Viktorianischen Zeiten überdauert, als es so distinguiert gewesen war, nichts anzufassen, nicht einmal mit den Fingerspitzen. Seine hohe, gewölbte Stirn, sein großer weißer Schnurrbart, seine hageren Wangen und sein breiter, hagerer Kiefer wurden von einem alten braunen Panamahut vor der sinkenden Sonne geschützt. Seine Beine waren übergeschlagen. Seine gesamte Haltung strahlte Ruhe und eine Art Eleganz aus, wie die eines alten Mannes, der jeden Morgen Eau de Cologne auf sein Seidentaschentuch träufelt. Zu seinen Füßen lag ein wuscheliger braun-weißer Hund, der versuchte, wie ein Zwergspitz auszusehen – der Hund Balthasar. Die anfängliche Abneigung zwischen ihm und dem alten Jolyon hatte sich über die Jahre in Zuneigung gewandelt.
In der Nähe seines Stuhles hing eine Schaukel und auf dieser Schaukel saß eine von Hollys Puppen – ›die dumme Alice‹ ‒ mit nach vorne über die Beine gekipptem Oberkörper, die traurige Nase in einem schwarzen Petticoat vergraben. Sie war ohnehin stets in Ungnade, deshalb war es ihr egal, wie sie dasaß. Unterhalb der Eiche erstreckte sich der Rasen einen Abhang hinunter bis zu dem Farnwäldchen und ging jenseits dieses schön gestalteten Bereiches in Felder über, die zu dem Teich hinabführten, dem Wäldchen und dem Ausblick (›ausgezeichnet, bemerkenswert‹), den Swithin Forsyte vor fünf Jahren von genau diesem Platz unterhalb des Baumes aus betrachtet hatte, als er mit Irene hergekommen war, um das Haus anzuschauen.
Der alte Jolyon hatte von der Heldentat seines Bruders gehört – jener Spazierfahrt, die an der Forsyte’schen Börse für ziemliche Begeisterung gesorgt hatte. Swithin! Und nun war der Kerl letzten November einfach gestorben, mit nur neunundsiebzig Jahren, und hatte damit wieder die Zweifel aufleben lassen, ob Forsytes ewig leben könnten, die mit Tante Anns Tod das erste Mal aufgekommen waren. Gestorben! Und nun waren nur noch Jolyon und James, Roger und Nicholas und Timothy, Julia, Hester und Susan übrig! Und der alte Jolyon dachte: ›Fünfundachtzig! Ich fühle mich nicht so – außer, wenn ich diese Schmerzen habe.‹
Er versuchte, sich zu erinnern. Er hatte sein Alter nicht mehr gespürt, seit er das unselige Haus seines Neffen Soames gekauft und sich hier in Robin Hill niedergelassen hatte. Es war, als wäre er jeden Frühling jünger geworden durch das Leben auf dem Land mit seinem Sohn und seinen Enkelkindern – June und den beiden Kleinen aus der zweiten Ehe, Jolly und Holly. Ein Leben fern von dem Lärm Londons und dem Gerede an der Forsyte’schen Börse, frei von Vorständen, in einer traumhaften Atmosphäre, in der es keine Arbeit, sondern nur Spaß gab.
Und dennoch war er gut beschäftigt mit der Perfektionierung und Anpassung des Hauses und seiner zwanzig Morgen Land und dem Eingehen auf die Launen von Holly und Jolly. All die Verknotungen und Wirren, die sich während jener langen und tragischen Sache mit June, Soames, dessen Frau Irene und dem armen jungen Bosinney in seinem Herzen gebildet hatten, waren gelöst. Selbst June hatte endlich ihre Melancholie abgeschüttelt – davon zeugte diese Spanienreise, die sie gerade mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter machte. Ihre Abreise hinterließ eine seltsam vollkommene Ruhe, selig und dennoch leer, weil sein Sohn nicht da war. Jo war für ihn nun stets Trost und Freude – ein liebenswerter Kerl. Doch Frauen – selbst die besten – kosteten einem irgendwie ein wenig Nerven, außer natürlich, man bewunderte sie.
In der Ferne rief ein Kuckuck, eine Ringeltaube gurrte auf der ersten Ulme im Feld; und wie die Gänseblümchen und Butterblumen seit dem letzten Mal Mähen zu sprießen begonnen hatten! Und der Wind hatte sich nach Südwesten gedreht – eine herrliche Luft, saftig! Er schob seinen Hut zurück und ließ die Sonne auf sein Kinn und seine Wangen scheinen. Irgendwie wünschte er sich heute Gesellschaft – ein hübsches Gesicht zum Ansehen. Die Leute behandelten die Alten, als ob sie nichts wollen könnten.
Und mit der für einen Forsyte untypischen Philosophie, die sich immer wieder in seine Seele schlich, dachte er: ›Man hat nie genug! Selbst wenn man schon mit einem Bein im Grab steht, wird man wahrscheinlich noch irgendetwas wollen!‹ Hier unten – fern von geschäftlichen Verpflichtungen – flüsterten ihm seine Enkelkinder, die Blumen, die Bäume und die Vögel in seinem kleinen Reich, ganz zu schweigen von Sonne, Mond und Sternen über ihnen, Tag und Nacht ›Sesam, öffne dich!‹ zu. Und Sesam hatte sich geöffnet – wie sehr, wusste er vielleicht gar nicht. Er war immer empfänglich gewesen für das, was man nun ›Natur‹ nannte, wahrhaft, fast schon auf religiöse Weise empfänglich, obwohl er immer daran festgehalten hatte, einen Sonnenuntergang Sonnenuntergang zu nennen und eine Aussicht Aussicht, wie sehr sie ihn auch berührt haben mögen. Doch jetzt bedeutete ihm die Natur so viel, dass es geradezu wehtat.
Jeden dieser ruhigen, heiteren, länger werdenden Tage spazierte er umher, Holly an seiner Hand, vor ihnen der Hund Balthasar, der emsig auf der Suche nach etwas war, das er nie fand, und beobachtete, wie die Rosen aufblühten, wie das Spalierobst an den Mauern Knospen trieb, wie das Sonnenlicht die Eichenblätter und die Schösslinge in dem Wäldchen hell erstrahlen ließ, wie die Blüten der Wasserlilien sich öffneten und glänzten. Er beobachtete die silbrigen jungen Getreidehalme des einen Weizenfeldes, lauschte den Staren und den Lerchen, dem Wiederkäuen der Alderney-Kühe, die langsam ihre in einer Quaste endenden Schwänze hin und her schlugen. Und an jedem dieser schönen Tage empfand er aus bloßer Liebe zu all diesen Dingen einen leichten Schmerz, denn vielleicht spürte er im Innersten, dass er es nicht mehr allzu lange genießen können würde. Der Gedanke, dass ihm eines Tages – vielleicht schon in weniger als zehn Jahren, vielleicht in nicht einmal fünf Jahren – diese ganze Welt genommen werden würde, ohne dass er sein Potential, sie zu genießen, voll ausschöpfen hatte können, erschien ihm als eine Ungerechtigkeit, die dunkel an seinem Horizont aufzog. Sollte es irgendetwas nach diesem Leben geben, es wäre nicht das, was er wollte. Es wären nicht Robin Hill und die Blumen und die Vögel und die hübschen Gesichter – selbst jetzt schon hatte er davon zu wenig um sich! Seine Abneigung gegen Humbug war mit den Jahren noch stärker geworden.
Die Orthodoxie, die er in den 1860ern zur Schau getragen hatte, wie er auch aus reinem Überschwang einen Backenbart getragen hatte, gehörte schon lange der Vergangenheit an, sodass es nur noch drei Dinge gab, vor denen er Ehrfurcht empfand: vor Schönheit, vor Anstand und vor dem Besitzinstinkt. Und das Wichtigste von diesen dreien war nun Schönheit. Seine Interessen waren schon immer breit gefächert gewesen und er konnte auch jetzt noch die Times lesen, doch er legte sie jederzeit zur Seite, wenn er eine Amsel singen hörte. Anstand, Besitz – irgendwie war beides ermüdend. Die Amseln und der Sonnenuntergang ermüdeten ihn nie, sie gaben ihm nur das ungute Gefühl, dass er nie genug von ihnen bekommen könnte. Während er in das stille Leuchten des frühen Abends und auf die kleinen goldenen und weißen Blumen auf dem Rasen starrte, kam ihm ein Gedanke: Dieses Wetter war wie die Musik von Orpheus, die er vor Kurzem im Royal Opera House in Covent Garden gehört hatte.
Eine wundervolle Oper, nicht wie Meyerbeer, auch nicht wirklich wie Mozart, aber vielleicht auf ihre Art sogar noch schöner. Sie hatte etwas Klassisches, etwas vom Goldenen Zeitalter, etwas Reines und Liebliches, und die Ravogli hatte ›fast das Niveau der alten Zeiten‹ ‒ das höchste Lob, das man von ihm bekommen konnte.
Die Sehnsucht von Orpheus nach der Schönheit, die ihm entglitt, nach seiner Liebe, die in den Hades hinabfuhr, so, wie auch im Leben Liebe und Schönheit schwanden – die Sehnsucht, die durch die glanzvolle Musik klang und pulsierte, regte sich auch in der nachklingenden Schönheit der Welt an jenem Abend. Und mit der Spitze seines korkbesohlten Stiefels mit Elastikeinsätzen an den Seiten stupste er versehentlich dem Hund Balthasar in die Rippen, woraufhin dieser aufwachte und auf seine Flöhe losging. Denn auch wenn er angeblich gar keine hatte, ließ er sich durch nichts davon überzeugen.
Als er fertig war, rieb er die Stelle, an der er gekratzt hatte, an der Wade seines Herrchens, ließ sich dann wieder nieder und legte die Schnauze auf den Spann des störenden Stiefels. Und plötzlich kam dem alten Jolyon eine Erinnerung zurück ins Gedächtnis – ein Gesicht, das er vor drei Wochen in der Oper gesehen hatte – Irene, die Frau seines werten Neffen Soames, jenes Besitzstrebers! Obwohl er sie nicht mehr gesehen hatte seit dem Tag des Empfangs in seinem alten Haus in Stanhope Gate, den er zur Feier der unglückseligen Verlobung seiner Enkeltochter June mit dem jungen Bosinney gegeben hatte, hatte er sie sofort erkannt, denn er hatte sie stets bewundert – ein sehr hübsches Ding.
Nach dem Tod des jungen Bosinney, dessen Geliebte sie so verwerflicherweise geworden war, hatte er gehört, dass sie Soames sofort verlassen hatte. Gott wusste, was sie seitdem gemacht haben mochte. Der Anblick ihres Gesichtes – Seitenanblick – in der ersten Reihe war tatsächlich das einzige Zeichen in diesen drei Jahren gewesen, dass sie noch am Leben war. Niemand sprach je von ihr. Und doch hatte Jo ihm einmal etwas erzählt – etwas, das ihn völlig aus der Fassung gebracht hatte. Der Junge hatte es wohl von George Forsyte gehört, der Bosinney im Nebel gesehen hatte an dem Tag, an dem er überfahren wurde – etwas, das die Verzweiflung des jungen Kerls erklärte, ein Akt von Soames gegenüber seiner Frau, ein schockierender Akt. Jo hatte auch sie an jenem Nachmittag gesehen, nachdem die Nachricht bekannt geworden war, hatte sie für einen Augenblick gesehen, und seine Beschreibung war dem alten Jolyon nie mehr aus dem Kopf gegangen ‒ ›verstört und verloren‹ sei sie gewesen. Und am darauffolgenden Tag war June dort hingegangen – sie hatte ihre Gefühle hinuntergeschluckt und war hingegangen, und das Hausmädchen hatte geweint und ihr erzählt, wie ihre Herrin nachts hinausgeschlichen und verschwunden sei. Eine ganz und gar tragische Geschichte!
Eines war sicher – Soames hatte sich nie wieder an ihr vergreifen können. Und er lebte nun in Brighton, pendelte immer zwischen London und dort – ein gebührendes Schicksal für diesen Besitzstreber! Denn wenn der alte Jolyon einmal eine Abneigung gegen jemanden entwickelt hatte – wie es bei seinem Neffen der Fall war ‒, dann konnte er sie nicht mehr ablegen. Er erinnerte sich noch immer an das Gefühl der Erleichterung, das er empfunden hatte, als er von Irenes Verschwinden erfahren hatte. Die Vorstellung war entsetzlich gewesen, dass sie in jenem Haus gefangen war, zu dem sie zurückgekommen sein musste, als Jo sie gesehen hatte, zurückgekommen für einen Augenblick – wie ein verwundetes Tier in seine Höhle ‒, nachdem sie in der Stadt die Nachricht gesehen hatte: ›Tragischer Tod eines Architekten‹. Ihr Gesicht neulich Nacht hatte einen starken Eindruck hinterlassen – es war schöner, als er es in Erinnerung gehabt hatte, aber wie eine Maske, unter der etwas vor sich ging. Sie war noch immer eine junge Frau – vielleicht achtundzwanzig. Ach ja! Bestimmt hatte sie inzwischen eine neue Liebe gefunden. Doch bei diesem subversiven Gedanken (verheiratete Frauen sollten nie lieben, einmal war schon zu viel gewesen) ging sein Fußrücken nach oben und mit ihm der Kopf des Hundes Balthasar.
Das kluge Tier erhob sich und sah dem alten Jolyon ins Gesicht. ›Gassi?‹, schien es zu sagen. Und der alte Jolyon antwortete: »Na komm, alter Junge!«
Langsam wie immer spazierten sie durch die Butterblumen- und Gänseblümchengrüppchen, hinein in das Farnwäldchen. Dieser Bereich, in dem noch nicht sonderlich viel wuchs, war mit Bedacht tiefer angelegt worden als der Rasen davor, damit er dann wieder auf die Höhe des anderen Rasens ansteigen konnte, sodass der Eindruck von Unregelmäßigkeit entstand, der so wichtig war im Gartenbau. Der Hund Balthasar liebte die Steine und die Erde dort, in der er manchmal einen Maulwurf fand.
Der alte Jolyon machte es sich zum Prinzip, durch dieses Wäldchen zu gehen, denn es war zwar nicht schön, aber es sollte eines Tages schön sein, und so dachte er sich immer: ›Ich muss Varr herkommen lassen, damit er sich das mal anschaut, der ist besser als Beech.‹
Denn wie Häuser und menschliche Leiden erforderten auch Pflanzen die beste fachmännische Pflege. Es gab dort Schnecken, und wenn seine Enkelkinder dabei waren, zeigte er immer auf eine und erzählte ihnen die Geschichte des kleinen Jungen, der sagte: ›Mama, können Zwetschgen krabbeln?‹
›Nein, kleiner Mann.‹
›Mist, dann hab ich, glaub ich, eine Schnecke verschluckt.‹
Und wenn sie dann hochsprangen und seine Hand umklammerten bei der Vorstellung, wie die Schnecke die ›rote Röhre‹ des Jungen hinunterglitt, dann hatte er immer ein Zwinkern in den Augen. Als sie aus dem Farnwäldchen heraustraten, öffnete er die Zauntür, die zum ersten Feld führte, einer großen, parkähnlichen Fläche, von der mit einer Backsteinmauer der Gemüsegarten abgetrennt worden war.
Der alte Jolyon ging an ihm vorbei, da er nicht seiner Stimmung entsprach, und weiter den Hügel hinunter Richtung Teich. Balthasar, der wusste, dass es dort die eine oder andere Wasserratte gab, tollte auf die Weise vorweg, wie es ein älterer Hund tat, der jeden Tag dieselbe Route lief. Am Teichufer angelangt, blieb der alte Jolyon stehen und bemerkte, dass seit dem Vortag eine weitere Wasserlilie aufgeblüht war. Er wollte sie gleich morgen Holly zeigen, wenn ›seine liebe Kleine‹ sich von der Verstimmung erholt hatte, zu der eine Tomate zum Mittagessen geführt hatte – ihr kleiner Körper war ja so empfindlich. Jetzt, wo Jolly zur Schule ging – sein erstes Jahr ‒, verbrachte Holly fast den ganzen Tag mit ihm, und sie fehlte ihm schrecklich. Außerdem spürte er jenen Schmerz, der ihm in letzter Zeit oft zu schaffen machte, ein leichtes Ziehen auf der linken Seite. Er sah zurück, die Anhöhe hinauf.
Wirklich, der arme junge Bosinney hatte außergewöhnlich gute Arbeit geleistet mit dem Haus. Er hätte es weit gebracht, hätte er noch länger gelebt! Und wo er jetzt wohl war? Vielleicht geisterte er noch immer hier umher, am Ort seines letzten Werkes, seiner tragischen Liebesaffäre. Oder hatte sich Philip Bosinneys Geist überallhin zerstreut? Wer konnte das schon sagen? Der Hund machte sich die Pfoten ganz schmutzig! Und er ging in die Richtung des Wäldchens. Dort waren eine Menge ganz bezaubernder Glockenblumen gewachsen und er wusste, wo noch ein paar davon übrig waren, wie kleine Fleckchen Himmel, die zwischen die Bäume hinabgefallen waren, dorthin, wo kein Sonnenlicht hinkam.
Er ging vorbei an den Kuhställen und den Hühnerställen, die dort errichtet worden waren, und folgte einem Pfad ins Dickicht der Schösslinge, der zu einem der Glockenblumenplätze führte. Balthasar, der mal wieder vorneweg lief, knurrte leise. Der alte Jolyon stupste ihn mit dem Fuß an, doch der Hund blieb regungslos stehen, genau da, wo kein Platz zum Vorbeigehen war, und die Haare in der Mitte seines wuscheligen Rückens stellten sich auf. Ob es nun an dem Knurren lag oder an dem Anblick des gesträubten Haars des Hundes oder an dem Gefühl, das einen im Wald überkommt, jedenfalls spürte auch der alte Jolyon ein Schaudern über seinen Rücken laufen.
Und dann machte der Pfad eine Kurve, und dort lag ein alter, moosiger Baumstamm, und auf diesem Baumstamm saß eine Frau. Ihr Gesicht war abgewandt. Er hatte gerade genug Zeit, zu denken: ›Sie hält sich widerrechtlich auf diesem Grundstück auf – ich muss ein Schild aufstellen lassen!‹, da drehte sie sich zu ihm um. Allmächtiger im Himmel! Das Gesicht, das er in der Oper gesehen hatte – genau die Frau, an die er gerade gedacht hatte! In jenem Moment der Verwirrung nahm er alles verschwommen wahr, als ob ein Geist … Ein seltsamer Effekt – vielleicht das Sonnenlicht, das von der Seite auf ihr violett-graues Kleid fiel! Und dann erhob sie sich und stand lächelnd da, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt. Der alte Jolyon dachte: ›Wie hübsch sie ist!‹ Sie sagte nichts, er auch nicht. Und mit einer gewissen Bewunderung wurde ihm klar, warum. Sie war zweifelsohne wegen irgendeiner Erinnerung hier und wollte sich nicht durch irgendeine gewöhnliche Erklärung herausreden.
»Pass auf, dass der Hund nicht an dein Kleid kommt«, sagte er. »Er hat nasse Pfoten. Kommst du her, du!«
Doch der Hund Balthasar lief auf die Besucherin zu, und diese streckte ihre Hand zu ihm hinunter und streichelte seinen Kopf. Der alte Jolyon sagte schnell: »Ich habe dich neulich in der Oper gesehen. Du hast mich nicht bemerkt.«
»Oh doch, das habe ich!«
Er fand, dass darin etwas Schmeichelhaftes lag, als hätte sie hinzugefügt: ›Denkst du etwa, man könnte dich übersehen?‹
»Die anderen sind alle in Spanien«, sagte er unvermittelt. »Ich bin alleine hier. Ich bin für die Oper nach London gefahren. Die Ravogli ist gut. Hast du die Kuhställe gesehen?«
In einer Situation, die so erfüllt war von Geheimnissen und fast so etwas wie Emotionalität, steuerte er instinktiv auf jenen Besitz zu, und sie lief neben ihm. Ihre Gestalt wiegte sanft hin und her wie bei den schönsten Französinnen. Auch die Farbe ihres Kleides war eine Art Französischgrau. Er bemerkte zwei oder drei silberne Strähnchen in ihrem bernsteinfarbenen Haar, seltsames Haar in Verbindung mit ihren dunklen Augen und dem cremig-blassen Teint. Ein plötzlicher seitlicher Blick dieser samtig braunen Augen verunsicherte ihn. Er schien aus der Tiefe und der Ferne zu kommen, beinahe wie aus einer anderen Welt oder zumindest von jemandem, der nicht wirklich in dieser lebte. Und er fragte mechanisch: »Wo lebst du jetzt?«
»Ich habe eine Wohnung in Chelsea.«
Er wollte nicht hören, was sie tat, wollte überhaupt nichts hören, doch das eigensinnige Wort entschlüpfte ihm: »Alleine?«
Sie nickte. Es war eine Erleichterung, das zu wissen. Und es kam ihm der Gedanke, dass, hätte das Schicksal nicht eine andere Wendung genommen, dieses Wäldchen heute ihr gehören würde, dann würde sie ihm diese Kuhställe zeigen und er wäre ein Besucher.
»Alles Alderney-Kühe«, murmelte er, »die geben die beste Milch. Diese hier ist eine Hübsche. Na, Myrtle!«
Die hellbraune Kuh mit Augen so sanft und braun wie die von Irene selbst stand ganz still da, sie war erst vor Kurzem gemolken worden. Sie sah aus dem Winkel jener glänzenden, sanften, spöttischen Augen zu ihnen hinüber und von ihren grauen Lippen bahnte sich ein feiner Speichelfaden seinen Weg Richtung Stroh.
Der Duft von Heu und Vanille und Ammoniak stieg im trüben Licht des kühlen Kuhstalls empor und der alte Jolyon sagte: »Komm doch mit nach oben und iss etwas zu Abend mit mir. Ich lasse dich dann mit der Kutsche nach Hause bringen.«
Er bemerkte, dass sie innerlich rang, ohne Zweifel natürlich mit ihren Erinnerungen. Doch er wünschte ihre Gesellschaft, ein hübsches Gesicht, eine bezaubernde Gestalt, Schönheit! Er war den ganzen Nachmittag allein gewesen. Vielleicht blickten seine Augen sehnsuchtsvoll, denn sie antwortete: »Danke, Onkel Jolyon. Gerne.«
Er rieb sich die Hände und sagte: »Hervorragend! Dann lass uns nach oben gehen!« Und angeführt vom Hund Balthasar gingen sie durch das Feld hinauf.
Die Sonne stand nun fast auf der Höhe ihrer Gesichter und er konnte nicht nur jene silbernen Strähnen sehen, sondern auch feine Linien, gerade tief genug, um ihrer Schönheit wie einer Münze einen Feingehaltsstempel zu geben – der besondere Ausdruck eines Lebens, das nicht mit anderen geteilt wird. ›Ich werde mit ihr über die Terrasse hineingehen‹, dachte er. ›Sie soll kein gewöhnlicher Besucher sein.‹
»Was machst du so den ganzen Tag?«, sagte er.
»Ich gebe Musikunterricht. Und dann habe ich auch noch eine andere Beschäftigung.«
»Arbeit!«, sagte der alte Jolyon, während er die Puppe von der Schaukel nahm und ihren schwarzen Petticoat glattstrich. »Darüber geht doch nichts, oder? Ich arbeite nicht mehr, ich werde alt. Welche Beschäftigung denn?«
»Ich versuche, gefallenen Frauen zu helfen.« Der alte Jolyon verstand nicht ganz. »Gefallen?«, wiederholte er. Dann wurde ihm mit Schrecken bewusst, dass sie genau das meinte, was auch er gemeint hätte, wenn er jenen Ausdruck verwendet hätte. Sie unterstützte das Londoner Magdalenenstift! Was für eine befremdliche und entsetzliche Beschäftigung! Und weil die Neugierde über sein natürliches Zurückschrecken siegte, fragte er: »Warum? Was tust du für sie?«
»Nicht viel. Geld habe ich nicht übrig. Ich kann ihnen nur Verständnis und manchmal etwas zu essen geben.«
Instinktiv griff Jolyon nach seinem Geldbeutel. Er sagte hastig: »Wie kommst du mit ihnen in Kontakt?«
»Ich gehe in ein Krankenhaus.«
»Ein Krankenhaus?! Puh!«
»Am meisten schmerzt mich, dass fast alle von ihnen einmal auf irgendeine Weise schön waren.«
Der alte Jolyon richtete die Puppe auf. »Schön!«, rief er aus. »Ach ja! Eine traurige Sache!« Und er ging Richtung Haus. Durch eine Fenstertür, deren Markise noch nicht hochgezogen war, ging er in das Zimmer voraus, in dem er immer seine Times las und ein Landwirtschaftsmagazin mit riesigen Illustrationen von Mangoldwurzeln und solchen Sachen, die Holly als Material für ihre Farbpinsel verwenden konnte.
»In einer halben Stunde gibt es Abendessen. Du willst dir bestimmt die Hände waschen! Ich bringe dich zu Junes Zimmer.«
Er sah, wie sie sich neugierig umschaute. Was hatte sich alles verändert, seit sie zuletzt in diesem Haus gewesen war, mit ihrem Ehemann oder mit ihrem Geliebten oder vielleicht mit beiden ‒ er wusste es nicht, konnte es nicht sagen! Das alles lag im Dunkel, und das sollte auch so bleiben. Aber was hatte sich alles verändert! Und in der Eingangshalle sagte er: »Mein Junge, Jo, ist Maler, weißt du. Er hat wirklich Geschmack. Natürlich ist das nicht mein Geschmack, aber ich habe ihn machen lassen.«
Sie stand ganz still da, ihr Blick wanderte durch die Eingangshalle und das Musikzimmer, wie es jetzt war – alles in einem unter dem großen Glasdach. Sie machte einen merkwürdigen Eindruck auf den alten Jolyon. Versuchte sie gerade jemanden heraufzubeschwören aus den Schatten dieses Raumes, der komplett in Perlgrau und Silber gehalten war? Er selbst hätte Gold gewählt, das war freundlicher und solider. Aber Jo hatte einen französischen Geschmack, also war er so schattenhaft geworden, als ob der Rauch der Zigaretten, die der Kerl immerzu rauchte, über allem liegen würde, hier und da unterbrochen durch das schwache Leuchten blauer oder karmesinroter Farbtupfer. Sein Traum war das nicht! Im Geiste hatte er diese Wände mit jenen goldgerahmten Meisterwerken von Stillleben und stilleren Stillleben behängt, die er zu Zeiten gekauft hatte, als Quantität von Wert gewesen war. Und wo waren sie jetzt? Für einen Spottpreis verkauft! Dieses Etwas, das ihn als einzigen Forsyte mit der Zeit gehen ließ, hatte ihn davor gewarnt, darum zu kämpfen, sie zu behalten. Doch in seinem Arbeitszimmer hatte er noch immer Holländische Fischerboote bei Sonnenuntergang.
Er ging mit ihr die Treppe nach oben, langsam, denn er spürte den Schmerz in seiner Seite.
»Hier sind die Badezimmer und andere Räumlichkeiten«, sagte er. »Ich habe sie fliesen lassen. Die Kinderzimmer sind hier entlang. Und das ist das Zimmer von Jo und seiner Frau. Die Räume sind alle miteinander verbunden. Aber das weißt du ja wahrscheinlich noch.«
Irene nickte. Sie gingen weiter, die Galerie hinauf, und kamen in einen großen Raum mit einem kleinen Bett und mehreren Fenstern.
»Das ist mein Zimmer«, sagte er. Die Wände waren behangen mit Fotos von Kindern und mit Aquarellzeichnungen, und er fügte unsicher hinzu: »Die sind von Jo. Der Ausblick ist erstklassig. Bei klarem Wetter kann man die Tribüne in Epsom sehen.«
Die Sonne war nun hinter dem Haus verschwunden und über die Aussicht hatte sich ein strahlender Schleier gelegt, das Nachleuchten des langen und glücklichen Tages. Es waren wenige Häuser zu sehen, doch die Felder und Bäume glitzerten sanft bis hin zu den Hügeln, die sich in der Ferne abzeichneten.
»Das Land verändert sich«, sagte er unvermittelt, »aber es wird immer noch da sein, wenn wir alle weg sind. Sieh dir diese Drosseln an – die Vögel singen hier so schön am Morgen. Ich bin froh, dass ich London hinter mir gelassen habe.«
Ihr Gesicht war dicht an der Fensterscheibe und er war betroffen, welch kummervoller Ausdruck darauf lag. ›Ich wünschte, ich könnte sie glücklich machen!‹, dachte er. ›Ein hübsches Gesicht, aber traurig!‹ Und dann nahm er seine Kanne mit heißem Wasser und ging hinaus in die Galerie.
»Hier ist Junes Zimmer«, sagte er, als er die nächste Tür öffnete und die Kanne abstellte. »Ich denke, du findest alles.« Dann schloss er hinter ihr die Tür und ging zurück in sein Zimmer. Während er seine Haare mit seiner großen Bürste aus Ebenholz kämmte und seine Stirn mit Eau de Cologne betupfte, dachte er nach. Sie war auf so seltsame Weise hier aufgetaucht – eine Art Geschenk des Himmels, mysteriös, gar romantisch, als sei sein Wunsch nach Gesellschaft, nach Schönheit, erfüllt worden, durch was auch immer es war, das so einen Wunsch erfüllte. Und er straffte seine noch immer aufrechte Gestalt vor dem Spiegel, bürstete über seinen großen weißen Schnurrbart, strich etwas Eau de Cologne über seine Augenbrauen und läutete.
»Ich habe vergessen, Bescheid zu geben, dass heute eine Dame mit mir zu Abend isst. Die Köchin soll etwas mehr machen. Und sagen Sie Beacon, er soll den Landauer und zwei Pferde für halb elf bereit machen, um sie damit später zurück in die Stadt zu bringen. Schläft Holly?«
Das Hausmädchen glaubte, sie schlafe nicht. Und der alte Jolyon ging die Galerie entlang, schlich sich auf Zehenspitzen zum Kinderzimmer und öffnete die Tür, deren Angeln er immer extra ölen ließ, sodass er abends lautlos hinein- und hinausschlüpfen konnte.
Doch Holly schlief und lag da wie eine kleine Madonna von der Art, die die alten Maler nicht von Venus unterscheiden konnten, wenn sie sie fertiggestellt hatten. Ihre langen dunklen Wimpern ruhten fest auf ihren Wangen, auf ihrem Gesicht war vollkommener Frieden – ihrem kleinen Körper ging es offensichtlich wieder gut. Und der alte Jolyon stand im Halbdunkel des Zimmers und bewunderte sie! Es war so bezaubernd, feierlich und liebevoll, dieses kleine Gesicht. Er war in besonderem Maße mit der Fähigkeit gesegnet, in den Jungen wieder neues Leben zu finden. Sie waren für ihn sein zukünftiges Leben – in dem Ausmaß, wie sein grundsätzlich heidnischer Verstand ein zukünftiges Leben zulassen konnte.
Da lag sie und hatte noch alles vor sich, und in ihren zarten Adern floss sein Blut – ein Teil davon. Da lag sie, seine kleine Gefährtin, um so glücklich gemacht zu werden, wie er sie nur glücklich machen konnte, damit sie nichts außer Liebe kannte. Sein Herz wurde weit und er ging hinaus, wobei er versuchte, keine Geräusche mit seinen Lacklederschuhen zu machen. Im Korridor überkam ihn ein sonderbarer Gedanke: Die Vorstellung, dass aus Kindern solche Menschen werden sollten wie die, denen Irene half, wie sie ihm gesagt hatte! Frauen, die alle einmal so klein gewesen waren wie dieses kleine Mädchen, das hier schlief! ›Ich muss ihr einen Scheck geben!‹, dachte er sich. ›Ich kann den Gedanken an sie nicht ertragen!‹
Er hatte Gedanken an jene armen Ausgeschlossenen noch nie ertragen können, zu sehr verletzten sie den Kern wahren Edelmuts, der unter den Schichten der Anpassung an den Besitzinstinkt verborgen lag, zu schwer verletzten sie sein Innerstes – eine Liebe zur Schönheit, die auch jetzt noch sein Herz erbeben ließ, wenn er an diesen Abend in Gesellschaft einer hübschen Frau dachte. Und er ging nach unten, durch die Schwingtür, zu den hinteren Räumen. Dort, im Weinkeller, war ein deutscher Weißwein, von dem die Flasche mindestens zwei Pfund wert war, ein Steinberger Kabinett, besser als jeder Johannisberger, der jemals eine Kehle hinuntergelaufen war, ein Wein von vollendetem Bukett, süß wie eine Nektarine – wie Nektar gar!
Er nahm eine Flasche davon heraus, vorsichtig wie ein Baby, und hielt sie prüfend gegen das Licht. Diese Flasche, eingehüllt in einen Staubmantel, weiche Farbe, schlanker Hals, bereitete ihm große Freude. Drei Jahre Zeit, um seit dem Umzug von der Stadt hierher wieder zu lagern – sollte in erstklassigem Zustand sein! Vor fünfunddreißig Jahren hatte er ihn gekauft – Gott sei Dank hatte er seinen guten Gaumen noch, er hatte sich das Recht erworben, ihn zu trinken. Sie würde ihn zu schätzen wissen; hatte nicht einmal einen Ansatz von Säure. Er wischte die Flasche ab, zog den Korken eigenhändig, beugte seine Nase hinunter, atmete den Duft ein und ging zurück in das Musikzimmer.
Irene stand am Klavier. Sie hatte ihren Hut und das Spitzentuch, das sie getragen hatte, abgelegt, sodass nun ihr goldfarbenes Haar und ihr blasser Nacken zu sehen waren. In ihrem grauen Kleid gab sie vor dem Rosenholz des Klaviers ein hübsches Bild ab für den alten Jolyon.
Er reichte ihr seinen Arm und sie machten sich feierlich auf den Weg. In dem Zimmer, das so angelegt worden war, dass dort vierundzwanzig Personen bequem essen konnten, stand nun nur noch ein kleiner runder Tisch. In seiner momentanen Einsamkeit belastete der große Esstisch den alten Jolyon. Er hatte veranlasst, dass er weggeräumt wurde, bis sein Sohn wieder zurück war.
Er aß hier für gewöhnlich alleine, nur zwei wirklich gute Nachbildungen raffaelischer Madonnen leisteten ihm Gesellschaft. Das war die einzige trostlose Zeit seines Tages bei diesem Sommerwetter. Er war nie ein großer Esser gewesen wie dieser Riesenkerl Swithin, oder Sylvanus Heythorp, oder Anthony Thornworthy, jene Gefährten der alten Zeiten. Und alleine zu essen, beobachtet von den Madonnen, war für ihn nur eine traurige Beschäftigung, die er schnell hinter sich brachte, um zu den eher geistigen Genüssen seines Kaffees und seiner Zigarre übergehen zu können.
Doch dieser Abend heute war anders! Mit funkelnden Augen sah er sie über den kleinen Tisch hinweg an und sprach von Italien und der Schweiz, erzählte Geschichten von seinen Reisen dorthin und von anderen Erlebnissen, von denen er seinem Sohn und seiner Enkelin nicht mehr berichten konnte, da sie sie schon kannten. Dieses neue Publikum bedeutete ihm sehr viel.
Er war nie einer jener alten Männer geworden, die immer nur in den Gefilden ihrer Erinnerungen umherwanderten. Da ihn selbst Menschen ohne Feingefühl schnell ermüdeten, vermied er es instinktiv, andere zu ermüden, und seine naturgegebene Koketterie gegenüber Schönheit ließ ihn bei einer Frau ganz besonders darauf achten. Er hätte sie gerne aus der Reserve gelockt, doch obwohl sie immer wieder zustimmend murmelte und lächelte und seine Geschichten sie zu unterhalten schienen, merkte er immer jene geheimnisvolle Unnahbarkeit, die die Hälfte ihrer Anziehungskraft ausmachte. Er konnte es nicht ausstehen, wenn Frauen mit ihren Schultern kokettierten und schöne Augen machten und drauflosquasselten. Oder wenn Frauen verbissen und rechthaberisch waren und einem sagen wollten, wo es langging.
Es gab nur eine Eigenschaft, die er bei einer Frau ansprechend fand – Charme. Und je stiller dieser Charme war, desto besser. Und diese Frau hatte Charme, so schattenhaft wie das Nachmittagssonnenlicht auf jenen italienischen Bergen und Tälern, die er so gemocht hatte. Und durch das Gefühl, dass sie gewissermaßen für sich war, zurückgezogen, schien sie ihm näher zu sein, eine seltsam wünschenswerte Gefährtin.
Wenn ein Mensch sehr alt und aus dem Rennen ausgeschieden ist, dann fühlt er sich gerne sicher vor den Rivalitäten der Jugend, denn im Herzen der Schönheit möchte er noch immer an erster Stelle stehen. Und er trank seinen deutschen Weißwein und betrachtete ihre Lippen und fühlte sich fast jung. Doch der Hund Balthasar lag da und betrachtete ebenfalls ihre Lippen und verachtete von Herzen die Unterbrechungen ihres Gesprächs und das Anheben jener grünlichen Gläser, die mit einer goldenen Flüssigkeit gefüllt waren, die für ihn ungenießbar war.
Es wurde gerade dunkel, als sie zurück ins Musikzimmer gingen. Und die Zigarre im Mund, sagte der alte Jolyon: »Spiel mir etwas von Chopin.«
An den Zigarren, die er raucht, und den Komponisten, die er liebt, erkennt man die Beschaffenheit der Seele eines Mannes. Der alte Jolyon konnte weder starke Zigarren noch Wagners Musik ausstehen. Er liebte Beethoven und Mozart, Händel und Gluck und Schumann und aus irgendeinem unerklärlichen Grund die Opern von Meyerbeer. Doch in den letzten Jahren hatte Chopin ihn in seinen Bann gezogen, so, wie er der Malerei Botticellis erlegen war.
Er war sich bewusst, dass er durch sein Nachgeben gegenüber diesen Vorlieben vom Standard des Goldenen Zeitalters abwich. Ihre Poesie entsprach nicht der von Milton und Byron und Tennyson oder der von Raphael und Tizian oder Mozart und Beethoven. Sie war gewissermaßen verschleiert. Ihre Poesie traf einen nicht direkt ins Gesicht, sondern ließ ihre Finger unter die Rippen gleiten und grub und wühlte und brachte das Herz zum Schmelzen. Und er war sich zwar nie sicher, ob das gesund war, aber er nahm dieses Herzpochen gerne in Kauf, solange er nur die Bilder des einen betrachten oder die Musik des anderen hören konnte.
Irene setzte sich ans Klavier unter die elektrische Lampe mit perlgrauem Schirm und der alte Jolyon setzte sich in einen Sessel, von dem aus er sie sehen konnte, schlug die Beine übereinander und zog langsam an seiner Zigarre. Sie ließ für einen Moment ihre Hände auf den Tasten ruhen und suchte offenbar in ihrer Erinnerung nach einem Stück, das sie für ihn spielen konnte. Dann fing sie an zu spielen und der alte Jolyon wurde von einer angenehmen Traurigkeit ergriffen, an die kaum etwas anderes in dieser Welt herankam. Langsam verfiel er in einen Trancezustand, der nur in langen Abständen von der Bewegung unterbrochen wurde, mit der er die Zigarre aus seinem Mund nahm und wieder hineinsteckte.
Sie war da, in ihm der Weißwein, und es roch nach Tabak. Doch da war auch noch eine Welt voller Sonnenschein, der in Mondlicht überging, mit Teichen, an denen Störche waren, und darüber bläuliche Bäume, leuchtende Farbpunkte weinroter Rosen, Lavendelfelder, in denen milchweiße Kühe grasten, und eine schemenhafte Frau mit dunklen Augen und weißem Nacken lächelte und streckte ihre Arme aus, und aus der Luft, die wie Musik war, fiel ein Stern herab und blieb am Horn einer Kuh hängen. Er öffnete die Augen. Wunderschönes Stück. Sie spielte gut – ihr Anschlag war engelsgleich! Und er machte die Augen wieder zu. Er fühlte sich auf wundersame Weise traurig und glücklich zugleich, wie man sich fühlt, wenn man unter einer Linde in voller Blüte steht. Nicht das eigene Leben noch einmal leben, einfach nur dastehen, sich im Lächeln der Augen einer Frau sonnen und das Bukett genießen! Und er schüttelte seine Hand. Der Hund Balthasar hatte sich hochgestreckt und sie abgeleckt.
»Wunderschön!«, sagte er. »Spiel weiter – noch etwas von Chopin!«
Sie fing wieder an zu spielen. Dieses Mal fiel ihm die Ähnlichkeit zwischen ihr und Chopin auf. Ihr Spiel hatte dasselbe sanfte Wiegen, das ihm auch bei ihrem Gang aufgefallen war, genau wie die Nocturne, die sie gewählt hatte, und dazu die sanfte Dunkelheit ihrer Augen, das Licht auf ihrem Haar, wie der Mondschein eines goldenen Mondes. Eine lange blaue Spirale stieg von seiner Zigarre empor und löste sich auf. ›Und so enden wir!‹, dachte er. ›Keine Schönheit mehr! Nichts mehr?‹
Wieder hörte Irene auf, zu spielen.
»Möchtest du etwas von Gluck hören? Er hat immer in einem sonnenhellen Garten komponiert, mit einer Flasche Rheinwein neben ihm.«
»Oh ja! Wie wär’s mit Orpheus? Er war nun inmitten von Feldern mit goldenen und silbernen Blumen, weiße Wesen wiegten sich im Sonnenlicht, leuchtend bunte Vögel flogen umher. Alles war Sommer. Anhaltende Wogen von Lieblichkeit und Trauer durchfluteten seine Seele. Von der Zigarre viel etwas Asche herab, und als er ein Seidentaschentuch herausholte, um sie wegzuwischen, stieg ihm ein Duftgemisch in die Nase, das wie Schnupftabak und Eau de Cologne roch. ›Ach!‹, dachte er, ›Nachsommer – das ist alles!‹ Und er sagte: »Du hast noch nicht Che faro für mich gespielt.«
Sie antwortete nicht, rührte sich nicht. Er bemerkte etwas – eine seltsame Betroffenheit. Plötzlich sah er, wie sie aufstand und sich abwandte, und stechende Reue durchfuhr ihn. Was war er doch für ein taktloser Trampel! Wie Orpheus suchte natürlich auch sie ihre verlorene Liebe in der Welt der Erinnerung! Und zutiefst ergriffen erhob er sich aus seinem Sessel. Sie war zu dem großen Fenster am anderen Ende des Zimmers gegangen. Er folgte ihr vorsichtig. Sie hatte die Hände über der Brust gefaltet. Er konnte nur ihre Wange sehen, sie war sehr blass. Und ganz bewegt sagte er: »Na, na, mein Liebes!« Die Worte waren ihm automatisch rausgeschlüpft, denn das sagte er auch immer zu Holly, wenn sie sich wehgetan hatte, doch ihre Wirkung war sogleich erschreckend. Sie hob ihre Hände, vergrub ihr Gesicht darin und schluchzte.
Der alte Jolyon stand da und sah sie mit seinen mit dem Alter sehr eindringlich gewordenen Augen an. Die heftige Scham, die sie ob ihrer Verlassenheit zu empfinden schien, so ganz anders als die Kontrolliertheit und der Gleichmut ihres gesamten Wesens, war so, als wäre sie noch nie vor jemand anderem zusammengebrochen.
»Na, na – na, na!«, murmelte er und streckte ehrfurchtsvoll die Hand nach ihr aus. Sie drehte sich um und lehnte sich mit ihren Armen, die ihr Gesicht bedeckten, an ihn. Der alte Jolyon stand ganz still da, eine seiner dünnen Hände auf ihrer Schulter. Sollte sie sich die Seele aus dem Leib weinen – das würde ihr guttun.
Und der Hund Balthasar setzte sich verwundert auf sein Hinterteil, um sie zu beäugen.
Das Fenster war noch offen, die Vorhänge waren nicht zugezogen worden, das letzte Tageslicht schien von draußen herein und vermischte sich mit dem schwachen Licht der Lampe. Es roch nach frisch gemähtem Gras. Mit der Weisheit eines langen Lebens sagte der alte Jolyon nichts. Selbst Trauer war irgendwann mit den Tränen weggewaschen. Nur die Zeit heilte den Kummer – die Zeit, die jede Stimmung vorübergehen sah, jedes Gefühl, das kam und ging. Die Zeit ließ die Dinge in Frieden ruhen.
Es kamen ihm die Worte ›So wie der Hirsch nach Wasser schreiet‹ in den Sinn – doch sie nutzten ihm nichts. Dann bemerkte er den Duft von Veilchen, und er wusste, dass sie ihre Tränen wegwischte. Er streckte sein Kinn nach vorne, presste seinen Schnurrbart gegen ihre Stirn, und spürte, wie ein Schütteln durch ihren ganzen Körper ging, wie wenn ein Baum die Regentropfen abschüttelte. Sie führte seine Hand an ihre Lippen, als wolle sie sagen: »Es ist vorüber! Verzeih mir!«
Der Kuss erfüllte ihn mit einem seltsamen Gefühl von Trost. Er führte sie zurück an den Platz, an dem sie so von ihren Gefühlen ergriffen worden war. Und der Hund Balthasar folgte ihnen und legte den Knochen von einem der Koteletts, die sie gegessen hatten, vor ihre Füße.
Bestrebt, die Erinnerung an jenes Aufwallen der Gefühle auszulöschen, fiel ihm nichts Besseres ein als Porzellan. Und so ging er mit ihr langsam von Vitrine zu Vitrine, nahm immer wieder einzelne Stücke heraus, Meißener und Lowestoft und Chelsea, und drehte und wendete sie in seinen dünnen, venendurchzogenen Händen, deren leicht fleckige Haut so alt aussah.
»Das habe ich bei Jobson gekauft«, sagte er dann, »hat mich dreißig Pfund gekostet. Es ist sehr alt. Der Hund lässt seine Knochen überall liegen. Dieses alte Schiffchen habe ich bei der Versteigerung erworben, als dieser feine Taugenichts, der Marquis, in Geldnot geraten war. Aber daran erinnerst du dich nicht mehr. Das hier ist ein schönes Stück aus Chelsea-Porzellan. Na, und was meinst du, was das hier ist?« Und er war erleichtert, denn er spürte, dass sie sich mit ihrem guten Geschmack wirklich für diese Stücke interessierte. Schließlich beruhigte nichts die Nerven so gut wie ein Porzellanstück unklarer Herkunft.
Als das Knirschen der Kutschenräder zu hören war, sagte er: »Komm bitte wieder. Komm doch zum Mittagessen vorbei, dann kann ich dir die bei Tageslicht zeigen, und meine liebe Kleine – sie ist so ein süßes kleines Ding. Der Hund scheint dich ins Herz geschlossen zu haben.«
Denn Balthasar, der fühlte, dass sie im Begriff war, zu gehen, rieb sich an ihrem Bein. Während er mit ihr in die Vorhalle hinausging, sagte er: »In eineinviertel Stunden bist du zu Hause. Hier, das ist für deine Schützlinge«, und er steckte ihr einen Scheck über fünfzig Pfund in die Hand.
Er sah, wie ihre Augen aufleuchteten, und hörte sie murmeln: »Ach, Onkel Jolyon!«, und eine wahre Woge der Freude durchflutete ihn. Damit war ein oder zwei armen Wesen ein wenig geholfen, und sie würde wiederkommen. Er streckte seine Hand durchs Fenster und griff noch einmal nach ihrer. Die Kutsche rollte fort. Er stand da und betrachtete den Mond und die Schatten der Bäume und dachte: ›Eine schöne Nacht! Sie …‹
Zwei Tage Regen, dann kam sanft und sonnig der Sommer. Der alte Jolyon ging mit Holly spazieren und unterhielt sich mit ihr. Anfangs fühlte er sich größer und von frischer Kraft erfüllt, dann wurde er unruhig. Fast jeden Nachmittag gingen sie in das Wäldchen, bis zu dem Baumstamm. ›Sie ist nicht da!‹, dachte er jedes Mal. ›Natürlich nicht!‹ Und jedes Mal fühlte er sich ein wenig kleiner und ging schleppenden Ganges die Anhöhe hoch nach Hause, die Hand gegen seine linke Seite gepresst. Hin und wieder regte sich in ihm der Gedanke: ›War sie hier – oder habe ich es nur geträumt?‹ Und er starrte ins Leere, während der Hund Balthasar ihn anstarrte. Natürlich würde sie nicht wiederkommen! Er öffnete die Briefe aus Spanien mit weniger Freude. Sie kamen erst im Juli zurück. Merkwürdigerweise hatte er das Gefühl, dass er das aushalten könnte. Jeden Tag starrte er beim Abendessen mit zusammengekniffenen Augen auf den Platz, an dem sie gesessen hatte. Sie war nicht da, also ließ er das mit dem Zusammenkneifen wieder.
Am siebten Nachmittag dachte er: ›Ich muss nach London und mir Stiefel kaufen.‹ Er beorderte Beacon und machte sich auf den Weg. Während er von Putney Richtung Hyde Park fuhr, überlegte er sich: ›Eigentlich könnte ich auch nach Chelsea fahren und sie besuchen.‹ Und er rief: »Fahren Sie mich einfach dahin, wo sie die Dame neulich Abend hingebracht haben.« Der Kutscher drehte sein breites rotes Gesicht zu ihm und antwortete mit seinen fleischigen Lippen: »Die Dame in Grau, Sir?«
»Ja, die Dame in Grau.« Welche Dame denn sonst? Trottel!
Die Kutsche hielt vor einem kleinen dreistöckigen Haus, ein wenig abseits vom Fluss. Mit seinem geschulten Blick erkannte der alte Jolyon, dass die Wohnungen billig waren. ›Wahrscheinlich um die sechzig Pfund pro Jahr‹, dachte er. Beim Hineingehen sah er auf die Namenschilder. Der Name Forsyte war nirgendwo zu finden, aber unter ›Erster Stock, Wohnung C‹ stand ›Mrs Irene Heron‹. Aha! Sie hatte also ihren Mädchennamen wieder angenommen! Und irgendwie gefiel ihm das. Langsam ging er nach oben, er spürte wieder etwas den Schmerz auf der linken Seite. Er blieb einen Augenblick stehen, ehe er klingelte, damit dieses Ziehen und Pochen aufhörte. Sie war bestimmt nicht zu Hause! Und außerdem – Stiefel! Was wollte er denn in seinem Alter mit Stiefeln? Er konnte ja nicht einmal mehr die auftragen, die er schon besaß.
»Ist Ihre Herrin zu Hause?«
»Ja, Sir.«
»Melden Sie Mr Jolyon Forsyte.«
»Ja, Sir. Hier entlang, bitte.«
Der alte Jolyon folgte dem sehr jungen Hausmädchen – wohl nicht älter als sechzehn – in ein sehr kleines Empfangszimmer, in dem die Jalousien heruntergelassen waren. In dem Raum befand sich ein Pianino, und sonst war da recht wenig, außer einem zarten Duft und Stil. Er stand in der Mitte, den Zylinder in der Hand, und dachte: ›Sie muss wohl sehr knapp bei Kasse sein!‹ Über dem Kamin hing ein Spiegel und er sah sein Abbild. Ein alt aussehender Kerl! Er hörte ein Rascheln und drehte sich um. Sie war so dicht hinter ihm, dass sein Schnurrbart beinahe ihre Stirn streifte, direkt unter ihren Haaren.
»Ich war gerade auf dem Weg in die Stadt«, sagte er. »Dachte, ich schau mal bei dir vorbei und frage, ob du neulich gut heimgekommen bist.«
Und als er sah, dass sie lächelte, fühlte er sich plötzlich sehr erleichtert. Vielleicht freute sie sich wirklich, ihn zu sehen.
»Möchtest du deinen Hut aufsetzen und mit mir in den Park fahren?«
Doch während sie weg war, um ihren Hut zu holen, verfinsterte sich seine Miene. Der Park! James und Emily! Nicholas’ Frau oder irgendjemand anderes seiner lieben Familie würde bestimmt dort sein und umherstolzieren. Und hinterher würden sie sich die Mäuler darüber zerreißen, dass sie ihn mit ihr gesehen hatten. Besser nicht! Er wollte nicht die Echos der Vergangenheit an der Forsyte’schen Börse widerhallen lassen. Er zupfte ein weißes Haar vom Revers seines stramm zugeknöpften Gehrocks und fuhr sich mit der Hand über die Wangen, den Schnurrbart und das kantige Kinn. Da, unter den Wangenknochen, fühlte es sich sehr eingefallen an. Er hatte in letzter Zeit nicht allzu viel gegessen – er sollte sich besser mal ein Mittel verschreiben lassen von diesem Jungspund, der Holly behandelte. Doch sie war wieder zurück, und als sie in der Kutsche saßen, sagte er: »Wollen wir vielleicht lieber zu den Kensington Gardens fahren?« Und mit einem Zwinkern fügte er hinzu: »Da stolziert niemand umher«, als ob sie in das Geheimnis seiner Gedanken eingeweiht wäre.
Sie stiegen aus der Kutsche aus, betraten jenes auserwählte Gebiet und spazierten Richtung Wasser.
»Wie ich sehe, hast du deinen Mädchennamen wieder angenommen«, sagte er. »Das tut mir nicht leid.«
Sie hakte sich bei ihm ein: »Hat June mir verziehen, Onkel Jolyon?«
Er antwortete freundlich: »Ja, ja, natürlich. Warum sollte sie das nicht haben?«
»Und du?«
»Ich? Ich habe dir sofort verziehen, als ich die Lage durchschaut hatte.« Und vielleicht hatte er das wirklich. Es war immer schon sein Instinkt gewesen, den Schönen zu verzeihen.
Sie atmete tief ein. »Ich habe es nie bereut – ich konnte es nicht. Hast du jemals aus tiefstem Herzen geliebt, Onkel Jolyon?«
Auf diese merkwürdige Frage starrte der alte Jolyon vor sich hin. Hatte er das? Er schien sich nicht erinnern zu können, dass er es hatte. Doch das wollte er der jungen Frau nicht sagen, deren Hand auf seinem Arm lag, die gewissermaßen von der Erinnerung an eine tragische Liebe lebte. Und er dachte sich: ›Hätte ich dich getroffen, als ich jung war, ich hätte mich vielleicht zum Narren gemacht.‹ Und ihn überkam das Verlangen, sich in Allgemeinheiten zu flüchten.
»Die Liebe ist eine seltsame Sache«, sagte er, »oft auch eine verhängnisvolle. Waren es nicht die Griechen, die die Liebe zu einer Göttin gemacht haben? Sie hatten recht, will ich wohl meinen. Aber sie lebten ja auch im Goldenen Zeitalter.«
»Phil hat sie verehrt.«
Phil! Das Wort verletzte ihn, denn mit seiner Fähigkeit, alle Seiten einer Sache zu sehen, wurde ihm plötzlich klar, warum sie sich mit ihm abgab. Sie wollte über ihre Liebe sprechen! Na ja, wenn es ihr Freude machte! Und er sagte: »Ah! In ihm steckte wohl auch ein wenig von einem Bildhauer, oder?«
»Ja. Er liebte Ausgewogenheit und Symmetrie. Er liebte es, wie sich die Griechen mit ganzem Herzen der Kunst hingaben.«
Ausgewogenheit! Der Kerl hatte ja so gar keine Ausgewogenheit an sich gehabt, soweit er sich erinnerte. Was Symmetrie anbetraf – gut gebaut war er schon gewesen, ohne Zweifel, aber diese merkwürdigen Augen und die hohen Wangenknochen … Symmetrie?
»Du bist auch aus dem Goldenen Zeitalter, Onkel Jolyon.«
Der alte Jolyon sah zu ihr hinüber. Wollte sie ihn aufziehen? Nein, ihr Blick war weich wie Samt. Wollte sie ihm schmeicheln? Aber wenn ja, warum? Bei so einem alten Kerl wie ihm war doch nichts zu holen.
»Phil fand das. Er hat immer gesagt: ›Aber ich kann ihm nie sagen, dass ich ihn bewundere.‹«
Aha! Schon wieder. Ihr toter Geliebter, ihr Wunsch, über ihn zu sprechen! Und er drückte ihren Arm, halb genervt von diesen Erinnerungen, halb dankbar dafür, als ob er merkte, welche Verbindung sie zwischen ihr und ihm schafften.
»Er war ein sehr talentierter junger Mann«, brummte er. »Es ist heiß. Die Hitze setzt mir neuerdings zu. Komm, setzen wir uns hin.«
Sie nahmen auf zwei Stühlen unter einer Kastanie Platz, deren breite Krone sie vor dem friedlichen Strahlen des Nachmittags schützte.
Es war eine Freude, hier zu sitzen und sie zu betrachten und zu fühlen, dass sie gerne Zeit mit ihm verbrachte. Und der Wunsch, das möglichst noch zu verstärken, ließ ihn fortfahren:
»Ich schätze, er hat sich dir von einer Seite gezeigt, die ich nie zu sehen bekommen habe. Bestimmt zeigte er sich dir von seiner besten Seite. Seine Vorstellungen von Kunst waren ein wenig neu- – für mich.« Er hatte das ›-modisch‹ zurückgehalten.
»Ja, aber er hat immer gesagt, dass du einen wirklichen Sinn für Schönheit hast.« Der alte Jolyon dachte: ›Den Teufel hat er getan!‹ Doch er antwortete mit einem Zwinkern: »Ja, den habe ich wohl, sonst würde ich jetzt nicht hier mit dir sitzen.« Es war faszinierend, wenn sie mit ihren Augen lächelte so wie jetzt!
»Er fand, du hättest eines jener Herzen, die niemals alt werden. Phil hatte eine echt gute Menschenkenntnis.«
Er ließ sich nicht täuschen von dieser Schmeichelei, die der Vergangenheit entstammte, dem Wunsch, über ihren toten Geliebten zu sprechen – kein bisschen. Und doch war es schön zu hören, weil sie seinen Augen und seinem Herzen, das – ganz richtig! – nie alt geworden war, Freude machte. War es nie alt geworden, weil er – anders als sie und ihr toter Geliebter – nie bis zur Verzweiflung geliebt, stets auf Ausgewogenheit geachtet und nie seinen Sinn für Schönheit verloren hatte? Wie auch immer! Es hatte ihm die Fähigkeit erhalten, auch noch mit fünfundachtzig Schönheit zu bewundern. Und er dachte sich: ›Wenn ich ein Maler oder ein Bildhauer wäre! Aber ich bin ein alter Kerl. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen.‹
Ein Pärchen lief mit verschlungenen Armen vor ihnen am Rande des Schattens, den ihr Baum warf, über den Rasen. Das Sonnenlicht fiel gnadenlos auf ihre blassen, verquollenen, ungepflegten jungen Gesichter. »Wir sind schon ein hässlicher Haufen!«, sagte der alte Jolyon unvermittelt. »Ich finde es faszinierend, zu sehen, wie die Liebe darüber triumphiert.«
»Die Liebe triumphiert über alles!«
»So denken die Jungen«, murmelte er.
»Die Liebe kennt kein Alter, keine Grenzen und keinen Tod.«
Mit diesem Strahlen auf ihrem blassen Gesicht, ihrer bebenden Brust und ihren so großen und so dunklen und so sanften Augen sah sie aus wie eine zum Leben erwachte Venus! Doch diese Übertreibung bewirkte eine unmittelbare Reaktion, und mit einem Zwinkern sagte er: »Nun, wenn sie Grenzen kennen würde, dann würden wir nicht geboren. Denn sie muss bei Gott viel hinnehmen!«
Dann nahm er seinen Zylinder ab und wischte mit einer Manschette darüber. Von dem großen unhandlichen Ding wurde seine Stirn heiß. In letzter Zeit stieg ihm häufig das Blut in den Kopf – sein Kreislauf funktionierte nicht mehr so wie früher.
Sie saß noch immer vor sich hinstarrend da, und plötzlich murmelte sie: »Es ist schon seltsam, dass ich noch am Leben bin.«
Er erinnerte sich an Jos Beschreibung: ›verstört und verloren‹.
»Ah!«, sagte er. »Mein Sohn hat dich kurz gesehen – an jenem Tag.«
»War das dein Sohn? Ich habe jemanden in der Eingangshalle gehört. Für einen Moment dachte ich, es wäre – Phil.«
Der alte Jolyon sah, wie ihre Lippen zitterten. Sie legte ihre Hand über den Mund, nahm sie wieder weg und fuhr dann ruhig fort: »In jener Nacht bin ich zur Themse gegangen. Eine Frau hat mich am Kleid festgehalten. Sie hat mir von sich erzählt. Wenn man vom Leid anderer weiß, schämt man sich.«
»Eine jener Frauen?«
Sie nickte und der alte Jolyon spürte Entsetzen, das Entsetzen eines Menschen, der noch nie mit Verzweiflung zu kämpfen hatte. Fast gegen seinen Willen murmelte er: »Erzähl mir, was passiert ist.«
»Es war mir egal, ob ich lebte oder starb. In diesem Zustand vergeht dem Schicksal die Lust, einen umzubringen. Sie kümmerte sich drei Tage lang um mich – sie blieb die ganze Zeit bei mir. Ich hatte kein Geld. Deshalb helfe ich diesen Frauen nun, wo ich kann.«
Doch der alte Jolyon dachte: ›Kein Geld!‹ Welches Schicksal ließ sich denn damit vergleichen? Darin war doch jedes andere mit eingeschlossen.
»Wärst du doch zu mir gekommen«, sagte er. »Warum bist du denn nicht gekommen?« Doch Irene gab keine Antwort.
»Weil ich den Namen Forsyte trage, nicht? Oder hat June dich davon abgehalten? Wie kommst du jetzt zurecht?« Sein Blick wanderte unwillkürlich über ihren Körper. Vielleicht ging es ihr selbst jetzt noch … Und doch war sie nicht dünn – nicht wirklich!
»Ach, die fünfzig Pfund, die ich im Jahr verdiene, sind gerade genug.« Diese Antwort beruhigte ihn nicht. Seine Zuversicht war dahin. Und dieser Soames! Doch sein Gerechtigkeitssinn hinderte ihn daran, ihn zu verurteilen. Nein, sie wäre sicherlich eher gestorben, als auch nur noch einen Penny von ihm anzunehmen. So sanft sie auch aussehen mochte, es musste doch Stärke in ihr stecken – Stärke und Treue. Doch was dachte sich der junge Bosinney nur, einfach so überfahren zu werden und sie so mittellos zurückzulassen!
»Nun, wenn du jetzt irgendetwas brauchst, dann musst du zu mir kommen, sonst wäre ich wirklich enttäuscht.« Und er setzte seinen Zylinder auf und erhob sich. »Komm, lass uns einen Tee trinken. Ich habe dem Faulpelz angeordnet, die Pferde für eine Stunde unterzustellen und mich dann bei dir abzuholen. Lass uns gleich eine Droschke nehmen, ich bin nicht mehr so gut zu Fuß wie früher.«
Er genoss jenen Spaziergang ans Ende der Kensington Gardens – den Klang ihrer Stimme, ihren Blick, die subtile Schönheit einer bezaubernden Frau neben ihm. Er genoss den Tee bei Ruffel in der High Street und verließ das Café mit einer großen Schachtel Pralinen, die an seinem kleinen Finger baumelte.
Er genoss die Rückfahrt nach Chelsea in einer Droschke, während der er seine Zigarre rauchte. Sie hatte versprochen, ihn am nächsten Sonntag zu besuchen und wieder für ihn zu spielen, und in Gedanken pflückte er ihr bereits Nelken und erste Rosen, die sie mit in die Stadt nehmen könnte.
Es war ihm eine Freude, ihr eine kleine Freude zu machen, wenn ein Geschenk von einem alten Kerl wie ihm denn eine Freude war! Die Kutsche stand schon bereit, als sie ankamen. Das war natürlich typisch für diesen Kerl, der sonst immer zu spät war, wenn man ihn brauchte.
Der alte Jolyon ging noch kurz mit hinein, um sich zu verabschieden. In dem kleinen dunklen Eingangsbereich roch es unangenehm nach Patschuli, und auf einer Bank an der Wand – das einzige Möbelstück dort – sah er jemanden sitzen. Er hörte, wie Irene sanft sagte: »Einen Augenblick.«
Als sie in dem kleinen Empfangszimmer die Tür hinter sich geschlossen hatten, fragte er ernst: »Eine deiner Schützlinge?«
»Ja. Dank dir kann ich ihr jetzt helfen.«
Er stand da, starrte und strich sich über jenes Kinn, das seiner Zeit von so vielen gefürchtet worden war. Die Vorstellung, dass sie tatsächlich Kontakt mit dieser Ausgestoßenen hatte, betrübte und ängstigte ihn. Was konnte sie schon für sie tun? Nichts. Höchstens sich selbst beschmutzen und in Schwierigkeiten bringen. Und er sagte: »Pass auf dich auf, mein Liebes! Die Welt geht immer vom Schlechtesten aus.«
»Ich weiß.«
Ihr ruhiges Lächeln machte ihn verlegen. »Also dann – Sonntag«, murmelte er. »Mach’s gut.«
Sie streckte ihm ihre Wange für einen Kuss entgegen.
»Mach’s gut«, sagte er noch einmal. »Pass auf dich auf.« Und dann ging er hinaus, ohne zu der Gestalt auf der Bank zu schauen. Er fuhr über Hammersmith nach Hause, um bei einem Laden Halt zu machen, den er kannte, und anzuordnen, dass sie zwei Dutzend ihres besten Burgunders zu ihr schicken sollten. Sie brauchte doch ab und an eine kleine Aufmunterung! Erst als er schon im Richmond Park war, fiel ihm ein, dass er sich ja neue Stiefel hatte kaufen wollen, und er war überrascht, wie er auf eine so lächerliche Idee hatte kommen können.
Die kleinen Geister der Vergangenheit, vor denen die Tage eines alten Menschen wimmeln, hatten ihre Gesichter nie zuvor so selten hoch zu seinem gedrängt wie in den siebzig Stunden bis zum Sonntag. Der Geist der Zukunft streckte ihm stattdessen mit dem Reiz des Unbekannten die Lippen entgegen. Der alte Jolyon war nun nicht mehr unruhig und ging auch nicht mehr zu dem Baumstamm, denn sie würde zum Mittagessen kommen. Ein Essen hat etwas wunderbar Endgültiges, es wischt eine Welt der Zweifel beiseite, denn niemand lässt ein Essen ausfallen, es sei denn aus Gründen, die außerhalb seiner Macht stehen. Er spielte viel mit Holly auf dem Rasen, warf ihr die Bälle zu, damit sie jetzt das Schlagen üben konnte, um dann in den Ferien Jollys Werfer sein zu können. Denn sie war zwar keine Forsyte, doch Jolly war einer – und Forsytes sind immer die Schlagmänner, bis sie mit fünfundachtzig von ihrem Posten zurücktreten.
Der Hund Balthasar war auch immer dabei und legte sich so oft wie möglich auf den Ball, und der Balljunge warf ihr die Bälle zurück, bis sein Gesicht aussah wie der Erntemond. Und weil die Zeit kürzer wurde, wurde jeder Tag länger und glücklicher als der Tag zuvor. Freitagabend nahm er eine Lebertablette, der Schmerz war recht stark, und es war zwar nicht die Seite, auf der die Leber war, aber es gab kein besseres Heilmittel.
Jeder, der ihm gesagt hätte, er habe etwas gefunden, das sein Leben wieder aufregender machte, und dass diese Aufregung nicht gut für ihn sei, der hätte einen jener festen und recht trotzigen Blicke seiner tiefliegenden stahlgrauen Augen abbekommen, die zu sagen schienen: ›Meine Angelegenheiten kann ich selbst ja wohl am besten regeln.‹ Das war immer so gewesen und das würde auch immer so sein.
Sonntagmorgen, als Holly mit ihrer Gouvernante in der Kirche war, stattete er den Erdbeerfeldern einen Besuch ab. Begleitet von dem Hund Balthasar untersuchte er die Pflanzen gründlich und konnte mindestens zwei Dutzend Beeren finden, die wirklich reif waren. Das Bücken war nicht gut für ihn, ihm wurde ganz schwindlig und sein Gesicht lief rot an. Nachdem er die Erdbeeren in einer Schüssel auf dem Esstisch platziert hatte, wusch er sich die Hände und benetzte seine Stirn mit Eau de Cologne. Als er so vor dem Spiegel stand, fiel ihm auf, dass er abgenommen hatte.
Was für eine ›Bohnenstange‹ er doch als junger Mann gewesen war! Es war schön, schlank zu sein – einen fetten Kerl fand er unmöglich. Und doch waren seine Wangen vielleicht zu schmal! Sie sollte mit dem Zug um halb eins kommen und über die Straße, die an Drages Hof vorbeiging, aus der anderen Richtung durch das Wäldchen nach oben laufen. Und nachdem er in Junes Zimmer gesehen hatte, um zu kontrollieren, ob heißes Wasser bereitstand, machte er sich auf den Weg, um ihr entgegenzulaufen, gemächlich, denn sein Herz pochte.
Die Luft roch süß, Lerchen sangen und man konnte die Tribüne von Epsom sehen. Ein perfekter Tag! Bestimmt war Soames an genau so einem Tag vor sechs Jahren mit Bosinney hierhergekommen, um das Grundstück anzuschauen, bevor sie anfingen, zu bauen. Bosinney war es gewesen, der den genauen Platz für das Haus gewählt hatte – das hatte June ihm oft erzählt.