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Von Freundschaft, Literatur und der Bedeutung des Radios in den 1970er Jahren: Über sechzig bisher unveröffentlichte Briefe von Hubet Fichte und Peter Michel Ladiges. In dieser Freundschaft sei er der Satellit, sagte Hubert Fichte einmal, und Peter Michel Ladiges die Bodenstation. Beide teilten die Leidenschaft für Literatur und Ethnologie und suchten nach neuen Formen der Darstellung. Fichte als Autor, der viele Radiofeatures über afroamerikanische Religionen schrieb, Ladiges als freier Rundfunkregisseur, der Fichtes Manuskripte inszenierte und eigene ethnologische Sendungen über die indigenen Kulturen Mittelamerikas realisierte. Die unveröffentlichten Briefe zwischen Fichte und Ladiges sind eines der wenigen umfangreichen Zeugnisse der Freundschaft in Fichtes Leben, sie sind Ausdruck von Anteilnahme und Fürsorge und belegen eine äußerst produktive Arbeits- gemeinschaft. Wie nebenher wird die zentrale Rolle deutlich, die das Radio in den 1970er Jahren für die Literatur spielte. Der Band ist kommentiert und mit einem ausführlichen Nachwort ergänzt von Peter Braun. Zahlreiche Dokumente, u. a. von Marc Ladiges über seinen Vater, runden den Band ab.
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Seitenzahl: 364
Hubert Fichte | Peter Michel Ladiges
Dieser Band enthält über sechzig bisher unveröffentlichte Briefe von Hubert Fichte und Peter Michel Ladieges. Sie handeln von Freundschaft, Literatur und der Bedeutung des Radios in den 1970er Jahren.
In dieser Freundschaft sei er der Satellit, sagte Hubert Fichte einmal, und Peter Michel Ladiges die Bodenstation. Beide teilten die Leidenschaft für Literatur und Ethnologie und suchten nach neuen Formen der Darstellung. Fichte als Autor, der viele Radiofeatures über afroamerikanische Religionen schrieb, Ladiges als freier Rundfunkregisseur, der Fichtes Manuskripte inszenierte und eigene ethnologische Sendungen über die indigenen Kulturen Mittelamerikas realisierte.
Die Briefe zwischen Fichte und Ladiges sind eines der wenigen umfangreichen Zeugnisse der Freundschaft in Fichtes Leben, sie sind Ausdruck von Anteilnahme und Fürsorge und belegen eine äußerst produktive Arbeitsgemeinschaft.
Der Band ist kommentiert und mit einem ausführlichen Nachwort ergänzt von Peter Braun. Zahlreiche Dokumente, u. a. von Marc Ladiges über seinen Vater, runden den Band ab.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Hubert Fichte, 1935 in Perleberg geboren, wuchs in Hamburg auf, war Schauspieler, Schafhirte und Landwirtschaftslehrling. Seit 1963 lebte Fichte als freier Schriftsteller in Hamburg. Zu seinen wichtigsten Werken zählen die Romane »Das Waisenhaus« (1965), »Die Palette« (1968) und »Versuch über die Pubertät« (1974), die ethnopoetischen Reiseberichte »Xango« (1976) und »Petersilie« (1980) sowie die mehrbändige »Geschichte der Empfindlichkeit« (ab 1987). Hubert Fichte starb am 8. März 1986 in Hamburg.
Peter Michel Ladiges, 1933 in Hamburg geboren, war Hörspielregisseur und Dramaturg. Nach Stationen beim NDR und SWF arbeitete er ab 1971 freiberuflich und führte bei zahlreichen Hörspielen Regie. Er arbeitete u.a. mit Ernst Jandl, Hubert Fichte und Manuel Vázquez Montalbán zusammen, realisierte aber auch zahlreiche eigene Features. 1969 erhielt er den renommierten Hörspielpreis der Kriegsblinden. Ladiges starb 2004 in Frankfurt am Main.
[Motto]
Der Flaschenpostcharakter alles Freundschaftlichen
Briefe
1971
Dokument 1
Dokument 2
Dokument 3
Dokument 4
Dokument 5
Dokument 6
Dokument 7
Dokument 8
Dokument 9
Dokument 10
Dokument 11
Dokument 12
Dokument 13
1972
Dokument 14
Dokument 15
Dokument 16
Dokument 17
Dokument 18
Dokument 19
Dokument 20
Dokument 21
Dokument 22
Dokument 23
Dokument 24
Dokument 25
1973 und 1974
Dokument 26
Dokument 27
Dokument 28
Dokument 29
Dokument 30
Dokument 31
Dokument 32
Dokument 33
Dokument 34
Dokument 35
Dokument 36
Dokument 37
1975 bis 1979
Dokument 38
Dokument 39
Dokument 40
Dokument 41
Dokument 42
Dokument 43
Dokument 44
Dokument 45
Dokument 46
Dokument 47
Dokument 48
Dokument 49
Dokument 50
1980 bis 1985
Dokument 51
Dokument 52
Dokument 53
Dokument 54
Dokument 55
Dokument 56
Dokument 57
Dokument 58
Dokument 59
Dokument 60
Dokument 61
Dokument 62
Dokument 63
Materialien
Porträt: Hubert Fichte
Nur Abstraktionen im Kopf. Dorothea Röhrs empirische Untersuchung der Prostitution. Hubert Fichte bietet mehr
Zerstückelung und Wiedergeburt. Skizze des Komischen bei Hubert Fichte
Frankfurt am Main, Oeder Weg 30
Das Hörbarmachen der Wörter
Ein Fundstück (1965)
Unterschiedliche Lebensbahnen (1933 bzw. 1935–1965)
Peter Michel Ladiges als Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Ulm (1961–1965)
Die Jahre bei den Zeitschriften Film und Filmkritik (1963–1969)
Das Feature – eine radiophone Form (1967–1971)
Das Neue Hörspiel (1968–1972)
Der Traum von einer alternativen Ethnologie (1972–1985)
Ein wegweisendes Feature über Carlos Castaneda und die Lehren des Don Juan (1972/1973)
Ein gemeinsames Projekt: Die ethnologischen Features (1972–1988)
Das Porträt als Feature (1974–1984)
Pedro Claver (1976, 1980)
Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen (1977)
Die Geschichte der Empfindlichkeit (1980–1986)
Der kleine Hauptbahnhof (1983/1984)
Das Kartoffelbuch (1975 bis 1990)
Das Ende des Traums (1984 bis 2004)
Verwendete und weiterführende Literatur
Werke von Hubert Fichte
Bildnachweise
Dank an:
Forget grammar and think about potatoes.
Gertrude Stein in ihrem Buch How to write,
1931 bei der Plain Edition, Paris, erschienen,
in einer limitierten Auflage von 1000 Stück.
Peter Michel Ladiges hat diesen Satz von Gertrude Stein seinem Artikel Das kulinarische System der Kartoffel vorangestellt. Dabei handelt es sich um seinen Beitrag zum Schreibheft 25, das im März 1985 zu Hubert Fichtes 50. Geburtstag erschienen ist.
Einleitung
»Telegramme dauern hier länger als Briefe«, schreibt Hubert Fichte im April 1971 aus Salvador da Bahia in Brasilien an Peter Michel Ladiges und fährt fort: »Aber leider gehen hier Briefe auch oft verloren und alles Freundschaftliche erhält so Flaschenpostcharakter.« Diese Beschreibung trifft recht genau den Zustand, in dem die Schriftstücke von Hubert Fichte und Peter Michel Ladiges vorliegen. Erhalten ist nur ein Teil aller Briefe und Postkarten, die sich beide tatsächlich gegenseitig geschrieben haben. Weit davon entfernt, einen geschlossenen Schriftwechsel abzubilden, fügen sie sich lediglich zu einem Torso zusammen.
Die Briefe von Hubert Fichte an seinen Vater hat Marc Ladiges der S. Fischer Stiftung übergeben. Heute werden sie im Nachlass Hubert Fichtes in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Carl von Ossietzky in Hamburg aufbewahrt. Die meisten sind mit der Hand geschrieben, einige auch mit der Schreibmaschine, die dann jedoch nachträglich noch von Hand korrigiert und z.T. mit handschriftlichen Einfügungen und Nachschriften versehen wurden. Bei einigen Briefen ist zudem während des Schreibens das Farbband ausgegangen, weshalb die Maschinenschrift plötzlich abbricht und in Handschrift übergeht. Viele Briefe sind undatiert, und schließlich fehlen bei wenigen Briefen einzelne Seiten, entweder in der Mitte oder am Ende.
Die Lückenhaftigkeit wird noch deutlicher, wenn man die vereinzelten Briefe von Peter Michel Ladiges hinzunimmt, die sich im Nachlass von Hubert Fichte finden –, insgesamt sind es nur dreizehn Stück. Diese wiederum teils handschriftlichen, teils maschinenschriftlichen Briefe sind, nach gegenwärtiger, gründlich geprüfter Lage, die einzigen, die Hubert Fichte aufgehoben hat. Zwar ist es dadurch zumindest punktuell möglich, den Briefwechsel zwischen den beiden Adressaten zu rekonstruieren – und mithin die Weise, wie sie in ihren Briefen aufeinander eingehen und die Themen des anderen aufgreifen. Glücklicherweise haben sich darunter auch zwei längere Briefe von Peter Michel Ladiges erhalten, in denen er seine Gedanken zusammenhängend entwickelt, so dass sein intellektuelles Profil erkennbar wird. Doch die wenigen vorliegenden Briefe lassen die verlorenen umso schmerzlicher vermissen. So zeigt sich der »Flaschenpostcharakter« nicht nur in einer sich unterschiedlich manifestierenden Lückenhaftigkeit, sondern auch in einer Unausgewogenheit der beiden Stimmen: Fünfzig Schriftstücke von Hubert Fichte stehen dreizehn von Peter Michel Ladiges gegenüber.
Diese Materiallage hängt vor allem mit den Umständen zusammen, unter denen die Briefe entstanden sind. Hubert Fichte und Leonore Mau befanden sich in den 1970er Jahren die meiste Zeit unterwegs auf Reisen. Manchmal blieben sie mehrere Monate an einem Ort, wie in Brasilien 1971, in Haiti 1972, im Senegal 1976 oder in Miami 1977 und 1978, häufiger jedoch, vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts, wechselten sie in kürzeren Abständen die Orte. Kein Wunder, wenn Briefe dabei verloren gingen oder nicht mehr ins Gepäck passten, zumal Fichte ja auch ständig mit Verlagen und Rundfunkanstalten korrespondieren und Manuskripte hin- und herschicken musste, so dass sich sicherlich viel Post an den verschiedenen Aufenthaltsorten ansammelte. Aber auch Peter Michel Ladiges brach immer wieder zu Reisen auf, oft nach Mittelamerika, um eigene Features für den Rundfunk zu erarbeiten –, vor allem seit Anfang der 1970er Jahre, als er seine feste Redakteursstelle aufgab und als freier Autor und Regisseur für verschiedene Sendeanstalten arbeitete. Der »Flaschenpostcharakter« der Briefe korrespondiert demnach mit der ›nomadischen‹ Existenzweise beider Schreiber – und es wäre eher verwunderlich, wenn unter diesen Bedingungen ein lückenloser Briefwechsel vorliegen würde.
Zudem geben die Briefe auch in dieser Form aufschlussreiche Informationen über die Arbeiten der beiden Briefpartner. Sie eröffnen Einblicke in ihre jeweilige Werkstatt und erhellen ihre Zusammenarbeit. Daneben berichten sie auch von den Begleitumständen ihrer Arbeiten und Reisen, von Krankheiten und seelischen Belastungen, von Ängsten und Selbstzweifeln. Als private und persönliche Dokumente bezeugen sie, nicht zuletzt, eine aufrichtige Freundschaft zwischen zwei Männern, die sich über ihre gemeinsame Faszination für das Reisen, die Ethnologie und das Schreiben ohne Ressentiments im Hinblick auf ihre unterschiedliche sexuelle Orientierung einander öffneten und eng verbunden fühlten.
Damit sind die Briefe jedoch noch nicht ausgeschöpft. Indem sie immer wieder auf konkrete Feature-Sendungen Bezug nehmen und von ihrem Entstehen und ihrer Rezeption berichten, lenken sie das Interesse auf eben diese Radioproduktionen. Zum größeren Teil sind sie zur radiophonen Kategorie des Features zu zählen, das grob als akustische, künstlerisch gestaltete, erzählende und reflektierende Passagen umfassende Dokumentation charakterisiert werden kann. Das Feature im Radio stellt eine Spielart des dokumentarischen Erzählens dar. In der zweiten Hälfte der 1970er und in den 1980er Jahren sind aber auch zunehmend Hörspiele entstanden, für die Fichte das Manuskript geliefert hat. Damit hat sich Fichte wieder seinen Anfängen angenähert, die sowohl als Kinder- und Jungendarsteller als auch am Beginn seines Schreibens bei der Dramenform des Theaters liegen. Somit erzählen die Briefe über den Weg der konkreten Arbeiten, wie nebenbei, ein Stück Radiogeschichte aus der alten Bundesrepublik Deutschland und beleuchten die Umstände, unter denen in den 1970er Jahren dokumentarische und literarische Radiosendungen entstanden sind.
Eine Schwierigkeit, sich angemessen und d.h. vom Hörerlebnis aus mit radiophonen Werken auseinanderzusetzen – und das galt auch für dieses Buch und vor allem das Schreiben des Nachworts –, liegt in der flüchtigen und temporären Rezeption radiophoner Kunstwerke. Nach der Ausstrahlung und gegebenenfalls einiger Übernahmen und Wiederholungen wandern die Tonbänder in die Archive der Rundfunkanstalten. Glücklicherweise konnte ich im Fall von Hubert Fichte auf eine zugängliche Auswahl seiner Rundfunkarbeiten zurückgreifen, die als gedruckte Manuskripte in dem von Giesela Lindemann verantworteten Band Schulfunk innerhalb der Geschichte der Empfindlichkeit (1988) vorliegen und als realisierte Features und Hörspiele in der verdienstvollen, etliche Archivhürden nehmenden Edition Hörwerke 1966–1986, herausgegeben von Robert Galitz, Kurt Kreiler und Martin Weinmann (2006). Im Fall der Features von Peter Michel Ladiges, aber auch für einige thematisch relevante gemeinsame Sendungen indes blieb nur der Gang in die Archive, der durch die fortschreitende Digitalisierung inzwischen um einiges leichter zu bewältigen ist. Da Peter Michel Ladiges auch als freier Autor und Regisseur eng mit dem Südwestfunk in Baden-Baden verbunden geblieben ist, erwies sich vor allem das dortige Archiv als eine wertvolle Quelle.
Schließlich werfen die Briefe auch noch die Frage auf, wer denn eigentlich in den 1970er und frühen 1980er Jahren die thematisch der Ethnologie zugeordneten Radiosendungen von Fichte und Ladiges gehört hat? Hier lassen sich über die Briefe freilich nur indirekte Spuren verfolgen, indem sie als Dokumente ihrer Zeit gelesen werden. Viele der in den Briefen anklingenden Interessen, Einstellungen und Werte – nicht zuletzt die Qualität der ›Empfindlichkeit‹ – weisen in die alternative Gegenkultur ihrer Entstehungszeit, die zunehmend in indigenen Kulturen und ihren Kämpfen um Unabhängigkeit und Selbstbestimmung Vorbilder und Verbündete für ihren eigenen, aus der kapitalistischen Konsumkultur aussteigenden Lebensstil fand. Das schloss auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsdisziplin Ethnologie mit ein, die zu einem neuen Modefach an den Universitäten avancierte, und rief den Traum einer anderen, alternativen Ethnologie wach, in der sich Wissenschaft und Kunst miteinander versöhnen sollten. Angeregt durch die Bücher von Carlos Castaneda und vieler anderer Autoren begaben sich auch Hubert Fichte und Peter Michel Ladiges auf die Suche nach einer anderen sprachlichen Darstellung fremder Kulturen, als sie die objektivierenden Wissenschaften hervorbringen – und das öffentlichkeitswirksam im Radio. Damit trugen sie, vielleicht sogar mehr als die zaghaften Reformversuche des Faches an den Universitäten, mit dazu bei, dass sich seit Mitte der 1970er Jahre jene ethnoalternative Gegenkultur herausbilden konnte, die zu einem gesellschaftlich wirksamen Protestmilieu aufstieg.
Die medialen und mentalitätsgeschichtlichen Hintergründe und Kontexte aufzudecken ist vor allem Aufgabe des umfangreichen Nachworts. Zugleich gilt es dort – und ebenso im Epilog von Marc Ladiges –, einige Bausteine zum biographischen und intellektuellen Werdegang des sicherlich unbekannteren der beiden Briefschreiber zu liefern. Um schließlich über die zeitlichen Lücken zwischen den Briefen hinwegzuhelfen, sind die Briefe in fünf Kapitel eingeteilt und jeweils mit einem kurzen Einführungstext versehen, in denen die biographischen Bewegungen des fraglichen Zeitraums dargestellt werden. Im Materialteil am Ende des Buches finden sich zuletzt die Arbeiten von Peter Michel Ladiges über Hubert Fichte, von denen in den Briefen die Rede ist.
Die Textgestalt der Briefe ist der heutigen Rechtschreibung behutsam angepasst. Das betrifft vor allem die frühere Schreibung von »daß«, die sich in den handschriftlichen Briefen durchgängig findet. Da in den maschinenschriftlichen Briefen häufig auch »dass« geschrieben wurde, weil es auf der verwendeten Schreibmaschine keine Taste für das »ß« gab, bot sich die Vereinheitlichung zur heute üblichen Schreibweise umso mehr an. Ebenso wie die stillschweigend vorgenommenen Korrekturen bei Fehlern in der Rechtschreibung oder Zeichensetzung sollen diese Maßnahmen eine bessere Lesbarkeit ermöglichen. In denjenigen Fällen jedoch, die auf eine bewusste, individuelle Setzung verweisen, wird der Schreibweise der Vorlage gefolgt. Zudem werden, ebenfalls um den Text lesefreundlicher zu gestalten, Titel von Büchern und Zeitschriften sowie fremdsprachliche Ausdrücke kursiv gesetzt.
Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass Hubert Fichte und Peter Michel Ladiges noch unbefangen nicht nur das N-Wort verwendet haben, sondern auch andere Namen für kulturelle Gruppen, die heute mit einem geschärften postkolonialen Bewusstsein als diskriminierend gelten. Wie sich den Inhalten entnehmen lässt, sind sie von den beiden Briefschreibern in keiner Weise herabwürdigend oder verletzend verwendet worden.
Der Briefwechsel zwischen Hubert Fichte und Peter Michel Ladiges setzt in einer Zeit des doppelten Aufbruchs ein. Für Ladiges liegt die feste Stelle als Redakteur in der Hörspielabteilung des Südwestfunks in Baden-Baden hinter ihm, und er arbeitet nun als freier Autor und Regisseur. Er will sich mehr Zeit für eigene Features nehmen, will häufiger reisen oder sich zu Recherchen in eine Bibliothek zurückziehen. Sein kulturgeschichtliches und ethnographisches Interesse richtet sich auf die indigenen Kulturen Mittelamerikas von Mexiko bis Peru und umfasst die alten Hochkulturen der Inka und Maya ebenso wie die heutigen Kulturen, die sich als deren Nachfahren verstehen.
Hubert Fichte und Leonore Mau hingegen brechen nach Brasilien auf. Nicht wie bei ihren bisherigen Reisen für ein paar Wochen oder Monate, sondern für ein ganzes »Studienjahr«, wie sie es nennen. Nach einer ersten dreimonatigen Reise im Jahr 1969 wollen sie nun ihre Kenntnisse der afrobrasilianischen, synkretistischen Kulturen vertiefen, in denen sich religiöse Praktiken aus Westafrika und dem barocken Katholizismus Portugals, aus dem europäischen Spiritismus und den indigenen Stammeskulturen Brasiliens vermischen.
Der doppelte Aufbruch bringt sowohl für Fichte als auch für Ladiges längere Zeiten der Abwesenheit aus Deutschland mit sich, wodurch sich die Art, wie sie ihre Freundschaft pflegen, verändert. In den 1960er Jahren lebte sie von persönlichen Begegnungen und langen Telefongesprächen. Nun treten an ihre Stelle die Briefe, allerdings, wie beide beklagen, nur als matter Ersatz. Zugleich beginnt mit diesem biographischen Einschnitt die Phase ihrer intensiven Zusammenarbeit im Radio. Nicht zuletzt, um die vielen Reisen finanzieren zu können, schreibt Fichte in den kommenden Jahren sehr viele Feature-Manuskripte, die er bei verschiedenen Sendern unterbringt. Obwohl teilweise auch andere Regisseure verpflichtet werden, gelangt die größte Anzahl in die Hände von Peter Michel Ladiges. Hin und wieder entstehen zudem Arbeiten, mit denen Ladiges die Existenz seines Freundes als freier Schriftsteller auf andere Weise unterstützt.
Eine erste dieser Arbeiten stellt ein Radioporträt Fichtes dar, das Ladiges gestaltet und das am 20. März 1971 – ein Tag vor Fichtes 36. Geburtstag – im SWF ausgestrahlt wird. Drei Sprecherstimmen sind zu hören, die jeweils eine unterschiedliche Perspektive auf die Person und den Schriftsteller Hubert Fichte einnehmen: Die erste erzählt seinen Lebensweg, die zweite liefert eine Beschreibung seiner äußeren Erscheinung, und die dritte streut Zitate aus seinem Werk ein. Das Porträt spielt in den Briefen insofern eine Rolle, als Tonbandaufnahmen, die Ladiges mit Fichte noch vor der Abreise in Hamburg aufgezeichnet hat, technisch misslungen sind. Sie waren allerdings nur als Gedächtnisstütze gedacht, denn sonst hätten die Aufnahmen sicherlich in einem Studio stattgefunden, und so bittet Ladiges, ihm die fehlenden Informationen mit der Post zu schicken. Ein Manuskript der Sendung geht dann umgehend zurück nach Brasilien, das Fichte bereits wenige Tage nach der Ausstrahlung erreicht.
Zudem inszeniert Ladiges 1971 drei Radioarbeiten, die alle auf Manuskripten beruhen, die Fichte noch vor seiner Abreise fertiggestellt hat: (1) das Feature Djemma el Fna. Der Platz der Gehenkten, (2) die Hörspieladaption Detlevs Imitationen. Bericht einer Jugend in Deutschland und (3) das experimentelle Hörstück Ich würde ein …
Unter diesen Produktionen nimmt das gleich zu Beginn des Jahres inszenierte Feature Djemma el Fna. Der Platz der Gehenkten eine besondere Stellung ein. Denn Ladiges verwendet hier erstmals Originaltöne, die Hubert Fichte bei seinem sechswöchigen Aufenthalt in Marrakesch ein Jahr zuvor aufgenommen hat. Damit folgt er einer neuen Entwicklung, die das Hörfunkfeature seit Ende der 1960er Jahre eingeschlagen hat. Durch tragbare Aufnahmegeräte und handliche Mikrophone ist es möglich geworden, originale, vor Ort aufgenommene Töne zu integrieren. Auch eine zweite technische Errungenschaft, die zu derselben Zeit ins Radiofeature eingegangen ist, greift Ladiges auf: die Stereophonie. So gestaltet er in Djemma el Fna. Der Platz der Gehenkten einen stereophonen Raum, in dem die fünf männlichen Sprecherstimmen und die Gesänge und Geräusche des Marktplatzes immer wieder ihren Ort wechseln, bald hierhin, bald dorthin springen und damit für das reale Treiben auf dem Marktplatz eine angemessene radiophone Form finden. Das Feature wird schließlich am 31. Juli 1971 im SWF gesendet.
Hervorzuheben ist auch das Radio-Experiment Ich würde ein … für das Hubert Fichte eine komplexe Partitur entworfen hat. Es kann zum Neuen Hörspiel gezählt werden – einer kurzen, nur wenige Jahre dauernden Phase des Experimentierens, in der sich das Hörspiel im Hinblick auf seine grundlegenden Elemente und eingespielten erzählerischen Muster befragt. Die Produktion von Ich würde ein … findet im August 1971 statt, gesendet wird es, mit einer Einführung von Peter Michel Ladiges, am 6. Januar 1972.
Hubert Fichte und Leonore Mau verbringen indes fast das gesamte Jahr in Brasilien in der Stadt Salvador da Bahia. Nur von Mitte Mai bis Ende Juli unterbrechen sie ihren Aufenthalt in der kulturellen Hauptstadt Brasiliens, um auf die Osterinsel und nach Chile zu reisen. Dort war im Jahr zuvor Salvador Allende an die Regierung gekommen und unternahm das Gesellschaftsexperiment, einen Sozialismus mit demokratischem Antlitz aufzubauen. Fichte interviewt Allende und andere Mitglieder seiner Regierung und schreibt über seine Erkundungen ein Feature, das unter dem Titel Chile – Experiment auf die Zukunft. Eine Phänomenologie des politischen Bewusstseins bereits am 9. Oktober 1971 vom NDR ausgestrahlt wird.
Die restliche Zeit des Jahres leben sie in Salvador da Bahia, um den Candomblé zu studieren. Wie auch die anderen afrobrasilianischen Religionen, unter denen Umbanda und Kimbanda nur die bekanntesten darstellen, sowie ihre Schwesterreligionen, der Vaudou auf Haiti und die Santería auf Kuba, geht der Candomblé zurück auf den Sklavenhandel zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert. Zehn bis zwölf Millionen Menschen aus den Ländern des westlichen Afrikas – von der Elfenbeinküste über Benin und Nigeria bis in die südlicheren Länder Kongo und Angola – wurden als Arbeitskräfte in die spanischen und portugiesischen Kolonien in Südamerika verschleppt, 40 % davon nach Brasilien.
Weniger auf den Zuckerrohrplantagen mit ihrem strengen Aufsichtsregime als vielmehr in den aufstrebenden Wirtschaftszentren Salvador, Recife und Rio de Janeiro boten sich den versklavten Menschen kleine Freiräume, in denen sie ihre religiösen Traditionen und Riten – oft nur in Bruchstücken und zudem unter der Kontrolle der katholischen Kirche – wieder aufleben lassen konnten. Da das afrikanische Pantheon mit ihren orixás Ähnlichkeiten zu den katholischen Heiligen aufwies, wurden diese in ihrer barocken portugiesischen Gestalt integriert. Zudem übten auch der Spiritismus, den einige Kolonisatoren als außerkirchliche Gegenreligion einführten, und nicht zuletzt lokale, indigene Elemente ihren Einfluss aus. Charakteristisch für alle afroamerikanischen Religionen ist ihr ›Wildwuchs‹. Es gibt keine zentrale Instanz, die über Orthodoxie und Heterodoxie wacht. Insofern zeichnen sie sich bis heute durch eine große Offenheit aus und nehmen selbst moderne Konsumprodukte in ihre Kulte auf.
Hubert Fichte und Leonore Mau nähern sich dem Candomblé – das wird in den Briefen immer wieder deutlich – über die sinnliche Erfahrung konkreter Situationen an. Ihre Aufmerksamkeit gilt vor allem dem rituellen Verhalten der Menschen, ihren Bewegungen, Gesten und Tanzfolgen. Eine zentrale Rolle übernimmt dabei die Trance. Sie ermöglicht es, dass sich die Göttinnen und Götter in einzelnen Teilnehmenden manifestieren und damit temporär anwesend sind. Im Mittelpunkt einer Zeremonie steht jeweils der orixá, für den das Fest ausgerichtet ist. Dieser ist aber immer mit anderen Gottheiten durch Heirat oder Rivalität verbunden, so dass im Verlauf der Feier auch diese erscheinen. Die Trance im Candomblé und in den anderen afroamerikanischen Religionen ist also keine individuelle Besessenheit, sondern eine kollektive Inszenierung mythischer Erzählungen und besitzt somit immer auch theaterhafte Züge.
In den Radiofeatures und ethnographischen Texten Hubert Fichtes spielen diese mythischen Erzählungen aber nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr treibt ihn stattdessen die Frage an, wie der Zustand der Trance ausgelöst wird und durch welche Techniken und – mehr noch – durch welche pflanzlichen Wirkstoffe das Gehirn während der Initiation eventuell chemisch verändert wird. Diese ganz eigene ›materialistische‹ Sichtweise Hubert Fichtes bricht sich in den Briefen immer wieder Bahn.
Ein letztes wichtiges Ereignis für Hubert Fichte zieht sich durch manche Briefe dieses Jahres: Im Februar erscheint im Rowohlt Verlag sein dritter Roman Detlevs Imitationen »Grünspan« und wird von der Literaturkritik verhalten aufgenommen oder ganz abgelehnt. Fichte führt darin die zwei Stränge, die er in seinen ersten beiden Romanen Das Waisenhaus und Die Palette entwickelt hat, zusammen. Dabei verweigert er jedoch eine lineare Narration, vielmehr schneidet er beide Stränge hart gegeneinander: den des kindlichen Protagonisten Detlev in den 1940er Jahren und den des Protagonisten Jäcki in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. »Detlevs Welt steht Kopf in Jäckis Kopf«, heißt es pointiert an einer Stelle (Grünspan, S. 46). Die mangelnde Bereitschaft der Literaturkritik, darin ein Fortschreiten seiner Erzähltechnik zu erkennen und nicht lediglich eine »Imitation der eigenen Anfänge«, wie beispielsweise Lothar Baier seine Rezension überschrieben hat, belastet Hubert Fichte schwer, und er verschafft sich in den Briefen an seinen Freund immer wieder Luft.
Am Ende des Jahres, Anfang Dezember, bricht schließlich auch Peter Michel Ladiges zu einer Reise auf. Sie führt ihn auf die Île de la Réunion, einem französischen Überseedepartement, das zu den westindischen Inseln zählt. Er beabsichtigt, dort ein Feature über die Folgen der Sklaverei zu erarbeiten. Der Aufenthalt wird durch einen persönlichen Kontakt zur kreolischen Schriftstellerin Rose-May Nicole (1931–2018) erleichtert. Sie und Ladiges hatten sich 1957 an der Universität in Aix-en-Provence kennengelernt, als beide dort für ein Jahr studierten. Sie stürzten sich in eine Liebesaffäre, aus der der gemeinsame Sohn Michel (französisch ausgesprochen) hervorgegangen ist. Ladiges war allerdings bereits seit einigen Jahren mit Anke liiert und kehrte zu ihr zurück. Im Laufe ihres weiteren Lebens wird Rose-May Nicole mehrere Romane schreiben, u.a. Laëtitia und Bassin Miracle, und wird 1992 eine Doktorarbeit mit dem Titel Noirs, cafres et créoles: Études de la représentation du non blanc réunionnais an der erst 1982 gegründeten Université de La Réunion einreichen. Als Ladiges 1971 Rose-May Nicole wieder und seinen Sohn zum ersten Mal trifft, erzählt sie ihm von dem Marche sur le Feu, einem Kult, den indische Einwanderer auf die Insel gebracht haben. Er beschließt daraufhin, das geplante Thema fallen zu lassen und sein Feature diesem Kult zu widmen.
Hubert Fichte
c/o Instituto Alemão
Avenida 7 de Setembro 210
Bahia Salvador
Brasilien
[ohne Datum]
Lieber Michel,
Dir schnell das Adresschen à la discrétion, ein Lebenszeichen, aber vor allem als Frage: Wie geht es Dir? Wie geht es Deiner Freundin in Frankfurt, was machen Deine Kinder und wie findest Du Dich in Deiner neuen Situation zurecht? Es ist schade, dass ich gerade in dieser Zeit, wo wir uns beide hätten viel unterhalten sollen, nach Brasilien reisen musste. Aber man kann sich so etwas ja nicht aussuchen. Wie kommst Du mit Deiner Arbeit voran? Was machen die Hörspiele?
Hier ist es schon recht tropisch so in jeder Beziehung und ich könnte schon jetzt Bände schreiben. Wir haben ein kleines Häuschen gemietet, in dem es immer ein Lager für Dich gibt und ich sitze an ganz abwegigen Studien. Pflanzennamen und afrikanischen Beschwörungsformeln. Mathe. Vor allem: über den Inneren Film.
Sehr herzlich Hubert
und Leonore.
Lass von Dir hören.
Wie geht es Dir?
Hubert Fichte erkundigt sich regelmäßig in seinen Briefen nach der familiären Situation seines Freundes. Als dessen Freundin spricht er hier Elke an, mit der Peter Michel Ladiges in dieser Zeit in Baden-Baden zusammenlebt. Sie haben einen gemeinsamen Sohn Robert. Er ist der jüngste der insgesamt vier Söhne. Aus der Ehe mit Anke Ladiges stammen Sven und Marc und aus der Liebesaffäre mit Rose-May Nicole Michel, den Fichte in seinen Briefen gerne als »schwarzen Sohn« bezeichnet.
Pflanzennamen und afrikanischen Beschwörungsformeln:
Hubert Fichte erfährt in Bahia durch den französischen, seit vielen Jahren vor Ort lebenden Ethnologen Pierre Verger, dass auch die Namen der Pflanzen und ihre Artikulation während des Ritus mit zur Wirkung beitragen.
Mathe:
Schon seit einigen Jahren interessiert sich Fichte für Mathematik. Dabei geht er vor allem der Beziehung zwischen Mathematik, Logik und Sprache nach. In Alte Welt gibt es mehrere Einträge dazu (z.B. S. 292f. und 308f.). Eine wichtige Bezugsperson ist dabei der polnische Mathematiker und Logiker Alfred Tarski.
über den Inneren Film:
Der Begriff »innerer Film« verweist auf für Fichte zentrale Fragen: Wie verarbeiten wir Wahrnehmungen und Erinnerungen in unserem Kopf? Wo sitzt die dafür notwendige ›Empfindlichkeit‹? Wie funktioniert unser Bewusstsein? In seinem Roman Die Palette ist Fichte dieser Frage in einem ganzen Kapitel nachgegangen und hat dazu auf ein Streitgedicht des mittelalterlichen Troubadours François Villon zurückgegriffen: Le Débat du Cœur et du Corps de Villon. Er hat in diesem Zusammenhang öfters vom »Kino im Kopf« gesprochen (Palette, S. 203–209). In Bahia registriert Fichte aufmerksam, wie sich seine Teilnahme an den Riten des Candomblés, die sich über viele Stunden erstrecken und stets von Trommeln begleitet sind, auf sein Bewusstsein auswirken.
P M Ladiges
Baden-Baden
Rettigstraße 14
4. Februar 1971
Lieber Hubert,
Dein Brief kam, als ich zwei Wochen verreist war. Bei Wolly sah ich Deinen Brief an ihn und erfuhr so, dass Du gut angekommen warst. Seit Montag mache ich Djemma el Fna. Alle Probleme sind gelöst und es läuft gut. Fast vier Stunden, Deine Aufnahmen wurden eingearbeitet. Eine richtige Hörchronik. Die Schauspieler alle auf einem Ton, sehr spannungsvolle Monotonie. Der Text ist eben einfach exzellent.
Ansonsten leider eine Reihe von »Schicksalsschlägen«, aber zu viele, um darüber was zu sagen, und außerdem denke ich gar nicht daran, mich aus der Fassung bringen zu lassen. Das schlimmste eigentlich: die Aufnahme, die ich in Hbg. bei Dir mit dem Kassettenercorder gemacht habe, ist – aus was für Gründen weiß ich nicht – fast nicht verständlich. Jetzt versuche ich mit viel Mühe, Deine Daten zu rekonstruieren. Du kannst jedenfalls offenbar sehr viel besser mit dem Apparat umgehen als ich, denn Deine Aufnahmen aus Marrakesch sind technisch sehr gut.
Das Projekt mit dem Kalifornienfilm verschiebt sich noch. Aber den Ersatzplan mit Nepal habe ich auch aufgegeben. Mir erscheint es einfach absurd, jetzt dahin zu fahren und darüber zu schreiben. Oder?
Wenn ich Zeit und vor allem Geld hätte, würde ich Dich besuchen kommen. Na ja, vielleicht klappt es ja in der 2. Jahreshälfte.
Sei erst einmal ganz herzlich gegrüßt und umarmt und grüß auch Lore ebenso herzlich.
Bis bald
Dein Michel
Wolly:
Wolfgang »Wolli« Köhler (1932–2017), ein gelernter Autoschlosser aus Sachsen, ist in den späten 1960er und 1970er Jahren eine schillernde, hippieske Figur im Hamburger Stadtteil St. Pauli. Nachdem er zunächst als Schausteller von Jahrmarkt zu Jahrmarkt gereist war, blieb er um 1960 auf St. Pauli hängen, arbeitete zunächst als Portier und Rotlichtkellner und pachtete schließlich Ende der 1960er Jahre eine Etage im Palais d’Amour, die er als Bordell betrieb. Er steht politisch links, interessiert sich für Ethnologie, Literatur und Kunst, hegt ein Faible für Marcel Proust, reist nach Indien und schreibt und malt selbst. Hubert Fichte hat vier lange Interviews mit ihm geführt: Drei davon bilden das Rückgrat in dem Buch Wolli Indienfahrer, das vierte findet sich im Abschlussband der Geschichte der Empfindlichkeit mit dem Titel Hamburg Hauptbahnhof. Register.
Hubert Fichte hat Wolli Köhler 1967 über den Palettianer Wilfried Hurter, im Roman Die Palette »Raimar Renaissancefürstchen« genannt, kennengelernt (vgl. Tagebuch vom 23. Juli 1967 in: Alte Welt, S. 160f.). Schnell entsteht eine enge Freundschaft, in die er bald auch Peter Michel Ladiges einbindet. Darüber freunden sich auch Köhler und Ladiges, unabhängig von Hubert Fichte, an. Regelmäßig besuchen sie sich in Hamburg oder in Frankfurt am Main und übernachten dann jeweils in der Wohnung des anderen.
Unter den knapp zwanzig Briefen, die Fichte an Wolfgang Köhler geschrieben hat, findet sich auch ein kurzes, undatiertes Schreiben, das er noch im Januar aus Bahia, Brasilien, geschickt haben muss. Darin heißt es: »Hier geht es gut. Das Meer bekommt mir. Ich arbeite den ganzen Tag und zwischendurch – na, Du weißt schon […]. Ich denke viel an Euch alle. Grüß mir die ›Freiheit‹ – die man natürlich auch in Brasilien nicht vergisst.« (Neue Rundschau, 2010/Heft 1, S. 252) Diesen Brief hat Peter Michel Ladiges bei Wolli Köhler gelesen.
Kalifornienfilm:
In einem Radiogespräch mit Arnfried Astel, das der Saarländische Rundfunk am 17. April 1974 in seiner Reihe Auskünfte. Autoren im Dialog ausgestrahlt hat, bekennt Ladiges, er hätte eigentlich gerne Filme gemacht. Von diesem Wunsch zeugt auch seine Tätigkeit als Filmkritiker in den 1960er Jahren (vgl. Nachwort). Um welches konkrete Filmprojekt es sich hier handelt, ist jedoch offen.
Hubert Fichte
c/o Instituto Alemão
Avenida 7 de Setembro 210
Bahia/Salvador, Brasilien
[ohne Datum]
Cher Michel,
ich habe mich sehr über Deinen Brief gefreut und über die Bemerkung, die Qualität meines Textes betreffend.
Ich hoffe, dass meine Arbeit über Bahia noch besser wird. Ich lerne diese Stadt kennen, wie keine zuvor. Ich will noch einmal das Verfahren des Marrakech-Features anwenden – aber eben bezogen auf eine ganze Millionenstadt, nicht nur auf einen Gauklerplatz inmitten.
Ich nehme Deinen Brief noch einmal vor: Schicksalsschlag, schreibst Du, ach, Michel, wem blieben die nicht erspart. Auch bei mir hagelt’s. Das Schlimmste, dass ich auch finanziell immer am Abgrund lebe. Nach zehn Jahren angestrengtester Arbeit muss ich nach wie vor um das monatliche Gehalt einer besseren Fremdsprachensekretärin kämpfen. Na ja, Schwamm drüber.
Du hast, glaube ich, auch die ständige Gewöhnung an Katastrophen. Das macht zwar die Katastrophen gut erträglich – vergiftet aber die Zeiten des Genusses – die werden so unheimlich.
Sei gewiss: Es ändert sich nichts. Das ist ein guter Satz des Feiglings Gide.
Der Philippsrecorder taugt nichts. Mir ist hier mit meinem genau das Gleiche passiert. Die Aufnahmen in Marrakech sind mit einem geliehenen japanischen Sony (o.ä.) gemacht.
Nepal allein ist vielleicht etwas abgegrast – aber bedenke: Afghanistan. Indien. Kaschmir. Ich würde es mir doch noch einmal überlegen.
Ich würde mich riesig freuen, wenn Du kämest. Ich könnte Dir vieles Unerhörte zeigen und es gäbe was nicht alles zu besprechen.
Was macht übrigens Detlev und die beiden Hörspiele?
Nun grüßt und umarmt Dich Hubert von hinten und von vorn und Leonore wünscht Dir alles Gute.
meine Arbeit über Bahia:
Fichte erarbeitet auch über Salvador da Bahia ein Feature. Es wird von zwei Sendern in zwei unterschiedlichen Fassungen realisiert. Einmal vom NDR unter dem Titel Bahianisches Tagebuch in vier Teilen, die in der Reihe Weltatlas des 3. Programms am 22. April 1972 (Teile 1 und 2) und am 4. November 1972 (Teile 3 und 4) ausgestrahlt werden. In diese Fassung sind keine Originaltöne eingegangen. Parallel dazu fertigt Peter Michel Ladiges eine zweite Fassung für den SWF unter dem Titel Bahia-Tagebuch an, das zwei Teile umfasst und in die Originalaufnahmen von Fichte übernommen wurden (vgl. Dokument 18). Sie werden am 21. und 28. Oktober 1972 gesendet.
Das Feature setzt ein mit einem für alle Forschungen Fichtes in Mittel- und Südamerika gültigen Vorspann: »Jetzt bin ich da und das ist die Stadt, in die ich hinwollte: Bahia oder Salvador im brasilianischen Bundesstaat Bahia. Ich will wissen, wie die Armen hier leben. Ich will die Mischreligion zwischen Christentum und afrikanischem Fetischismus studieren. Ein Obertitel: Fortdauern der Strukturen der Sklaverei. Jetzt fang mal an. Ich habe so viel Schulden, dass man ehemals einen Sklaven davon hätte erwerben können, bin versklavt als sogenannter freier Schriftsteller, um mir ein Studienjahr als Schriftsteller zu finanzieren. Nun fang mal an.«
Feigling Gide:
André Gide (1869–1951), streng protestantisch erzogen, rückte er die illusionslose Innenschau und vor allem die Auseinandersetzung mit seiner Homosexualität, unter der er bald litt und die er bald feierte, in den Mittelpunkt seines Schreibens. Hubert Fichte ist über den Literaturwissenschaftler Hans Mayer mit Gides Werk bekannt geworden. In Alte Welt heißt es: »Hans Mayer erzählt von André Gide. […] Nach dem Krieg schrieb Mayer über die Tagebücher: Zwischen Scham und Schminke. Ob Hans Mayer mal Tagebücher herausgibt.« (Alte Welt, S. 559) Vermutlich spielt Fichte mit »Feigling« darauf an, dass Gide trotz seiner Homosexualität die Fassade einer großbürgerlichen Existenz aufrechterhielt, indem er mit seiner ebenfalls streng religiösen Cousine Madeleine Rondeaux eine ›spirituelle Ehe‹ führte.
Detlev:
Vom 18. bis 21. März 1971 wird im SWFDetlevs Imitationen. Bericht einer Jugend in Deutschland in vier Teilen ausgestrahlt (siehe auch Dokument 5).
die beiden Hörspiele:
Es ist möglich, dass sich Fichte hier nach den aktuellen Hörspielproduktionen von Ladiges erkundigt, so u.a. Der Geheimauftrag von Uwe Nettelbeck, die am 2. Mai 1971 gesendet wird. Es könnte jedoch auch sein, dass er den Stand seines experimentellen Hörspieltexts Ich würde ein … erfragt, den er noch vor der Abreise nach Brasilien fertiggestellt hat und der im August 1971 von Peter Michel Ladiges realisiert wird.
[ohne Datum]
Lieber Michel,
Dein Telegramm wurde zwar über Satelliten gefunkt, brauchte innerhalb Brasiliens dann aber noch eine Woche. Einfacher Brief geht schneller, also:
Hubert Johannes Fichte
21.3.35 in Perleberg / Schulterbreite: 46 cm
Blau-graue Augen / Handlänge: 22 cm
Gewicht 73 kg
Länge 189 cm
Membrum virile 19 cm / 3 cm weniger als Casanova [gestrichen im Orig.]
Aschblondes Haar
Arme 80 cm
Beine (vom Hüftknochen) 114 cm
Einige Wochen nach der Geburt nach Hamburg Lokstedt, Beethovenallee
1937 Umzug nach Carlstraße 30, jetzt Julius Vosseler Str. 84
Der Vater, Jude, verlässt 1935 Deutschland in Richtung Schweden. Seither verschwunden. 1941–1943 Aufenthalt in Schrobenhausen/Oberbayern. Ein Jahr davon im katholischen Waisenhaus. 1943 nach Hamburg Lokstedt zurück. Evakuierung nach Lignitz, Schlesien.
Schulbesuch Volksschulen Schrobenhausen, Lokstedt. Musische Oberschule, Hamburg Niendorf bis 1951.
1946 schauspielerische Tätigkeit in Hamburg
Ausbildung zum Schauspieler
1953 Nichtbestehen der Schauspielprüfung.
1949 Freundschaft mit Hanns Henny Jahnn.
Seit 1951 Kurse am Institut Français in Hamburg
1952 erster Frankreichaufenthalt. Diplom der Université de Poitiers. Studium der romanischen Architektur in Frankreich
1953 Paris. Provence. Landarbeiter
1954 Lagerleiter bei Abbé Pierre Grouès in Paris. Schwere Krankheit.
1955 Beginn einer Landwirtschaftslehre. Schleswig-Holstein
1958 bis 62 Praktikantenjahre in Hannover, Schweden, Finnland, Frankreich
Seit 1962 als freier Schriftsteller in Hamburg
Reisen nach Portugal, Spanien, Griechenland, Italien, Skandinavien, Marokko, Ägypten, Brasilien.
Seit 1969 Privatstudium der Mathematik bei Professor Wolfgang Kundt, Hamburg.
Aber wirklich in aller Schnelligkeit mit dem Bandmaß des Nachbarn.
Schreib mal ausführlicher, wie es Dir geht.
Sehr herzlich
Hubert und Leonore
Professor Wolfgang Kundt:
Wolfgang Kundt, geboren 1931, studierte Theoretische Physik und war nach seiner Habilitation an der Universität Hamburg im Jahr 1965 dort als Privatdozent bis 1971 tätig. 1971 bekam er eine Stelle als Akademischer Rat und wurde 1977 schließlich als Professor an die Universität Bonn berufen.
[ohne Datum]
Cher Michel,
ich hoffe, Beinlänge und Penisbreite sind noch rechtzeitig zur Produktion eingetroffen. Telegramme dauern hier länger als Briefe. Aber leider gehen hier Briefe auch oft verloren und alles Freundschaftliche erhält so Flaschenpostcharakter.
Ich erhielt durch Rowohlt ein Artikelchen über die Detlevproduktion mit einem Bild von Dir mit Heiner Schmidt und Michael Boder. Das hat mich sehr berührt. Dadurch, dass Du und Hermann diese Hörstückreihe in Auftrag gabt, ist etwas für meine ganze Arbeit sehr typisches eingetreten: Die Abbildung des Ganzen in sich selbst.
Der Kinderschauspieler Michael Boder spielt nun nicht mehr irgendeinen Jungen im Funk, sondern er spielt einen Kinderschauspieler. Das berührt natürlich das Russel’sche Typenproblem; auf jeden Fall ist es ästhetisch das äußerst Reizvolle und hat für mich persönlich etwas ungeheuer Anrührendes und ich danke Dir noch einmal herzlich und bitte Dich, auch den Schauspielern Grüße und Dank zu übermitteln.
Ich sähe Dich gerne, äße gerne mit Dir und tränke und diskutierte.
Freund Hubert
Heiner Schmidt und Michael Boder:
Heiner Schmidt (1926–1985), ein deutscher Schauspieler, der an vielen Hörspielen von Ladiges mitwirkt.
Michael Boder, geb. 1958, studiert später an der Hamburger Musikhochschule und wird ein bekannter Konzert- und Operndirigent.
Hermann:
Hermann Naber (1933–2012) ist als Hörspieldramaturg und -regisseur tätig und leitet die Hörspielabteilung des Südwestfunks. Er arbeitet sehr eng und freundschaftlich mit Peter Michel Ladiges zusammen.
das Russel’sche Typenproblem:
Fichte bezieht sich hierbei auf die frühen Arbeiten von Bertrand Russell zur mathematischen Logik und die von ihm 1903 aufgestellte Antinomie der Mengenlehre. Es handelt sich hierbei um ein weiteres Beispiel für Fichtes Interesse an der Mathematik und einer von ihr ausgehenden Analyse der Sprache.
[26. März 1971]
Lieber Michel,
heute schon, am 26.3. kam Dein Portrait und ich danke Dir sehr. Ich finde es in einem so hohen und diffizilen Maße freundschaftlich, dass ich wünschte, Du würdest es die Jahre hindurch mit neuen Strukturen überziehen, dass es mit mir und Dir weiterwächst.
Ich hatte eine schwere Zeit. Ich bin wirklich den Kritiken kaum gewachsen. Die Spiegelkritik – na, sie hätte natürlich noch gemeiner ausfallen können. Ich fürchte nur, der Gipfel wird Reich-Ranicki sein. Aber vielleicht stehen dann alle meine Fans (ich denke da sogar auch an Nettelbeck und Wondratschek) wie ein Mann auf und überschütten die Zeit so mit Leserbriefen, dass dem stalinistischen Onanisten ein für alle Mal das Handwerk gelegt wird. Schweig still und warte ab und telefonier ein bisschen, sollte es notwendig werden.
Dank aber für Deine großartige Arbeit. Dank für die Inszenierungen. Ich werde sicher Detlev und Marrakech hören. Ich bin schon jetzt gespannt.
Dein Brief hat mich sehr bewegt. Ich glaube doch, es ist gut und beruhigend für Dich, wenn Du mit Elke zusammenlebst. Wie glücklich, dass Du etwas Geld hast und frei schreiben kannst. Du fehlst mir sehr. Bahia ist brennend interessant, aber fürchterlich. Es gibt nur dumme Leute.
Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn Du nach Brasilien kommst. Das Szenario ist bisher folgendes: Anfang November nach Rio. Anfang Dezember nach Deutschland zurück. Warum buchst Du nicht in der zweiten Hälfte Oktober einen Touropa-Flug für 2300,– Mark mit Unterbringung 17 Tage. Am 7. Dezember muss ich spätestens in Hamburg sein.
Aber bis dahin ist noch lange Zeit. Auch ich bin brieflich nicht sehr begabt.
Freue mich sehr, dass Du meine Bücher noch einmal gelesen hast und meinst, ich sei der Größte.
Sehr herzlich
Hubert
Leonore schließt sich an und hinein
Halt, halt. Touropa geht nicht. Es sei denn, wir würden getrennt zurückfliegen. Das ist natürlich nur der halbe Spaß. Kostet aber auch nur die Hälfte.
Ich schreibe mit gleicher Post Rübenach und danke ihm, dass er meinem Portrait fast eine Stunde eingeräumt hat.
Lass bitte an Ledig-Rowohlt und F.J. Raddatz ein Exemplar des Portraits gehen.
Portrait:
Manuskript der Radiosendung Porträt: Hubert Fichte 1936–1971, ausgestrahlt am 20. März 1971 im 2. Programm des SWF.
Nettelbeck:
Uwe Nettelbeck (1940–2007) war in den 1960er Jahren mit journalistischen Arbeiten hervorgetreten, zunächst mit Filmkritiken in der Zeit, für die er auch als Redakteur tätig war, sowie mit regelmäßigen Beiträgen in den Zeitschriften Film und Filmkritik, für die auch Ladiges schrieb. Ab 1967 verfasste er auch Gerichtsreportagen für die Zeit, u.a. über den Frankfurter Brandstifterprozess gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und andere. Um 1970 bricht er jedoch mit dem Journalismus, da er sich sowohl bei der Zeit als auch während seiner kurzen Mitarbeit bei Konkret eingeengt und bevormundet fühlt. Später, ab 1976, wird Uwe Nettelbeck die in ihrer typographischen Gestaltung asketische und ganz auf Werbung verzichtende Zeitschrift Die Republik herausgeben, an der wiederum Ladiges mitwirken wird.
Wondratschek:
Wolf Wondratschek, geboren 1943, begann seine schriftstellerische Arbeit 1967 mit selbstreflexiven Hörspielen, die dem Neuen Hörspiel zugerechnet werden. Für Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels aus dem Jahr 1969 erhielt er 1970 den Hörspielpreis der Kriegsblinden. 1970 arbeitete Wondratschek auch mit Ladiges zusammen. Gemeinsam produzierten sie für den BR und den SR das Stück Zustände und Zusammenhänge – ein Text, der 1969 in dem ersten Buch von Wondratschek Früher begann der Tag mit einer Schußwunde erschienen ist. Er beschrieb die Arbeit so: »Gemeinsam mit dem Regisseur Peter M. Ladiges habe ich die Realisation eines Prosatextes als Hörspiel versucht. […] Wir variierten die Abfolge der Sätze, ihre Beziehungen untereinander, die Zusammenhänge einzelner Textteile und versuchten so, den Text aus dem starren Gefüge der Zeilen zu befreien, mit denen er auf das Papier fixiert und damit in seiner Beweglichkeit eingeschränkt worden war.« In den 1970er Jahren wird Wondratschek dann mit auflagenstarken Bänden wie Chuck’s Zimmer (1974), Das leise Lachen am Ohr eines andern (1976) oder Männer und Frauen (1978) zu einer wichtigen lyrischen Stimme der Rock-Generation. Er schreibt im harten Realismus über Musik, Boxen und die Prostituierten auf St. Pauli. Wolfgang Köhler schätzte besonders Wondratscheks Roman Einer von der Straße (1991), den er für eines der besten Bücher über die Reeperbahn erachtete (vgl. Jan-Frederick Bandel, Fast glaubwürdige Geschichten, Aachen 2005, S. 181).
Ledig-Rowohlt:
Heinrich Maria Ledig-Rowohlt (1908–1992) leitet ab 1960 den Rowohlt Verlag, in dem Ende der 1960er und in den frühen 1970er Jahren die Bücher von Hubert Fichte erscheinen, so zur Zeit dieses Briefes Detlevs Imitationen »Grünspan«.
F.J. Raddatz:
Fritz Joachim Raddatz (1931–2015) wuchs elternlos in Berlin auf und übersiedelte 1950 aus politischer Überzeugung nach Ost-Berlin. Nach dem Studium arbeitete er im Verlag Volk und Welt. Er gehörte zum regimekritischen Kreis um Wolfgang Harich und Walter Janka, deren Mitglieder ab 1956 in Schauprozessen mit hohen Gerichtsstrafen belangt wurden. Raddatz floh deshalb 1958 in die BRD. Dort wurde er 1960 Cheflektor und stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlags. Als solcher holte er Hubert Fichte als jungen Autor in den Verlag und betreute seine literarischen Arbeiten. Dadurch entstand zwischen beiden eine Freundschaft. In den entsprechenden Bänden der Geschichte der Empfindlichkeit, so in Der kleine Hauptbahnhof oder Alte Welt tritt Raddatz in der Figur des Peter E. Fritsch auf. Später wird Raddatz selbst mehr und mehr zum Autor. Eines seiner ersten Bücher ist Karl Marx. Eine politische Biographie, die 1975 im Verlag Hoffmann und Campe erscheinen wird und auf die Fichte in einem Brief aus dieser Zeit zu sprechen kommt.
[ohne Datum]
Lieber Michel,
nun, Dein Brief hat mich schon bestärkt. Ich kann nicht sagen, dass die Reaktion einiger Kritiker auf mein Buch mich nicht bedrückt hätte. Wenn man ein so diffiziles Buch schreibt mit z.B. vielen neuen Aussagen über die vorpubertäre Entwicklung und die Öffentlichkeit, d.h. ja die Kritiker, behaupten, es handle sich um ein simples Remake, dann ist schon eine wesentliche Funktion meiner Arbeit gestört. Nun, es hat einige Kritiker gegeben, die schon etwas mehr begriffen haben, vor allem erhalte ich viele sehr differenzierte Briefe auf meinen Roman hin und das ist dann eben doch wichtiger als Reich-Ranicki. Vielen Dank also. Ich arbeite sehr angespannt. Absolvier eigentlich ein richtiges Studium (unter nicht geringen äußeren Schwierigkeiten) schreibe an einigen Essais – mehr so für mich, um mir über einiges – ohne Telefon und Gasrechnung – klar zu werden und entwerfe mein neues Buch. Es wird leider noch mehr gegen den Strich stehen und alles das tun, was mir meine Angreifer vorwerfen. Nun, wer die Angreifer kennt, wird dann wohl doch einen starken gesellschaftlichen Impetus darin entdecken müssen.
Je suis triste de ta tristesse, sage ich mit Gide, der es Cocteau schrieb. Wie dumm, dass Du Dich verrechnet hast und nun wieder Lohnarbeit leisten musst. Die Frankfurter Kultur mit ihren Erzbischöfen ist sehr ungenießbar, das glaube ich wohl. Aber die Stadt ist so voller Bas-Fonds. Eine der ganz wenigen echt sexuellen Städte. Dies Gemisch. Das Fickkino. Die Saunas. Da ich in Deutschland ja nur mit meinen Freunden verkehre und mit Verbrechern, war ich immer gern dort. Baden-Baden ist Dostojewski im gepflegteren Wahnsinne. Anachronistisch und großzügig. Als Refugium riet ich Dir ja immer dazu.