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»Die Idee war sehr einfach. Wir wollten ein langes Gespräch führen (und aufzeichnen), in derselben Weise, in der wir das im Laufe der Zeit in der Werkstatt in Behlendorf öfter getan hatten, wenn wir uns beim Tee und von Pfeifenrauch umhüllt über die Brüder Grimm und Andersen unterhielten, die neuen Radierungen zu den alten Hundejahren anschauten und Zeichnungen von der jüngsten Reise nach Møn, ohne dass uns Zeitdruck oder Moderationspflichten disziplinierten. Wir wollten also ohne besondere Absichten und Themenvorgaben reden, geleitet lediglich von dem gemeinsamen Wunsch, der Reduktion des Dichters Grass auf die Figur eines politischen Kommentators zu entkommen – zu der er selbst mehr als gewollt beigetragen hatte – und von seinem Werk zu sprechen, das Märchenhaftes und Phantastisches, Kunst-Lust und Spielfreude mit einer dezidiert politischen Zeitwahrnehmung verband.« Heinrich Detering
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Seitenzahl: 148
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GÜNTER GRASS
HEINRICH DETERING
IN LETZTER ZEIT
EIN GESPRÄCH IM HERBST
STEIDL
»Den Grund meiner Verletztheit berührende Fragen« – Vorbemerkungen
IBehlendorf, Werkstatt, 10. Oktober 2014
IIBehlendorf, Werkstatt, 28. November 2014
IIIDrei Briefe
Behlendorf, 13. Oktober 2014
Behlendorf, 6. November 2014
Lübeck, 27. März 2015
Bildnachweise
Wir hatten uns schon seit einigen Jahren gekannt, waren uns über Hans Christian Andersen (seine illustrierte Auswahl schräger Andersen-Märchen und meine von ihm benutzte Übersetzung) auch persönlich nähergekommen, hatten 2010 in Göttingen Grimms Wörter gemeinsam vorgestellt und dieses öffentliche Gespräch im September des folgenden Jahres in der Göttinger Universitätsaula fortgesetzt, nun im Blick auf sein gesamtes Werk – und in der Auseinandersetzung mit öffentlichen Anfeindungen, die er als ungerecht und verletzend empfand. Vor diesem Hintergrund lud Günter Grass mich ein, bei der Feier seines fünfundachtzigsten Geburtstags im Lübecker Grass-Haus eine Rede zu halten. Das war im Oktober 2012, mitten in den öffentlichen Auseinandersetzungen um seinen Text Was gesagt werden muß.
Obwohl ich der Kritik an seinem Gedicht zustimmte, gefiel Grass meine Rede. Er mochte sie, weil ich versucht hatte, an den weiteren Horizont eines Lebenswerks zu erinnern, das sich ja immer noch lebendig weiterentwickelte. So ergaben sich aus diesem Geburtstagsabend zwei gemeinsame Vorhaben. Das eine war eine Auswahl aus denjenigen Schriften Hans Christian Andersens, die sich mit Schleswig-Holstein befaßten, also mit dem Streit zwischen einem aufkommenden deutschen und einem aufkommenden dänischen Nationalismus – und mit Andersens Versuch, eine literarische Sprache zwischen und über den Nationen zu finden und zu verteidigen. Dieses Buch entstand im Laufe des Jahres 2013; als es Anfang 2014 erschien, hatten wir an die Stelle eines Nachworts ein Gespräch gesetzt, das wir zu diesem Zweck in Grass’ Wohnhaus in Behlendorf aufgezeichnet und redigiert hatten. Der Erfolg dieses Versuchs und das Vergnügen, das wir beide daran gehabt hatten, bestärkten uns in dem zweiten Vorhaben. Die Idee war sehr einfach. Wir wollten ein langes Gespräch führen (und aufzeichnen), in derselben Weise, in der wir das im Laufe der Zeit in der Werkstatt in Behlendorf öfter getan hatten, wenn wir uns beim Tee und von Pfeifenrauch umhüllt über die Brüder Grimm und Andersen unterhielten, die neuen Radierungen zu den alten Hundejahren anschauten und Zeichnungen von der jüngsten Reise nach Møn, ohne daß uns Zeitdruck oder Moderationspflichten disziplinierten. Wir wollten also ohne besondere Absichten und Themenvorgaben reden, geleitet lediglich von dem gemeinsamen Wunsch, der Reduktion des Dichters Grass auf die Figur eines politischen Kommentators zu entkommen – zu der er selbst mehr als gewollt beigetragen hatte – und stattdessen von seinem Werk zu sprechen, das Märchenhaftes und Phantastisches, Kunst-Lust und Spielfreude mit einer dezidiert politischen Zeitwahrnehmung verband.
Der erste Gesprächs-Tag war der 10. Oktober 2014, gerade war Grass von einer Reise nach Danzig zurückgekehrt; am 28. November setzten wir die Unterhaltung fort. Dazwischen hatten wir uns wieder öffentlich getroffen, diesmal zu einem Gespräch im Münchner Gasteig zur Vorstellung seiner illustrierten Neuausgabe der Hundejahre, dem ein Abend mit einigen seiner alten Freunde und Weggefährten folgte. Als ich ihn in seinem Schwabinger Hotel abholte, sah ich, daß in seinem Zimmer neben der alten Pfeife ein neues Requisit lag, ein tragbares Sauerstoffgerät. Er benutzte beide abwechselnd und war im Übrigen bester Laune und, nachdem er Grimms Wörter schon resignierend als seine »letzte größere Prosaarbeit« beiseitegelegt hatte, von frisch erwachter Schaffensfreude.
Als wir am 28. November das Aufnahmegerät ausgeschaltet hatten, las er noch lange aus einer Sammlung von Gedichten und Prosatexten vor, kurzatmig, aber voller Vergnügen an diesen Arbeiten. Als diese Sammlung dann im Sommer 2016 unter dem Titel Vonne Endlichkait als Buch erschien, war Grass schon seit vier Monaten tot.
Was aus diesem Gespräch eigentlich werden sollte, blieb offen. Im Blick auf eine mögliche Veröffentlichung war Grass anfangs besorgt: Gerade das ungeschützt offene Reden, das ihm in der Werkstatt soviel Freude gemacht hatte, machte ihm nun Bedenken. Immerhin sei es um einige »der mir so eindringliche und also auch den Grund meiner Verletztheit berührende Fragen« gegangen. Außerdem beunruhigte ihn die Einseitigkeit des Gesprächs; immer sei es nur um ihn gegangen, zu einem wirklichen Gespräch müsse es doch aber auch gehören, daß er mich befrage – was ich keineswegs notwendig fand. So schlug er zunächst vor, ich solle doch auf der Grundlage seiner Auskünfte etwas Eigenes schreiben, aber jedenfalls nicht unsere Fragen und Antworten veröffentlichen. Als er die ersten Aufzeichnungen gelesen und redigiert hatte (und wir einige der ihm zu persönlich erscheinenden Auskünfte gestrichen hatten), zeigte er sich deutlich zuversichtlicher und tatenfroher. Jetzt wünschte er sich eine baldige Fortsetzung dessen, was er »unser Frage- und Antwortspiel« nannte – und »unser Gespräch«, im Singular.
Kurze Zeit nach diesem zweiten Gesprächstag wurde er wieder ernstlich krank, war bettlägerig und erholte sich nur mühsam. Ende März 2015 schrieb er mir dann, nach dreimonatiger Funkstille, er habe sich von seiner Erkrankung erholt und es bestehe »also Hoffnung, daß wir uns spätestens im Mai wieder gegenübersitzen können, sei es zur Fortsetzung unseres Gesprächs, sei es, um eine Form für die Fülle des Materials zu finden.« Als dieser Brief mich erreichte, war sein Verfasser, nach einem plötzlichen Rückfall und einer akuten Lungenentzündung, gerade gestorben.
Eine eigene, womöglich neue »Form für die Fülle des Materials« zu finden – das war durch diesen plötzlichen Tod so unmöglich geworden wie die Fortsetzung des Gesprächs. So ist das, was hier nun folgt, im doppelten Sinne ein Fragment: das Fragment einer langen Unterhaltung, die noch länger hätte dauern und noch andere Themen hätte anschlagen sollen, und das Fragment eines Buches, dessen angemessenere Gestalt nun für immer unbestimmt bleiben mußte. Die folgenden Seiten dokumentieren also nur das, was Günter Grass selber gelesen und was er »die Fülle des Materials« genannt hatte. Nicht mehr, nicht weniger.
Heinrich Detering
heinrich detering Sie kommen gerade aus Danzig zurück. Was war da los?
günter grass Also erstmal war das ein Familientreffen.
hdMit allen, die wir aus der Box kennen?
ggNein, nein! Viele Enkelkinder hatte ich eingeladen. Von meinen Kindern waren nur mein Sohn Franz und meine Tochter Helene mit ihren Kindern da. Dann auch viele Kaschuben, die im Umland Danzigs ansässig sind, oder auch im Ruhrgebiet. Jedenfalls alles Leute aus der jungen Generation.
hdDie sich auch immer noch als Kaschuben fühlen, die sich dieser Herkunft noch bewußt sind?
ggAlso die Jungen im Ruhrgebiet, die sprechen gerade noch einigermaßen Polnisch. Die sind ganz im Ruhrgebiet aufgewachsen, und das Kaschubische ist weg. Aus meiner Generation war nur noch, auch Jahrgang 1927, die Tochter des Postbeamten da, der bei der Verteidigung der Polnischen Post erschossen wurde. Ein Cousin meiner Mutter. Am 5. Oktober jährte es sich zum fünfundsiebzigsten Mal, daß die Überlebenden dieser Kämpfe alle erschossen wurden. Das habe ich dann zum Anlaß genommen, eine kleine Rede auf meine Cousine zweiten Grades zu halten, Irmgard, und den Kindern, wie man so sagt, den geschichtlichen Hintergrund zu erklären. Die haben zwar alle mitbekommen, daß am ersten September Kriegsanfang war. Aber was war da eigentlich geschehen, dort, wo wir jetzt feierten, in unserem Hotel, das genau gegenüber der Polnischen Post liegt? Und was war da noch alles gewesen –?Also, darüber haben wir gesprochen. Und dann gab es in Zoppot auch eine Ausstellung von meinen Sachen, gemeinsam mit zwei gegenwärtigen polnischen Künstlern und mit Radierungen von Chodowiecki. Eine sehr schöne Ausstellung.
hdAuch etwas aus den neuen Hundejahre-Illustrationen?
ggDas nicht, nein. Aber ich hab ja schon in der kommunistischen Zeit dem Museum der Stadt Danzig ein ganzes Konvolut Radierungen geschenkt, und später auch andere Sachen. Daraus hatten sie eine Auswahl gehängt. Ich hab das nicht mal richtig sehen können, weil es so rappelvoll war. Zum Schluß wurde dann draußen vor der Danziger Galerie, die in einer ständigen Ausstellung meine Sachen zeigt, eine Skulptur feierlich enthüllt, der Butt im Griff. Also für mich sind solche Reisen nach Danzig immer eine Wohltat, weil ich da so … ach, es gab gleich am ersten Tag einen Empfang der Günter Grass-Gesellschaft in Danzig, die gibt es in der Tat. Auch einige Germanisten waren dabei.
hdSie haben ja netterweise, unter Vorbehalt, in Aussicht gestellt, daß Sie im nächsten Mai mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung nach London reisen und dort etwas aus Ihren Arbeiten lesen könnten. Immerhin haben Sie nach London gute Beziehungen, Sie waren oft dort …
gg… ja, früher war ich das. Aber nun schon lange nicht mehr. Es ist eine allgemeine Erscheinung, daß die Verlage weltweit so schnell die Besitzer wechseln, daß ich gar nicht mehr nachkomme. Und ich hatte eben zu Secker & Warburg, meinem ersten englischen Verlag, lange Zeit eine sehr gute Verbindung. Aber wer heute der Besitzer ist, also wer die Rechte übernommen hat, das weiß ich gar nicht. Der Verlag weiß es sicher …
hdDie Verlage wissen es vermutlich selber nicht immer, wem sie gerade gehören.
ggAlso immerhin gibt es noch Gyldendal in Kopenhagen, mit denen ich von Anfang an, also von der Blechtrommel, zu tun hatte, auch Meulenhoff in Holland und Bonniers in Schweden. Die Éditions du Seuil in Frankreich sind vor Jahren verkauft worden und machen weniger Belletristik. Und so gut wie keine deutsche, hab ich gehört. Verrückt.
hdUnd gleich nach Ihrer Rückkehr kam die Nachricht, daß Siegfried Lenz gestorben ist.
ggJa, leider … Aber ich war darauf vorbereitet. Vor vier Monaten war Lenz noch hier … Sein ehemaliger Lektor Günter Berg hat sich sehr um ihn gekümmert, er und Lenz’ Ehefrau waren auch dabei, hier in Behlendorf. Wir haben Pfeifchen zusammen geraucht, Siegfried Lenz und ich. – Das war immer sehr amüsant mit ihm.
hdEr war ein zauberhafter Mensch, nicht? Ich habe ihn noch kurz vor seinem Tod mit Günter Berg zusammen besucht, in seinem Altenstift an der Elbchaussee. Er war schwach, aber ungemein heiter und freundlich. Ein freundlicher, sanfter, humorvoller Mensch.
ggAlso – mir ist, in den Nachrufen, die ich gelesen habe – entschuldigen Sie, wenn ich das so sage: Mir ist diese Überbetonung des Wortes »sanft« auf die Nerven gegangen. Das ist eine Entschärfung. Denn Lenz ist auf seine Art sehr präzise und genau und dann auch unerbittlich gewesen.
hdIch spreche von dem Menschen, dem ich begegnet bin, Sie sprechen von seinen Texten. Welche Texte haben Sie im Sinn?
ggIch finde ja, seine stärksten Sachen sind seine Erzählungen, die leider kaum erwähnt werden. Aber er hat auch vorzügliche Essays geschrieben. Über den Schmerz zum Beispiel, ein wunderbares Buch.
hdEs gab da eine wichtige politische Verwandtschaft zwischen Ihnen beiden, schon vor der »Willy wählen«-Kampagne. Wenn man Lenz’ frühe Essays liest, dann fällt auf, wie nahe seine Äußerungen zu Polen in den sechziger Jahren dem sind, was auch Sie damals gesagt haben. Äußerungen, die auf einer Aussöhnung beharrten …
ggJa, und zwar unter Anerkennung der Oder-Neiße-Linie. Das war die Voraussetzung.
hdDamals waren Sie in der Bundesrepublik so etwas wie die Wortführer unter den Intellektuellen, die die Anerkennung der Ostgrenze forderten.
ggDas ist ja dann auch ein Grund dafür gewesen, daß wir beide 1970 mit Brandt nach Warschau gefahren sind.
hdAber Sie waren nicht die einzigen Schriftsteller, die da eingeladen waren?
ggNein, da gab es auch andere. Eingeladen war unter anderem auch die Gräfin Dönhoff. Aber die hat abgesagt. Sie hat das später bedauert, aber es wäre ihr, hat sie gesagt, damals zu schmerzlich gewesen. Was ich verstehen kann. Auch der Karl Dedecius war dabei.
hdUnd Sie und Siegfried Lenz. Finden Sie wirklich, daß Lenz’ Sanftheit und Menschenfreundlichkeit jetzt in den Nachrufen zu stark akzentuiert wurden?
ggJa. Beides hat er schon gehabt. Aber es ist für meinen Geschmack in der Tat zu sehr betont worden …
hd… als Entschärfung?
ggNa, ganz im Gegensatz zu mir galt er ja als pflegeleicht … [Lacht.]
hdAuch das stand ja sogar in manchen Nachrufen. Der Gegensatz zwischen Ihnen beiden wurde öfter in diesem Sinne herausgestellt.
ggJa, und das finde ich albern.
hdIch möchte Sie gern mit einigen landläufigen Vorwürfen und Vorurteilen über Ihre Person und über Ihre Arbeit konfrontieren. Weil ich wissen möchte, was Sie über den jeweiligen Anlaß hinaus dazu sagen. Das erste haben Sie schon angedeutet: diese permanente Einmischerei, die Ihnen ja unter anderem im Gegensatz zu Siegfried Lenz vorgehalten wird. Günter Grass – das ist seit fünfzig Jahren der Schriftsteller, der zu allem seinen Senf dazugibt. Immer, wenn irgendwas passiert, öffentlich, politisch, wenn ein Konflikt sichtbar wird, kann man sich drauf verlassen, daß von Grass eine pointierte, gern scharfe Stellungnahme kommen wird. Das stört viele Leute, es stört sie seit fünfzig Jahren. – Ich nehme an, Sie haben das so ähnlich seit Ihren ersten öffentlichen Äußerungen gehört.
ggJa. Bis zum Überdruß. Aber das sind die Dinge, die von außen an einen herangetragen werden. Ein Feuilletonist, ich glaube es war Horst Krüger, hat mich damals zu einer Art Wappentier der Nation gemacht. [Lacht.] Und wogegen sich schon Böll gewehrt hat, auch Lenz übrigens, das ist dieses dauernde Gerede vom »Gewissen der Nation«. Aber wenn das einmal eingefuchst ist, dann ist kein Kraut dagegen gewachsen.
hdDabei ist das mit dem »Gewissen« doch noch eine manchmal ganz freundlich gemeinte Zuschreibung …
gg… schon. Aber sie ist auf jeden Fall falsch. Mal angenommen, eine Nation hätte ein Gewissen, was ja schon eine sehr fragwürdige Metapher ist: dann ließe sich dieses Gewissen jedenfalls nicht an einzelne Personen delegieren, so als sei das eine Entlastung der Nation. [Lacht.] Stellvertretend sind also einzelne Personen, sie sind »das Gewissen«, zum Beispiel Böll oder Lenz oder ich.
hdDenselben Gedanken gibt es ja nun auch in der genervten, vorwurfsvollen Umkehrung, die ungefähr lautet: Warum maßt ein einzelner Intellektueller sich an, im Namen der Nation zu sprechen oder – auch ein Wort, das immer wieder vorkommt – als »Oberlehrer der Nation« aufzutreten? Da geht es ja nicht um die Zuschreibung einer Stellvertreterrolle. Sondern das ist der Vorwurf eines autoritären Gebarens.
ggIch habe sehr früh, schon in den sechziger Jahren, erste politische Artikel, auch Aufsätze und Essays beim Luchterhand Verlag veröffentlicht; sie wurden auch gesammelt in einem Buch, Über das Selbstverständliche. Schon da eigentlich habe ich meine Position klarzumachen versucht. Also gut, ich bin Schriftsteller von Beruf. Aber ich bin auch Bürger dieses Staates. Und aus der Erfahrung, die wir mit der Weimarer Republik gemacht haben, und aus der zu späten Erkenntnis, daß sich damals zu wenige Bürger schützend vor diesen schwach begründeten Staat gestellt haben, habe ich meine Lehre gezogen. Ich bin nach wie vor der Meinung, daß das nicht nur mich betrifft. Es betrifft alle. Diese Demokratie, die wir mühsam gelernt und aufgebaut haben, die wird zugrunde gehen, wenn sich nicht genügend Bürger auf kritische Weise mit ihr identifizieren und sich bemerkbar machen. In welcher Form auch immer. Und das droht immer einzuschlafen. In letzter Zeit gibt es so Themen wie den Stuttgarter Bahnhof oder kleinere oder größere Aktionen, ich will nichts dagegen sagen. Aber die sinkende Wahlbeteiligung ist ein Alarmsignal.
hdNun läuft der Vorwurf an Sie, von Ihren schärferen Kritikern, immer wieder darauf hinaus, daß Sie durch Ihr Auftreten den Eindruck erweckten, einige Bürger seien doch gleicher als andere. Als solle das Wort des Bürgers Grass in der öffentlichen Debatte ein größeres Gewicht haben als das Wort der Bürger Schulze oder Lehmann, weil Grass ein bedeutender Schriftsteller ist und also, wenn er politisch Stellung bezieht, auch mehr Autorität hat. Ich weiß allerdings nicht genau, wie man diesem Vorwurf entgehen sollte, wenn man sich als Schriftsteller äußert, aber er ist Ihnen ja immer wieder gemacht worden. Warum muß Grass zu allem und jedem mehr sagen als …
gg[unterbricht] Soll ich mich zum Floh machen, oder was? Nein, nicht ich bin es gewesen, der sich aufgedrängt hat. Es sind Leser gewesen, die meinen Büchern Aufmerksamkeit geschenkt haben und die dazu beigetragen haben, sei es mit Kritik, sei es mit Zustimmung, daß mein Name bekannt geworden ist. Und in politischen Auseinandersetzungen, wenn ich zum Beispiel die Sozialdemokraten unterstützte: da hat das nicht nur mich gefreut, sondern da hat es auch die Sozialdemokraten in der Provinz gefreut, wenn ich in ihrem Kleinstädtchen dafür gesorgt habe, daß der Saal voll war. Das ist eine Sache, derer ich mich nicht schämen muß.
hdSie haben ja bei anderen Gelegenheiten schon davon gesprochen, wie Sie in Gewerkschaftsheimen diskutiert haben, wie Sie bei Wahlkampfveranstaltungen geredet haben, wie Sie sich bewußt vor den Karren spannen ließen. Auch in Grimms Wörter erzählen Sie wieder davon. Vielleicht ergibt sich der Vorwurf aus der Annahme, daß Sie keinen Widerspruch duldeten, daß Sie sich nach dem Prinzip äußern wollten »Roma locuta, causa finita« …
gg… dabei habe ich ja doch auch Widerspruch genug erfahren …
hd… und auch erfahren wollen …
gg… ja sicher!
hdUnd deshalb melden Sie sich zu allem und jedem zu Wort?
ggAlso erst einmal stimmt es nicht, daß ich mich zu allem und jedem geäußert hätte. Es sind bestimmte Themen, die mich immer wieder angehen. Zuerst Dinge, die die deutsche Vergangenheit betreffen; da gab es oft genug Anlaß, sich zu Wort zu melden. Dann war für mich – schon weil ich die neue Deutschlandpolitik von Willy Brandt von Anfang an unterstützt habe – dieses Thema »das geteilte Land« durch all die Jahrzehnte wichtig, auch weil ich in dieser Politik Brandts eine Möglichkeit sah, die Teilung zu überwinden. Folglich habe ich mich auch dazu kritisch geäußert, wie diese Chance, als sie dann 1989/90 tatsächlich da war, wahrgenommen wurde: diese überstürzte Vereinigung, an der Verfassung vorbei, über den Artikel 23 des Grundgesetzes und unter Mißachtung des Schlußartikels. Denn das Ganze ist eine Inbesitznahme gewesen, eine Einvernahme und Besitznahme. Das habe ich kritisch gesehen, das sehe ich bis heute kritisch. Also habe ich mich auch dazu immer wieder geäußert.
hdDeutschland, die Deutschlandpolitik, das stimmt, das ist von Anfang an Ihr Thema gewesen, ja auch in der schon erwähnten Frage der Grenze zwischen Deutschland und Polen zum Beispiel, überhaupt im deutsch-polnischen Verhältnis. Und dann?
gg