In purpurner Finsternis – Roman-Improvisation aus dem 30. Jahrhundert - Michael Georg Conrad - E-Book

In purpurner Finsternis – Roman-Improvisation aus dem 30. Jahrhundert E-Book

Michael Georg Conrad

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Beschreibung

Nachdem sich die Menschheit durch eigenes Fehlverhalten fast vollständig selbst vernichtet hat und damit alle technischen und kulturellen Errungenschaften jener Zeit verloren gingen, also ALLES was die »Alte Welt« ausmachte, versuchen kleine, übrig gebliebene Volksgruppen, noch viele Jahrhunderte später, sich eine neue Lebensgrundlage zu schaffen. Wobei es auch hier Menschengruppen gibt, die sich für etwas Besonderes halten und der Meinung sind, über den anderen erhaben zu sein.
Dies ist die phantastische Geschichte von Menschen, die nach der fast vollkommenen Zerstörung der Welt, auf der verzweifelten Suche nach einem neuen, gesunden Lebensweg sind, in dem selbst das Schweigen wie Musik klingt und alles atmet: Geist, Gesundheit, Schönheit, Zufriedenheit …
Doch auch hier geht nichts ohne Intrigen, Täuschung, Unterdrückung. Und ob man einen friedlichen Neuanfang findet, wird sich zeigen …

Bei diesem Buch handelt es sich um eine illustrierte, überarbeitete Sonderausgabe in neuer Rechtschreibung.

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Michael Georg Conrad

& Ines Schweighöfer

 

 

In purpurner Finsternis

- Roman-Improvisation aus dem 30. Jahrhundert -

 

Illustrierte, überarbeitete Sonderausgabe

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Illustrierte Neuausgabe

Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv

& Ines Schweighöfer 

Cover: © by Steve Mayer mit Bärenklau Exklusiv nach Motiven, 2024

Illustrationen: © by Steve Mayer

Korrektorat: Bärenklau Exklusiv

 

Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau (OT), Gemeinde Oberkrämer. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Das Copyright auf den Text erlaubt es KIs/AIs und allen damit in Verbindung stehenden Firmen und menschlichen Personen, welche KIs/AIs bereitstellen, trainieren oder damit weitere Texte oder Textteile in der Art, dem Ausdruck oder als Nachahmung erstellen, zeitlich und räumlich unbegrenzt nicht, diesen Text oder auch nur Teile davon als Vorlage zu nutzen, und damit auch nicht allen Firmen und menschlichen Personen, welche KIs/AIs nutzen, diesen Text oder Teile daraus für ihre Texte zu verwenden, um daraus neue, eigene Texte im Stil des ursprünglichen Autors oder ähnlich zu generieren, es haften alle Firmen und menschlichen Personen, die mit dieser menschlichen Roman-Vorlage einen neuen Text über eine KI/AI in der Art des ursprünglichen Autors erzeugen, sowie alle Firmen, menschlichen Personen , welche KIs/AIs bereitstellen, trainieren um damit weitere Texte oder Textteile in der Art, dem Ausdruck oder als Nachahmung zu erstellen; das Copyright für diesen Impressumstext sowie artverwandte Abwandlungen davon liegt zeitlich und räumlich unbegrenzt bei Bärenklau Exklusiv, 13.07.2023.

 

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

In purpurner Finsternis 

Vorwort 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

13. Kapitel 

14. Kapitel 

15. Kapitel 

16. Kapitel 

17. Kapitel 

18. Kapitel 

19. Kapitel 

20. Kapitel 

21. Kapitel 

22. Kapitel 

23. Kapitel 

24. Kapitel 

25. Kapitel 

Nachwort 

 

Das Buch

 

 

Nachdem sich die Menschheit durch eigenes Fehlverhalten fast vollständig selbst vernichtet hat und damit alle technischen und kulturellen Errungenschaften jener Zeit verloren gingen, also ALLES was die »Alte Welt« ausmachte, versuchen kleine, übrig gebliebene Volksgruppen, noch viele Jahrhunderte später, sich eine neue Lebensgrundlage zu schaffen. Wobei es auch hier Menschengruppen gibt, die sich für etwas Besonderes halten und der Meinung sind, über den anderen erhaben zu sein.

Dies ist die phantastische Geschichte von Menschen, die nach der fast vollkommenen Zerstörung der Welt, auf der verzweifelten Suche nach einem neuen, gesunden Lebensweg sind, in dem selbst das Schweigen wie Musik klingt und alles atmet: Geist, Gesundheit, Schönheit, Zufriedenheit …

Doch auch hier geht nichts ohne Intrigen, Täuschung, Unterdrückung. Und ob man einen friedlichen Neuanfang findet, wird sich zeigen …

 

Bei diesem Buch handelt es sich um eine illustrierte, überarbeitete Sonderausgabe in neuer Rechtschreibung. 

 

 

***

»Man soll die Augen nicht vor dem Fremden verschließen, denn es lehrt uns das eigene, das Bekannte, besser zu erkennen und zu verstehen.«

 

 

***

 

 

Meinem genialen Kameraden Juliane Déry gewidmet.

 

*

In purpurner Finsternis

 

Roman-Improvisation aus dem dreißigsten Jahrhundert

 

von Michael Georg Conrad & Ines Schweighöfer 

 

 

 

Vorwort

 

 

Als mich der Verleger der Edition Bärenklau, Jörg Munsonius, vor einiger Zeit fragte, ob ich mir vorstellen könnte, das Buch IN PURPURNER FINSTERNIS von Michael Georg Conrad, der vom 5. April 1846 bis zum 20. Dezember 1927 lebte, zu überarbeiten, sagte ich spontan zu.

Ich bin eine leidenschaftliche Leserin, die bei Texten für fast alles offen ist und jedem Buch eine Chance gibt. Mir würde niemals einfallen zu sagen: Das lese ich nicht, oder möchte ich nicht lesen, wenn ich nicht zuvor schon mal etwas von dem Autor oder der Autorin gelesen habe und selbst dann bin ich noch offen.

Zuerst urteile ich nach der Erzählsprache, die der Autor/die Autorin verwendet, ob ich ein Buch lesenswert finde und erst in zweiter Linie nach dem Inhalt. 

Bei diesem Buch merkte ich ganz schnell, dass es sich um kein x-beliebiges Buch jener Zeit handelt, sondern um ein ganz Besonderes, das auf jeden Fall die Chance verdient, neu aufgelegt zu werden.

Laut SF-Lexikon ist dieser Roman »einer der besten Romane des wilhelminischen Zeitalters!« Ich habe bisher zu wenig aus dieser Zeit gelesen um behaupten zu können: Ja, das stimmt! Ich kann jedoch guten Gewissens sagen, dass es ein tolles Buch mit einer wundervollen Geschichte ist, von dem sich sprachlich so mancher Autor der heutigen Zeit eine Scheibe abschneiden kann.

Von Anfang an faszinierte mich die Erzählsprache dieses Buches, die einen ganz besonderen Rhythmus hat und extrem tiefgründig ist. Und noch etwas anderes hielt mich gefangen, etwas das ich anfänglich nicht greifen konnte, nicht wusste was es war, bis ich merkte, dass es Michael Georg Conrads Art zu denken war, die mich faszinierte, geradezu beeindruckte. Denn sprachlich und gedanklich war er seiner Zeit weit voraus!

Ich habe ein altbackenes, absolut schwer zu lesendes Werk erwartet und war völlig überrascht was ich vorfand. Natürlich kann man die Sprache jener Zeit nicht mit der von heute vergleichen, war doch die Erstveröffentlichung bereits 1895 also bereits vor über 120 Jahren.

Durch eine »sanfte« Überarbeitung habe ich versucht, die für die heutige Zeit schwer verständlicheren Passagen sowie die veralteten, zum Teil in ihrer Bedeutung vergessenen Wörter so zu bearbeiten, dass ein hochinteressanter, gut lesbarer Text entstand, ohne jedoch den Charakter der ursprünglich benutzten Sprache zu zerstören, was mir hierbei sehr wichtig war.

Dabei ist mir aufgefallen, dass es genial formulierte Absätze gibt, die absolut zeitlos und damit immer toppaktuell sind.

Hierfür ein Beispiel: »Das Wissen ist wie das unendliche Meer. Nur ein träumendes Kind glaubt, es in der Eile und mit der hohlen Hand ausschöpfen zu können. Daher merke dir: Wer einmal von diesem Wasser getrunken hat, der wird ewig Durst empfinden.«

Auch mag man an einigen Stellen nicht glauben, dass Michael Georg Conrad von unserer industrialisierten Zeit nie etwas gesehen oder gehört hat, denn er beschreibt Apparaturen und Gegenstände, die es damals noch nicht gab, heute jedoch technisch sicher möglich wären oder bereits existieren.

Eine tiefgründige Geschichte von Menschen, die auf der Suche nach dem wahren Leben sind …

 

Lassen Sie sich überraschen!

Ihre Ines Schweighöfer

 

 

***

 

 

»Man soll die Augen nicht vor dem Fremden verschließen, denn es lehrt uns das eigene, das Bekannte, besser zu erkennen und zu verstehen.« 

 

 

***

 

 

Meinem genialen Kameraden Juliane Déry gewidmet

 

 

1. Kapitel

 

 

Grege wusste, dass kein Abmahnen fruchtete, wenn Jala ihren Willen durchsetzen wollte.

Wie tief und schmerzlich seine Wunde am Fuß war, hatte er ihr verheimlicht. Immer noch sickerte Blut durch den leichten Verband. Als er die Tropfen mit dem Finger wegstrich, griff Jala nach seiner Hand, sodass an der ihrigen, an der inneren Fläche zwischen Daumen und Zeigefinger, ein rotes Blutzeichen haften blieb. Lächelnd besah er es. Das Zeichen hatte die Form eines Sterns.

»Also du ziehst voraus, meine süße Hoffnung?«

»Ja, Grege. Ich bin voll Unruhe. Und wenn ich vorzeitig raste, schwinden meine Kräfte. Kann ich mich irren?«

»Nicht leicht, Jala. Geradeaus im versandeten Kanalbett, bis in die Dünen, die wir noch in der Nacht erreichen. Du hast die frische Brise vom Meer herüber immer im Gesicht. Verlass dich darauf. Bis die Luft wechselt, bin ich wieder bei dir. Ich muss mich jetzt eine Weile schonen, meiner Wunde wegen.«

»Schmerzt dich die Wunde? Warum lässt du sie mich nicht befühlen?«

»Es ist nicht viel, Jala. Sie heilt, wenn ich eine kurze Rast mache.«

»Du bist so voll Kraft und Gesundheit, mein Held. Und wir wachsen in der herrlichen Einsamkeit. Ich hätte mich nie so stark geglaubt, als in dieser Bewegung, die mich zufrieden stimmt.«

»Es ist eine Flucht, Jala.«

»Nie mehr zurück, nie mehr! Hinaus in unsere Welt, in unser freies Himmelreich! Warte nicht zu lange, Grege, lass deine Jala nicht zu lange ohne dich! Hast du nirgends etwas wahrgenommen mit deinem scharfen Blick, das uns bedrohen könnte?«

»Nirgends. Die Luft ist vollkommen rein. O, ich muss lachen, weißt du. Sie haben sich selbst des Mittels zu unserer Verfolgung beraubt, unsere Oberweisen von Teuta, seit sie die Luftfahrt verboten und alle Schwinggondeln in ihrem Land zerstört haben. Und die Wege, die wir auf ebener Erde durch die Wüsteneien ihrer Grenze gegangen, sind der Lahmheit ihrer Häscher verschlossen. Weit, weit liegt jetzt Teuta mit seiner unterirdischen Herrlichkeit hinter uns. Kaspe, ihr wortreicher Oberrichter, ist langsamer in Entschlüssen und Bewegungen, als eine Schnecke, und Ao, ihr Oberpriester, schläft und verdaut.«

»Du nennst nur Ao und Kaspe. Vergiss nicht, dass noch ein dritter im hohen Rat sitzt.«

»Ach, Minus meinst du? Der dich einmal mit widerlichen Anträgen belästigte? Den hat nur dein Anblick erzürnt. Wenn du aus seinen Augen bist, bist du ihm auch aus dem Sinn. Der ist kein Verfolger. Der findet andere Ablenkungen. Ein schwacher Querkopf, dem es genügt, wenn er nichts anderes haben kann, den heiligen Wortschatz von Teuta hüten zu helfen. Nein, dieser hohe Oberlehrer von Teuta wird uns nicht gefährlich. Ich kenne ihn. Er hat mich einst unterrichtet.«

»Du beschwichtigst mich, Grege, dennoch bin ich voll Unruhe.« Sein Auge umfing ihren jugendlich-kräftigen Körper mit einem tiefen, zärtlichen Blick. »Die hat andere Ursache, meine Süße.«

»Also folge mir bald, Grege.«

Dann reichte er ihr noch eine Handvoll Surro in die Tasche, eine Wegzehrung seiner eigenen Erfindung, das in Nussgröße die Kraft des Brotes und Weines und die labende Frische der Quelle in sich barg und ließ sie ziehen.

Er wusste, wie glücklich und zufrieden sie war, wenn sie uneingeschränkt ihren Willen hatte. Er wusste auch, dass in ihrer Einsamkeit seine Seele mit ihr war.

So legte er sich zur Ruhe. Die Augen fielen ihm zu, das Bild der Wandernden einschließend. Er schlief rasch ein.

Ein lebhaftes Jucken seiner Wunde weckte ihn auf, er musste doch eine geraume Zeit durchschlafen haben.

»Jala wird sich um mich sorgen. Ach, die weite Landschaft, so endlos!« Aber er war so schlaftrunken und in seinen Gliedern erschlafft, dass er sich nicht zu erheben vermochte. Nein, sie hatte recht: Ruhe tut nicht gut. Er wird sich jetzt doppelt anstrengen müssen, sie einzuholen. Wer weiß, wie groß der Vorsprung ist, den sie bei der ausdauernden Stetigkeit ihres Schrittes vor ihm gewonnen hat, die rastlose Pilgerin.

Und in Gedanken malte er sich ihr einsames Dahinschreiten aus, ihre hoheitsvolle Haltung in der grenzenlosen Schweigsamkeit dieser unendlichen, sonnenhellen, weißen Landschaft mit der hochgewölbten Himmelskuppel. Eine schwebende Seele, die nur im Banne des Körpers mit der Fußsohle die Erde berührt. Die verkörperte Sehnsucht nach den höchsten Rätseln des Lebens und deren eigenpersönlichster Lösung. Eine wandelnde Flamme mit eigenem Glutherd, aus sich selbst ihre Nahrung schöpfend, zu immer stärkerem Glanze, unfassbar allem Gemeinen. 

»Jala, Jala, ich verbrenne an der Sehnsucht nach deiner Schönheit, wenn ich länger warte.« Und er sprang auf, schwang seinen Stab hoch und zwang sich, mit schmerzenden Füßen ihren Spuren zu folgen.

Er erinnerte sich aus alten Schilderungen genau, durch welche seltsamen Gegenden ihn jetzt sein Schicksal führte, die große Befreiung. Alles in der Welt war seither ein Abstreifen, ein Tiefer-Zwingen, ein Unter-die-Erde-bringen.

Was lag rings unter dem Sand gebettet? Städteleichen über Städteleichen. Für blühende Gemeinwesen haben sie sich gehalten, und ihre Blüte war eine Wurzelfäule. Ihr Aufstreben war ein maskierter Niedergang. Eine Kraft schlug die andere, eine Kraft fraß die andere. So wurde immer weniger Kraft, bis sich alles in platte Gleichheit und Unkraft wandelte und unter den Erdboden kroch. Ein unterirdisches Geschlecht. Ein naturscheues Geschlecht. Was übrig geblieben war von alten Kulturen, Künsten und Herrlichkeiten, eine Kuriosität für die Gaffer, ein Hohnlachen für die Wissenden, ein Spott für die Langeweile der Feiertage. 

Aber ihr Gewimmel gibt ihnen die erstickende Macht. Ihre Vielzahl erdrückt den Einzelnen. Da winde sich einer heraus, wenn ihm Hunderte gleich an den Beinen und Armen hängen!

»Jala, du freilich bist ein solches Wunder! Du schreitest über Köpfe und Tröpfe weg. Du hast auch mich schreiten gelehrt. Was haben diese Nichtse aus Niemandsland und Niemandsgeschlecht aus mir, dem Sprossen alter Könige, gemacht? Heiliger Gott Bimbam, ist’s denn zu glauben? Und erst eine Blinde musste mir die Augen öffnen? Ein Kind Aos, des frommen Komödianten, musste mir Ernst beibringen und Selbstachtung? So oder so, jetzt steh ich meinen Mann.«

Er vergaß seine Wunde und dieser endlos sich dehnenden Länge des gleichförmigen Weges in diesen bald stillen, bald lauten Selbstgesprächen. Er zog die leichte Kapuze tiefer ins Gesicht, die Sonnenstrahlen abzuwehren, die mit den Reflexen der Sandfläche sich verbündeten, ihn desto heißer zu stechen.

Ermüdet ließ er endlich den Kopf sinken, schloss die Augen und tastete sich mit dem Stab weiter. Sollte er’s besser haben als Jala, seinem Weib, die blinde Seherin? Überwindet sie, die starke Pilgerin, nicht all diesen Verdruss im Purpurglanze der Finsternis, im hellen Mute des Alleinseins?

Greges Ohren summten.

Er blieb plötzlich stehen, beugte sich nieder und befühlte seine Wunde an der Ferse. Kein Blut mehr. Aber in den Zehen und in der Wade fühlte er schmerzenden Krampf vom ungleichmäßigen Auftreten. Instinktiv war er die lange Zeit nicht mit der ganzen Sohle des schmerzenden Fußes, sondern nur mit den Zehen aufgetreten. Er hinkte. 

Hörte er nicht eine Stimme? Wer rief?

Er fuhr auf, spähte geradeaus, lauschend. Es war nicht Jalas Ton.

Er schlug die Kapuze zurück und drehte sich betroffen um.

Zwei Männer entstiegen ihrem Luftschiff, einer altmodischen Schwinggondel, kaum zwei Stabeslängen hinter ihm.

Es durchzuckte ihn.

Fremdlinge zum Glück, ganz offensichtlich, ihrer Kleidung nach. Also wenigstens keine Häscher aus Teuta.

»Wer bist du, Hinkender? Wohin des Weges in dieser Wüste?«

Das gab ihm die Fassung zurück. Er stützte sich auf seinen Stab und blickte die Fragenden scharf an.

Hochaufgeschossene Gesellen mit schlanken Knochen, umgeben von Muskeln und Sehnen, keine Spur von Fett, mit blonden Bärten, kalten, festen Augen mit herrischem, unerbittlichem Blick gleich Stoßvögeln.

Er antwortete nicht. Mit vorgestrecktem Arm machte er eine abweisende Bewegung in dem Sinne: Was kümmert’s euch? Lasst mich! Ich will nichts mit euch zu schaffen haben. 

»Ist dein Mund so krank wie dein Fuß? Hinkt auch deine Zunge?«

Und sie lachten kalt.

Der eine näherte sich ihm, während der andere mit dem Fuße den Anker, mit der Hand das Steuer der Schwinggondel festhielt.

»Du kannst mit uns ziehen. Unser Fahrzeug trägt drei.«

Das sprach der Ältere. Genau betrachtet; hatte er nicht ein Gesicht wie ein Totenkopf? Wahrhaftig. Und wie er grinste! Hing sein Bart nicht leblos, wie angeklebt?

»Du gehst in die Irre, scheint es, wir bringen dich zurück. Du kannst uns von Nutzen sein, wenn du gefällig den Mund öffnen willst. Wir grüßen dich!«

Aber es klang nicht wie Gruß.

Grege biss die Zähne zusammen, ärgerlich, dass er nicht schnell den rechten Entschluss fand. Wie würde Jala handeln? Da lachte er auf: »Ich erwidere euren Gruß. Nun lasst mich in Frieden. Ich suche mein Weib.«

Er stieß seinen Stab auf und wollte sich zum Gehen wenden.

»Er sucht sein Weib in dieser Wüstenei!«, lachten jetzt die Fremden. Sie wechselten rasch verständige Blicke. Sein Weib? Wäre das auch mit zu fangen? Eine doppelte Beute? Das Fahrzeug hat Raum und Tragkraft auch für vier. Oder macht er nur Flausen? Fragt sich überdies, ob das Weib nicht eine Katze, die schwer zu bändigen ist. Sicher ist sicher. Schließlich ist der Teutamann doch die Hauptsache. 

Nach wenigen Schritten fühlte sich Grege angehalten. Der eine Fremde, der Jüngere, vertrat ihm den Weg.

»Höre, Mann aus Teuta!«

»Woher weißt du das?«

»Alle bewohnten Länder sind viel weiter entfernt. In deinem Zustande kann man nur aus dem Nächsten kommen. Auch dein Verhalten deutet darauf und dein bartloses Gesicht. Nur in Teutas Land ist die Gleichheit so strenges Gesetz, dass sich keiner den Bart darf wachsen lassen. Alle sind dem gleichen Willen untertan, bartlos zu gehen mit glattgeschabtem Gesicht.«

»So sieh’ doch, jetzt sprosst mir der Bart. Ich habe nichts mehr mit der glatten Gleichheit Teutas zu schaffen. Und ich eile meinem Weibe nach. In Teuta sind die Frauen allen gemeinsam. Keiner darf sich dort der Ausnahme rühmen, ein eigenes Weib länger zu haben, als die Zeit der Begattung währt.«

»Köstlich, wie du Bescheid weißt!«

»Gut, ich habe dir, dem Fremden, meine Sache erklärt. Nun hindere mich nicht länger am Weitergehen.«

»Willst du Gewalt gegen unsere Wissbegierde gebrauchen? Setz’ dich zu uns und belehre uns. Wir sind Forscher. Wir ziehen auf der Suche nach seltenen Sitten umher. Du hast eine geläufige Zunge und einen lahmenden Fuß. Dein Fuß kann in unserem Fahrzeug ruhen, deine Zunge sich behaglich in allem ergehen, was uns wissenswert ist. Du bist uns ein guter Fund.«

»Aus welchem Land kommst du, dass du eine solche Sprache zu mir, dem Freien, wagst?«

»Angelos sind wir, wie du bald erfahren sollst, und du ein Freier gewesen bist.« Nach kurzem Ringen war Grege überwältigt, gefesselt und in die Gondel gelegt. Im Nu stieg das Fahrzeug in die Luft wie ein Geier.

 

 

 

2. Kapitel

 

Die Winde schliefen. Kein Laut in der Luft. Müdes Flimmerlicht.

Was am warmen Boden knisterte, war der feinkörnige Sand unter Jalas Sandalen, so oft sie den Fuß in wachsender Ermüdung hob und senkte. Es waren keine Schritte mehr. Ihre Gelenke zitterten vor Überanstrengung.

Jala war heute mehr Meilen gewandert, als gestern und vorgestern, von jagender Sehnsucht gepeinigt, endlich ans Ziel zu gelangen.

Grege, der Getreue, warum war er am Mittag zurückgeblieben? Bis zum Abend versprach er sie einzuholen, wenn er seine Wunde gepflegt hat. Jala konnte ja den Weg in gerader Linie des übersandeten Kanales, mit der leichten, dünenartigen Böschung auf beiden Seiten nicht verfehlen. War das nicht seine feste Meinung?

Nun kam ihr doch der Gedanke, sie habe sich verirrt. Ihr tastender Stab fühlte am Weg keinerlei Erhöhung mehr.

Jala hielt an, lauschend, den Kopf zurückgelegt, das Gesicht in Richtung der scheidenden Sonne, die Lider tief über den blinden Augensternen. So verweilend vernahm sie nichts, außer ihrer brechenden Müdigkeit.

Sie beschloss zu rasten, bevor die absolute Erschöpfung sie dazu zwänge und auf Grege, ihren Getreuen, zu warten. Ausgestreckt, in seitlicher Lage, die aufeinandergepressten Handflächen unter die linke Wange geschoben, ruhte sie am Weg, wie entseelt.

Auf ihre Schulter senkte sich, leicht wie ein Hauch, mit bebenden Flügeln ein gelber Schmetterling.

Wenn Grege mich jetzt so fände, seine mutige Jala!, dachte sie. Dann verwehte ihr Bewusstsein, bis sich’s wieder im Traum verdichtete. 

Ihr lichtgraues Wanderkleid, völlig verstaubt, hatte die Farbe des Sandbodens, ihr aschblondes Haar, in ungeordneten Locken aus der Kapuze hervorquellend, die Farbe der verdorrten Gräser und Halme. Das Gesicht, sonst matt-weiß, hatte sich auf der langen Wanderung in freier Luft und Sonne, ins bernsteinfarbige verdunkelt.

Um die weichen Umrisse der Nase, des Mundes und des Kinns sowie über die geschmeidige Fläche der Wange schwebte ein Lächeln der Ergebenheit, jungheißer Leidenschaft über den leidvollen Sieg der Seele, gemischt mit der Erinnerung an die tiefwühlenden, schauerlich-süßen Wonnen, die sie im Zauber ihrer ersten, wildfreien, sich selbstbejahenden Liebe genossen hatte.

Immer tiefer, immer inniger schien der ausgestreckt rastende Körper in den warmen Boden zu versinken, abgeflacht zu Schemen und Schatten.

Wie eine große, selige Mattigkeit war die Dämmerung über die Welt gekommen, wie tiefausholende Wellen in langen, lauen Rhythmen.

Am Horizont das Meer in weingelben Streifen, veilchenblau geädert, letzte, verklingende Liebkosung aus der strahlenfeurigen Zärtlichkeit der versunkenen Sonne.

Jala sah es in ihrem Traum genau so. Und es erfüllte ihr Herz wie ein himmlischer Rausch beim Kuss des Geliebten. Und wie von stummer Musik getragen, schwebte sie mit Grege im lichten Gefilde, zwischen majestätischen Sonnenblumen, um deren hohe Stängel zierliche Schlingrosen rankten, in süßen Düften die seidenweiche Luft gebadet.

Nun sah sie dies: Heilig, aus nächtiger Finsternis tauchend, die Insel, das Ziel ihrer Pilgerschaft, die Heimat, das freie, ungetrübte Glück, Greges Himmelreich und das ihre.

Ausland und Fremde war ihr die weite, feste Erde gewesen, wo die Vielzuvielen und Zusammenhängenden wohnen, der dichte, drückende Schwarm der Gleichmäßigen, die traurigen Völker, verblödet im Glück des Niemalsunglücklichseins und des stumpfgewordenen Willens.

Nie, solange sie denken kann, hatte sie sich mit solchen Menschen verbunden gefühlt.

Wie war das gekommen, dass sie anders war? Eine Renitent für sich und ein Widerspruch allen anderen? Ein drohendes Aufbäumen in ihrem Fürsichsein und eine beständige Gefahr? Ein Verdacht, der zur herrischen Überzeugung wuchs, dass die Ordnung rings um nur ein feiges Elend sei, dem ein Held erstehen müsse, der alles erlöse, indem er alles aus den Fugen schlägt? Und sie die Heldin des Helden? 

Wie war das gekommen?

War’s eine verborgene Erbschaft aus ihrem Stammlande Friska, die jetzt in geballter Kraft aus ihrem stillen Herzensschrein hervorbrach, ihre Gedanken zu feurigen Pfeilen spitzte, ihre Empfindungen mit sprengenden Elementen lud?

Oft hatte Jala nach Zeichen gesucht, sich’s in gegenständlichen Bildern zu deuten, da die erklärenden Worte versagten.

War es ihre Blindheit, in der sie das neue Sehen fand?

War das eine Fügung, dass in jener Sturmnacht des jauchzenden Frühlings, als die Reife der Frau im Wunder der Liebe ihren Körper verwandelte, das Licht aus ihren Augen floh und die Seele so hellsichtig wurde, als schwämme sie in Blitzen?

Schuf Grege, der Heiße, Treue, Unvergleichliche, den Unterschied zur dauernden Gestalt, daraus die neue Menschheit wachsen musste? Konnte sie darum nicht mehr von ihm lassen?

»Auf der Insel die Erfüllung!«, seufzte Jala im Traum.

So verging die Zeit. Plötzlich erwachte sie in süßer Erschütterung. Langsam richtete sich ihr Oberkörper vom Boden auf.

»Nicht versinken, nicht unter die Erde! In die Höhe! Grege! Grege!«

Was war das alles? Was?

Ihre Hand tastete nach dem Stab. Sie zog sich daran empor und straffte ihren Körper zu voller Höhe. Fremd. Allein.

»Grege! Grege!«

Es war ein Notschrei aus tiefster Seele. Ein Schrei ins Leere. Das schwarze Schweigen der Nacht verschlang ihre Stimme.

 

 

3. Kapitel

 

Kaspe und Ao saßen in ihrem geheimsten Beratungssaal, etwa fünfzig Meter tiefer, als die übrigen Amtsstuben, unter der gemeinen Erde.

Es war ein weiter, magisch erleuchteter und wie ein Treibhaus durchwärmter Raum, zeltartig mit Teppichen und seidenen Geweben ausgekleidet, sodass keine Wand zu sehen war. Von der Decke hingen Reihen verschiedenfarbiger Kabel für die Luft-, Licht- und Tonleitungen. Die Mitte nahm ein kleiner runder Tisch mit dem Tastwerk und dem Spiegel ein.

Der oberste Diplomat von Teuta, Titschi, und sein junger Gehilfe Soundso hielten ihnen abwechselnd den Wochenvortrag.

Ein Teil, der sich auf die allgemeinmenschliche Stimmung der Teutaleute bezog, war nunmehr erledigt.

»Alle satt?«, fragte Ao, der dicke Oberpriester, sich auf dem fahrstuhlähnlichen Polstersitz streckend. 

»Alle ruhig?«, fragte Kaspe, der schmächtige Oberrichter.

»Alle satt und ruhig«, antwortete Titschi mit verbindlichem Lächeln.

»Also alle glücklich«, nickte Ao.

»Wie üblich«, bestätigte Kaspe.

»Ist es Euch, Hoheiten, nicht um einen Zehntel Grad zu warm?«, fragte Soundso. »Ich meine, es müsste uns um einen Zehntel Grad zu warm sein.«

Ao drehte den Ring an seinem kleinen Finger der linken Hand, die mit einem feinen Faden umwickelt war, der magnetische Apparat spielte, mit einem zarten Ton entwich das Zehntel überschüssiger Wärme durch die Temperaturorgel.

Alle nickten. Soundsos Hautempfindung war unfehlbar.

»Ist es Euch, Hoheiten, nicht um eine Zehntausendstel Kerze zu hell?«, fragte wieder Soundso. »Ich meine, es müsste uns um eine Zehntausendstel Kerze zu hell sein.«

Alle stimmten zu.

Ao berührte den Ring an seinem kleinen Finger der rechten Hand, der Apparat spielte, Mit einem feinen Duft kam die gewünschte Milderung der Helligkeit in den Raum. Die Talare der hohen Räte schimmerten um die Idee einer Schattierung tiefer in ihrem purpurnen Seidenglanz. Der goldgelbe Ton der Zeltgewebe und Tücher stumpfte sich um eine kaum merkliche Nuance. Aber die hohen Räte empfanden die schwache Veränderung als eine Bereicherung ihrer sinnlichen Behaglichkeit.

»Die Abschaffung sämtlicher Luftfahrzeuge für das gemeine Volk hat sich bewährt?«, fragte Kaspe mit zirpender Stimme. »Es finden keinerlei Entweichungen mehr nach oben statt, die Teutaleute halten sich zufrieden am Rücken der Erde? Es wurde keinerlei Verunreinigung der Luft durch Schwinggondeln mit Flüchtigen und Durchbrennern bemerkt?« 

»Die Luft ist vollkommen geschlossen«, erwiderte Titschi, seine etwas geknickte Gestalt erhebend.

»Freiheit und Gleichheit herrschen im Lande innerhalb der Grenzen der gemeinen Wohlfahrt. Ungetrübt ist das gemeine Glück, dank der Idealität unserer Zustände. Gott und sein Volk sind das A und das O, und ich bin durch beider Willen ihrer frommen Fürsorge treuer Knecht, so lange ich im geheiligten Amte stehe«, sprach der Oberpriester in schläfriger Feierlichkeit. 

»Ja, Hoheit, Eurer Tugenden Lohn ist allen sichtbar, Ihr verdaut gut, Ihr schlaft gut. Dem Volke Gottes kann es an nichts mangeln«, beteuerte im weichsten Ton Titschi, der oberste Diplomat.

»Wie war das Ergebnis der letzten Zeugungsperiode?«, ergriff Kaspe das Wort. Titschi rieb sich die feine Schnüffelnase. Er blätterte in einem winzigen Notizbuch, das mit allerlei krausen Abkürzungen vollgekritzelt war.

 

Abteilung I: zwischen Fünfzehn und Fünfundzwanzig – sehr gut

Abteilung II: zwischen Achtundzwanzig und Fünfunddreißig – gut

Abteilung III: zwischen Vierzig und Fünfundvierzig – mäßig

Abteilung IV: zwischen Achtundvierzig und Fünfzig – gut

Abteilung V: Rest – ungenügend.

 

»Wir werden uns mit dem Oberphysikus unterhalten müssen. Vielleicht, dass er eine Abkürzung der Schonperioden gutheißt und eine Erweiterung der Abteilungen nach unten und oben vorschlägt«, lallte Ao schlafsüchtig.

»Nach oben, das wird wenig nützen, bemerkte Soundso mit pfiffiger Miene, es liegt in der Natur, dass die Leute mit der Zeit faul und bequem werden und sogar auf angenehmere Pflichten verzichten.«

Soundso hatte sich diesmal verquatscht. Niemand nickte.

Das riss Ao aus seiner Schlummerstimmung.

»Natur?«, rief er merklich überrascht, beinahe vorwurfsvoll, »was hat in Teuta die Natur zu sagen? Ich erschaudere schon vor dem Wort. Größe und Glück unseres Teutalandes, seine Einzigartigkeit und sein Ruhm begründen sich darauf, dass wir über der Macht der Natur stehen, seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden. Alles ist Mechanik und Mystik. Damit stehen und fallen wir. Das ist unser Lebensgeheimnis. Das ist unsere Macht.

Mechanik und Mystik, das sind die beiden Pole unseres Staates, um den uns die Welt beneidet. Soundso, ich rufe dich zur Ordnung. So lange ich hier meines Amtes walte, ich, Ao, will ich das Wort Natur in diesem Zusammenhang nicht mehr hören. Hüte deine Zunge, Soundso. Auch deine Wertung der Pflichten, nach ihrer größeren oder geringeren Annehmlichkeit, ist Ketzerei, wenn man der Sache auf den Grund geht. Du bist gewarnt.« 

Alle stutzten. So lebhaft hatten sie den würdevollen Ao schon lange nicht mehr gesehen.

»Das macht die Jugendlichkeit meines vortrefflichen Gehilfen, dass er sich so versprochen hat«, beschwichtigte Titschi, mit einem mahnenden Zwinkerblick auf Soundso. Der junge Diplomat hatte sofort die gefügigste Lammesmiene aufgesteckt, als hätte er nie das kleinste Wässerchen getrübt.

Titschi fuhr im trocken-sachlichen Ton fort: »Ja, Hoheiten, der Oberphysikus wird uns Bescheid sagen. Inzwischen will ich feststellen, dass keinerlei ernste Gefahr im Verzuge ist.«

Nun zirpte auch Kaspe: »Der Bevölkerungsrückgang ist durchaus normal und gibt zu keinen Befürchtungen Anlass, solange wir in der Lage sind – und wir sind es, wie stets seit fünfzig Jahren – den Slavakos alljährlich und pünktlich gegen die Einlieferung der benötigten Nahrungsmittel die festgesetzte Zahl an jungem Tauschvolk zu liefern. Wir können sogar, bei der nächsten Erneuerung des Vertrages, mit der Schätzung unserer Leistung heraufgehen und stärkere Gegenleistungen fordern.«

Soundso konnte hier eine sachliche Bemerkung nicht unterdrücken: »Eines Tages könnte es doch geschehen, dass Teutaland nicht mehr so viel Tauschvolk produziert, um genügend Nahrung geliefert zu erhalten. Und bei allen Fortschritten der Technik werden wir dann nicht in der Lage sein, das Volk mit Luft zu ernähren. Auch die Surros kriegt man auf Dauer satt. Der Magen nimmt sie nicht mehr an. Er will zur Abwechslung natürliches Originalfutter.

Unsere Vorfahren taten nicht gut daran, die Landwirtschaft zu zerstören und uns ganz den Künsteleien der Techniker und Chemiker auszuliefern oder gar den dilettantischen Erfindern vom Schlage Greges. So hängen wir von den Slavakos ab. Wenn denen einmal Unheil zustößt, sind wir ohne natürliche Nahrung. Es könnte sich auch ereignen, dass sie unsere menschliche Tauschware zurückweisen. Womit wollten wir sie dann verpflichten? Oder sie führen ein System des Lebens ein, das ihnen selbst genügend Menschen lieferte. Was dann, Hoheiten? Gestattet meiner Jugendlichkeit diese bescheidenen Gedanken.«

»Zukunftsgespenster! Die schrecken uns nicht. Die Slavakos werden im Gegenteil immer nachdrücklicher auf unseren Menschenersatz angewiesen sein.«

»Wie das?«, fragte Ao, der seine Schläfrigkeit vollkommen bezwungen zu haben schien.

»Sehr einfach. Wie ich aus zuverlässigen Berichten weiß, sind bei den Slavakos wieder einige neue religiöse Sekten entstanden, welche es mit den Lehren ihres Heiligen, den sie unter den größten Auserwählten ihrer Rasse vor zweitausend Jahren entdeckten, noch viel strenger nehmen. Toistoji nennen sie sich. Diese Toistoji setzen ihre Seligkeit in absolute Enthaltung von jedweder Fortpflanzung aus eigenem Samen und wählen ihre Anhänger aus den jüngsten Jahrgängen …«

»Beachtenswert«, rief Ao erbaut, »das nächste Mal erbitten wir uns weitere Auskünfte, Kaspe. Die Zeit ist heute zu vorgerückt. Ich habe noch andere Fragen. Zunächst die: Wie stehen wir zu den Angelos? Hat sich unsere Abschottungszone gegen sie erweitert? Ist unsere Grenze genügend geschützt? Die Angelos verharren in der Barbarei ihrer alten Ordnung und sind Feinde unserer Ruhe. In jedem Blutstropfen lauert ihre Herrschgier. Liegt nichts Verdächtiges vor?«

Als Titschi den Kopf schüttelte, räusperte sich Soundso, als wolle er wieder das Wort ergreifen. Aber nun kam ihm Titschi zuvor, um nicht durch neue Versprecher seines jungen Gehilfen umständliche Erörterungen und damit eine lästige Verlängerung der Sitzung herbeizuführen.

»Nein, es liegt nichts vor. Seit Jahren ließ sich keiner von diesen Störenfrieden an der Grenze unseres Reiches blicken. Unsere Abschottungszone gegen das Meer hat sich inzwischen um weitere bedeutende Flächen vermehrt, der Wüstengürtel hat sich verbreitert.

Die sanften Slavakos, obwohl sie immer weiter nach Westen drücken, sind unsere vertragsmäßigen Freunde. Die Frankos scheinen wirklich stille Leute von liebenswürdiger Gesinnung geworden zu sein. Weitab wohnen die kleinen Völker, die ihrer turbulenten Neigungen zwar noch nicht ganz Herr geworden sind, aber zu fernen Abenteuern jeden Anlass verloren haben. Ich kann mir kein friedlicheres Bild unserer Beziehungen zur Umwelt denken. Je tiefer der Trieb unserer Leute im Leben und Bauen geht, desto weniger Angriffspunkte bieten wir.«

»Ja, unter der Erde lässt sich gut und sicher wohnen«, zirpte Kaspe. »Schade, dass wir die alten Kulturdenkmäler nicht auch unter die Erde bringen können. Das Königsschloss, das Gotteshaus, die Kaserne, das Museum, das Zuchthaus – gäbe es wirklich kein Mittel, sie tiefer zu legen?

Oben an der Luft ist die Verwitterung ohnehin so stark, dass uns die Unterhaltungskosten mit der Zeit erdrückend werden können. Oder wollen wir sie wie die Fabrik mit ihren neunundneunzig Schlöten ruhig dem Verfall und dem Einsturz überlassen?

Sattgesehen hat man sich in den vielen Jahrhunderten auch daran. Ich glaube nicht, dass unseren Teutaleuten das Herz an diesem Gerümpel hängt. Für diesen Ausfall erfinden sie sich reichlich neue Vergnügungen.«

»Neue Vergnügungen«, lispelte Soundso mit lächelnder Lammesmiene, »ja, das ist das herrliche Problem, neue Vergnügungen, Hoheiten!«

»Mein kluger Soundso vergisst, dass bei uns alles Eintracht und Zufriedenheit atmet. Probleme sind Keime für Umwälzungen. Diejenigen, welche Revolutionen gemacht haben, dulden nicht, dass man nach ihnen welche machen möchte. Mit Recht oder Unrecht, so ist’s.«

»Der Ton wird bedenklich«, sagte Ao feierlich, »ich hebe die Sitzung auf.«

Der Oberpriester faltete die Hände, der Saal hüllte sich in purpurne Finsternis. Der Oberpriester drückte den Daumen an den Knopf des Riemens, der um sein linkes Knie geschnallt war, sofort spielte der Mechanismus, der die Hoheiten mit samt ihren Polstersesseln durch die sich öffnenden Wände in die Gänge schob, wo bereits die Fahrstühle für die privaten Gemächer in der höheren Region auf sie warteten.

Soundso flüsterte seinem Meister ins Ohr: »Der Alte wird schwach.«

»Ein Idiot!«

 

 

4. Kapitel

 

Minus, der Oberlehrer, zog die winzigen Hörröhrchen aus der Ohrmuschel und schlenkerte sie nervös spielerisch an dem roten Seidenfaden. Sein Blick war seltsam unruhig.

»Na?«, fragte Bim, der Oberphysikus, und verzog sein längliches Gesicht zu einem neugierigen Lächeln.

»Eine Mitteilung von Ao. Soundso hat ihn gekränkt. In der Wochensitzung. Heillose Worte sind gefallen. Ich soll prüfen.

»Heillose Worte? Von Aos Seite?«

»Nein. Soundso versündigte sich am heiligen Wortschatz.«

»Schon wieder? Ich werde seinen Geisteszustand beobachten lassen. Mir ist er längst verdächtig. Er hat also Frevelworte ausgestoßen?«

»Hm.«

Minus spitzte den Mund und blies in die hohle Hand. »Na, Hoheit?« »Vor bald zweitausend Jahren sprach einer das Sprüchlein: ‚Worte sind wie Schall und Rauch.‘ Das wirkt fort, Bim. Man nimmt die Worte zu leicht. Viel zu leicht … Eine schleichende Gefahr. Auch bei uns. Gehörtes verführt …« 

Bim nickte. Sein längliches Gesicht zeigte düstere Nachdenklichkeit.

»Was hat der vor bald zweitausend Jahren gesagt?«

»Worte sind wie Schall und Rauch.«

»Hab’ ich nie gehört. Ich verneige mich vor deiner Gelehrsamkeit. Worte sind nicht bloß Schall? Worte sind auch Rauch? Also haben damals Worte geraucht, in jener primitiven Zeit? Einfach kannibalistisch: Worte, die rauchen. Worte die nicht nur die Ohren, sondern auch die Augen belästigen. Die brennen und qualmen. Puh, Minus, kehren solche Zeiten wieder? Glaubst du das, großer Wissender?«

»Wenn eine Jugend, wie dieser Soundso, in die Staatsgeschäfte hineinwächst, Bim. Gehörtes verführt, merk dir das.«

»Jawohl, Hoheit. Wort, Ätherschwingung, Seele, alles in eins. Furchtbare Gewalt. Wenn nun Worte auch noch schallen und rauchen! Aufruhr, Umwälzung, Umsturz, ja wahrhaftig, Umsturz! Und was …«

Bim bekam plötzlich seinen Hustenanfall und drehte seinen langen dünnen Hals so verzweifelt zur Seite, dass die Wirbel knackten.

»Hm«, machte Minus, indem er wieder die winzigen Hörröhrchen in die Ohrmuschel steckte.

»Na?«, fragte Bim, nachdem er sich von seinem Anfall erholt hatte.

»Eine Mitteilung von Kaspe. Soundso scheint ihm verdächtig. Seit der Wochensitzung. Worte, Worte, Worte.«

»Schon wieder? Was hab ich vorhin gesagt? Darf ich es nun erfahren?«

»Der Gehilfe unseres Oberdiplomaten erregt Ärgernis auf allen Seiten.«

»Ich bitte um die Worte, zum Tatbestand.«

»Aber vorläufig ganz unter uns, Oberphysikus. Amtsgeheimnis.«

»Vertrauliche Mitteilung, versteht sich. Schätzbares Material unter dem Siegel der Verschwiegenheit.«

 

 

Aug’ in Aug’, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten, dann den Mund am Ohr: »Vernimm dies, Bim. Natur – angenehmere Pflichten im Sexualen, hörst Du? Probleme, herrliche Probleme sogar.« Dann blickten sie sich starr an.

»Soundso?«

»Soundso. Und dieser Mensch, Minus, sollte er nicht des Schlimmsten fähig sein? Ist das nicht ein keimender Entartungstypus in unserem normalen Gemeinwesen? Ist das nicht ein stetig sich aufbauender Seuchenherd in unserem musterhaft gesunden Land?«

»Ich ahne, Bim.«

»Schon damals. Meine unglaubliche Entdeckung des Urstoffs; alle Geister hat sie erschüttert, ihn hat sie kalt gelassen. Mehr noch: Er hat sie still verhöhnt. Und er wagt Worte, wie Natur, Probleme, angenehmere Pflichten vor dem Oberpriester auszusprechen.«

»Und vor dem Oberpriester!«

»Ja, vor dem Oberpriester. Gerade vor dem, der meine unglaubliche Entdeckung mit dem höchsten Lob auszeichnete. Weißt du noch …?«

»Das Lob ja. Sehr ergreifend. Wie lautete doch gleich deine herrliche Entdeckung? Die Worte sind mir nicht gegenwärtig.«

»O Minus, Hoheit: Urstoff! Die Materie, aus welcher die Atome bestehen, ist nicht qualitativ verschieden, sondern die verschiedenen Atome sind nur verschiedene Qualitäten derselben Materie, und diese Materie ist der Urstoff.«

Minus zog die Augenbrauen hoch, sodass sie wie ein schwarzes Runzel-Dreieck über den erstaunten Augen standen. In seinem Sinne dachte er: O du blöder, aufgeblasener Frosch, mit deinem dummen Gequake, aber seinem Munde entschlüpften klügere Worte: »Herrliche Entdeckung, herrliche Definition. Ja, das sind Ideen, nicht Schall und Rauch. Davon wird eine neue Entwicklung ausgehen. Neue Probleme werden hervorsprießen, neue …« 

Bim spreizte erschrocken die fünf Finger der linken Hand in die Höhe und legte die Rechte dem Sprecher auf den Mund. »Oh! Oh! Wenn uns ein sterbliches Wesen gehört hätte, Minus, Hoheit! Oh! Entwi… Entwicklung, gehört das nicht auch zu den verpönten Worten unseres staatlichen Sprachschatzes, so gut wie neue Probleme? Stehen wir nicht auf dem Gipfel? Wohin mit Entwi… Entwicklung? Wäre das nicht Schwindel eines Schwarmgeistes? Wir bauen aus, wir vertiefen, wir fügen hinzu, aber entwickeln? Nein. Wir haben einen Standpunkt, unser erreichtes Ziel, da ist kein Raum für etwas Zielloses, Unübersehbares. Entwicklung, wem schauderte da nicht? Sturz ins Bodenlose, wem …«

Bim bekam schon wieder seinen Hustenanfall, sodass die Halswirbel knackten.

Minus hatte sich bei Bims emphatischer Strafpredigt langsam umgewendet. Jetzt drehte er ihm das Gesicht wieder zu und sagte mit unerschütterter Ruhe: »Bim, ich bitte, wem sagst du das? Mein Amt gestattet mir, mich auch einmal über meinen Standpunkt zu stellen, um andere zu prüfen. Du hast die Prüfung bestanden. Glänzend. Wie vorauszusehen. Der Mann des Geistes beglückwünscht den Mann der Körperlichkeit.«

»Der Ebenbürtige verneigt sich, Hoheit.«

Sein längliches Gesicht versuchte durch ein säuerliches Lächeln, den aufsteigenden Ärger zu dämpfen.

Nein, es ist von diesem obersten Gelehrsamkeitsverwalter mehr als Fopperei, es ist ein Stich ins Boshafte, fast ins Größenwahnsinnige dabei, dem nichtsahnenden Oberphysikus mit solchen Scherzen zu kommen. Man könnte sich ordentlich fürchten, wenn unter Kollegen solche Neigungen herrschend werden.

Das ist kein glücklicher Ton im hohen Rat des glücklichsten Volkes. Einem meuchlings mit Prüfungen zu kommen, mit hinterlistigen Gesinnungs-Erforschungen! Und gerade ihm, dem tadellosen Bim, dem unersetzlichen Physikus, der die Wissenschaften mit Funden und Entdeckungen weitreichender Art beglückt und dabei über die Gesundheit der Teutaleute mit solchem Eifer wacht!

Was weht denn jetzt für ein Wind in den auserlesensten Köpfen, wenn ein Mann von der Gelehrsamkeit und Würde eines Minus Schabernack treibt? Kommt damit nicht eine gefährliche Unsicherheit in alle Beziehungen derer, die der Wille des Volkes auf die wichtigsten Posten gestellt hat?

»Ja, ich beglückwünsche dich, Bim!«, begann plötzlich der Oberlehrer wieder. Du bist ein Mann von hohen Gaben. Wie viele Jahre gibst du mir noch, damit ich mich dem würdigen Teutavolke nützlich erweise und der Weisheit meiner hohen Kollegen immer näher komme?«

»Wieso das?«

»Wir wissen, oder auch nicht, je nachdem, Bim, dass die Erde nichts ist als ein erstarrter winziger Sonnenabfall, ein kleiner Dreckspritzer, ein Sandkorn in der unendlichen Wüste der Welten. Wir wissen, welche Gase an der Fläche der fernsten Sterne glühen. Macht das dein Herz größer? Dein Leben fröhlicher? Wir wissen, dass man vor tausend Jahren, bevor die Chinesenherrschaft in Europa triumphierte, Welträtsel zu lösen im Begriff war, von denen wir heute keine Ahnung haben. Dass man damals fast das Problem gelöst hatte, aus dem Dunstkreis der Erde hinaus und in die Sphäre des Mondes hineinzufahren. Hat dieser Aufschwung verhindert, dass dennoch ganz Europa in die Brüche gegangen ist? Dass all’ die großen Reiche des Kontinents verschwunden und wir nur armselige Reste sind? Wie viele Jahre noch?

---ENDE DER LESEPROBE---