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Die Erzählung "In schwierigstem Gelände" handelt vom Lehrer Christian, der seinen Vater besucht. Schnell geraten die beiden über politische Themen aneinander. Während sein Vater eine klar rechte Sicht auf die Welt hat, ist Christian ein Linker. Georg M. Oswald zeigt, verkörpert durch die Figuren, das Aufeinandertreffen zweier ideologisch vereinnahmter Menschen.
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Seitenzahl: 19
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Georg M. Oswald
In schwierigstem Gelände
Eine Erzählung
Eins
Vor einiger Zeit hatte Christian Hofstätter, fünfzig Jahre alt, Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte, einen Bericht im Radio gehört, an den er sich in gewissen Abständen erinnerte, obwohl oder gerade weil er ihn für kompletten Unfug hielt. Amerikanische Wissenschaftler – natürlich, wer sonst – hatten herausgefunden, dass es genetische Ursachen habe, ob jemand politisch zu eher linken oder eher rechten Ansichten tendiere. Nie, wenn ihm die These wieder ins Gedächtnis kam, vergaß er verächtlich zu grinsen. Er verstand den neurobiologischen Ansatz, wonach das, was wir Willensfreiheit nennen, nichts weiter ist als eine Abfolge chemischer Prozesse, die nicht wir, sondern die angeblich uns steuern. Doch hier, schien es ihm, war diese Behauptung über den Umweg der Genetik in die Analyse politischer Strukturen gerutscht, was das Ergebnis nicht gerade als zwingend richtig erscheinen ließ.
Außerdem, mutmaßte Christian im Stillen, bezog sich die Untersuchung wohl nicht auf Rechte und Linke im europäischen oder gar deutschen, sondern im amerikanischen Sinn, also auf Republikaner und Demokraten, und das war, so Christian weiter zu sich selbst, ohnehin mehr oder weniger dasselbe. Doch nachdem er all dies gedacht hatte, blieb regelmäßig eine Frage zurück, die ihn beunruhigte, und die lautete: Was, wenn es stimmte? Was, wenn es wirklich so etwas wie eine genetische Disposition politischer Ansichten gab? Nun, um das Mindeste zu sagen, das würde einiges erklären.
Es war kein Zufall, dass Christian dieses Thema gerade jetzt wieder beschäftigte, denn er saß im Zug auf der Reise zu seinem Vater, um ihm einen Besuch abzustatten. Seine Eltern wohnten in Murnau, genauer in einer Bungalow-Siedlung am Murnauer Moos, die so eine Art voralpenländisches Beverly Hills darstellte. Wohlhabende Menschen aus der ganzen Republik hatten sich hier Häuser gebaut oder gekauft, die ihnen den Rückzug in eine paradiesisch anmutende Ruhe erlaubten. Trotzdem konnten sie binnen einer Stunde auf der Maximilianstraße in München, in anderthalb Stunden am Franz-Josef-Strauß-Flughafen sein, wenn sie es wollten. Christians Vater allerdings hatte keinerlei Interesse an der Maximilianstraße, und es war ihm ziemlich egal, wie lange er zum Flughafen brauchte, denn er hatte keine dringenden Termine. Er war Rentner, und wenn er verreiste, was mehrmals im Jahr vorkam, tat er es in Ruhe.