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Mysteriös, spannend und unterhaltsam: Das Berliner Ermittlerduo Rosenberg & Neubauer ermittelt dieses Mal im Umfeld des deutschen Hochadels Schlossherr Felix Graf von Keitenburg ist verschwunden und die Umstände sind undurchsichtig. Kriminalkommissar Alex Rosenberg und seine Kollegin Kathleen Neubauer müssen undercover im Schloss ermitteln, nachdem andere Kollegen dort bereits gescheitert sind. Die Adeligen sind eine verschworene Gemeinschaft und behalten ihre Geheimnisse in den eigenen Kreisen, sodass ihr Einsatz die letzte Chance zur Aufklärung des Falles ist. Den beiden Kommissaren fällt es nicht leicht, den strengen Regeln des Adels zu folgen und nebenbei ihr Leben außerhalb des Schlosses zu meistern. Irgendwie schaffen sie es, sich durch Jagden, festliche Dinners, Musikabende und Bälle zu schummeln, aber der Graf bleibt verschwunden und immer mehr suspekte Geheimnisse tun sich auf...
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Cover & Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
Mit stechender Seite hetzte Alexander Rosenberg hinter dem Einbrecher her. Sie hatten gerade eine Befragung in Lichterfelde abgeschlossen und waren auf dem Weg zurück zu ihrem Wagen, als in einem der Nachbarhäuser ein schriller Alarm losging und ein Mann mit gehetztem Blick und vollem Rucksack über das Gartentor sprang. Alex’ pfeifender Atem bildete in der beißenden Kälte kleine Wölkchen. Nur noch ein paar Schritte war er von ihm entfernt. Seine Kollegin Kathleen Neubauer war ein gutes Stück hinter ihnen. Ein paar Meter vor ihnen kam plötzlich ein dick eingemummelter kleiner Junge aus einer Einfahrt, der gedankenverloren einen Ball vor sich her kickte. Er war so auf das Spiel fixiert, dass er seine Umwelt nicht zu bemerken schien.
Alex hatte aufgeholt. Gleich hatte er den Flüchtigen, den sie zufällig auf frischer Tat ertappt hatten. Es war überraschend, welche Kondition der Typ hatte, schließlich hatte er ganz offensichtlich einige Jährchen mehr auf dem Buckel als die beiden Kommissare. Und die klirrende Kälte erschwerte das Durchatmen.
Der Junge stand jetzt mitten auf dem Bürgersteig und blickte überrascht auf. Nun war der Kerl auch schon neben ihm, aber anstatt ihn einfach zu umrunden und weiterzulaufen, sah er sich blitzschnell nach Alex um, packte den Jungen dann bei den Schultern und stieß ihn in dem Augenblick auf die Straße, als ein Auto heranraste, bevor er weiterrannte. Der Junge fiel hart auf den Asphalt. Der Autofahrer schien nichts von dem kleinen Drama zu bemerken. Alex wog den Bruchteil einer Sekunde ab, was er tun sollte, dann sprang er auf die Straße und griff nach dem Körper des Jungen. Seine Hände rutschten an dem dicken Stoff des Schneeanzuges ab, den das Kind trug, bevor er es endlich zu fassen bekam. Es war klar, dass der Verbrecher inzwischen über alle Berge war, aber er konnte den Jungen nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Mit dem Kind auf dem Arm sprang er zwischen die parkenden Pkws und sah aus dem Augenwinkel, wie das Auto, das jetzt endlich abgebremst wurde, schlingernd ein gutes Stück entfernt zum Stehen kam. Er spürte, wie sein Herz klopfte. Behutsam setzte er den Jungen auf den Bordstein. Er war bei Bewusstsein und starrte Alex mit weit aufgerissenen Augen an.
»Alles okay. Es passiert dir nichts. Ich bin Alexander Rosenberg, und wie heißt du?«, sagte er sanft und strich dem Jungen über den Kopf. Er konnte nicht älter als sechs oder sieben sein.
»Jasper«, nuschelte er durch eine Zahnlücke.
»Schön, Jasper. Wohnst du hier in der Nähe?«
Jasper nickte und zeigte auf den Hauseingang, aus dem er gerade gekommen war.
»Möchtest du vielleicht lieber reingehen und dich ein bisschen von dem Schrecken erholen?«, fragte Alex, der noch immer vor dem auf dem Bürgersteig kauernden Jungen hockte. Seine Waden begannen unangenehm zu pieken, und die Kälte kroch seinen Körper empor.
Der Junge schüttelte den Kopf und brach dann in Tränen aus. Wahrscheinlich der Schock, dachte Alex. Doch gleich darauf schluchzte das Kind: »Mein Ball! Mein Ba-ha-ll. Ich hab ihn doch gerade erst bekommen.«
Alex erhob sich und sah sich um. Den Ball hatte er total vergessen. Er blickte direkt in das Gesicht eines Mannes, der kreidebleich war und den zerquetschten Ball in der Hand hielt. Auch Jasper hatte das Unglück bemerkt, und sein kleines Gesicht unter der dunkelgrünen Pudelmütze verlor sämtliche Farbe.
»Er ist platt«, flüsterte er fassungslos, und das Schluchzen wurde heftiger.
»Es tut mir so leid. Den Jungen habe ich nicht sehen können. Es ging alles so schnell …« Der Autofahrer rang um Fassung, hielt sich aber sehr aufrecht.
Alex musterte den Mann. Er trug einen perfekt geschnittenen dunkelgrauen Anzug und ein passendes Hemd in exakt der gleichen Farbe wie das Einstecktuch. Auch sein Audi schien nicht ganz billig gewesen zu sein. Jung war er nicht mehr, aber er strahlte Würde aus. Jetzt kniete er sich vor den Jungen und sah ihn an. »Ich werde dir selbstverständlich einen neuen Ball kaufen. Hast du irgendwelche speziellen Wünsche? Ein Lieblingsverein? Besondere Farben oder Ähnliches?«
Mit verquollenen Augen und laufender Nase sah Jasper den Mann an. Seine Unterlippe zuckte noch, aber dann konnte Alex die Hoffnung in den Augen des Jungen erkennen.
»Ich werde nur mit dem Herrn hier die Formalitäten regeln, dann sorgen wir für Ersatz, einverstanden? Vielleicht hast du ja auch Lust auf eine heiße Schokolade?«
Jetzt hellte sich Jaspers Blick merklich auf, und er nickte.
»Sie wissen, dass Sie zu schnell gefahren sind?« Alex musste sich räuspern, so gerührt war er über die Freude des Kindes.
»Ich gestehe alles. Geben Sie mir die Strafe, die Sie für richtig halten. Ich werde sie akzeptieren. Es ist ein Segen, dass nur ein Ball sein Leben lassen musste. Ich bin noch nicht dazu gekommen, mich vorzustellen: Mein Name ist Andreas von Klippingen.«
»Ja … äh, sehr erfreut. Alexander Rosenberg, Kripo Berlin.«
Lautes Geschrei ließ Alex herumfahren. Was er sah, erheiterte ihn. Kathleen kam mit dem schimpfenden Ganoven im Schlepptau näher, den sie mit Handfesseln an sich gebunden hatte. Er keifte sie an und warf ihr Schimpfworte an den Kopf, folgte ihr jedoch brav wie ein Hündchen. Offenbar hatte sie ihm gezeigt, wo der Hammer hing. Sie ignorierte ihn weitgehend, fuhr ihn jedoch, kurz bevor sie Alex erreicht hatte, an: »Jetzt halt endlich die Klappe, du Schwachkopf. Man muss auch mal verlieren können!«
Alex bemerkte, dass sich der Adelige neben ihm anspannte, aber er sagte nichts. Sie waren hier schließlich nicht auf irgendeinem Schloss, sondern machten ihre Arbeit. Und Kathleen hatte den Mistkerl gefasst. Sauber!
Eine Stunde später hatten Alex und Kathleen alles geregelt. Ihr Verbrecher war in Untersuchungshaft, Jasper hatte einen neuen Ball, und die Personalien von ihrem Adeligen hatten sie auch. Er durfte sich wegen der deutlich überhöhten Geschwindigkeit auf ein saftiges Bußgeld freuen, aber dafür waren die Kollegen zuständig. Jetzt liefen die beiden Kommissare den Gang zu ihrem Büro hinunter, das sie sich mit ihrem Kollegen Lukas Meister teilten.
»Hast du die Karre von dem gesehen? Die hat bestimmt eine ganze Stange Geld gekostet!«, sagte Kathleen.
»Sieht so aus«, entgegnete Alex.
»Ist ja auch ein Von und Zu. Ist das immer noch so, dass dir der goldene Löffel im Mund alle Türen öffnet? Ich dachte, der Adel wäre abgeschafft.«
»Hmm«, brummte Alex nur, doch Kathleen war noch nicht fertig.
»Meinst du, der wohnt auf einer Burg oder so? Früher hab ich ja immer davon geträumt, dass ein Prinz wie in Aschenputtel kommt und mich auf sein Schloss holt!«, seufzte sie.
»Ach, das ist auch nicht der wahre Jakob. Sieht zwar auf den ersten Blick gut aus, aber es ist auch nicht alles Gold, was glänzt. Wichtig ist, man selbst zu bleiben.«
Ein bisschen nervte es ihn ja schon, wie er so vor sich hinredete, aber es war absolut überflüssig, so mit den Augen zu rollen, wie Kathleen es tat. Und ihr blödes Schnauben durch die Nase war auch verzichtbar. Eine Erwiderung verkniff er sich, weil sie inzwischen ihr Büro erreicht hatten. Die Tür war nur angelehnt, und heraus tönten aufgeregte Stimmen.
Sie sahen sich kurz an, dann stieß Kathleen entschlossen die Tür auf.
Inka Temming stand mit rotem Kopf vor Lukas Meister und schrie aus vollem Hals: »Das war doch alles nur deine Schuld. Hättest du dich nicht so blöd aufgeführt, hätten sie ausgepackt. Definitiv. Und mir jetzt die Schuld zu geben ist das Allerletzte.« Von ihrer sonst perfekt sitzenden Frisur standen einzelne Haarbüschel ab, und die verlaufene Wimperntusche hatte einen schwarzen Rand unter ihren Augen gebildet, was ihr das Aussehen eines Pandas verlieh. Offenbar hatte sie geweint. Ausgerechnet die hart gesottene Inka. Es musste ihr etwas wirklich schwer auf den Magen geschlagen sein.
Lukas verdrehte nur die Augen und wandte sich dann seinem Computer zu. »Diese Adelsbande hält zusammen wie Pech und Schwefel. Da kann Kommissarin Neunmalklug noch so lange rumsäuseln, die lassen nichts raus. Punkt«, murmelte er und starrte angestrengt auf den Bildschirm.
»Ach, erzähl doch nichts. Ich hatte sie fast so weit, und nur weil du gemeint hast, hier den Macho rauskehren zu müssen, machen die zu wie Austern. Du hast ein Feingefühl wie ein Bulldozer. Mit dir kann man nicht arbeiten, so sieht’s einfach mal aus«, fauchte sie und rauschte hinaus, wobei sie Kathleen und Alex nur kurz zunickte.
»Äh … darf man fragen …«, wandte sich Kathleen an Lukas, der sie jedoch barsch unterbrach.
»Nee, darf man nicht. Kümmert euch um euren Dreck. Mit hysterischen Hühnern bin ich heute schon genug bedient, vielen Dank«, platzte er heraus.
Kathleens Gesicht verzog sich ärgerlich, doch bevor sie dazu kam, Lukas zu antworteten, ergriff Alex das Wort. Er stellte sich dicht vor ihn und sagte leise, aber sehr deutlich: »So redest du nicht mit ihr, ist das klar? Sie hat nur freundlich gefragt, was vorgefallen ist. Ihr gutes Recht, wenn du dir hier in unserem gemeinsamen Büro einen solchen Auftritt leistest.« Damit wandte er sich ab und setzte sich auf seinen Drehstuhl, der ihm bei dem Schwung, den Alex hatte, um ein Haar unter dem Hintern weggerutscht wäre.
Lukas schob jetzt seinen Stuhl mit einem Ruck zurück und blitzte Alex an. »Halt bloß die Klappe, Mr. Neunmalklug. Diese ewige Besserwisserei und dieses Gutmenschentum gehen mir auf die Eier«, schrie er und eilte mit großen Schritten aus dem Büro, nicht ohne die Tür noch kräftig hinter sich ins Schloss zu werfen.
Kathleen stand immer noch an der gleichen Stelle und starrte ihm mit leicht geöffnetem Mund hinterher. Dann wandte sie sich an Alex. »Was zum Geier …«
»Na, was schon. Wieder jemand, den er als mögliches Teammitglied vergrault hat. Die beiden sind doch an irgendeinem Fall dran. Scheint nicht so gut gelaufen zu sein. Lass ihn. Er wird sich schon wieder beruhigen. Hat halt ein Gemüt wie ein brennendes Pulverfass«, unterbrach Alex sie, während er seinen Computer hochfuhr. »Zeit fürs Protokoll, Frau Neubauer«, fügte er dann mit einem Zwinkern hinzu, doch Kathleen sah es nicht. Mit zusammengepressten Lippen ließ sie ihre Jacke über die Stuhllehne fallen und setzte sich ebenfalls an ihren Platz, die Mütze noch auf dem Kopf.
»Hey, ist doch alles gut«, bemühte sich Alex, sie zu beruhigen. Aber sie wandte den Kopf ab und antwortete nicht.
Sie arbeiteten eine Weile schweigend vor sich hin, ohne dass von Lukas irgendetwas zu sehen war. Inzwischen waren sie ein so eingespieltes Team, dass die Aufgabenverteilung bei den Berichten klar war, und sie kein Wort darüber verlieren mussten.
Plötzlich klingelte ein Telefon. Überrascht blickte Alex auf. Kathleen sah sich bereits danach um, welches Gerät läutete. Alex hatte allerdings gleich am Klingeln erkannt, dass es sich um sein Handy handelte. Auch die Melodie war eindeutig: Susa rief an. Um diese Zeit war das allerdings ungewöhnlich, denn eigentlich musste sie jetzt in der Schule sein und unterrichten. Hektisch fingerte er in seiner über der Stuhllehne hängenden Jacke nach dem Smartphone. Er war sich fast sicher, dass er es in die Innentasche gesteckt hatte, aber dort war es nicht. Auch nicht in der rechten Tasche.
»Mach schneller, sonst ist es weg«, sagte Kathleen und winkte auffordernd.
Er sagte nichts, sondern kramte jetzt in der linken Jackentasche. Was hatte er eigentlich alles dort hineingestopft? Er musste dringend mal seine Taschen ausmisten. Aber auch hier war das Handy nicht. Ratlos sah er Kathleen an, als das Klingeln abbrach.
»Ich versteh das nicht. Wo kann es bloß sein?«, fragte er mit unsicherer Stimme. Es musste etwas passiert sein, sonst würde Susa ihn nicht um diese Zeit anrufen.
Kathleen zog die Augenbrauen hoch und zuckte mit den Schultern. Noch einmal durchkramte Alex die Innentasche. Zwischen einer alten Kinokarte, einem Einkaufszettel vom letzten Jahr und einem alten Kaugummi fand er das Handy schließlich.
»Zeit zum Aufräumen«, meinte Kathleen lakonisch und wandte sich wieder ihrem Bildschirm zu.
Angespannt klickte Alex auf Susas Nummer. Es klingelte zweimal, bevor sie das Gespräch annahm.
»Alex?« Sie klang nervös. Ihr Atem ging stoßweise.
»Susa, wo bist du? Ist alles okay mit dir?«
Die sekundenlange Stille legte sich wie eine dunkle Decke über seine Seele. Etwas stimmte nicht, das war offensichtlich.
»Wahrscheinlich ein Virus. Ich muss mich ständig übergeben. Die Rektorin hat mich nach Hause geschickt. Sie könne es nicht verantworten, dass ich in diesem Zustand vor der Klasse stehe, hat sie gesagt. So will ich das nicht, Alex. Ich will ernst genommen werden, auch wenn ich schwanger bin.« Sie schluchzte.
»Das wirst du doch auch. Aber vielleicht ist es keine so gute Idee, die Schüler auch noch anzustecken, meinst du nicht? Jetzt legst du dich erst mal hin, kochst dir nachher einen schönen Fencheltee und lässt es dir gut gehen. Kann dir jemand helfen? Ach Mist, ich wäre jetzt so gerne bei dir!« Er spürte eine Mischung aus Erleichterung, dass es nichts Schlimmeres war, und Enttäuschung darüber, dass er nicht in der Lage war, seiner schwangeren Freundin helfen zu können.
»Ich muss Schluss machen.« Susa würgte plötzlich, und das Gespräch wurde abrupt beendet.
»Scheiße!«, entfuhr es ihm. Als er aufsah, bemerkte er, dass Kathleen ihn anblickte.
»Geht’s ihr nicht gut?«
Alex schüttelte den Kopf. Die Ohnmacht, der in Heidelberg vor sich hin würgenden Susa nicht helfen zu können, weil er in Berlin arbeitete, bedrückte ihn. Was war denn, wenn das Baby erst da war? Es ging doch nicht an, dass er über sechshundert Kilometer weit weg von seiner Familie war und Susa die ganze Arbeit allein hatte. Bisher hatten sie noch nicht darüber geredet, aber Alex war klar, dass irgendetwas passieren musste. Allerdings erschien ihm die Vorstellung, sich von Berlin, seiner lieb gewonnenen Arbeit und den ganzen Menschen, die er hier kennengelernt hatte, zu trennen, unvorstellbar.
»Mit dem Baby ist aber alles in Ordnung?«, unterbrach Kathleen die auf ihn einstürmenden Gedanken.
»Magen-Darm. Nichts Schlimmes.«
»Dann ist es ja gut«, sagte sie, aber er konnte die Besorgnis in ihrem Blick erkennen.
Schweigend arbeiteten die beiden Kommissare weiter, doch Alex spürte die taxierenden Blicke, die Kathleen ihm immer wieder zuwarf.
Anderthalb Stunden später waren sie fertig. Beide hatten die Aufzeichnungen des anderen gelesen und unterschrieben, hatten ihre Computer heruntergefahren und liefen jetzt gemeinsam den Gang hinunter, der in seiner eintönigen Trostlosigkeit etwas Lähmendes hatte.
»Und, was steht bei dir heute noch auf dem Plan?«, erkundigte sich Kathleen.
Alex holte tief Luft. Seine Gedanken waren immer noch bei Susa. Wahrscheinlich hatte er die ganze Zeit über nicht gesprochen. »Eine Überraschung für Susa. Sie hat sich über meine Ernährung beschwert und meinte, dass ich jetzt langsam mal lernen müsste, selbst zu kochen und mich nicht immer nur bei Frau Wolf durchzufuttern. Heute beginnt der Kochkurs an der Volkshochschule.« Er spürte, dass er rot wurde. Bisher hatte er noch niemandem von seinem Vorhaben erzählt. Und einen Moment später wusste er auch, warum.
Kathleen blieb stehen, sah ihn einen Augenblick an, ihre Mundwinkel zuckten. Dann brach es aus ihr heraus: »Kochen? Du? Ich schmeiß mich weg.« Und sie lachte, bis ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen.
»Vielen Dank auch. Das ist genau die Ermutigung, die man sich wünscht«, schnappte Alex beleidigt und lief demonstrativ weiter. »Lach du nur. Wir werden schon sehen, wer als Letzter lacht«, sagte er und hatte fast das Treppenhaus erreicht, als er jemanden rufen hörte.
»Alexander, Kathleen. Teammeeting im Besprechungsraum. Jetzt gleich!«
Alex drehte sich um. Kathleen hatte schlagartig aufgehört zu lachen, auch wenn ihr Gesicht noch ganz rot war. Schadete ihr gar nicht. Wer so gehässig gegenüber einem Kollegen war … Allerdings machte er sich Gedanken. Eine Besprechung zum Dienstschluss war eine äußerst ungewöhnliche Sache. Und wenn es zu lange dauerte, würde er es nicht zum Kochkurs schaffen. Dann war die Schmach, die Kathleen ihm angetan hatte, auch noch umsonst.
»So ein Mist. Gehst du schon mal vor? Ich muss noch kurz Nora Bescheid sagen, dass es später wird. Dann kann Mattis noch ein bisschen bei ihr bleiben.«
Alex nickte und stiefelte dann in Richtung Besprechungsraum.
Blöderweise war bei Nora besetzt. Das bedeutete, dass sie gerade bei der Arbeit war. Nora hatte einen Job, der es ihr ermöglichte, für ihre Kinder da zu sein und trotzdem Geld zu verdienen: Sie machte Telefonsex und das sogar so erfolgreich, dass sie neben ihren Stammkunden immer mehr neue Klienten dazu gewann.
Nachdenklich ließ Kathleen ihr Handy sinken und biss sich auf die Unterlippe. Es musste einen Weg geben, Nora zu verständigen. Und viel Zeit blieb ihr nicht, denn sie sah am Ende des Gangs, wie Alex gerade die Tür zum Besprechungsraum hinter sich schloss. Ihr Chef würde gereizt reagieren, weil sie ihm nicht auf den Fersen folgte, aber wie sonst konnte sie Nora darüber informieren, dass sie länger arbeiten musste und ihr neunjähriger Sohn Mattis deshalb noch bei ihr bleiben sollte. Sonst ging er inzwischen alleine hoch, wenn es an der Zeit war, dass Kathleen gewöhnlich zurückkam.
Zögernd scrollte sie ihre WhatsApp-Liste runter. Sie konnte Nora natürlich schreiben, aber wenn das Gespräch mit dem Kunden gerade erst begonnen hatte, konnte sich das Ganze hinziehen.
Da kam ihr eine Idee. Ein klein wenig unfair war es natürlich, aber ihr blieb im Moment keine andere Möglichkeit. Es half nichts, sie musste das Okay bekommen, bevor sie in den Besprechungsraum ging, in dem das Grauen in Form ihres Chefs Michael Varenke lauerte. Auch wenn er etwas weniger anstrengend geworden war, konnte man ihr Verhältnis durchaus als angespannt bezeichnen. Das Telefon klingelte.
»Ja?«, ertönte eine jugendliche Stimme.
»Enrico? Hier ist Kathleen. Ist Mattis noch bei euch?«
»Äh … ja klar.«
»Ich kann deine Mama nicht erreichen. Kannst du ihr etwas sagen, wenn sie fertig ist?«
»Okay. Warum rufst du bei mir an und nicht bei Mattis?«
»Weil ich das für sicherer halte. Mattis würde nichts sagen, hochgehen und dann die Wohnung auf den Kopf stellen. Also, hörst du? Ich muss länger arbeiten. Kann Mattis noch bei euch bleiben? Ich möchte nicht, dass er alleine hochgeht. Sagst du das deiner Mama bitte?«
»Warum soll er denn nicht alleine hoch?«
»Das ist egal, aber sag es ihr bitte. Ich muss jetzt.«
Kathleen wollte bereits auflegen, da hörte sie auf einmal die Stimme ihres Sohnes: »Ich kann auch alleine nach oben. Ich bin kein Baby mehr, Mama!«
»Ich weiß Schatz, können wir das ein anderes Mal besprechen? Ich muss jetzt los.«
»Nee, können wir nicht. Du willst bloß nicht, dass ich Playstation spiele oder an den Naschschrank gehe, aber das ist voll blöd von dir. Bei Papa …«
»Schluss jetzt, Mattis. Ich hab gesagt, was zu sagen ist, und den Rest klären wir später. Grüß Nora schön.«
Die Protestschreie ihres Sohnes drückte Kathleen einfach weg. Sie atmete tief durch, während sie im Eiltempo den Gang hinunterlief. Ihr Kopf war heiß. Sie hasste diese endlose Diskussion über dieses Thema mit Mattis. Sie hasste es wirklich, aber trotzdem kam fast jeden Tag das Gespräch darauf. Denn sie kannte ihren Sohn. Sobald er freie Bahn hatte, machte er alles, was verboten war. Aus gutem Grund verboten.
Noch einmal holte Kathleen tief Luft, dann drückte sie die Klinke zum Besprechungsraum herunter. Sie rechnete damit, dass anklagende Blicke sie treffen würden, und senkte schon dem Kopf, um das zu vermeiden.
Eine Sekunde später sah sie erstaunt auf. Eine laute Diskussion war im Gange. Weniger eine Diskussion, eher ein Streit. Inka Temming, ihre sonst immer wie aus dem Ei gepellt aussehende Kollegin, stand mit knallrotem Kopf neben der Pinnwand. Ihre blond gesträhnten Haare sahen zerzaust aus, und sie schrie Lukas Meister an, der ganz vorne saß und mit hochgezogener Braue die Nägel seiner linken Hand musterte. Seine arrogante Haltung schien Inka noch mehr in Rage zu bringen, denn sie ging ein paar Schritte auf ihn zu und hielt ihr Gesicht direkt vor seines, während sie ununterbrochen weiterschrie.
Schnell ging Kathleen zu dem freien Platz neben Alex und setzte sich. »Worum geht’s denn? Ich versteh kein Wort von dem Gebrüll. Ist das die Fortsetzung von vorhin?«, raunte sie ihm zu.
Der Geräuschpegel hatte jetzt noch mehr zugenommen, denn inzwischen brüllte Lukas zurück, während Michael Varenke versuchte, beschwichtigend auf die Streithähne einzuwirken.
»So richtig hab ich es auch noch nicht erfasst, aber offenbar ist der Einsatz, den Inka und Lukas zusammen hatten, nicht ganz so gut gelaufen wie erwartet.« Ein leichtes Grinsen huschte über sein Gesicht.
»An wem das wohl gelegen haben mag? Ist doch so ein umgängliches Kerlchen, unser lieber Lukas«, flüsterte Kathleen.
Die Szene dort vorn sah eigentlich recht witzig aus, denn auch Lukas hatte sich erhoben und brüllte breitbeinig vor Inka stehend zurück. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Es fehlte nur noch, dass die beiden Kollegen aufeinander losgingen wie das Federvieh beim Hahnenkampf. Um sie herum hüpfte ihr Chef Michael Varenke und bemühte sich, sie zu beschwichtigen, allerdings ohne nennenswerten Erfolg. Die Szene hätte sicher noch eine Weile so weitergehen können, hätte sich nicht die Tür erneut geöffnet.
Eine kleine Frau kam mit einer ungeheuren Energiewelle in den Raum. Ihre dunkelbraunen Haare hingen aus einem wirren Knoten auf ihrem Kopf auf die Schultern herunter, die von einem hellrosa Strickjäckchen bedeckt waren. Einen Augenblick sah sie sich das Geschehen an, dann rief sie: »Ruhe!« Erstaunt blickten sich die Streithähne vor der Pinnwand um. Doch das Persönchen sah sie nur mit gerunzelter Stirn an und sagte dann in normalem Tonfall: »Wenn Sie so vorgehen, wundert mich nicht, dass Sie weiterhin im Dunkeln tappen, Herr Varenke!«
Der Angesprochene öffnete den Mund, wohl um etwas zu erwidern, schloss ihn aber gleich wieder und deutete mit der Hand auf einen freien Stuhl. »Frau von Keitenburg. Das ist ja eine Überraschung.«
»Erstaunlich! Ich bin davon ausgegangen, dass Sie mich bereits erwarten würden.«
Michael Varenke wurde ein wenig blass, sagte aber nichts, sondern zog seinen Stuhl heran, während er Inka und Lukas ebenfalls bedeutete, sich zu setzen.
»Ja … es gab eine kleine … nun … wie können wir Ihnen behilflich sein, Frau von Keitenburg?«, stotterte er ein wenig hilflos, während er immer wieder seine Krawatte glättete.
»Das wiederum liegt meines Erachtens auf der Hand, Herr Varenke. Finden Sie meinen Vater, nicht mehr und nicht weniger. Und ein bisschen wirkungsvoller als bisher.« Die kleine Person drapierte sorgfältig ihren langen Mantel über die Stuhllehne und nahm Platz. Langsam legte sie ihre Mütze und die aufeinandergelegten Handschuhe auf die Seite des Tisches und sah sich um. Alex wusste nicht, woran es lag, aber diese winzige Frau strahlte die Energie eines Wirbelsturmes aus. Vielleicht war es ihre aufrechte Haltung oder der unbeugsame Blick. Sie wirkte irritierend, aber irgendwie sympathisch.
»Darf ich?«, fragte sie und zog mit klimpernden Armbändern eine auf dem Tisch stehende Tasse und die danebenstehende Thermoskanne zu sich.
»Aber natürlich. Milch? Frank, wenn du für Frau von Keitenburg …«, begann Michael Varenke, der jedoch jäh von der zierlichen Frau unterbrochen wurde.
»Nein, vielen Dank. Ich habe Mandelmilch dabei. Kommen wir zu Sache. Haben Sie nach diesem interessanten Auftritt ihrer zwei Kollegen hier wenigstens eine Spur von meinem Vater?« Sie warf ihren intensiven Blick wieder Varenke zu, bevor sie vorsichtig an ihrer Tasse nippte.
»Nun, darüber haben wir gerade gesprochen. Offenbar waren die Herrschaften nicht sonderlich auskunftsfreudig«, stammelte er.
»Ach Quatsch. Die haben uns auflaufen lassen. Da kommt keiner voran. Die lassen dich auf Granit beißen, diese Adelsbande«, schaltete sich jetzt Lukas ein.
»Tja, wenn man so dermaßen auf dicke Hose macht wie der Kollege Meister hier, ist das ja kein Wunder!«, sagte Inka.
Lukas’ Kopf wandte sich blitzschnell um. Ihm war anzusehen, dass er zu einer pampigen Erwiderung ansetzte, doch Alex kam ihm zuvor. »Es wäre vielleicht ganz sinnvoll, wenn mal jemand berichten könnte, worum es überhaupt geht, bevor sich hier weiter die Köpfe eingeschlagen werden.«
Alle wandten sich ihm zu.
»Ach so, ihr wisst ja noch gar nicht … also gut, wer möchte berichten? Inka vielleicht?«, sagte Michael Varenke und schob sichtlich nervös seine Brille hoch.
Inka Temming löste den Blick von ihrem Kontrahenten, atmete tief aus und erklärte dann: »Felix Graf von Keitenburg ist seit einer Woche verschwunden. Die Umstände seines Verschwindens sind ein wenig undurchsichtig. Lukas und ich sind seit Tagen an dem Fall dran, aber diese Adeligen um ihn herum mauern massiv. So etwas Verschlossenes ist mir echt noch nicht untergekommen. War vielleicht auch nicht sonderlich hilfreich, mit diesem Macho dort aufzukreuzen, der Manieren noch nicht mal buchstabieren kann.« Wieder blitzte sie Lukas an.
»Ja, ja, schön. Vielen Dank. Nun sind ja alle informiert. Dann werden wir mal überlegen, wie wir weiter vorgehen«, sagte Varenke.
»Da die bisherige Vorgehensweise offenbar nicht erfolgversprechend ist, muss etwas Anderes passieren. Und zwar besser heute als morgen«, schaltete sich die Adelige ein, die bisher ruhig ihren Kaffee getrunken hatte.
»Ja, sicher. Und woran haben Sie da gedacht?«, fragte Varenke, während er sich mit einem Stofftaschentuch die Schweißperlen von der Stirn tupfte.
»Na, undercover. Haben Sie nicht den Film von der Misswahl gesehen? Wenn die Polizei sich unauffällig einschleust in unsere Welt, ist das die einzige Möglichkeit, etwas Verwertbares herauszubekommen«, erwiderte sie, während sie entschlossen ihre Kaffeetasse abstellte.
»Undercover?« Varenke sah die kleine Frau mit aufgerissenen Augen an. »Ungewöhnliche Vorgehensweise, machen wir sonst eher im Rockermilieu … Aber: Ja, zumindest ist das eine Überlegung wert.«
Während Alex in die Pedale trat, um nach einem wirklich langen Arbeitstag endlich nach Hause zu kommen, spürte er Ärger in sich aufwallen. So eine blöde Idee wie von dieser Frau, deren Namen er schon wieder vergessen hatte, hatte er lange nicht mehr gehört. Undercover. Sie waren doch hier nicht in Hollywood oder bei den Hells Angels. Er musste einem Auto ausweichen, das aus einer Einfahrt schoss. Gott sei Dank war noch kein Eis auf den Straßen, denn dann wäre er definitiv gestürzt. Er verstärkte seinen Griff um den Lenker, der trotz der Handschuhe eine eisige Kälte ausstrahlte. Wenn es weiter so kalt blieb, würde er über kurz oder lang auf die U-Bahn umsteigen müssen.
Offenbar hatten Inka und vor allem Lukas die Ermittlungen bei den ganzen Adeligen mit ihrer Trampeligkeit in den Sand gesetzt. Schlimmer noch war aber dieses devote Verhalten von Michael. Er hatte keine Ahnung, was mit seinem Chef passiert war, aber in den letzten Wochen erschien er irgendwie … weichgespült. Doch morgen früh würde er das Ganze überschlafen haben und feststellen, wie dumm die Idee eigentlich war.
Alex zog seinen Schlüsselbund aus der Jackentasche und schloss die Tür auf. Glücklicherweise war der Aufzug schon im Erdgeschoss, und das übliche Gewürge, um das Fahrrad in den zu kleinen Lift zu quetschen, lief heute auch erstaunlich reibungslos. Blieb nur die Frage, was er heute Abend essen sollte, denn der eigentliche Plan war ja gewesen, sich beim Kochkurs den Bauch genussvoll vollzuschlagen, für den es jetzt allerdings zu spät war.
Noch während Alex sich aus dem Fahrstuhl schob, um dann das Rad vorsichtig wieder in die Waagerechte zu bringen und das Vorderrad gerade zu stellen, hörte er die gegenüberliegende Tür aufgehen. Auch das Surren der Räder des Rollstuhls war nicht zu überhören, doch Alex gab sich große Mühe, nicht den Kopf zu wenden, um das Unvermeidliche wenigstens ein paar Sekunden hinauszuzögern.
Frau Wolf nahm jedoch keine Rücksicht auf seine Pläne.
»Wolltest du heute nicht zum Kochkurs? War ja ein kurzes Vergnügen!«, sagte sie mit lauerndem Unterton in der Stimme.
Alex war weiter mit der Befreiung seines Fahrrades beschäftigt, das sich jetzt ungünstigerweise ein wenig verkeilt hatte. Er presste die Lippen zusammen, schließlich war absolut klar, was jetzt kommen musste.
»Sag bloß, du warst nicht da. Alexander, du hast es versprochen. Ich hab Susa mein Wort gegeben, dass ich deine Bemühungen überwache. Es geht nicht, dass …«
»Ich musste länger arbeiten«, unterbrach er sie unwirsch. Endlich machte das Rad einen Ruck und war draußen. Er stellte sich vor Frau Wolf und atmete geräuschvoll aus, bevor er fortfuhr: »Stress im Schloss, sozusagen. Kann ich jetzt bitte vorbei? Ich muss duschen und bin müde.«
Frau Wolf sah ihn prüfend an, dann huschte ein Grinsen über ihr Gesicht. »Ich geb dir zwanzig Minuten, dann ist das Gulasch aufgewärmt. Du hast doch noch nichts gegessen heute, oder?«, sagte sie, während sie sich bereits umdrehte und in ihre Wohnung zurückrollte. »Zwanzig Minuten, beeil dich!«
Ein warmes Gefühl breitete sich in Alex’ Magengrube aus. Man konnte von Frau Wolf denken, was man wollte, aber sie hatte unleugbar eine überaus fürsorgliche Ader, und ihr Gulasch war göttlich. Er musste sich beeilen, schließlich wollte er auch noch Susa anrufen und erfahren, wie es ihr jetzt ging. Hoffentlich besser. Es war kein gutes Gefühl, für ihr Unwohlsein mit verantwortlich, aber so weit weg von ihr zu sein, dass er ihr nicht helfen konnte.
Zweiundzwanzig Minuten später stand er frisch geduscht vor Frau Wolfs Tür und klingelte. Offenbar hatte sie dahinter gewartet, denn sie öffnete sofort.
»Du bist zu spät.« Ihr Ton war anklagend und ihr Blick, bevor sie den Rollstuhl wendete, drückte ihre ganze Missbilligung aus, doch der Geruch, der Alex aus der Küche in die Nase stieg, machte all ihren Unwillen wieder wett.
Und das Essen war wirklich fantastisch. Nach zweieinhalb Portionen fühlte Alex sich pappsatt, aber auch glücklich. Sogar die Tatsache, dass Susa sich immer noch unwohl fühlte, bedrückte ihn ein kleines bisschen weniger. Das Gespräch plätscherte ein wenig vor sich hin, bis das Vanilleeis mit heißen Kirschen, das Frau Wolf zum Nachtisch serviert hatte, vertilgt war.
»Also Butter bei die Fische, Alexander. Warum hast du es nicht zum Kochkurs geschafft? Was soll ‚Stress im Schloss‘ bedeuten?«, fragte sie ein wenig atemlos.
»Frau Wolf, Sie wissen doch, dass ich zu Verschwiegenheit verpflichtet …«
»Ja, ja, papperlapapp, nun sag schon, ich verrat’s auch keinem, Alexander.«
»Das ist Ihre Strategie, Frau Wolf, stimmt’s? Erst füllen Sie mich mit gutem Essen ab, dann entlocken Sie mir wollüstig dienstliche Informationen, ist es nicht so? Sie gerissenes Weib! Apropos: Was ist mit Ihrer Einkaufsliste? Sie brauchen doch bestimmt mal wieder was, oder?«
Doch Frau Wolf wischte seine Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite. »Darüber reden wir später. Also: Was war los?«
Und schon begann er zu erzählen: von der zu kurz geratenen Frau mit den wirren Haaren, von dem ungeklärten Verschwinden ihres Vaters, von den missglückten Ermittlungen. Natürlich ließ er Namen und nähere Angaben weg, aber Frau Wolf war auch so schon Feuer und Flamme.
»Ein Adeliger, sagst du? Das ist aber spannend«, frohlockte sie mit roten Backen.
»Frau Wolf, ich muss nicht extra betonen, dass das Ganze selbstverständlich unter uns bleibt. Es ist schon beschämend genug, dass der Chef ernsthaft über einen Undercover-Einsatz im Schloss nachdenkt. Wie soll denn das gehen? Diese hochnäsigen Typen mit ihrem Standesdünkel. Ich dachte, die kennen sich alle untereinander?«
»Selbstverständlich, die stehen alle im Gotha. Das ist das Genealogische Handbuch des Adels, das festlegt, wer zum Adel gehört und welchen Rang er einnimmt, obwohl der Adelsstand eigentlich seit 1919 abgeschafft ist. Aber ich würde keine Sekunde zögern, wenn man mir das Angebot machte, undercover in der Adelswelt zu ermitteln. So eine Chance bekommst du doch nie wieder, so dicht an den Adel ranzukommen. Es wundert mich nicht, dass deine beiden Kollegen nicht erfolgreich waren. Was glaubst du, wie enorm der Zusammenhalt in den adeligen Familien ist? Die haben ihren Stand, der eigentlich schon fast ein Jahrhundert abgeschafft ist, nur deshalb über die Zeit retten und diese Faszination aufbauen können. Da gelten Traditionen und Werte noch etwas. Ohne Geheimnisse keine Spannung, verstehst du?«