4,99 €
Preußen, 1817: Charlotte von Cossin ist - zum Missfallen ihrer Familie - fest entschlossen, nicht zu heiraten, sondern ihr Leben der Wissenschaft zu widmen. Doch dann trifft ihr neuer Hauslehrer Philipp von Lotz auf Gut Cossin ein – und ihr Entschluss wird auf eine harte Probe gestellt. Obwohl er deutlich älter ist als sie, entwickelt sich schnell eine Freundschaft zwischen ihnen und Philipp eröffnet ihr die Möglichkeit, endlich einen Fuß in die ersehnte Welt der Gelehrten zu setzen. Plötzlich treffen auch noch ergreifende Briefe eines mysteriösen Verehrers ein und bringen Charlotte ganz durcheinander. Wer steckt dahinter? Und wird es dem klugen, aber schüchternen Philipp gelingen, ihr Herz zu erobern und ihren Entschluss ins Wanken zu bringen? Eine berührende und bezaubernde historische Liebesgeschichte mit großen Gefühlen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Inhalt
Das Buch
Die Autorin
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Epilog
Nachwort
Über die Autorin
EIN FAST TADELLOSER GRAF
DIE COSSIN-SAGA
BUCH ZWEI
Preußen, 1817: Charlotte von Cossin ist - zum Missfallen ihrer Familie - fest entschlossen, nicht zu heiraten, sondern ihr Leben der Wissenschaft zu widmen. Doch dann trifft ihr neuer Hauslehrer Philipp von Lotz auf Gut Cossin ein – und ihr Entschluss wird auf eine harte Probe gestellt. Obwohl er deutlich älter ist als sie, entwickelt sich schnell eine Freundschaft zwischen ihnen und Philipp eröffnet ihr die Möglichkeit, endlich einen Fuß in die ersehnte Welt der Gelehrten zu setzen. Plötzlich treffen auch noch ergreifende Briefe eines heimlichen Verehrers ein und bringen Charlotte ganz durcheinander. Wer steckt dahinter? Und wird es dem klugen, aber schüchternen Philipp gelingen, ihr Herz zu erobern und ihren Entschluss ins Wanken zu bringen?
Kristina Herzog studierte Jura und Mediation in Berlin und Heidelberg. Neben Kurzgeschichten in Anthologien und Zeitschriften hat sie Kriminalromane und einen Politthriller veröffentlicht. Schon immer galt ihr besonderes Interesse jedoch der Geschichte und den persönlichen Schicksalen der Menschen aus historischer Perspektive. Nach drei Bänden der Sternberg-Saga und »Ein fast perfekter Herzog«, dem ersten Band der Cossin-Saga, ist „Ein fast tadelloser Graf“ Kristina Herzogs fünfter historischer Roman und der zweite Band der romantischen Cossin-Saga.
EIN FAST
TADELLOSER
GRAF
Die Cossin-Saga
ROMAN
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024
By Kristina Herzog, Berlin
All rights reserved
Alle Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Kein Teil dieses Buchs darf ohne schriftliche Genehmigung der Autorin vervielfältigt, veröffentlicht, bearbeitet oder übersetzt werden. Ausnahme sind kurze Zitate in Buchbesprechungen.
Dieses Buch ist fiktional. Insbesondere Namen, Charaktere und Handlungen entspringen ausschließlich der Fantasie der Autorin. Alle Ähnlichkeiten zu lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und unbeabsichtigt.
Umschlaggestaltung und -motiv: GM Book Covers Design
Lektorat: Verlorene-Werke, Daniela Höhne
Korrektorat: Veronika Moosbuchner
ISBN 978-3-910798-04-5 (eBook)
ISBN 978-3-910798-05-2 (Print)
www.kristinaherzog.de
Anmeldung zu Kristinas Newsletter:
www.kristinaherzog.de/newsletter
Für alle, die es lieben, im Regen zu tanzen,
Seifenblasen hinterherzujagen
und sich in andere Welten zu träumen.
C
harlotte von Cossin wäre am liebsten aufgestanden und hätte sich verabschiedet.
Sie seufzte, aber nur leise, und lockerte unauffällig die verspannten Schultern. Geschlagene neunzehneinhalb Minuten saß sie bereits hier und lauschte den phlegmatischen Interessensbekundungen des ihr gegenübersitzenden Jünglings.
»Ich persönlich liebe ja die Wildschweinjagd«, ließ er sie wissen. Sie nickte höflich, enthielt sich aber einer Antwort. Was hätte sie dazu auch sagen sollen?
Ferdinand von Nauenstetten war ein netter Kerl, aber die Gespräche mit ihm konnten mit viel gutem Willen allenfalls als schwerfällig bezeichnet werden. Sie konnte ihm ansehen, wie er fieberhaft nach einem Thema suchte, mit dem er sie beeindrucken konnte.
Dabei hatte sie so viel Wichtigeres zu tun! Die Abhandlung über Rosenquarz wartete. Es drängte Charlotte, alles darüber herauszufinden und sie hatte fest damit gerechnet, sie heute abschließen zu können. Sie brauchte dringend etwas Fertiges, um endlich von der Wissenschaftswelt wahrgenommen zu werden. Mit dieser Arbeit würde sie beweisen können, dass sie dazugehörte und man sie als Geologin ernst nehmen musste.
Stattdessen saß sie hier im Salon und hoffte, dass ihr Besucher bald genug von ihrer Gesellschaft haben und gehen würde. Mit gesenktem Kopf spielte sie an den ausladenden Ärmeln ihres luftigen Sommerkleides herum, während Ferdinand über die Vorteile der Jagd auf Wildschweine gegenüber der auf Vögel philosophierte. Charlotte seufzte laut, um ihren Unmut darüber zu signalisieren. Sie war für Derartiges nicht geeignet. Ihr fehlte die Weichheit und Hingebungsfähigkeit einer typischen Frau. Es war ihr ein Rätsel, warum das den Herren nicht gleich auffiel und sie dafür erst mehrere enervierend lange Besuche bei ihr benötigten, bis sie endlich das Weite suchten.
Sofort räusperte sich Maman hörbar. Charlotte wandte den Kopf und sah sich nach ihr um. Ihre Mutter hob leicht die Augenbrauen. Das genügte, um ihrer Tochter deutlich zu machen, dass es kein Entkommen gab. Charlotte drehte sich wieder ihrem Gast zu und sah ihn mit einem breiten Lächeln an. Wenn sie hier schon nicht wegkam, wollte sie wenigstens das Gespräch auf interessantere Dinge lenken. »Haben Sie auf dem Grund Ihres Vaters schon einmal Grabungen durchgeführt?« Die Frage war ihr eben in den Kopf gekommen. Ferdinands Reaktion ließ sie ihre Unbedachtheit unverzüglich bereuen. Maman würde nicht erfreut sein, wenn sie das hier sah.
Er zuckte zurück, als hätte er in einen unreifen Apfel gebissen und blinzelte nervös. »Äh, wie bitte?«, fragte er mit unsicherer Stimme.
»Grabungen, … um die Bodenschichten zu untersuchen oder nach besonderen Steinen und Fossilien zu suchen«, erklärte Charlotte.
Er schüttelte hastig den Kopf. »Nein! Warum auch?« In seiner Hilflosigkeit tat er ihr fast schon leid.
»Ach, es war nur ein Gedanke«, winkte sie ab.
»Haben Sie so etwas schon einmal getan?« In seinem Gesicht und seiner Haltung war seine Verwirrung beinahe greifbar.
Charlotte strahlte auf. »O ja, des Öfteren.«
Er nickte, aber in seinen Augen stand Befremden. Sie spürte die Notwendigkeit, ihm nähere Erläuterungen zu geben. »Ich hege ein ausgeprägtes Interesse für die Geologie«, erklärte sie.
Er zuckte zurück, als hätte ihn etwas gebissen. Dann rang er sich ein gequältes Lächeln ab und erhob sich langsam, den Blick nicht von ihr lösend, als könne sie jeden Moment aufspringen und sich wie eine Schlange auf ihn stürzen.
»Ich fürchte, ich habe Sie schon viel zu lange aufgehalten, Fräulein von Cossin. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag«, sagte er förmlich und hektisch zugleich. Danach drehte er sich gehetzt um und stürmte aus dem Salon. Er hatte nicht einmal ihren Abschiedsgruß abgewartet.
Charlotte lehnte sich erschöpft auf dem Sofa zurück, auf dem sie vorschriftsmäßig aufrecht gesessen hatte, und seufzte erleichtert auf. Sie hätte die Geologie schon viel früher ansprechen sollen, dadurch wäre ihr viel erspart geblieben. Es war ihr unerklärlich, was die Herren ermutigte, sie heimzusuchen. Früher hatte sich niemand für sie interessiert. Nur ihre älteste Schwester Friederike hatte einige Verehrer gehabt, bevor sie den Herzog von Ritteysen geehelicht hatte. Seitdem jedoch gaben sich mögliche Aspiranten um ihre Gunst die Klinke in die Hand. Sie konnte sich das selbst nicht erklären, schließlich war sie keineswegs erpicht darauf, zu heiraten und hatte dementsprechend niemanden dazu ermutigt, ihr den Hof zu machen. Sie hatte keinerlei Interesse an jedweder amourösen Verwicklung.
Zudem war keine große Mitgift bei einer Eheschließung zu erwarten. Erst seit Kurzem war Gut Cossin schuldenfrei. Die Zucht, die Friederike begonnen hatte, obwohl sie seit ihrer Heirat mit Leopold vor einigen Monaten gar nicht mehr hier wohnte, lief zwar vielversprechend an. Allerdings war es unwahrscheinlich, dass in Bälde mit großen Reichtümern zu rechnen war.
Sie hatte sich vor einiger Zeit geschworen, unverheiratet zu bleiben und ihr Leben der Wissenschaft zu widmen. Genauer gesagt: der Geologie. Seit sie denken konnte, war sie fasziniert von der Geschichte der Erde und ihrer Entstehung, Fossilien und vor allem jeglicher Art von Gestein. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie all die männlichen Besucher gar nicht erst empfangen, sondern sie stante pede fortgeschickt. Deren Begehr würde ohnehin erfolglos sein und diese endlosen oberflächlichen Unterhaltungen ermüdeten Charlotte allzu sehr.
Allerdings spielte Maman da nicht mit. Sie hatte ganz andere Vorstellungen von Charlottes Zukunft und ihr verboten, jedem Besucher direkt mitzuteilen, dass sie eine Eheschließung nicht in Betracht zog. Es sei unhöflich, die Herren derartig vor den Kopf zu stoßen, meinte sie. Charlotte wäre das egal gewesen, sie hatte die Mannsbilder ja nicht hergebeten. Darüber hinaus langweilten sie Charlotte mit ihrem banalen Geschwätz fürchterlich. Sie gab sich Mühe, höflich und zuvorkommend zu bleiben. Dennoch strebte sie regelmäßig an, das Gespräch auf erquicklichere Themen wie die Wissenschaft und im Idealfall direkt auf die Geologie zu lenken. Für gewöhnlich erntete sie daraufhin nur irritierte Blicke und stirnrunzelnde Unterbrechungen des Geprahles über Landgüter, Beziehungen, erfolgreiche Jagden und Pferdebesitz.
Jetzt, da sich die Tür hinter Ferdinand von Nauenstetten endlich geschlossen hatte, spürte sie Erleichterung. Charlotte atmete befreit auf. Maman saß am Nähtisch. Sie hatte Charlotte die ganze Zeit im Auge behalten. Missbilligend schüttelte Maman den Kopf.
»Du solltest dir mehr Mühe geben, mein Kind. Wie willst du denn einen Mann an dich binden, wenn du so abweisend bist und alle mit deinem Gerede über die Wissenschaft verschreckst?«
»Aber ich will gar keinen Mann. Ich frage mich ohnehin, warum all diese Herren hier auftauchen.«
»Du bist bildhübsch und blitzgescheit. Manchmal vielleicht ein bisschen zu sehr. Nicht jeder kann etwas mit diesem neumodischen Forschungskram anfangen, das darfst du nicht vergessen, Charlotte.«
Mutter hatte ihr Stickzeug beiseitegelegt und war zu ihr hinübergekommen. Bevor sie sich neben sie auf das kleine Chintz-Sofa mit den aufwendig geschnitzten Beinen setzen konnte, war Charlotte aufgesprungen. Dieses Gerede über ihr Aussehen war ihr unangenehm. Sie empfand sich selbst in keiner Hinsicht als außergewöhnlich, ausgenommen ihr wissenschaftliches Interesse vielleicht. Vielmehr schien sie den Menschen häufig lästig in ihrer Begeisterung für Wissen und Bildung, mit dem sie überall aneckte. Es war ihr bewusst, dass sie sich in dieser Hinsicht deutlich von anderen jungen Damen unterschied.
Auf Bällen und anderen gesellschaftlichen Anlässen wurde ihr diese Tatsache besonders peinigend bewusst. Während die Mehrzahl der weiblichen Ballgäste ihres Alters sich darin erging, die unverheirateten Männer anzuschmachten und sich mit ihnen innerhalb der von der Etikette erlaubten Grenzen zu amüsieren, hatte Charlotte viel mehr Spaß daran, sich mit den Herren über spannendere Themen auszutauschen. Sie redeten über Dinge wie Politik und das Schicksal Napoleons. Besonders gerne aber sprach sie mit ihnen über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Charlotte vermutete, dass die Besucher deswegen herkamen. Es erschien ihnen spannend und exotisch, wie Charlotte auftrat und war weniger einem romantischen Interesse geschuldet. Wahrscheinlich malten sie sich aus, dass ein Leben mit Charlotte an ihrer Seite unterhaltsamer wäre. Allerdings war sie niemand, der sich als Schoßhündchen eignete, das zur Unterhaltung aller vor- und anschließend weggeführt wurde, damit es bei den wichtigen Gesprächen nicht störte. Dennoch wurde sie von den anderen jungen Damen gemieden und nicht beachtet. Nie gehörte sie irgendwo dazu, wenn man die Köpfe zusammensteckte und kicherte. Sie war eher die Person, über deren Verhalten gelacht wurde. Das war kein schönes Gefühl und hatte dazu geführt, dass sie Leuten, die nicht zur Familie gehörten, grundsätzlich misstraute. Vor allem den Männern, die scheinbar um ihre Gunst buhlten, sich aber hinter ihrem Rücken danach mit großer Wahrscheinlichkeit mit ihren Schwestern über sie lustig machten.
Aber wenn alle Stricke rissen, hatte sie ja ihre eigenen Schwestern. Zumindest Luise, die nur ein knappes Jahr jünger war als Charlotte, stand ständig bereit, um ihr aus einer schwierigen sozialen Situation zu helfen. Emmeline und Henriette waren mit ihren knapp siebzehn Jahren zu jung und kamen für eine so diffizile Aufgabe nicht in Betracht. Friederike war, vor allem seit sie verheiratet war und neben der Zucht ebenfalls ihren Pflichten als Herzogin nachzukommen hatte, zu beschäftigt.
»Es gibt nichts Spannenderes als die Wissenschaft«, bemühte sich Charlotte, Maman zu überzeugen.
Ihre Mutter rollte in gespielter Verzweiflung die Augen. »Das sagst du«, entgegnete sie gedehnt. Ihr auch nach den vielen Jahren in Preußen weiterhin hörbarer französischer Akzent verlieh ihren Worten einen melodiösen Klang. Allerdings war Charlotte bewusst, dass Maman das keineswegs so spielerisch meinte, wie es sich anhörte.
»Ich kann nichts dafür, dass ich mich für andere Dinge interessiere als andere Frauen. Es ist mir jedoch durchaus bewusst, dass mich das nicht sehr liebenswert macht.« Sie fühlte sich zunehmend verzweifelt. Wie oft schon hatten sie diese Diskussion geführt, ohne dass Maman nur einen Zoll mehr Verständnis für Charlotte aufgebracht hatte.
»Männer mögen das, was sie kennen. Und Frauen, die mehr wissen als sie, sind ihnen unheimlich. Es ist an uns, Vorlieben und Wesenszüge, die diesem männlichen Bedürfnis nach Kontrolle und Überlegenheit entgegenstehen, zu unterdrücken. So sehr du es dir auch wünschst, Charlotte, wirst du das nicht ändern können.«
Maman lächelte plötzlich und strich ihr übers Haar. »Gräme dich nicht, meine Liebe, manche Dinge muss man so akzeptieren, wie sie eben sind.«
Charlotte verzog den Mund zu einem Lächeln, obwohl ihr im Grunde ihres Herzens gar nicht danach war.
Maman machte sich etwas vor, wenn sie glaubte, dass irgendein Kandidat sie haben wollte, hatte er sie erst einmal richtig kennengelernt. Bemerkten die jungen Männer ihr wahres Selbst, waren sie schneller verschwunden als die Pferde zur Fütterungszeit an ihre Raufen. Sie war einfach zu direkt und hatte ungewöhnliche Vorlieben für eine Frau. Wahrscheinlich würde sich Charlotte, wäre sie ein Mann, selbst nicht erwählen. Aber gerade aus diesem Grund hatte sie sich entschieden, ihr Herz ausschließlich der Wissenschaft zu schenken.
»Es ist mir bewusst, dass die Gesellschaft verlangt, sich zu verstellen und anzupassen. Aber was für ein Armutszeugnis ist es, dass ich als Frau alle meine Begabungen und Talente verstecken muss, um sozial nicht ausgegrenzt zu werden und am Ende allein dazustehen?«
Maman zuckte mit resigniertem Gesichtsausdruck mit den Schultern. Sie strich sich über den makellosen Rock und überlegte einen Augenblick, bevor sie ihr antwortete: »Es ist eine Sache, dieses Manko zu erkennen. Aber wahre Klugheit zeigt sich, wenn man in der Lage ist, sich den Anforderungen anzupassen, um ein angenehmes Leben zu führen.«
Charlotte grinste. »Du vergisst, dass ich das dank Tante Tilly nicht mehr nötig habe.«
Maman rollte mit den Augen und stöhnte dramatisch. »Du weißt, was ich über dieses Arrangement denke.« Sie beugte sich vor, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Denk bloß nicht, dass du durch diesen Handel unabhängiger bist. Du machst dich nur statt von einem Mann von Tilly abhängig. Und darüber hinaus sind ihre Bedingungen fast unerreichbar.«
»Ein Grund mehr, alles daranzusetzen, sie zu erzielen.« Sie zwinkerte Maman zu. Sie war fest entschlossen, dafür zu kämpfen, dass sie sich weiter mit ihrem Steckenpferd, der Gesteinskunde befassen konnte. Sie wollte nicht auf die Bedürfnisse und Anforderungen eines vermeintlichen Ehemannes Rücksicht nehmen müssen. Tante Tilly war bereit, ihr diesen Traum zu ermöglichen, denn Charlotte war seit Jahren ihr erklärter Liebling. Die reiche Schwester ihrer Mutter hatte ihr versprochen, dass sie für ihren Lebensunterhalt aufkommen würde, sollte sie in der Lage sein, sich in der Welt der Wissenschaft zu behaupten. Natürlich hatte ihre Tante diesen Handel an konkrete Bedingungen geknüpft: Zum einen musste sie es schaffen, als Rednerin zu Geologie-Symposien eingeladen zu werden. Darüber hinaus bestand Tante Tilly darauf, dass Charlottes Ruf untadelig bliebe. Sie dürfe nicht wegen irgendwelcher fragwürdigen Verbindungen oder eines möglichen Fehltritts ins Gerede kommen, wollte sie das Erbe der Tante antreten. Im Grunde wäre es am besten, wenn sie sich von Männern generell fernhielte. Charlotte war bereit, all das zu erfüllen. Sie würde ihr Leben der Wissenschaft widmen.
Tante Tilly, die regelmäßiger Gast auf Gut Cossin war, wenn sie sich von ihren Verpflichtungen in Dijon, ihrer französischen Heimat, frei machen konnte, hatte keine eigenen Kinder. Nur ihr äußerst verzogenes Schoßhündchen Dauphin, das verhätschelt wurde wie ein Prinz. Außerdem waren ihre Zofe Lysandra und andere Bedienstete ihre ständigen Begleiter. Alle hier rollten mit den Augen, wenn ein erneuter Besuch der Tante angekündigt wurde. Die Tante neigte zu übermäßigen Ermahnungen und Einmischungen in Dinge, die sie nichts angingen. Nur Charlotte freute sich. Allerdings war sie neben Mutter wahrscheinlich die Einzige.
Vor ein paar Tagen war ein Brief eingetroffen, in dem Tante Tilly eine erneute Visite angekündigt hatte. Vater und ihre Geschwister zitterten schon jetzt davor, inwieweit dieser Besuch ihren geruhsamen Tagesablauf hier auf Gut Cossin in Unruhe bringen würde.
Charlotte hatte die Nachricht dagegen in Hochstimmung versetzt. Dadurch würden die anstrengenden Herrenbesuche für eine Weile ein Ende haben. Denn nicht einmal Maman konnte verlangen, dass sich Charlotte durch diese Stunden quälte, wenn Tante Tilly alles mit Argusaugen im Blick behielt. Zwar hatte Charlotte in Tante Tilly stets eine zugewandte Zuhörerin für all ihre neuen Erkenntnisse, aber gewisse Aspekte ihres Lebens teilte sie lieber nicht mit ihr. Zumal diese Herrenvisiten Tante Tillys Bedingungen zuwiderliefen.
Inzwischen lag es fast zwei Jahre zurück, dass ihr die Tante den Vorschlag unterbreitet hatte, für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Das war aber nur das Sahnetüpfelchen auf der Torte von Charlottes Zuneigung.
»Wenn du nur endlich einen deiner zahlreichen Verehrer erhören wolltest. Dann müssten dein Vater und ich uns nicht mehr darum sorgen, dass du jeden mit deiner Willensstärke und deinem Hang zum rebellischen Denken vor den Kopf stößt«, seufzte Maman.
»Ach, Maman, du weißt, dass ich Tante Tillys großzügiges Angebot nicht abschlagen werde. Es wäre hilfreich, wenn ihr ebenfalls an meinen Erfolg glauben würdet.«
»Du meinst, wegen eures kleinen Kuhhandels? Wenn du wüsstest, was Tilly mir schon alles versprochen hat, als wir klein waren. Ihr Trick ist, dass sie die Bedingungen, die sie an ihre Versprechen knüpft, so hoch ansetzt, dass man sie niemals erfüllen kann.«
»Ich werde es schaffen!«
»Nun, so sehr ich es dir wünsche: Du warst noch nie auf einem Symposium. Ich glaube kaum, dass sie einer Frau erlauben werden, dort zu sprechen.«
»Wenn ich auf meinem Gebiet für mein Fachwissen anerkannt sein werde, können sie es mir kaum verwehren. Ich muss nur endlich dazu kommen, meine Abhandlung über den Rosenquarz fertigzustellen und zu veröffentlichen, anstatt dümmlich grinsend hier im Salon zu sitzen. Du wirst sehen, so kommen sie gar nicht darum herum, mich einzuladen.«
Maman zog eine Augenbraue empor. »Du weißt, dass Friederike jeden von euch um Hilfe gebeten hat? Der Vielzahl an neuen Pferden sind August und Benno allein nicht gewachsen.«
Charlotte verzog das Gesicht. »Das können doch die Jungs machen. Ich muss noch einige Versuche mit dem Stein machen, bevor ich …«
»Das läuft nicht weg. Wenn du nicht im Stall arbeiten möchtest, gibt es auf dem Heuboden oder der Weide mit Sicherheit ausreichend Arbeit.«
»Na schön!« Charlotte verzog den Mund. »Ich gehe mich umziehen.« Sie verkniff sich den Hinweis darauf, dass sich Henriette und Emmeline, die sechzehnjährigen Zwillinge, mit Sicherheit wieder kichernd aus dem Stall gestohlen hatten und in den ausladenden Garten gerannt waren. Die beiden versteckten sich dort irgendwo in einer stillen Ecke hinter einem Johannisbeerstrauch oder einem der Obstbäume und schwatzten über irgendwelche Belanglosigkeiten. Die zwei Schwestern konnten der verordneten Stallarbeit ebenso wenig abgewinnen wie Charlotte. Außer Fabian, dem Jüngsten, war ihre älteste Schwester das einzige ihrer Geschwister, das verrückt nach Pferden war. Zwar lebte Friederike mittlerweile auf Schloss Ritteysen, kam aber jeden Tag herübergeritten, um nach ihren Lieblingen zu sehen, die Zucht voranzutreiben und im Stall zu arbeiten. Und ihr Gatte Leopold schien nichts dagegen zu haben. Die beiden strahlten in Gesellschaft des anderen noch immer so, als hätten sie gerade in ein Honigbrötchen gebissen. Vor allem Leopold hatte sich seit ihrer Eheschließung deutlich verändert. Er war viel entschlossener, zupackender und weniger wankelmütig, als er es vor ihrer Hochzeit gewesen war. Offenbar taten die beiden sich gegenseitig sehr gut. Auch Friederike war viel gelassener und weniger ruppig, seit sie mit ihm verheiratet war.
Charlotte hatte andere Leidenschaften, aber nicht annähernd so viel Zeit, ihnen nachzugehen, wie sie es sich wünschte. Sie wollte unbedingt auf ein Symposium eingeladen werden und dort sprechen. Denn das würde bedeuten, dass nicht nur eine von Tante Tillys Bedingungen erfüllt wäre, sondern sie endlich von der Wissenschaftswelt als ein wichtiger Teil davon anerkannt würde. Einen Lichtblick gab es, von dem sie sich Unterstützung erhoffte: Vater hatte kürzlich einen neuen Hauslehrer engagiert, der heute eintreffen sollte. Charlotte war schon eine Weile nicht mehr in dem Alter, in dem Mädchen unterrichtet wurden. Aber allein die Vorstellung, nur gelangweilt im Salon herumzusitzen und Besucher zu empfangen oder auf dem Flügel zu klimpern und detaillierte und enervierende Stickarbeiten anzufertigen, einzig unterbrochen von der lästigen Stallarbeit, machte sie depressiv. Vater wusste von ihrer Vorliebe für Bildung. Nachdem sie ihn eine Weile umgarnt hatte, erteilte er ihr augenzwinkernd die Erlaubnis, am Unterricht teilzunehmen.
»Und Luise natürlich ebenso«, hatte er in seinem Anflug von Großzügigkeit hinzugefügt.
Charlotte hatte einen schnellen Blick hinüber zu ihrer Schwester geworfen. Luises Stirn lag in Falten und sie war drauf und dran, zu widersprechen. Charlotte gab ihr einen schnellen Wink, darauf zu verzichten. Im Gegensatz zu Charlotte war Luise nicht sonderlich erpicht auf mehr Bildung. Für eine Frau konnte man das Maß ihres Wissens mit Sicherheit als überdurchschnittlich einstufen. Denn auf Charlottes Drängen hin hatte keine von ihnen mit dem Besuch der Unterrichtsstunden aufgehört, als sie sechzehn waren. Das Alter hatten ihre Eltern als Grenze festgelegt. Die inzwischen einundzwanzigjährige Luise wäre zufrieden gewesen, sich nicht weiterhin mit Lateinvokabeln, Landkarten und mathematischen Gleichungen abplagen zu müssen. Da aber Charlotte darauf bestand, weiterzumachen und sie die Ältere der beiden war, blieb der armen Luise nichts anderes übrig, als ebenfalls am Unterricht teilzunehmen.
Hoffentlich besaß der neue Hauslehrer genug eigenes Wissen, damit er ihr noch etwas beibringen konnte. Alles, was sie über ihn wusste, war, dass es sich um einen gewissen Herrn von Lotz handelte und Vater ihn irgendwie ausfindig gemacht hatte. Aber das genügte schon, um ihre Hoffnung fürs Erste zu entfachen.
Als Charlotte sich, nachdem sie sich umgezogen hatte, dem Stall näherte, hörte sie schon lautes Singen und Lachen auf dem Hof. Unwillkürlich musste sie lächeln. Vater war eine Frohnatur und er schaffte es häufig, unangenehme Arbeiten mit Fröhlichkeit zu ummanteln, sodass sie deutlich weniger schlimm wirkten. Sie war sich sicher, dass er es gewesen war, der den Gesang angestimmt hatte. Ihr Stallmeister August konnte es gar nicht leiden, wenn die Stimmung im Stall brodelte. Er fürchtete, dass jemand in seinem Übermut etwas übersah oder eines der Tiere in Mitleidenschaft gezogen wurde, aber das war bisher nie passiert.
Charlotte konnte die helle Stimme ihres jüngsten Bruders Fabian hören, der mit seinen dreizehn Jahren noch nicht im Stimmbruch war. Auch Luises Lachen war deutlich zu erkennen. Sie war die Schwester, die ihr altersmäßig am nächsten stand. Sie hörte, wie Rochus, ihr fünfzehnjähriger Bruder, nieste. Der Arme litt regelmäßig, wenn er bei den Pferden im Stall war. Irgendetwas reizte seine Atemwege und ließ seine Augen zuschwellen. Aber es half nichts: Hier auf dem Hof wurde jede Hand gebraucht. Henriette und Emmeline hatten zurück in den Stall gefunden. Sie arbeiteten wie stets ganz in der Nähe der anderen. Obwohl sie Zwillinge waren, sahen sie einander nicht sonderlich ähnlich. Henriette war zwar ein paar Minuten älter als ihre Schwester, wirkte jedoch aufgrund ihrer geringeren Körpergröße mit ihrer dunkelblonden Wallemähne und den blauen Augen deutlich zerbrechlicher als die brünette Emmeline, deren Augen fast schwarz anmuteten. Die beiden hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Selten sah man eine von ihnen ohne die andere.
»Hejo, spann den Wagen an«, tönte es vielstimmig aus dem Stall.
Charlotte trat in das schummrige Gebäude und stimmte, ohne zu zögern, mit ein. Sofort drehten sich ihr sämtliche Pferde- und Menschenköpfe zu.
Vater kam mit einem zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht auf sie zu und hielt ihr laut »Holt die goldnen Garben, holt die goldnen Garben« schmetternd seine Mistgabel hin, während er Rochus bedeutete, die Schubkarre näher heranzufahren. Ihr Bruder kam der Aufforderung niesend nach. Trotz seiner leichten Unpässlichkeit ließ er sich nicht davon abhalten, hingebungsvoll mitzusingen.
Charlotte spürte, wie nach und nach die Anspannung der letzten halben Stunde, die die ermattende Unterhaltung mit Ferdinand von Nauenstetten mit sich gebracht hatte, von ihr abfiel. So war das eben mit einer großen Familie: Selbst wenn man gar nicht in der Stimmung war, wurde man meist mitgerissen – sowohl von guter als auch von schlechter Laune.
Sie begann, den Mist in die Schubkarre zu schaufeln.
»Na, wie hat dir dein neuer Verehrer gefallen?«, ertönte Luises Stimme dicht hinter ihr.
Charlotte schüttelte abwehrend den Kopf. »Es war kräftezehrend. Wieder einer, der nicht einmal das Wort Geologie kennt.«
Luise verdrehte die Augen. »Ich hoffe, du hast ihn deinen Unmut nicht zu sehr spüren lassen.«
»Dieses sinnlose Herumgerede ist so unglaublich belastend! So viele verlorene Stunden, die um ein Vielfaches besser hätten genutzt werden können.«
»Aber dafür kann der Arme doch nichts. Wenn sich erst einmal herumgesprochen hat, dass du nicht an einer Verbindung interessiert bist, wird der Strom an Bewerbern schon nachlassen.« Luise neigte mitfühlend den Kopf, während sie das Kinn auf den Griff ihrer Mistgabel stützte. Nun aber wandte sie sich um und rief ihrer ältesten Schwester über die Schulter zu: »Du schuldest mir einmal Ausmisten!«
»Hat sie schon wieder einen abblitzen lassen? Er sah ganz niedlich aus mit seiner Stupsnase und den himmelblauen Augen.« Friederikes Stimme tönte aus dem rückwärtigen Teil des Stalls zu ihnen herüber.
»Er konnte nichts mit ihren Steinen anfangen«, erklärte Luise laut rufend und wandte sich sodann grinsend wieder Charlotte zu.
Die überlegte gerade, ob sie ihre Schwestern wutentbrannt in den Mist stoßen oder es schaffen würde, deren fiese Spitzen einfach zu ignorieren.
»Seit sie hier nicht mehr wohnt, ist sie leichtgläubig geworden. Sie lässt sich viel einfacher über den Tisch ziehen.« Luise grinste.
Charlotte schüttelte stöhnend den Kopf. Es war nicht einfach mit so vielen Geschwistern. Und trotzdem liebte sie das Zusammensein mit ihnen. Meistens zumindest.
Philipp von Lotz zügelte nervös sein Pferd. Dort vorn lag schon der Hof der Cossins und er fragte sich, seit er heute früh losgeritten war, warum er sich bereit erklärt hatte, hierherzukommen. Er sollte einen Haufen Kinder unterrichten. War er mit seinen sechsunddreißig Jahren einer derartigen Strapaze überhaupt gewachsen? War er nicht zu alt für solche Aufregungen? Im Grunde seines Herzens mochte er den Umgang mit Fremden nicht sonderlich. Er war ein Eigenbrötler, der sich in die kompliziertesten wissenschaftlichen Abhandlungen vertiefen, aber kein lockeres Gespräch über das Wetter führen konnte.
Sein Vater machte sich darüber lustig, seit er ein Junge gewesen war. Ihn hatte das nie sonderlich gestört. Jetzt aber, da sich Vater eine neue, wesentlich jüngere Frau genommen hatte, taten diese Sticheleien plötzlich viel mehr weh. Schlimmer noch: Er fühlte sich zu Hause in seiner Bibliothek, die zeitlebens sein Heiligtum gewesen war, nicht mehr wohl. Es konnte ständig passieren, dass Else mit einem Summen auf den lächelnden Lippen und einer Hand auf dem schon üppig gerundeten Bauch hereinschneite und versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Diese Unterhaltungen hatten nur den Zweck, Philipp dumm dastehen zu lassen. Im Nachhinein machte sich Else dann mit Vater zusammen über ihn lustig.
Als Vater ihm verkündet hatte, wieder heiraten zu wollen und ihm Else vorstellte, hatte Philipp das Gefühl gehabt, seine Welt würde auf einen Schlag auf den Kopf gestellt. Solange er denken konnte, war er allein mit Vater gewesen. An seine Mutter, die viel zu früh verstorben war, hatte er nur vage Erinnerungen. Es war ihm noch nicht einmal bewusst gewesen, dass Vater auf der Suche nach einer neuen Frau gewesen war. Das Mädchen war jünger als er selbst. Sie könnte Philipps Schwester sein. War sie aber nicht. Stattdessen setzte sie sich neckisch auf Vaters Schoß, wenn sie nach dem Essen in den Salon gingen, sodass Philipp irritiert und ein wenig angewidert den Kopf wegdrehen musste. Eine derartige Zurschaustellung von Gefühlen war er nicht gewöhnt. Er selbst konnte sich nicht erinnern, jemals als kleiner Junge auf Vaters Schoß gesessen zu haben, geschweige denn, dass ihn Vater in den Arm genommen hätte. Vater hatte Nähe von jeher gemieden. Bei Else schien er seine Abneigung allerdings überwunden zu haben, denn er ließ es zu, dass sie sich auf ihn setzte wie auf ein Schaukelpferd. Er schmunzelte, tätschelte ihr den Hintern und umarmte sie ungeniert.
Philipp war entschlossen, es Vater zu beweisen. Zum einen, dass er sehr wohl in der Lage war, irgendwo anders zurechtzukommen und zum anderen, dass er als Wissenschaftler überall gern gesehen war. Vater hatte sich stets darüber lustig gemacht, wie gern Philipp sich in wissenschaftliche Abhandlungen vertiefte und regelmäßig kleine Exkursionen unternahm, um seine Rückschlüsse und Annahmen mit Hilfe der Natur zu beweisen. Zwar war Philipp es leid, ständig um Vaters Anerkennung zu kämpfen, dennoch bedeutete es ihm viel, Vater deutlich zu machen, dass mehr in ihm steckte, als dieser vermutete.
Philipp sah hinüber zu Gustav, seinem Kammerdiener, der ihn begleitete. Dieser hatte ebenfalls sein Tier angehalten und es auf eine Höhe mit Philipps gebracht.
»Wir sollten bald da sein.« Gustav nickte ihm aufmunternd zu. Wahrscheinlich konnte man Philipp sein Unbehagen an der Nasenspitze ansehen.
Philipp runzelte die Stirn und trieb sein Pferd mit einem Schnalzen und etwas Schenkeldruck erneut an.
Schon bald nach ihrer Hochzeit hatte sich Elses Bauch langsam gerundet; Philipp dachte mit Schaudern an die überaus peinliche Situation zurück, als Vater und sie ihm verkündet hatten, dass er ein kleines Geschwisterchen bekäme. Er war ein Mann in den Dreißigern, Herrgott! Es wäre an ihm selbst gewesen, eine eigene Familie zu gründen, aber dafür war er viel zu schüchtern. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, das heimische Elternhaus zu verlassen und einer Dame den Hof zu machen. Was, wenn sie ihn zurückwiese? Das würde er nicht ertragen. Er wusste, dass er kauzig und unbeholfen auf andere Leute wirkte, auch wenn das lediglich seiner fehlenden Übung auf dem gesellschaftlichen Parkett geschuldet war. Philipp hatte bewusst darauf verzichtet, sich eine Frau zu suchen oder ausschweifende Reisen zu unternehmen, weil er seinen Vater in seiner beständigen Trauer nicht alleinlassen wollte. Diesem gelang es einfach nicht, über den Tod von Philipps Mutter hinwegzukommen, obwohl seitdem schon viele Jahre ins Land gezogen waren. Wäre Philipp auch noch gegangen, hätte sich Vaters Schwermut mit Sicherheit verschlimmert. Also hatte sich Philipp, statt sich auf dem gesellschaftlichen Parkett zu tummeln, in die wissenschaftliche Arbeit gestürzt. Er brauchte etwas, das ihn geistig forderte. Seit einiger Zeit forschte er besonders auf dem Gebiet der Gesteinskunde. Seine Ausarbeitungen hatten es zu einiger Beachtung in wissenschaftlichen Kreisen gebracht. Man wollte, dass er über seine Erkenntnisse sprach und hatte ihm sogar eine Lehrtätigkeit an der neu gegründeten Universität in Berlin angeboten. Doch aus Rücksicht auf Vater und seine wachsende Scheu, vor vielen Leuten zu sprechen, hatte er all diese Angebote ausgeschlagen. Über die Jahre war es ihm immer schwerer gefallen, sich bei sozialen Begebenheiten zu zeigen. Stets wurde er von dem Gefühl begleitet, nicht richtig dazuzugehören und auch deshalb hatte er sich bei keinem Empfang oder Ball mehr blicken lassen. Im Grunde seines Herzens hatte er nichts gegen andere Menschen. Es war nur nicht einfach, jemanden zu finden, der seine Wissenschaftsbegeisterung und Zurückhaltung zu händeln wusste. Das hatte ihm Vater wieder und wieder bestätigt. Egal, was Philipp anstellte, er hatte es ihm nie recht machen können. Ständig hatte Vater etwas an ihm auszusetzen gehabt. Und Philipp hatte sich zurückgezogen, um der unablässigen Nörgelei zu entkommen. Dennoch litt er darunter, offenbar eine Enttäuschung für seinen eigenen Vater zu sein.
Nun aber war die Lage ein wenig anders als vor Elses Übernahme sämtlicher Rückzugsorte.
Philipp war bei aller Schüchternheit kein Trottel. Er merkte, wenn er das dritte Rad am Wagen war. Auch wenn Else vielleicht beabsichtige, ihn aus dem Haus zu mäkeln, damit ihr zu erwartendes Kind die Rolle des Erben übernehmen könnte, machte sich Philipp in dieser Hinsicht keine Sorgen. Selbst wenn er im Ausland weilte, würde er immer noch den Grafentitel und die Besitzungen erben. In den Regeln des Hauses Lotz war festgeschrieben, dass ausschließlich der älteste männliche Nachkomme der Erbe des Vermögens sei. Dies diente dem Zweck, die Hinterlassenschaft nicht zu zersplittern. Möglich war allerdings, dass Else davon nichts wusste und sich ihm gegenüber deswegen so unangenehm benahm. Oder sie versuchte, ihre eigenen Unsicherheiten dadurch zu überspielen, dass sie den knapp zehn Jahre älteren Philipp verspottete. Wer wusste das schon? Wahrscheinlich war sich noch nicht einmal Else selbst darüber im Klaren, warum sie ihn so piesackte. Deswegen hatte er beschlossen, das elterliche Herrenhaus zu verlassen. Noch länger war er nicht bereit, derartig mit sich umspringen zu lassen. Einen anderen Weg, das zu beenden, sah er nicht. Er konnte Vater schlecht bitten, Else wegzuschicken oder ihr den Mund zu verbieten, da er doch selbst so viel Spaß daran hatte. Ein paar Tage später hatte Philipp dem Herzog von Ritteysen bei einer Teegesellschaft, die seine junge Frau zugunsten der neuen Schule gab, anklingen lassen, dass er eventuell beabsichtigte, für eine Weile zu unterrichten. Daraufhin hatte dieser ihm mit fast peinlicher Begeisterung seinen Schwiegervater empfohlen, der gerade auf der Suche nach einem neuen Lehrer für seine Kinder war. Es war Philipps erstes gesellschaftliches Ereignis gewesen, dem er nach all den Jahren beiwohnte und gleich hatte es solche Folgen.
Und nun war Philipp auf dem Weg zum Hof Cossin. Vater hatte ihm in überraschender Großzügigkeit angeboten, eine der Kutschen zu nehmen, damit er samt seinen Büchern und dem restlichen Gepäck bequem reisen konnte. Philipp hatte abgelehnt. Er wollte nicht allzu viel in sein neues Leben mitnehmen und wenn Bedarf bestehen würde, könnte er jederzeit jemanden schicken, damit dieser das Fehlende holen würde. Nur auf seinen Kammerdiener Gustav wollte er nicht verzichten. Trotz des Standesunterschieds war dieser sein engster Vertrauter. So waren die beiden heute Früh losgeritten, jeder mit prall gefüllten Satteltaschen und Philipp mit zunehmenden Zweifeln im Herzen. Warum nur war er auf die Idee gekommen, unterrichten zu wollen? Das hatte er finanziell gar nicht nötig. Immerhin war er der Erbe des Grafen von Lotz, dessen Vermögen man gemeinhin als eines der größten von Brandenburg bezeichnen konnte. Außerdem hatte er durch seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen ein ansehnliches eigenes Auskommen. Philipp hätte einfach auf Reisen gehen können. Aber das war ihm zu inhaltsleer vorgekommen. Insgeheim hoffte er darauf, dass das Unterrichten ihn aus akademischer Sicht stärker fordern würde als das Reisen. Natürlich war es unterhaltsam, Neues zu sehen, aber er hasste es, sich zu langweilen. Vielleicht würde er mit etwas Glück sogar in einem der jungen Leute durch seine Lehrstunden die Begeisterung für die Wissenschaft schüren können. Philipps größte Sorge war, ob er in der Lage sein würde, die Schüler dazu zu bringen, ihn ernst zu nehmen und auf ihn zu hören.
»Dort hinten ist das Anwesen, Erlaucht«, sagte Gustav plötzlich atemlos. Er ritt im Trab neben ihm und nickte in die Richtung, in der sich in der Ferne ein Hof erstreckte.
Philipp zügelte sein Pferd und blieb mitten auf dem Weg stehen, der zwischen den Feldern verlief. Gustav tat es ihm nach. Nach einer Weile sagte Philipp knapp: »Hören Sie jetzt auf, mich Erlaucht zu nennen, Gustav. Ein solches Brimborium erscheint mir hier unpassend. Es ist nicht nötig, meinen Grafentitel zu betonen, auch wenn wahrscheinlich jeder davon weiß. Ich habe auch Herrn von Cossin gebeten, auf diese Anrede zu verzichten.«
Gustav blinzelte ihn unsicher an. »Wie Sie wünschen. Ich werde mich bemühen. Aber … darf ich fragen, warum das so wichtig ist, Erlaucht?«
Philipp zuckte mit den Schultern. »Wenn ich Erlaucht höre, habe ich das Gefühl, mein Vater wäre in der Nähe. Außerdem muss ich nicht ununterbrochen darauf hinweisen, dass ich im Rang über der Familie stehe. In meinen Augen zeugt es von einer gewissen Arroganz, es ständig zu betonen. Ist das nachvollziehbar?« Er blickte unsicher zu Gustav hinüber.
»Natürlich, Erlaucht.« Gustav nickte und hielt sich die Hand vor die Lippen, als hätte Philipp ihn bei etwas Bösem ertappt.
Philipp nickte abwesend und starrte auf das in einiger Entfernung liegende Gut. Ob es ein Fehler gewesen war, hierherzukommen? Sein Stand war höher als jener der Cossins und trotzdem würde er als eine Art Angestellter in ihrem Haushalt leben, um diesem ewigen Herumpoussieren seines Vaters zu entkommen. Außerdem wollte er endlich auch von Vater ernst genommen und anerkannt werden. All die wissenschaftlichen Erfolge waren zwar sehr schmeichelnd und angenehm, aber sie ersetzten nicht die fehlende Wertschätzung seines Vaters. Es war Zeit, sich aus dem komfortablen Netz des Bekannten zu befreien und ins Licht zu treten.
»Ist es Ihnen lieber, wir kehrten um? Noch wäre das problemlos möglich, Er…, ich meine, mein Herr«, unterbrach Gustavs Stimme seine Grübeleien.
Philipp richtete sich auf und streckte den Rücken durch. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe ein Versprechen gegeben und werde es selbstverständlich einhalten. Lassen Sie uns weiterreiten, Gustav.«
Gustav neigte den Kopf: »Sehr wohl, mein Herr.«
Der Kammerdiener schien sich langsam an die neue Anrede zu gewöhnen. Fraglich war nur, wie lange Philipp brauchen würde, sich mit der unbekannten Rolle als Hauslehrer vertraut zu machen.
Die Mamsell empfing sie persönlich, kaum dass sie im gepflegten Innenhof absaßen. Die rundliche kleine Frau mit den roten Äderchen auf den Wangen musterte ihn unverhohlen, als er sich als neuer Hauslehrer zu erkennen gab. Er schien ihre Inspektion allerdings bestanden zu haben, denn sie nickte ihm mit strengem Blick zu, als sie sagte: »Die Familie erwartet Sie. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?«
Philipp blickte sich zu Gustav um, der voll beladen hinter ihm stand. Sie bekämen nicht einmal die Möglichkeit, sich frisch zu machen, bevor er seinen neuen Schützlingen gegenübertrat?
Sein Kammerdiener zog eine Augenbraue empor und fragte: »Könnten Sie uns zuerst zeigen, wo wir unterkommen? Und wären Sie bitte so nett und wiesen das Mädchen an, uns eine Kanne warmes Wasser zu bringen?«
Der Kopf der Frau fuhr herum und sie verengte die Augen zu Schlitzen. Offenbar empfand sie Gustavs Bitte als unpassend. »Darum kümmern wir uns später. Ich sagte bereits, dass die Familie auf die Ankunft von Herrn von Lotz gewartet hat. Alle sind im Salon versammelt. Sie können das Gepäck ganz nach oben bringen. Martha wird Ihnen zeigen, welche Zimmer für Sie bestimmt sind und wo Sie sich Ihr heißes Wasser holen können.« Das war eine Abfuhr, die saß.
Wie gerne hätte Philipp seinem Kameraden einen tröstenden Blick zugeworfen, doch die Mamsell nickte ihm noch einmal zu und ging den Flur hinab voran. Er musste sich beeilen, ihr zu folgen. Hastig fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare und zupfte an seiner staubigen Jacke. Es wäre ihm lieber gewesen, der Familie beim ersten Zusammentreffen nicht so staubig gegenübertreten zu müssen. Allerdings wurde das hier offenbar nicht so wichtig genommen wie bei ihm zu Hause. Dort wäre es undenkbar, einen Besucher, an dem der Dreck der Straße haftete, in den Salon zu führen. Else war Sauberkeit immens wichtig. Sie hielt die Bediensteten ständig an, besser Staub zu wischen und die Böden gründlicher zu schrubben.
Schon beim Näherkommen hörte Philipp viele Stimmen. Unwillkürlich wurden seine Schritte langsamer. So einen Trubel war er in seinem bisher recht beschaulichen Leben nicht gewohnt. Lautes vielkehliges Lachen schallte in den Flur.
Die Mamsell drehte sich schmunzelnd um und sagte: »Hier wird es nie langweilig.«
Er nickte ihr beklommen zu. Sein Magen zog sich unheilvoll zusammen. Nun ließ es sich nicht mehr leugnen: Philipp hatte einen großen Fehler begangen und sich massiv überschätzt. Die Schüler würden ihn mit Haut und Haar verschlingen, sich über ihn lustig machen und nicht auf ihn hören. Niemand hier würde sich für die Wissenschaft interessieren. Die Hoffnung, endlich irgendeine Form der Anerkennung für sein Wissen zu bekommen, die ihm in seinem Heim versagt wurde, schwand dahin. Er würde hier heillos untergehen. Mit Fahnen und Trompeten!
P
hilipp hielt den Atem an, als er hörte, wie die Mamsell ihn meldete. Dieser Moment vor dem Eintreten in einen fremden Salon ließ ihn sich für gewöhnlich nahe einer Ohnmacht fühlen. Er war in diesem Moment ein Eindringling. Fehl am Platz und voller Angst, in seiner Unbeholfenheit einen Fehler zu begehen, über den sich den Rest der Zeit lustig gemacht würde, so wie er es in den letzten Jahren bei verschiedenen Gelegenheiten erlebt hatte. Früher war das kein Problem gewesen, doch die Jahre der Einsiedelei zugunsten von Vater hatten ihre Spuren hinterlassen. Es war, als hätte er den Umgang mit anderen Menschen verlernt, seit sein letztes Kindermädchen und sein Hauslehrer weitergezogen waren. Auch jetzt schlotterten seine Beine und er schluckte ein paarmal trocken, während er durch die Tür schritt und sämtliche Augenpaare auf sich ruhen spürte.
Er blinzelte nervös, als er den Blick einer jungen, ernst blickenden Frau auffing, die ihn aufmerksam ansah. Philipp neigte den Kopf zur Begrüßung und bemerkte im selben Moment, dass die Familie offensichtlich kinderreicher war, als angenommen. Er hatte beim Gespräch mit dem Gutsherrn vergessen, nach der Anzahl seiner künftigen Schützlinge zu fragen. Zu seiner Erleichterung handelte es sich offenbar um ältere Kinder. Zwei Jungs waren in den Flegeljahren, aber ihre älteren Schwestern saßen allesamt gesittet da und lächelten ihn freundlich an. Philipp atmete auf. Sein Blick ging zurück zu der jungen Frau, die ihm zuerst aufgefallen war. Sie hatte sehr langes dunkles Haar, das in einen lockeren Knoten gebunden war. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und ihre tiefbraunen Augen blickten ihn warm an.
Der Gutsherr sprang auf und kam Philipp mit ausgebreiteten Armen entgegen, als wollte er ihn an die Brust drücken. Zu Philipps Erleichterung ergriff er aber nur seine Hände und schüttelte sie strahlend.
Verdattert über ein solches Ausmaß an Herzlichkeit lächelte Philipp unsicher.
»Herr von Lotz, es ist so eine Freude, Sie endlich hier zu sehen. Sie glauben nicht, wie begeistert die Kinder waren, als ich ihnen von der Vereinbarung mit Ihnen erzählt habe.«
Philipp nickte. Da hatte Herr von Cossin den Nagel auf den Kopf getroffen. Philipp glaubte wirklich nicht, dass die Kinder sonderlich erfreut darüber waren, von einem neuen Lehrer zu hören, vor allem nicht die Mädchen. Sie würden in diesem Alter nur Klavierspielen, Stickereien und Bälle im Kopf haben und wenig Interesse am Lernen entwickeln.
Nun erhob sich die Gutsherrin und kam mit einem prüfenden Ausdruck auf dem Gesicht auf Philipp zu. Sein Mund wurde trocken. Sie würde Konversation von ihm erwarten und er wusste, dass er nicht gut darin war.
»Willkommen, Herr von Lotz! Wir freuen uns alle sehr, dass Sie hier sind. Verzeihen Sie unsere Ungeduld. Keiner von uns konnte es erwarten, Sie kennenzulernen, daher haben wir Anweisung gegeben, Sie gleich hierherzuführen. Aber jetzt werden Sie sich wahrscheinlich etwas erfrischen wollen. Hatten Sie einen langen Ritt nach Grünwaldenow?« In ihrem aufgetürmten Haar prangte eine weiße Rose und sie wirkte mit ihren langen Seidenhandschuhen und dem elfenbeinfarbenen Kleid ungewöhnlich elegant für einen brandenburgischen Pferdehof. Trotz ihres vornehmen Auftritts schien sie ihn herzlich aufzunehmen. Niemand erwähnte seinen Grafentitel und das war ihm nur recht. Herr und Frau Cossin wussten natürlich darum, aber Philipp hatte den Gutsherrn gebeten, ihn während seiner Tätigkeit bei ihnen nicht als Graf anzusprechen. Was sollten seine Schüler denken, wenn er ihnen als Erbe gegenübertrat, anstatt sich als ihr Lehrer zu definieren? Das passte nicht zu Philipps Selbstverständnis als Mann der Wissenschaft. Offenbar hatte Herr Cossin auch seine Frau instruiert.
Philipp nickte ihr höflich zu. »Nur etwas über einen halben Tagesritt. Es ist mir eine Ehre, hier sein zu dürfen«, sagte er und neigte den Kopf über ihre Hand, um einen Handkuss anzudeuten.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir Ihnen rasch unsere Kinder vorstellen? So wissen Sie gleich, wen Sie vor sich haben, wenn Sie jemandem auf den Fluren begegnen. Danach geben wir Sie unverzüglich frei.« Sie lächelte.
»Selbstverständlich. Ich bin schon sehr gespannt.« Das war gar nicht gelogen, denn er rätselte schon seit sie losgeritten waren, wie seine Schüler wohl sein mochten. Vielleicht zählten die älteren Mädchen gar nicht dazu.
»Hier haben wir Rochus und Fabian. Die beiden sind zwei Schlitzohren. Ich warne Sie! Aber Sie werden schon mit ihnen umzugehen wissen«, mischte der Gutsherr grinsend wieder mit und deutete auf die beiden Jungs.
»Sie sind fünfzehn und dreizehn«, ergänzte seine Frau.
»Diese beiden hier sind unsere Zwillinge. Die Größere ist Emmeline und hier haben wir unsere Henriette. Sie büxen gern aus, wenn es an die harte Arbeit geht.« Herr von Cossin zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Also bleiben Sie wachsam, Herr von Lotz.«
»Aber Papa!«, riefen die Zwillinge empört wie aus einem Munde.
Ihr Vater grinste und deutete auf eine hübsche junge Frau mit welligem braunen Haar und dunklen Augen. »Hier haben wir unsere bezaubernde Luise. Sie sollte Ihnen am wenigsten Ärger bereiten. Aber Charlotte wird Ihnen aller Voraussicht nach das Leben schwer machen.« Sein Lächeln wurde breiter, als er auf die letzte Schwester deutete.
Philipp sah das Mädchen an. Es war dieselbe junge Frau, die ihn bei seinem Eintreten zunächst so ernsthaft gemustert hatte. Mit ihrem geraden Blick und dem sachlichen Gesichtsausdruck, mit dem sie ihn ansah, wirkte sie nicht wie eine typische Unruhestifterin. Sie erhob sich und kam auf ihn zu. Verblüfft sah Philipp ihr entgegen. Sie streckte die Hand aus und ein Lächeln umspielte ihre Züge. Ihr Händedruck war überraschend fest für eine Frau, aber ihre Haut war weich und warm. Ein angenehmer Duft nach Flieder stieg ihm in die Nase. Dezent, aber sanft blumig. Früher, als Kind, war Philipp gerne durch die ausladenden Parkanlagen von Schloss Altranft gestrichen, hatte an den Blüten gerochen und sie ausgesaugt. Er erinnerte sich an den süßlichen Geschmack, der das Gefühl von Unbeschwertheit und beginnendem Sommer mit sich brachte.
»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, unterbrach sie seine Gedanken. Ihre Stimme klang tiefer, als er erwartet hatte. Gefällig und nicht so schrill wie die der meisten anderen Frauen. Vor allem Elses Stimme, die ihm in den letzten Monaten das Leben schwer gemacht hatte, erschien ihm dagegen seltsam grell.
»Ebenso.« Er lächelte sie an, wandte sich wieder ihrem Vater zu und sagte, leicht den Kopf in ihre Richtung neigend: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Fräulein dazu neigt, Unannehmlichkeiten zu bereiten.«
»Sie wird, das verspreche ich Ihnen.« Der Gutsherr feixte mit rundem, gerötetem Gesicht. »Aber denken Sie immer daran: Es steht alles im Dienste der Wissenschaft.«
»Max, das genügt«, erinnerte ihn seine Frau sanft. »Hören Sie nicht auf ihn, sondern lernen Sie alle selbst kennen. Sie sind gar nicht so schlimm, wie mein Mann tut.«
Philipp nickte lächelnd, sah wieder die junge Frau an, die weiterhin vor ihm stand und nach Auskunft ihres Vaters am unbequemsten zu werden versprach.
Ihre braunen Augen musterten ihn unverhohlen und neugierig. Ihre Hände hielt sie gefaltet vor dem Körper. Sie verdeckten einen Buchrücken, dessen Titel er nicht entziffern konnte. Zu seiner Verwunderung hatte sie im Gegensatz zu ihren Schwestern nicht gegen die wenig rühmliche Beschreibung aufbegehrt. Vielmehr wirkte es auf ihn, als wäre sie einverstanden damit. Nun, wenn sie den Unterricht zu stören beabsichtigte oder ihn in anderer Form versuchte, zu diskreditieren, würde er sie kurzerhand von den Stunden ausschließen. Wozu sollte sie überhaupt noch unterrichtet werden? Sie war bestimmt schon über zwanzig Jahre alt. Da wäre es eher an der Zeit, sich zu verheiraten, anstatt die Schulbank zu drücken.
Kaum hatte der neue Hauslehrer den Salon verlassen, ging das Geschnatter schon los. Charlotte hörte nur mit halbem Ohr hin, denn sie war in Gedanken. Dieser Herr von Lotz wirkte anders als ihre bisherigen Hauslehrer, deren mangelnde Bildung und Motivation man schon von Weitem hatte erahnen können. Charlotte hatte bei fast jedem von ihnen zu ihrem Bedauern schon früh bemerkt, dass sie ihr in vielen Dingen nicht das Wasser reichen konnten. Schlimmer noch, sie hatten meist gar kein Interesse daran gehabt. Den meisten war es anscheinend nur darum gegangen, eine angenehme Unterkunft und Bezahlung zu erhalten, ohne allzu viel dafür tun zu müssen. Bei Herrn von Lotz vermeinte sie, einen ähnlichen Bildungshunger zu erkennen, wie er in ihr selbst brannte. Allerdings war das nur eine vage Vermutung, sie hatte mit ihm kaum ein Wort gewechselt.
Sie war gleichzeitig skeptisch und hoffnungsvoll gewesen, als Vater erzählt hatte, dass er den idealen Nachfolger für Otto Klewitt, ihren ehemaligen Hauslehrer, gefunden hatte. Ihr erster Eindruck des Neuen war zu ihrer eigenen Überraschung allerdings positiv. Natürlich war er deutlich älter als seine Vorgänger. Mindestens dreißig oder vielleicht älter, aber der Ernst, der in seinem Blick funkelte, ließ darauf hoffen, dass er nicht ein ähnlich oberflächlicher Geselle war wie die anderen. Sie fühlte sich in seiner Nähe wohl, soweit sie das bisher beurteilen konnte. Natürlich nicht als jemand, in den sie sich verlieben könnte, denn das kam für sie ja ohnehin nicht infrage, vor allem nicht nach nur einer kurzen Begegnung. Ein Mann, so gebildet er sein mochte, würde nur den Zielen im Weg stehen, denen sie ihr Leben gewidmet hatte. Die Anerkennung als Wissenschaftlerin hatte für sie absolute Priorität. Und nichts und niemand würde sie davon abbringen können, diesen Weg zu beschreiten. Auch wenn Maman die Hoffnung, dass sie ihre Meinung ändern würde, nach wie vor nicht aufgegeben hatte.
Wenn er zum Abendessen wieder herunterkommen würde, würde sie ihn fragen, inwieweit er sich mit Geologie auskannte. Wenn er dieses Wort nicht kannte, könnte er nach ihrem Dafürhalten gleich wieder gehen. Die Kenntnis des Begriffs war für Charlotte der Gradmesser geworden, mit dem sie die Bildung ihres Gegenübers auslotete.