INGENIUM - Du kannst nicht entkommen - Janet Clark - E-Book

INGENIUM - Du kannst nicht entkommen E-Book

Janet Clark

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Beschreibung

Ein unheimliches Projekt. Ein verschwundenes Mädchen. Und vier Jugendliche, deren Begabungen gefährlicher sind als eine Waffe.

Matt, Jeanie und Luke sind alles andere als normale Teenager: Sie alle leiden unter einer Gen-Anomalie, die sie zu Freaks macht – meinen sie. Dass ihre besonderen Talente sie auf der anderen Seite auch zu Superhelden im wahren Leben machen können, erfahren sie erst, als sie sich kennenlernen und durch ihre Mitschülerin Develine in das Abenteuer ihres Lebens verwickelt werden. Dabei geht es um nichts weniger als den hochgefährlichen Eingriff in die Entwicklung der Menschheit und den Bruch aller ethischen und gesetzlichen Grenzen.

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Seitenzahl: 387

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© 2019 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagkonzeption: Carolin Liepins, München

unter Verwendung eines Fotos von © Shutterstock (GarryKillian, Aleksei Derin)

MP · Herstellung: UK

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-18878-8V001

www.cbj-verlag.de

Für Matthias.Danke für deine Freundschaft

Wer sagt, dass er sein Leben voll im Griff hat, lügt.

Manche Dinge kannst du nicht im Griff haben.

Du siehst sie nicht kommen, du kannst dich nicht darauf vorbereiten.

Du bist ihnen einfach ausgeliefert.

Luke, 5. Mai

»Steh endlich still!« Detective Reid drehte sich genervt zu ihm um.

Luke versteifte sich, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet. Was er darauf sah, wirkte wie ein verlassenes Einkaufszentrum irgendwo an der Peripherie der Stadt. Die Fenster des Gebäudes waren mit Pappe notdürftig zugeklebt, die Wände mit Graffiti besprüht. Lukes Beine kribbelten. Das Bild wackelte, dann kam der Einsatzleiter ins Bild.

»Ausschwärmen!« Sein Befehl war kaum mehr als ein abgehacktes Flüstern, seine Armbewegung zerbarst in tausend Pixel, das Bild rauschte und wurde schwarz.

Übelkeit stieg in Luke hoch.

»Verdammt!« Detective Reid tippte nervös auf ihrer Tastatur, dann kam das Bild stückweise zurück.

Luke versuchte die flackernden Farbkleckse des Livestreams zu deuten. Sie finden dich, Jeanie, sie bringen dich nach Hause. Seine Hände krallten sich in seine Oberschenkel. Halte durch, Jeanie.

Das Bild wurde klarer, ein leerer Parkplatz, von Unkraut und Gras überwuchert. Fünf Gestalten in voller Montur des San Francisco Police-Departments näherten sich dem einzigen Auto, das dort parkte. Ein weißer Sprinter. Luke hielt den Atem an.

Einer der Polizisten machte ein Zeichen.

»Geräusche im Innenraum«, meldete der Einsatzleiter.

Detective Reid wandte sich erneut Luke zu. »Erkennst du das Auto?«

Luke nickte. Ihm wurde so schlagartig schlecht, als sei die Frage ein Boxhieb in den Magen gewesen. Dies war das Auto, in dem Jeanie entführt worden war. Das Kribbeln in seinen Beinen wurde unerträglich. Er sollte dort draußen sein und nicht kilometerweit entfernt in einer Millionärsvilla auf den Livestream starren.

Detective Reid drückte den Knopf ihres Funkgeräts. »Gesuchte Person vermutlich im Zielobjekt. Zugriff.«

Der Einsatzleiter winkte die anderen auf ihre Positionen. Dann ging alles sehr schnell: der Sprinter war umstellt, der Einsatzleiter riss die Tür des Laderaums auf.

Heftiger schwarzer Rauch quoll aus dem Inneren. Es knallte. Eine Stichflamme schoss aus der Tür. Die Beamten warfen sich zur Seite, es krachte, der Sprinter wurde ein Stück in die Luft geschleudert, die Scheiben barsten – und dann stand das ganze Auto in hellen Flammen.

»Jeanie!«, schrie Luke. »Nein!« Er zitterte, sein Körper, seine Hände, seine Lippen.

Eine Hand griff nach seiner.

»Luke …«

Er schüttelte die Hand ab. Wie von Sinnen stürmte er durch das Wohnzimmer, den Flur, die Haustür, hinaus in die Nacht. Er kam keine zehn Meter, bis sein Magen endgültig rebellierte. Ruckartig drehte er sich zur Seite und übergab sich auf den makellos manikürten Grünstreifen.

Irgendwann ließ das Würgen nach. Keuchend stand er über den Rasen gebeugt, der Rücken rund, die Hände auf die Oberschenkel gestützt.

»Luke!«, rief Develine von der Haustür her mit besorgter Stimme.

Er wusste, was sie ihm sagen wollte. Dass es nicht seine Schuld sei. Aber das stimmte nicht. Er hätte Jeanie retten können. Hätte sie retten müssen.

Instinktiv lief Luke los. Als würden seine Beine unabhängig von seinem Kopf entscheiden, was zu tun war. Die Schritte waren schnell und lang, seine Beine würden ihn überall hintragen, über Stunden, über Tage, schneller als je ein Mensch gelaufen war. Aber – wohin er auch laufen würde, wie sollte er seiner eigenen Schuld entkommen?

Jeanie erschien vor seinem inneren Auge. Sie lächelte ihn an. Mit ihrem schüchternen, zaghaften Lächeln und den großen, dunklen, wunderschönen Augen, die auf Anhieb seine so perfekte Fassade durchschaut hatten.

Lukes Schritte hallten durch die nachtleere Allee, zu schnell, um von einem normalen Läufer zu stammen, zu schnell, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch es war ihm egal.

Es war ihm alles egal.

Nur sie nicht.

Das Mädchen, dessen Namen er vor drei Tagen noch nicht einmal gekannt hatte.

Jeanie.

Luke

Luke lief.

Was nichts Besonderes war. Laufen gehörte zu seinem Leben wie atmen. Oder essen. So ziemlich dem Einzigen, was er noch lieber tat als laufen. Allerdings würde er vor der Schule keine Zeit mehr dazu haben, wenn dieser merkwürdige Riesenarzt ihn nicht bald vom Laufband ließ.

Er sah auf die Anzeige. Siebenunddreißig Minuten. Und das nur für ein EKG! Dreißig Minuten hatte es geheißen, Routinecheck, nüchtern, am besten vor der Schule, nur kurz prüfen, ob er wieder okay war.

Völlig unnötig – es ging ihm bestens.

Noch besser ginge es ihm allerdings, wenn er endlich etwas zwischen die Zähne bekommen würde, anstatt sein Tempo stupide der Geschwindigkeit eines dämlichen Laufbandes anzupassen. Seine Uhr piepte. Verdammt! Er verpasste noch den Ausflug ins Amen-Research-Center!

»Sind wir bald fertig?«, fragte Luke so freundlich, wie es ihm mit leerem Magen möglich war, und drehte sich im Lauf zu Dr. Simon Leigh. Zu spät bemerkte er seinen Fehler. Er trat auf die Kante des Laufbands, geriet aus dem Rhythmus und ruderte hektisch mit den Armen, während das Laufband ihn unerbittlich nach hinten zog.

»Pass auf!« Mit einem Satz war Dr. Leigh bei ihm, das Klemmbrett flog aus seiner Hand, er packte Lukes Oberarm, lupfte ihn in die Höhe und stellte ihn behutsam auf das immer noch laufende Band zurück. Sogleich verfiel Luke wieder in seinen Rhythmus, zumindest die Beine, sein Herz dagegen pochte mindestens doppelt so schnell wie zuvor.

»Auf dem Laufband immer nach vorne sehen.« Dr. Leigh bückte sich nach seinem Klemmbrett und strich ein verknicktes Blatt glatt. Luke schielte zu ihm. Der Arzt war groß, sehr groß, und dazu kräftig gebaut. Aber dass er ihn mit einer Hand heben konnte – das … das war unglaublich. Vierundachtzig Kilo! Mit einer Hand!

»Nach vorne sehen«, wiederholte Dr. Leigh, ohne seine Notizen zu unterbrechen.

Ertappt richtete Luke seinen Blick nach vorne und rieb sich verstohlen den pochenden Arm. Dr. Leighs Riesenpranken passten eher zu Hulk als zu einem Arzt.

»So.« Dr. Leigh stellte sich direkt vor das Laufband, das Klemmbrett mit der unteren Kante an den Bauch gepresst, den Stift gezückt, die wachen, blauen Augen inquisitorisch auf ihn gerichtet.

»Bin ich fertig?«

»Gleich.« Dr. Leigh machte eine Notiz. »Ein paar Fragen noch.«

Luke unterdrückte ein Augenrollen. Musste das sein? Langsam wurde die Zeit knapp und er hatte wirklich Hunger.

»Du weißt, wo du hier bist?«

»Im Institut für Human Intelligence Technologies in San Francisco.«

»Und du weißt, warum du hier bist?«

In letzter Sekunde kniff Luke seine sich verdrehenden Augen zu. Was waren das für dämliche Fragen? »Um zu testen, ob ich wieder fit bin.«

Dr. Leigh kritzelte etwas auf den Block. »Und hältst du dich für fit?«

Luke zeigte mit dem Daumen nach oben. »Ging mir nie besser.«

»Obwohl du nach deinem letzten Wettkampf zusammengebrochen bist?« Dr. Leigh blätterte ein paar Seiten zurück. »Vor … zwei Wochen.«

»Ich hatte zu wenig getrunken.« Luke tat seinen Zusammenbruch mit einer Handbewegung lächelnd ab. »Das war Pech.«

Dr. Leigh nickte. »Pech. Hmm.« Er notierte etwas, dann hob er erneut den Kopf. »Zwei Tage im Koma klingt nach ziemlich großem Pech, wenn du mich fragst.«

»Ich habe meine Lektion gelernt«, beschwichtigte Luke, »in Zukunft passe ich besser auf.«

»Aha.« Wieder nickte Dr. Leigh. »Wie oft läufst du?«

»Jeden Tag.«

»Wie schnell?«

Warum wollte dieser Riesenarzt das so genau wissen? Die Stimme seines Vaters erklang wie eine Warnsirene in Lukes Kopf. Wie schnell du wirklich läufst, geht nur uns was an. Warum hatte Dad ihn dann ausgerechnet hierher geschickt? »Keine Ahnung. Ich messe das nicht.«

Dr. Leigh sah erstaunt hoch. »Tatsächlich? Ein zukünftiger Profi wie du misst nicht, wie schnell er läuft?«

»Wozu? Ich gewinne sowieso.« Sein Magen knurrte. »War’s das?«

Dr. Leigh hob eine Braue. »Findest du das nicht … ungewöhnlich?«

»Ich habe einfach nur -«

»Premiumgene.« Dr. Leigh nickte wissend. »Durch und durch afrikanischer Stammbaum, seit Jahrhunderten darauf trainiert, sich schnell in der Natur zu bewegen, ohne die degenerativen Einflüsse der industriellen Revolution.« Er lächelte. »Dein Vater hat mir eine Lehrstunde über die überlegenen Gene der O’Giadis erteilt.«

Diesmal rollten seine Augen, bevor Luke es verhindern konnte.

»Ja, so habe ich mich bei dem Vortrag deines Vaters auch gefühlt«, sagte Dr. Leigh grinsend. »Ich musste mich allerdings auch fragen, warum dann dein Bruder noch nie einen Sportwettbewerb gewonnen hat. Oder deine Schwester …«

»Ich habe einfach ein besonderes Talent«, sagte Luke schnell.

»Ja, das hast du.« Dr. Leigh lächelte aufmunternd. »Trotzdem sollten wir sicherstellen, dass dein Talent nicht auf Kosten deiner Gesundheit geht.«

Luke rang sich ein Lächeln ab. »Mir geht es gut.«

»Du warst zwei Tage im Koma.« Dr. Leigh zog einen Strich auf dem Block. »Dein Körper ist anderer Ansicht.«

Luke passte seinen Schritt dem kontinuierlich sinkenden Tempo des Laufbands an. War das so? Warum fühlte er sich dann so fit und unbesiegbar wie immer?

Dr. Leigh ging zu seinem Schreibtisch, zog die Tastatur heran und tippte. An der Wand flammte ein Bild auf.

»Das ist dein EKG.« Dr. Leigh wanderte zu dem hauchdünnen Wandbildschirm und zeigte mit einem Stift auf die wunderbar gleichmäßigen Kurven. Der einzige, sehr deutliche Ausschlag musste sein Fastabsturz gewesen sein. »Fällt dir etwas auf?«

»Sieht super aus.« Lukes Daumen ging nach oben.

»Hmm.« Dr. Leighs Stift wanderte zu der unteren Zahlenreihe. »Pulsrate konstant minimal über Ruhepuls, Laufgeschwindigkeit 20km/h, 25km/h, 30km/h, in der Spitze 37km/h, nur hier ein leichter Anstieg.«

Luke grinste. »Sag ich doch, sieht super aus.«

»Nein, das sieht aus, als wäre das Gerät kaputt.« Dr. Leigh schüttelte den Kopf. »Was immer deinen Körper dazu bringt, über diese Distanz so eine Leistung zu absolvieren, das ist nicht normal.«

»Ich habe eben -«

»Nein, Luke«, unterbrach ihn Dr. Leigh, »das ist kein Talent und du hast auch keine Premiumgene. Das ist eine Fehlfunktion. Es kann nicht sein, dass ein Mensch derartig schnell rennt und sich dabei unterhalten kann, ohne je nach Luft zu schnappen, ohne zu schwitzen und ohne dass sein Puls deutlich ansteigt. Das sind nämlich Schutzfunktionen. Warnzeichen, bevor du dich überanstrengst und umkippst.«

Luke starrte ihn mit offenem Mund an. Fehlfunktion?! Versuchte Dr. Leigh ihm gerade zu sagen, dass er nichtnormal war?

»Wenn du so weitermachst, rennst du dich zu Tode.« Dr. Leigh lächelte nicht mehr. »Deine einzige Chance ist, mit uns zusammenzuarbeiten.«

Zu Tode … Dr. Leighs Worte knallten wie Pistolenschüsse durch Lukes Kopf.

Nein.

Nein! Nein! Dieser Monsterarzt irrt sich!

Mir geht es gut. Das EKG ist bestens. Sein Blick blieb an dem Logo unterhalb des EKGs hängen.

HIT.

Institut für Human Intelligence Technologies.

Schon beim Betreten des Instituts hatte er ein schlechtes Gefühl gehabt. Alles so neu. Steril. Sicherheitskontrollen am Eingang, helle, breite Gänge mit moderner Kunst und metallicblauen Türen, allesamt verschlossen. Keine geschäftigen Ärzte und Krankenschwestern und durch die Gänge schlurfenden Patienten, keine Schilder, die den Weg zur richtigen Station wiesen. Weil das HIT keine Klinik war und Dr. Hulk kein normaler Arzt.

Luke überlief es eiskalt.

Institut.

Human Technologies.

Zusammenarbeiten.

Die waren nicht an seiner Gesundheit interessiert. Die wollten ihm nur Angst machen, um sein besonderes Talent zu entschlüsseln! Ihn als Versuchsobjekt zu missbrauchen!

Blitzartig drehte Luke sich um, sprang vom Laufband und stürzte aus Dr. Leighs Behandlungszimmer.

Durch den hellen Gang, die Treppe hinunter. Er hörte Dr. Leigh rufen, rannte durch die Sicherheitsschleuse, zu schnell für den Sicherheitsbeamten, der ihm nachschrie, er solle stehen bleiben, zu schnell für den Wachmann neben der Tür, dessen Fingerspitzen noch sein Shirt streiften und dann ins Leere griffen.

Luke rannte weiter, durch die eilig-müden Morgenmenschen, begleitet von Heys und Pass-doch-Aufs, und stoppte erst, als er an der Bushaltestelle Matt sah.

»Hi, Matt.«

»Luke …« Matt sah ihn überrascht an. »Seit wann nimmst du den 21-er?«

»Mein Dad hat mich in der Nähe abgesetzt.« Luke versuchte sein Schullächeln aufzusetzen, freundlich und zugleich unverbindlich, ohne aber arrogant zu wirken. Doch er schaffte es nicht, zu laut schallten die Worte rennst du dich zu Tode in seinem Kopf. Hastig drehte er sich von Matt weg und ging zum Fahrplan.

»Acht Uhr siebenunddreißig«, rief Matt hinterher. »Der Bus kommt in ziemlich genau einer Minute. Gutes Timing.«

Luke nickte und versuchte Dr. Leighs Worte aus seinem Kopf zu verbannen. Er rang sich ein Lächeln ab, nicht das perfekte à la Ich liebe alle meine Fans, aber zumindest ein unverbindliches, und kehrte zu Matt zurück. »Warst du schon mal im Amen-Research-Center?«

»Ne, aber ich habe darüber gelesen. Der gesamddekomblexdescenters …«

Matts Worte verschwammen zu einem Brei, egal wie sehr Luke sich anstrengte, sie auseinanderzuhalten. Dann schrumpfte Matt plötzlich vor seinen Augen, nur kurz, bevor er sich explosionsartig ausbreitete und mit dem Bus verschmolz, der gerade auf die Haltestelle zufuhr. Matts Gesicht zerfloss in dem Gelb des Busses, die Nase saß schief, dann saß sie gar nicht mehr und alles zerbarst in tausende Lichtpunkte, die wie auf Kommando in tiefstes Schwarz zerfielen.

Jeanie

Fröstelnd zog Jeanie ihren sonnengelben Poncho fester um die Schultern. Der Wind. Das war das Schlimmste an San Francisco. Dieses permanente Störgeräusch, das die feinen Töne der Natur verzerrte, an manchen Tagen sogar verschlang. Und kalt war er obendrein. Eiskalt. Zumindest im Vergleich zu Phoenix. Sie blinzelte in den Himmel, zögerte.

Es war riskant, so früh die Deckung zu verlassen.

Aber es war auch kalt.

Und hatte Tante Mitra nicht erst gestern gesagt, sie solle mehr riskieren? Sie wagte einen Blick um die Ecke und trat dann unauffällig aus dem Schatten der Hecke in die Sonne. Nur kurz aufwärmen.

Die Sonnenstrahlen legten sich warm und wohlig auf ihr Gesicht, drangen durch den Poncho und vertrieben das Frösteln. Das war schon viel besser. Außerdem … es hätte schlimmer kommen können. Alaska zum Beispiel. Wobei … dort gab es Schnee und Schnee war die Krönung der Natur – filigran und wunderschön und trotzdem gewaltig. Sie stellte sich die zarten Eiskristalle vor, das unglaublich feine Sirren, wenn sie zu Boden fielen.

»Uhhh! Guckt mal, wen wir hier haben!«

Der Stoß kam so plötzlich, dass Jeanie nach vorne stolperte. Erschrocken zog sie den Kopf zwischen ihre Schultern. So ein Mist! Warum hatte sie Alexa und ihr Gefolge nicht gehört?

Ihre Hand tastete hinter ihr rechtes Ohr, zu dem winzigen Gerät, das unter den dichten, schwarzen Haaren versteckt war. Sie hatte vergessen umzuschalten! Hastig drückte sie zweimal den Regler, schon stürmten tausende Geräusche auf sie ein.

»Unsere indische Proll-Prinzessin.« Beths Lachen schmerzte in Jeanies Ohren. Sie drückte den Regler erneut, die Geräusche um sie herum reduzierten sich auf einen erträglichen Pegel.

»Unser Moppelchen«, tönte Julia und schwenkte ein Croissant vor Jeanies Nase herum. »Das hättest du jetzt gerne, nicht?« Sie biss hinein. »Le-cker, aber du hattest sicher schon vier oder fünf davon zum Frühstück.«

Jeanie zog ihren Poncho so eng um die Schultern, als könnte sie darin verschwinden.

»Soll in Indien ja ein Statussymbol sein, das Hüftfett.« Julia blies ihre Wangen zu Hamsterbäckchen auf.

Jeanie presste die Lippen zusammen. Nicht reagieren. Die drei wollten sie mit diesem Unsinn nur provozieren. Sie konzentrierte sich auf die Fernstraße vier Blöcke weiter. Die Stimmen der Mädchen traten in den Hintergrund und verklangen in dem Schwirren der Autos. Jeanie lauschte dem Schwirren, holte es näher, trennte das tiefe Brummen der Lastwagen von dem Schnurren der Sechszylinder und dem hektischen Stampfen der Vierzylinder und stellte sich die dazugehörigen Fahrzeuge und ihre Insassen vor.

Da spürte sie Hände.

Mit einem Schlag war sie zurück auf dem Bordstein, hinter sich die Hecke, vor ihr Alexa, die an ihrem Poncho zerrte.

»Wer will sehen, was unsere Proll-Prinzessin so unter ihren Wallekleidern versteckt?«

Begeisterte Pfiffe von Julia und Beth, die Jeanie wie Messerstiche ins Ohr fuhren. Sie wehrte Alexas Hände ab, doch das Mädchen war kräftiger, und mit Beth und Julia als deren Verstärkung hatte Jeanie keine Chance gegen sie.

»Schluss jetzt!« Mit einem Mal stand eine Frau neben Alexa und packte ihren Arm. »Lass sofort das Mädchen los.«

»Was denn?«, maulte Alexa, gab jedoch Jeanies Poncho frei. »Kann ich doch nichts dafür, wenn sie fett ist.«

»Fett?« Die Frau lachte auf. »Nur weil sie nicht so ein Hungerhaken ist wie du? Was ist dein Problem? Bist du neidisch, weil sie tausendmal hübscher ist als ihr drei zusammen?«

»Ha! Hübsch? Die?« Alexa schnappte nach Luft.

Die Frau wandte sich an Jeanie. »Lass dir nichts einreden. Du bist wunderschön. Und die da«, sie drehte sich zu den dreien, »sind einfach neidisch. Und jetzt … ABFLUG.« Das letzte Wort sprach sie mit einer so geballten Autorität, dass Jeanie unwillkürlich zusammenzuckte, Alexa und ihr Gefolge sich jedoch tatsächlich um die Ecke trollten.

»D… Danke«, flüsterte Jeanie. »Ihr Telefon vibriert.«

Die Frau sah Jeanie überrascht an, kramte dann in ihrer Tasche und zog ihr Handy hervor. »Hallo?«, rief sie und entfernte sich ein paar Schritte.

Jeanie sah ihr nach und zog mit zittrigen Fingern den Poncho wie einen Schutzmantel um sich.

So wollte sie sein.

Jemand, der sich niemals einschüchtern ließ und immer die richtigen Worte fand. Oder, noch besser, so wie das Mädchen mit den blauen Haaren aus ihrem Physikkurs. Develine. Mit Develine würde Alexa sich niemals anlegen.

»… genau. Wenn die alte Schnepfe weg ist«, hörte sie da Julia flüstern. Jeanie erstarrte. Mit Schnepfe meinten sie sicher ihre Retterin. Was heckten sie nun wieder aus? Sie zoomte sich in die geflüsterte Unterhaltung ihrer Angreiferinnen, die sich in die Querstraße zurückgezogen haben mussten. »Ich kenn die Alte. Die steigt immer an der Elften aus.«

»Gut.« Das war Alexa. »Im Bus machen wir Prolli fertig. Und ich weiß auch schon wie.« Rascheln. Kichern.

»Du willst sie mit den Puschelhandschellen an die Sitzstange ketten?« Beth prustete los. »Alexa, du bist einfach genial!«

Jeanie rührte sich nicht. Wie gelähmt sah sie zu der Frau, die noch immer telefonierte, sah wie der Bus sich näherte, blinkte und auf die Haltestelle zurollte. Sollte sie den Bus sausen lassen? Zu spät kommen? Dann verpasste sie den Schulbus zum Amen Research Center und würde ihr Referat nicht halten können. Das Kichern kam näher, die Mädchen drängelten um die Ecke und gingen auf sie zu.

Sie saß in der Falle.

Mal wieder.

Develine

»Develine! Du verpasst den Bus!«

In aller Seelenruhe zog Develine ihren Lidstrich fertig, tupfte den blauen Lidschatten nach und verlieh dem Ganzen mit High-Volume-Wimperntusche einen Hauch Dramatik. Sie wandte sich dem zweiten Auge zu, hörte das Poltern auf der Treppe und antwortete, genau in dem Moment, als ihre Mutter die Badezimmertür aufriss.

»Ich hab’s im Griff, Mom.«

»Und wann frühstückst du?«

»Wenn mein rechtes Auge so aussieht wie mein linkes.«

Ihre Mutter stieß einen tiefen Seufzer aus. »Du machst mich wahnsinnig, weißt du das?«

Develine legte grinsend den Lidstrichstift auf die Ablage und blies sich eine blaue Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich hab dich auch lieb.«

»Das wird dir nicht helfen, wenn dein Physikkurs ohne dich ins Amen Research Center fährt. Komm jetzt, zacki-zacki. Ich pack dir dein Brot ein.«

Develine warf ihrer Mutter einen Luftkuss zu, den diese jedoch nicht mehr sehen konnte, da sie bereits die schmale Treppe zurück nach unten eilte.

Als das zweite Auge fertig war, legte sie noch bronzefarbenen Lippenstift auf und folgte ihrer Mutter ins Erdgeschoss.

»Hier. Jacke. Brot. Rucksack.« Ihre Mutter reichte ihr die Gegenstände in genau dieser Reihenfolge und öffnete die Tür. »Und jetzt raus mit dir!«

Einen Arm zum Abschied hochgestreckt, die Finger lässig zum V geformt, lief Develine die Eingangstreppe hinunter, durch den verwilderten Vorgarten und das angerostete, immer halb offen stehende Türchen hinaus auf die Straße.

Was für ein herrlicher Morgen. Sonne, genau die Brise Wind, die es brauchte, um das Meersalz in der Luft zu spüren, und dank Moms Hektik zwei Minuten extra Zeit, um ausnahmsweise mal entspannt den Bus zu erwischen. Sie warf Rucksack und Brotdose in die Luft, schlüpfte zack–zack in ihre Jacke und fing Rucksack und Brotdose in aller Ruhe wieder auf.

Ein Pfiff ließ sie ihren Kopf zum Nachbargarten drehen. War Roseanne etwa schon auf? Wieder pfiff es. Develine sah zu Roseannes Haustür. Tatsächlich stand sie einen Spalt offen, und auch wenn Roseanne selbst nicht zu sehen war, so tauchte immerhin deren Hand durch den Spalt auf und winkte sie zu sich. »Dev!«

Develine zögerte. Der Bus … allerdings – noch lag sie gut in der Zeit. Sie stieß das Gartentürchen auf, obwohl sie wusste, dass es keine gute Idee war, vor allem falls ihre Mutter gerade aus dem Küchenfenster sah … Geduckt lief Develine durch den Vorgarten und hastete die Treppe hinauf. Die Tür öffnete sich kurz, Roseannes Hand schoss vor, zerrte sie ins Haus und warf sofort die Tür ins Schloss zurück.

»He!« Develine rieb ihr Handgelenk. »Was ist das denn für eine Agententaktik?«

Roseanne legte den Finger an die Lippen. »Riesenstory«, flüsterte sie und malte ein W für Whistleblowing in die Luft. »Komm, das glaubst du mir nie!«

»Später, okay?« Develine legte die Hand auf die Türklinke. Sie hätte gar nicht erst auf Roseannes Rufen reagieren sollen! »Ich muss zum Bus.«

»Vergiss den Bus. Ich fahr dich.« Roseanne zog sie mit sich, die Treppe hoch und in ihr Arbeitszimmer. Es sah aus, wie zu ihren Zeiten als Journalistin. Der Schreibtisch war übersät mit eng bedruckten Papieren und Zeitungsartikeln, auf dem Boden lagen offene Ordner und zerknüllte Blätter. Sie sah hinter den Schreibtisch und unter das Sofa. »Leila! Ts, ts, komm zu Rosie!«

»Roseanne!«, drängte Develine. »Ich hab’s ausnahmsweise echt eilig.«

»Gleich.« Sie verließ das Arbeitszimmer und winkte Develine mit sich. »Das musst du gesehen haben.«

Develine folgte ihr über den Flur ins Schlafzimmer. Das Bett ungemacht, der Sessel wie immer überhäuft mit Klamotten. Roseanne kniete sich auf den Boden und sah unter das Bett. »Leila! Komm!«, lockte sie mit ungewöhnlich heller Stimme.

»Hast du etwa ein Haustier?«, fragte Develine ungläubig. Ihre chaotische Freundin und ein Haustier, das passte zusammen wie Hai und Surfer.

»Pffft! Haustier?« Roseanne bedachte Develine mit einem irritierten Blick. »Das ist viiiiiel besser.« Sie gab ein schmatzendes Geräusch von sich und wartete. Schüttelte dann verärgert den Kopf. »Wo steckt es jetzt wieder? Ich werde noch irre.«

»Sorry.« Develine klopfte auf den Zeiger ihrer Uhr. Selbst wenn Roseanne sie fuhr – langsam wurde es knapp. »Wir müssen echt los. Wenn ich den Ausflug verpasse, krieg ich richtig fetten Ärger.«

Roseanne seufzte. »Okay. Dann keine Vorführung. Ich erzähl dir alles auf dem Weg. Das ist mein Durchbruch, garantiert.«

Polternd liefen sie die Treppe hinunter, Roseanne angelte sich einen Schlüssel von der Kommode, da läutete das Telefon. »Ich wimmle den nur kurz ab.« Sie hechtete zum Telefon, hob ab. »Hallo? … Kann ich dich … Verdammt. Warte.« Die Stirn in Falten, legte sie die Hand über die Muschel und warf Develine den Schlüssel zu. »Fahr selbst. Ich brauch das Auto heute nicht.«

Develine fing den Schlüssel. Er sah anders aus als der Schlüssel, den Roseanne normalerweise benutzte. Sie formte ein lautloses Danke und wandte sich zum Gehen.

»Halt, Dev!«, rief ihr Roseanne hinterher. »Es ist der graue Honda. Mein Auto ist in der Reparatur.«

Develine hob den Daumen und eilte zur Tür hinaus. Sie sah auf die Uhr. Na super. Sie hätte einfach zum Bus weitergehen sollen. Eine winzige Fehlentscheidung und schon wurde aus Entspannt-zum-Bus echter Stress: Jetzt durfte absolut nichts mehr schiefgehen, wenn sie für den Ausflug nach Mountain View noch rechtzeitig kommen wollte. Also: kein Stau, keine rote Ampel, Parkplatz direkt vor der Tür. Theoretisch, denn praktisch wusste sie nicht einmal, in welches Auto sie einsteigen sollte.

Sie drückte auf den Schlüssel. Gegenüber blinkte ein Auto auf. Ein SUV. Er sah aus wie neu. Und teuer.

Kaum war sie eingestiegen, leuchtete das Cockpit auf. Es war anders als die Autos, die sie bisher gefahren war, mehr Knöpfe und Regler, als irgendjemand brauchen könnte, die Touchscreenbedienung auf dem schulheftgroßen Display nicht mit eingerechnet.

»Guten Morgen«, schreckte eine sanfte Stimme sie auf. »Wo soll es heute hingehen?«

Ein Avatar mit kurzen, schwarzen Haaren und Chauffeursmütze lächelte sie vom Display aus an.

»Abgefahren«, murmelte Develine und kämpfte gegen den Impuls, wieder auszusteigen. Das Auto war in Roseannes Namen geliehen, und falls Roseanne sie nicht explizit als zweite Fahrerin genannt hatte – was sie mit Sicherheit verneinen konnte –, durfte sie dieses Auto nicht fahren. Und wenn sie es dennoch tat, war sie nicht versichert und Roseanne und sie würden bei einer Kontrolle beide fetten Ärger bekommen.

Nur … Sie musste diesen Bus erreichen. Und war nicht ihr gemeinsames Motto: No risk, no fun?

Sie drückte den Start-Knopf. »Gateway High, allerallerschnellste Route«, sagte sie zu dem Avatar, obwohl sie den Weg genau kannte.

Der Motor surrte geschmeidig. Sie setzte den Blinker und fuhr los, ohne zu ahnen, dass sie gerade die zweite Fehlentscheidung an diesem sonnigen Morgen getroffen hatte.

Nur war diese nicht winzig, sondern monumental.

Jeanie

»Du hast genau das Richtige getan, mein Herz.« Tante Mitras Stimme floss samtweich und warm durch Jeanies Kopf. »Mit der freundlichen Dame auszusteigen und den nächsten Bus zu nehmen, war eine kluge Entscheidung. Und wenn du zu spät kommst, dann ist das halt so. Ich rufe in der Schule an und entschuldige dich vorsichtshalber.«

»Danke, Mitra.« Jeanie steckte das Handy weg und lehnte sich im Sitz zurück. Der Bus war halb leer, kein einziger Schüler darin. Ein eindeutiges Indiz, dass sie den Trip nach Mountain View abschreiben konnte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte sich wirklich darauf gefreut.

Als sie von Phoenix zu Tante Mitra gezogen war, hatte sie so sehr gehofft, hier einen Neustart hinzulegen. Ohne jenen Schutzkokon, den ihre Eltern um sie gesponnen hatten. Pustekuchen. Es hatte genau zwei Schulstunden gedauert, bis Alexa sich auf sie eingeschossen hatte. Weil sie ihre Frage überhört hatte. Dabei hatte sie die Frage sehr wohl gehört. Sie hatte nur zu viele Fragen gehört, Alexas Frage und daneben die Fragen all der anderen in der Mensa, und sie war zu nervös gewesen, um aus den vielen Fragen die richtige herauszukristallisieren. Aber das konnte sie ja nicht sagen. Wenn die anderen wüssten, dass sie jede ihrer geflüsterten Unterhaltungen mühelos durch verschlossene Türen belauschen konnte, würde sie noch mehr gemobbt werden.

Jeanie versenkte ihr Kinn in dem Poncho. Dabei wollte sie das doch gar nicht alles hören! Im Gegenteil, es war schrecklich, andauernd Dinge wahrnehmen zu müssen, die überhaupt nicht für sie bestimmt waren, und es war anstrengend, andauernd sortieren zu müssen, was man ausblenden musste und was man unbedingt hören sollte. Niemand würde das wollen, vielleicht mal für zwei Tage, aber doch nicht immer!

Der Bus bog in die Straße ein, die zum HIT führte. Sie ließ ihren Blick über die inzwischen so vertrauten, bunten Fassaden schweifen, an denen sie zweimal die Woche vorbeifuhr, um ihre Termine im Institut für Human Intelligence Technologies wahrzunehmen.

Nur noch zwei Monate. Dann war sie bereit für die OP, wegen der sie extra nach San Francisco gezogen war. Dann würde sie endlich, endlich von ihrem schrecklichen Hörfehler befreit werden. Sie würde endlich ein normales Mädchen sein, das sich normal verhalten, normal unterhalten, normale Freundschaften schließen konnte. Sie würde endlich, endlich, endlich ein ganz normales Leben führen.

Sie hörte den Blinker, der Bus zog in die Haltebucht und zwei Jungen stiegen ein. Das war … Luke! Und Matt! Aus ihrem Physikkurs! Und beide wollten zum Amen Research Center! Auch wenn sie es ihr nicht direkt gesagt hatten – sie hatten noch nie etwas direkt zu ihr gesagt –, so hatten sie sich doch mit anderen darüber unterhalten. Jeanie atmete auf. Nun waren sie schon zu dritt. Vielleicht würde der Schulbus ja doch warten.

Sollte sie ihnen zuwinken? Und wenn sie dich nicht erkennen, weil sie dich in den zwei Monaten seit deiner Ankunft noch nicht wahrgenommen haben? Sie hob zaghaft die Hand, doch Matt und Luke hatten sich bereits in die dritte Bank hinter dem Fahrer gesetzt, ohne die geringste Notiz von ihr genommen zu haben. Natürlich. Was hatte sie erwartet. Sie spürte Hitze in ihre Wangen steigen und machte sich klein und unsichtbar in ihrem Sitz. Ihr Gehör aber fokussierte sie auf Matt und Luke, als würde sie einen Peilsender einstellen. Entschuldigt, aber das muss jetzt sein.

»Und was hat sie gesagt?«, fragte Luke.

»Dass sie Frau Witkowski Bescheid gibt und du am besten nach Hause fahren und dich ausruhen sollst und ich den Geschichtskurs besuchen soll.« Matt steckte sein Handy in den Rucksack.

»Musste das sein? Ich habe keinen Bock, dass die jetzt einen Aufstand machen und meinen Vater anrufen.« Lukes Stimme klang anders als sonst. Schwächer, trotz der Aufregung, die darin vibrierte. »Mir geht’s wieder gut.«

»Ja, weil ich dich eben aufgefangen habe, bevor dein Sturkopf einen Krater in den Bordstein schlagen konnte. Bist du nicht vor zwei Wochen schon mal zusammengeklappt?«

»Nur ’ne Wachstumsstörung. Nicht schlimm.«

Nicht schlimm? Jeanie beugte sich vor. Seine Stimme sagte etwas vollkommen Anderes. Es war ein feines Tremolo der Angst, das sich plötzlich durch seine Worte zog.

»Wachstumsstörung?« Matt lachte auf. »Hältst du mich für blöde? Jeder, der ein medizinisches Kompendium gelesen hat, weiß, dass du keine Wachstumsstörung hast.«

»Ein medizinisches WAS?« Luke wandte sich zu Matt und schüttelte den Kopf. »Du bist echt schräg, weißt du das?«

»Warum? Weil ich mich für Medizin interessiere? Oder weil ich deinen Blutzucker mit Nüssen statt Schokolade hochgeschossen habe?« Matts Stimme stieg einen Viertelton nach oben. Deutlicher Anflug von Ärger. »Wie wär’s, wenn du einfach froh bist, dass ich wusste, was zu tun war, anstatt mich dumm von der Seite anzuquatschen.«

»Sorry, Kumpel.« Luke streckte ihm die Hand hin. »Danke, dass du dich gekümmert hast. Und … das mit dem schräg habe ich nicht so gemeint. Du bist schwer in Ordnung. War ein echter Scheißmorgen.«

»Passt schon.« Matt schlug ein. »Lass es einfach anschauen, okay?«

»Aye, aye, Doc.«

Betroffen starrte Jeanie auf Lukes Hinterkopf. Sein Aye, aye, Doc war ein klares vergiss es gewesen. Er hatte nicht vor, es anschauen zu lassen. Ihre Kehle wurde eng. Und wenn er wirklich ein schlimmes Problem hatte und es immer schlimmer wurde, weil er es nicht wahrhaben wollte? Sie schluckte. Das durfte nicht sein. Nicht, weil Luke der große, umschwärmte Sportstar der Schule war. Sondern weil Lukes Lächeln wie ein Sonnenstrahl die ganze Schule erwärmte. Weil er immer und für alle ein freundliches Wort übrighatte. Na ja, nicht ganz alle, aber für alle, die ihn ansprachen …

Da stand Luke auf. »Wir sind da.«

Jeanie sah aus dem Fenster. Vor ihnen erschien das Schulgebäude der Gateway High. Kein einziger Schüler war vor dem Gebäude aus Beton und Glas zu sehen, natürlich nicht, der Unterricht hatte bereits angefangen.

Der Bus hielt und sie eilte zum Ausstieg. Matt ging bereits Richtung Sammelplatz, doch Luke stand an der Tür und wartete auf sie.

»Na, schau an, wir sind nicht die Einzigen, die zu spät kommen.« Er lächelte sie an. »Du bist die Neue, nicht wahr?«

Jeanie war kurz vor der Schnappatmung.

Ja, bin ich.

Es war nicht sooo schwer, diese drei Worte zu sagen! Doch nicht eine Silbe kam über ihre Lippen. Gerade, dass sie ein schwaches Nicken zustande brachte.

»Ich bin Luke, freut mich.« Er hielt ihr die Hand hin.

Jeanie nahm sie, spürte, wie ihre Hand zitterte, wie sein Händedruck warm und beruhigend durch sie hindurchfloss, und plötzlich verstand sie, warum all die Mädchen wirklich für ihn schwärmten. Nicht weil er der große Star war, sondern weil er ihnen das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein. Er sah sie an, und plötzlich veränderte sich etwas.

Mit einmal stand nicht Luke, der Sport-Star vor ihr, sondern ein ganz anderer Mensch. Ein Mensch wie sie selbst, verletzlich und einsam. Am liebsten hätte sie ihn in den Arm genommen, so wie Tante Mitra sie an sich drückte, wenn sie von der Schule nach Hause kam und Mitra mit einem Blick erkannte, dass sie mal wieder einen dieser Tage gehabt hatte.

»Ich bin Jeanie«, stieß sie hervor, sich plötzlich bewusst, dass sie ihn schon viel zu lange anstarrte. Er brach den Augenkontakt ab, ließ hastig ihre Hand los, räusperte sich gleichzeitig und mit einmal stand wieder Luke, der unbekümmerte Star vor ihr.

»Mal sehen, ob die anderen auf uns gewartet haben.« Luke zwinkerte ihr zu und folgte Matt. Krampfhaft versuchte sie mit Luke Schritt zu halten und verfiel in ihren peinlich hoppeligen Laufschritt. Ausgerechnet neben Luke! Falls er je vorgehabt hatte, sich ein zweites Mal mit ihr zu befassen, dann würde er es sich spätestens jetzt anders überlegen. Sie bogen um die Ecke und sahen Matt. Und den leeren Platz.

Matt zuckte die Achseln. »Sieht ganz nach Geschichtskurs aus.«

»Sorry, Matt. Das ist meine Schuld.« Luke schien es ehrlich leidzutun.

»Ach, ist nur ’n Schulausflug.« Matt grinste. »Ob wir jetzt oder in einer halben Stunde oder gar nicht in Geschichte auftauchen … wen interessiert’s? Wer geht mit mir ’nen Frappuccino trinken?« Er sah zu Luke. Zu Jeanie.

Sie glaubte sich verhört zu haben. Forderte Matt sie gerade dazu auf, die Schule zu schwänzen? Sie hatte noch nie in ihrem Leben auch nur eine Minute unentschuldigt gefehlt. Nie! Andererseits … ein Frappuccino mit Matt und Luke? Wann würde sie je einen besseren Grund bekommen, um zu schwänzen? Und … überhaupt, Mitra hatte schließlich gesagt, sie solle mal was riskieren. Sie würde ihre Entscheidung sicher gutheißen. »Ich«, rief Jeanie aufgeregt.

»Geschichte? Bei der Witkowski?« Luke zog eine Grimasse. »Da fragst du noch?«

In dem Moment vernahm Jeanie ein Auto mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit auf die Schule zurasen. Sie sah zur Einfahrt, schon preschte ein grauer SUV krachend über die Bodenschwellen und hielt mit quietschenden Reifen an dem Busparkplatz. Die Scheibe fuhr herunter und das Mädchen mit den blauen Haaren steckte den Kopf heraus.

»He!«, rief sie. »Luke! Matt! Mädchen mit dem Sonnenponcho! Habt ihr auch den Bus verpasst?« Sie grinste und winkte sie zu sich. »Expresszustellung nach Mountain View gefällig?«

Sie sahen sich gegenseitig an. Als müssten sie erst die Optionen abwägen: Frappuccino oder Ausflug.

»Klar, klingt gut«, sagte Luke schließlich.

»Bye-bye, Frappuccino«, seufzte Matt und zog die Mundwinkel nach unten, doch Jeanie hörte den Jux in seiner Stimme. Er hielt ihr die Tür des Fonds auf. Als würde sie ganz selbstverständlich dazugehören. Jeanies Brust wurde ganz warm und weit vor Glück und sie vertrieb die mahnende Stimme, dass dies viel zu gut war, um lange währen zu können.

Develine

»Und du?«, richtete Develine sich an Jeanie, »warum warst du nicht pünktlich?«

»Ich … habe den Bus verpasst«, sage Jeanie schüchtern.

Develine suchte Jeanies große, schwarze Augen im Rückspiegel. Das Mädchen mit den auffälligen Augen und der schwarzen Haarmähne sah genauso schüchtern aus wie sie klang. »Echt? Du wirkst auf mich nicht wie jemand, der einfach so einen Bus verpasst. Ich hätte dich eher zu der Kategorie zehn Minuten zu früh gezählt.«

»Fünf bis sieben«, hauchte Jeanie.

Develine sah, wie Jeanie errötete, und grinste. »Du wärst der Traum meiner Mutter.«

»Wieso?«, fragte Luke. »Passt du deiner Mutter nicht?«

»Doch, klar«, wiegelte Develine ab, »aber manchmal geht ihr meine Einstellung zur Pünktlichkeit ziemlich auf die Nerven.«

»Wie ist denn deine Einstellung?«, fragte Matt nach.

»Entspannt.« Develine lachte. »Zu entspannt, laut Frau Witkowski. Die hat mich voll auf dem Kieker, weil ich ein paar Mal zu spät gekommen bin.«

»Du meinst immer«, warf Luke ein. »Das ist der Running Gag in dem Kurs.«

Develine gab Gas und wechselte auf die Überholspur. »Irgendjemand muss ja für ein bisschen Spaß in dem Trauerkurs sorgen.« Sie wandte sich wieder an Jeanie. »Schöner Name, übrigens. Jea-nie.«

»Danke«, sagte Jeanie und klang ehrlich überrascht. »Develine ist aber auch schön … und …« Sie stockte, als überlege sie, ob sie den nächsten Teil des Satzes laut aussprechen sollte. »Sehr … ungewöhnlich.«

»Das kannst du laut sagen.« Develine kicherte. »Develine war eine von Dads Comicfiguren: die Geliebte des Teufels – trickreich, stark und«, sie legte einen dramatischen Bariton in ihre Stimme, »ganz – schön – bööööse.«

»O-kay. Jetzt wird mir einiges klar.« Nun lachte auch Luke. Endlich. So bedrückt hatte Develine ihn noch nie erlebt und dabei war gerade seine zuverlässig gute Laune das, was sie an ihm so sehr mochte. »Ich heiße nach Lukas, dem Evangelisten. Schätze, unsere Eltern haben unterschiedliche Erwartungen an uns.«

»Erwartungen? Meine Eltern?« Develine kicherte erneut. »Die erwarten höchstens, dass sie mal wieder auf mich warten müssen. Apropos warten – da vorne ist der Bus!« Sie drückte das Gaspedal durch.

»Achtung! Sie überschreiten die zulässige Höchstgeschwindigkeit«, meldete sich prompt der Chauffeursmützen-Avatar.

Develine blieb auf dem Gaspedal. Die Geschwindigkeitsanzeige schnellte weiter nach oben, sie war nun sehr deutlich über dem Tempolimit. Teuer-deutlich – wenn sie erwischt würden. Aber wie wahrscheinlich war das schon im Stoßverkehr?

»Wenn du so weiterfährst, sind wir vor den anderen da.« Matt streckte seinen Kopf nach vorne. »Laut Navi brauchen wir noch zwanzig Minuten. Die Führung beginnt in fünfunddreißig. Wegen mir musst du keinen Strafzettel riskieren.«

»Wo bleibt da der Spaß?« Sie legte noch mehr an Tempo zu. »Stellt euch die Gesichter vor, wenn wir als Empfangskomitee aufmarschieren.«

»Hat was«, nickte Luke. »Ich übernehme die Hälfte vom Strafzettel.«

»Na dann …« Siegessicher zog Develine an dem Bus vorbei und blieb auf der linken Spur. »Schauen wir mal, was die Karre hergibt!«

Doch kaum hatte sie den Bus überholt, verlor der Honda an Geschwindigkeit. Sie drückte das Gaspedal durch. Checkte die Tankfüllung. Dreiviertelvoll. Verflucht! Was war hier los?

Plötzlich wechselte der Honda auf die rechte Spur.

»Doch die Hosen voll?«, scherzte Luke.

»Ich bin das nicht!« Develine drückte so fest auf das Pedal, als wolle sie es durch den Unterboden schieben.

»Ne. Klar.« Luke grinste.

»Wirklich!« Wieder wechselte das Auto die Fahrspur, diesmal auf den Verzögerungsstreifen zur Ausfahrt, viel zu früh, nach Mountain View waren es noch fast 20 Kilometer. Develine lenkte dagegen, doch das Auto reagierte nicht. Es verringerte das Tempo, nahm die Ausfahrt und reihte sich in die Linksabbieger nach Loma Mar ein. Es war verrückt!

»He!« Luke sah sie stirnrunzelnd an. »Was soll das? Warum fährst du raus? Das ist die falsche Richtung!«

»Ich bin das nicht!« Sie bremste. Gab Gas. Bremste. Lenkte. Blinkte. Das Auto reagierte nicht. Es fuhr einfach weiter, auf die Bundesstraße, Richtung Loma Mar. Da verschwand die Landkarte vom Display, es leuchtete einmal blau auf und wurde dann schwarz.

»Wie, du bist das nicht?«, mischte Matt sich von hinten ein. Sein Kopf erschien zwischen den Vordersitzen. »Was meinst du damit?«

Develine ließ das Lenkrad los, hielt beide Hände in die Luft und zog ihren Gasfuß so weit hoch, dass er auf dem Fahrersitz ruhte. »Ich. Bin. Das. Nicht.«

»Das ist nicht witzig!«, fuhr Luke sie an. »Leg sofort die Hände wieder ans Lenkrad!«

»Wozu?« Sie fasste das Lenkrad und vollführte absurd heftige Lenkbewegungen, die das Auto in Sekundenschnelle von der Fahrbahn hätten abbringen müssen. »Das Auto macht, was es will.«

Da wurde es langsamer – obwohl kein Auto vor ihnen fuhr, keine Ampel, keine Abbiegung in Sichtweite war. Es bremste ab, ab, ab. Doch es kam nicht zum Stehen, sondern fuhr plötzlich wieder weiter.

»Scheiße! Develine!« Lukes Stimme überschlug sich fast. »Hör auf damit! Ich weiß doch, das ist einer deiner abgefahrenen Tricks.«

»Ist es nicht!«

»Ist es doch!« Luke klopfte das Armaturenbrett ab. »Was ist hier eingebaut? Eine Fernbedienung? Eine versteckte Kamera?«

»Was weiß denn ich?« Develine schlug auf das Lenkrad ein. »Scheißkarre!«

»Ich sag’s dir«, Luke schnaubte, »wenn sich das als mieser Scherz rausstellt, bist du für mich erledigt.«

»Es ist kein Scherz«, sagte Jeanie schüchtern. »Develine hat genauso viel Angst wie du. Sie weiß nicht, was los ist, und sie ist beunruhigt.«

Totale Stille breitete sich im Auto aus. Dann wandten sich alle an Jeanie.

»Woher weißt du das?«, fragte Develine stirnrunzelnd.

»Ich höre es. Tut … tut mir leid, wenn ich das nicht hätte sagen dürfen …« Jeanie errötete.

»Nein, nein, natürlich darfst du!« Develine drehte sich nun ganz nach hinten, um Jeanie besser zu sehen. »Aber wie kannst du das hören?«

»Die Angst verändert deine Stimme.«

»Hast du sonst noch was gehört?«, fragte Matt, seinen Blick wieder auf das Armaturenbrett gerichtet.

»Als Develine den Bus überholt hat, hat es geklickt, so wie …« Jeanie machte eine Pause. » … eine Zentralverriegelung? Und seitdem surrt es.«

»Zentralverriegelung?« Sofort zerrte Luke an dem Türgriff. »Scheiße! Die verdammte Tür geht nicht auf!« Er hämmerte dagegen, presste den Fensteröffner. Nichts. »Was soll das? Ich will hier raus!«

»Luke!«, rief Develine und boxte hart gegen seinen Arm. »Halt jetzt die Klappe, sonst knock ich dich aus.«

Luke glotzte sie an. Ungläubig. Er öffnete den Mund, doch Develine fixierte seinen Blick, hob warnend den Finger und legte ihn dann an ihre Lippen. Luke schloss den Mund und rieb seinen sichtlich schmerzenden Arm. Vielleicht hätte sie weniger hart zuschlagen sollen.

»Okay«, sagte Develine und wählte bewusst einen besonders gelassenen Tonfall. »Können wir bitte alle die Ruhe bewahren?« Sie wandte sich an Jeanie. »Hast du noch etwas gehört?«

Jeanie legte den Kopf schief. Lauschte. »Nein. Euch. Das Surren. Das Klicken. Ein sehr feines, hohes Klirren, den Motor. Aber ich höre viel zu wenig. Da müsste viel mehr sein.« Sie schüttelte den Kopf und zeigte auf die sich verändernde Landschaft, die Bäume, die Hügel, die Weide mit den Schafen. »Ich sehe die Schafe, aber höre sie nicht. Das ist seltsam.«

Seltsam? Develine betrachtete Jeanie mit unverhohlener Neugier. Seltsam war nur, wenn man durch ein geschlossenes Autofenster Schafe hörte, die fünfzig Meter neben einer Straße friedlich weideten.

»Seit wann hast du das Auto?«, fragte Matt.

»Ist das meiner Nachbarin«, sagte Develine. »Sie hat es mir geliehen, damit ich zur Schule fahren kann.«

»Du fährst aber nicht zur Schule«, warf Matt ein. »Kann es sein, dass ihr Auto eine Fernsteuerung eingebaut hat und sie es gerade zurückbeordert?«

Develine zögerte. Bei Roseanne war so ziemlich alles möglich. Sie tat den ganzen Tag nichts anderes, als Dingen hinterherzujagen, die normale Menschen sich nicht einmal vorstellen konnten. Und dieses Auto war technisch so hochgerüstet, dass eine Fernsteuerung nicht abwegig wäre. »Schon … aber, wenn sie das tut, warum schickt sie uns dann nach Loma Mar?«

»Kannst du sie nicht anrufen?«

»Natürlich! Moment.« Develine schnallte sich ab, fischte ihr Handy aus der Hosentasche und wählte Roseannes Nummer. Es klingelte, klingelte, klingelte. »Geht nicht ran.«

Matt streckte seine Hand vor. »Kann ich mal dein Handy haben?«

Sie gab es ihm. Es war absurd. Sie saßen in einem offenbar ferngesteuerten, technisch hochgerüsteten Auto, das sie gerade in das unberührte, wilde Naturschutzgebiet zwischen Meer und San Francisco entführte.

ENTFÜHRT!

Auf so eine abgedrehte Story würde nicht mal ihr Vater kommen. Und seine Stories waren immer abgedreht. Develine spürte die Angst in ihrer Kehle und atmete sie weg. Sie brauchte einen klaren Kopf – und Angst blockierte.

»Das Signal ist gestört.« Matt reichte ihr das Handy zurück und wandte sich an Jeanie. »Vielleicht ist der hohe Ton, den du hörst, das Störsignal. Es liegt normalerweise außerhalb des menschlichen Gehörs. Welchen Frequenzbereich kannst du hören?«

»Acht Hertz bis hundertzwanzigtausend«, sage Jeanie so leise, als schäme sie sich dafür.

»Du kannst Infra- und Ultraschall hören?«, fragte Matt ungläubig.

»Können wir das nicht alle?«, fragte Luke.

»Nein.« Matt schüttelte vehement den Kopf. »Alles was unter sechzehn Hertz ist, also Infraschall, nehmen wir höchstens als Vibration wahr, und was über sechzehn- bis zwanzigtausend liegt, gar nicht. Das hören nur bestimmte Tiere, zum Beispiel Fledermäuse.«

Develine musterte Jeanie neugierig. »Wie ist das so? Nervig oder cool?«

»Beides.« Jeanie lächelte entschuldigend. »Ich habe mir das nicht ausgesucht.«

»Ich würde mir das sofort aussuchen.« Develine legte ihre Hände wie Trichter an die Ohren. Besser hören als eine Fledermaus, wie großartig war das denn?! »Kannst du auch durch Türen lauschen? So wie Supergirl?«

»Na ja, schon … aber eben jetzt gerade nicht.«

Wieder begann das Auto unerklärliche Brems- und Beschleunigungsmanöver hinzulegen. Develine sah, wie Jeanie sich verkrampfte und Matt aufmerksam die Geschwindigkeitsanzeige verfolgte, als wolle er ein Muster ausmachen, nach dem das Auto seine Bremsmanöver ausrichtete.

»Sorry, Dev«, sagte da Luke. »Ich habe vorhin die Kontrolle verloren. Ist echt ein Scheißtag heute.«

»Haben wir alle mal.« Develine hielt ihm die Hand hin, er klatschte ab.

»Vielleicht ist es eine Fehlfunktion.« Matt zeigte auf den Tachometer. »Die Geschwindigkeit stimmt nicht mit den zurückgelegten Kilometern überein.«

»Wie meinst du das?«, fragte Luke.

»Nach den letzten beiden Schildern, die wir passiert haben, sind wir sieben Kilometer gefahren. In acht Minuten. Dann hätten wir uns mit 52 km/h bewegen müssen, wir sind aber langsamer und bremsen immer wieder ab und beschleunigen. Laut Tacho haben wir nur 5,3 Kilometer zurückgelegt.«

»Und das hast du mal eben so ausgerechnet?«, fragte Luke ehrfürchtig.

»Ein einfacher Dreisatz. Kannst du auch.« Matt wuschelte sich mit der Hand über den Hinterkopf. »Wenn also der Tacho nicht die richtige Geschwindigkeit anzeigt, liegt es dann nicht nahe, dass alles im Auto gerade eine Fehlfunktion hat?«

»Möglich.« Develine starrte auf den Tacho. Ein einfacher Dreisatz. Klar. Sie wäre nur überhaupt nie auf die Idee gekommen, die Geschwindigkeit mit den Straßenschildern und der Zeit abzugleichen.

»Seit wann fährt deine Freundin denn das Auto?«, fragte Matt. »Hat es eine Art Selbstfahrmodus? Hatte sie schon mal Probleme damit?«

»Es ist nicht ihr Auto. Das ist ein Leihwagen, weil ihrer in der Werkstatt ist.«

»Okay …« Matt strich sich nachdenklich über den Nasenrücken. »Neue Situation.«

»Scheiße, Leute, wirklich neue Situation!« Es rumpelte, Luke zeigte auf die Straße vor ihnen, die keine mehr war, zu der Felswand, auf die sie mit unverminderter Geschwindigkeit zufuhren. Develine trat die Bremse bis zum Anschlag durch, riss das Lenkrad nach links, nach rechts, zog die Handbremse.

»Verdammt!«

Die Felswand kam immer näher, sie ließ das Lenkrad los, zerrte am Türgriff, rammte den Ellenbogen ins Fenster.

Es gab kein Entrinnen.

Da rüttelte Luke an ihrem Arm. »Dev! Schnall dich an!«

Hektisch griff Develine nach dem Gurt, zu hektisch, er blockierte. Luke griff über sie und zog den Gurt über Develines Körper. Das Klicken ging in dem Schrei unter, der aus ihrer aller Münder gemeinsam zu kommen schien, und mit jedem Meter anschwoll, den die Felswand auf sie zukam.

Zehn Meter, neun, acht, sieben, sechs …

Matt

Matt schloss die Augen und öffnete sie erneut. Es blieb schwarz.

»Luke? Jeanie? Matt?«, rief Develine. »Alles okay?«

»Yep«, sagte Luke.