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Stellen Sie sich vor: Sie sind der Cyborg-Pilot eines gewaltigen Raumkreuzers und durcheilen seit Jahrtausenden inter-kosmische Weiten – aber die Besatzung hat ihre Herkunft ebenso vergessen wie das Ziel ihrer Reise... Sie sind ein irdischer Astronaut und entdecken auf einem paradiesischen Planeten eine Gruppe von Gestrandeten – aber einige davon sind von dem Gedanken, gerettet zu werden, gar nicht erbaut... Sie sind Mitglied einer Zeitforschungsorganisation, die im Quartär eine Basis errichtet hat – aber plötzlich stellen Sie fest, dass der Grund Ihres Hierseins ganz anderen Zwecken dient... Sie sind Bewohner einer kalten, unwirtlichen Welt – und stoßen unerwartet auf einen Außenweltler...
Hermann Urbanek, SF STAR: »Ronald M. Hahn... ist zu einem der überzeugendsten und vielseitigsten deutschen SF-Autoren geworden.«
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Veröffentlichungsjahr: 2017
RONALD M. HAHN
Inmitten der großen Leere
Erzählungen
Mit einem Nachwort von Horst Pukallus
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
Inmitten der großen Leere
Drei Menschen im Schnee
Operation Vergangenheit
Auf unbekanntem Stern
Eine schicksalhafte Begegnung - Nachwort von Horst Pukallus
Quellenangaben
Stellen Sie sich vor: Sie sind der Cyborg-Pilot eines gewaltigen Raumkreuzers und durcheilen seit Jahrtausenden inter-kosmische Weiten – aber die Besatzung hat ihre Herkunft ebenso vergessen wie das Ziel ihrer Reise... Sie sind ein irdischer Astronaut und entdecken auf einem paradiesischen Planeten eine Gruppe von Gestrandeten – aber einige davon sind von dem Gedanken, gerettet zu werden, gar nicht erbaut... Sie sind Mitglied einer Zeitforschungsorganisation, die im Quartär eine Basis errichtet hat – aber plötzlich stellen Sie fest, dass der Grund Ihres Hierseins ganz anderen Zwecken dient... Sie sind Bewohner einer kalten, unwirtlichen Welt – und stoßen unerwartet auf einen Außenweltler...
Hermann Urbanek, SF STAR: »Ronald M. Hahn... ist zu einem der überzeugendsten und vielseitigsten deutschen SF-Autoren geworden.«
Ronald M. Hahn, Jahrgang 1948.
Schriftsteller, Übersetzer, Literaturagent, Journalist, Herausgeber, Lektor, Redakteur von Zeitschriften.
Bekannt ist Ronald M. Hahn für die Herausgabe der SF-Magazine Science Fiction-Times (1972) und Nova (2002, mit Michael K. Iwoleit) sowie als Autor von Romanen/Kurzgeschichten/Erzählungen in den Bereichen Science Fiction, Krimi und Abenteuer.
Herausragend sind das (mit Hans-Joachim Alpers, Werner Fuchs und Wolfgang Jeschke verfasste) Lexikon der Science Fiction-Literatur (1980/1987), die Standard-Werke Lexikon des Science Fiction-Films (1984/1998, mit Volker Jansen), Lexikon des Horror-Films (1985, mit Volker Jansen) und das Lexikon des Fantasy-Films (1986, mit Volker Jansen und Norbert Stresau).
Für das Lexikon der Fantasy-Literatur (2005, mit Hans-Joachim Alpers und Werner Fuchs) wurde er im Jahr 2005 mit dem Deutschen Fantasy-Preis ausgezeichnet. Insgesamt sechsmal erhielt Hahn darüber hinaus den Kurd-Laßwitz-Preis – dem renommiertesten deutschen SF-Preis - , u.a. für die beste Kurzgeschichte (Auf dem großen Strom, 1981) und als bester Übersetzer (für John Clute: Science Fiction – Eine illustrierte Enzyklopädie, 1997).
Weitere Werke sind u.a. die Kurzgeschichten-Sammlungen Ein Dutzend H-Bomben (1983), Inmitten der großen Leere (1984) und Auf dem großen Strom (1986) sowie – als Übersetzer – der Dune-Zyklus von Frank Herbert.
Ronald M. Hahn lebt und arbeitet in Wuppertal.
Paul zeugte David.
David zeugte Gowan.
Gowan zeugte Ismael.
Ismael zeugte Parson.
Parson zeugte Khanar.
Khanar zeugte Selwyn.
Selwyn zeugte Harot.
Harot zeugte Gaz.
Gaz zeugte Halmar.
Halmar zeugte Perivan.
Perivan zeugte Sardoz.
Sardoz zeugte Eyran.
Eyran zeugte Halifar.
Halifar zeugte Bogdan.
Bogdan zeugte Lemuel.
Lemuel baute das Schiff.
Und ich steuere es.
Ich lebe im Dunkel und harre der Dinge, die da kommen werden. Noch sind meine Augen und Ohren überall, aber die Lage ändert sich. Bald wird alles anders sein. Noch bin ich da, lausche/beobachte und konzentriere mich auf die Mannschaft. Mein momentaner Favorit ist Chang Gadanga, die sich für etwas hält, was sie nicht ist, weil sie nicht mehr weiß als all die anderen. Chang Gadanga ist der/die letzte Angehörige einer langen Reihe von Kommandanten ohne Macht. Die Innenwelt, die Chang Gadanga und die anderen teilen, füllt das Dunkel aus, in dem ich lebe.
Was die Mannschaft angeht:
Ich kenne ihre Gedanken
träume ihre Träume
steuere ihre Handlungen.
Nichts ist mir verborgen. Ich rieche, schmecke, fühle, sehe und höre, was sie riecht, schmeckt, fühlt, sieht und hört. Wenn die Mannschaft sich auslebt, lebe ich auf. Sie führt ein für meine Begriffe unbedeutendes Leben, aber es ist dennoch voller Rätsel – und niemand ahnt, dass da irgendwo in der Finsternis, hinter undurchdringlichen Wänden und dicken Bleiplatten, jemand ist, der nur an den Fäden zu ziehen braucht, sollten seine Bewegungen einfallslos sein oder seine Gespräche in ihm Langeweile erzeugen.
Da ist zum Beispiel Moran.
Der Gesichtslose.
Er erwacht gerade aus einem erfrischenden Schlaf/hat eine neue Traumwelt ausprobiert. Er hat sich hingegeben und in einem Heer feucht glänzender Leiber gewälzt, deren Aussehen jeden anderen das pure Grauen eingeflößt hätte. Seine Innenwelt ist ein bizarres Gewirr von Farben und Formen. Moran kann weder sehen noch hören, aber seine fremdartigen Wahrnehmungsorgane haben in ihm eine ganz andere Vorstellung von der Realität erzeugt. Die Innenwelt, in der er völlig isoliert lebt, ist mit Geschöpfen bevölkert, die klauenbewehrten grauen Fledermäusen mit spitzen Ohren/Schnauzen/Zähnen ähneln und feine dünne Flughäute haben. Sie leben in großen, von Säulen getragenen Hallen, aus deren Böden wuchtige faserige Riesenpilze wachsen. Außerhalb dieser Innenwelt bewegt sich Moran meist in endlosen röhrenförmigen Korridoren dahin. Aber diese sind real. Ein inneres Radarsystem weist Moran den Weg und sorgt dafür, dass er nirgendwo anstößt.
Moran erhebt sich in diesen Moment. Mit fließenden Bewegungen geht er zum Ausgang seiner Unterkunft. Er gleicht äußerlich den Erbauern des Schiffes, nur hat er kein Gesicht. Sein Kopf ist glatt, haarlos und eiförmig. Er trägt einen Umhang mit Kapuze, aber das hat keinen besonderen Grund. Dort, wo die Frann Augen, Nase und Mund haben, ist bei Moran nur Leere. Aber er braucht weder sehen noch hören zu können, denn er bevölkert sein eigenes Universum und ernährt sich von Energien, die er seiner Umgebung entzieht. Es gibt ein halbes Dutzend Exemplare seiner Art an Bord: Die Gesichtslosen sind das Produkt eines genetischen Experiments, das offenbar fehlgeschlagen ist. Ich erinnere mich nicht mehr genau daran, denn 7000 Jahre sind eine lange Zeit. Wenn die Gesichtslosen aufeinander stoßen, spüre ich, dass sich zwischen ihnen unsichtbare Barrieren erheben. Irgendwie spüren sie es, wenn einer dem anderen gegenübersteht; meist ziehen sie sich dann hastig zurück, als fürchteten sie sich voreinander. Sie sind sich offenbar selbst nicht ganz geheuer. Sogar mir fällt es schwer, in ihre Innenwelt vorzudringen. Ihre Gedanken sind nur schwer erfassbar, denn sie denken in anderen Strukturen. Man hat viel zu tun, wenn man sie interpretieren will.
Chang Gadanga ist da von ganz anderer Art. Sie ist zwar – wie die Gesichtslosen – äußerlich menschlich, aber weder Mann noch Frau. Im besten Falle ist sie beides, denn sie/er kann sein, was sie/er will und unterscheidet sich darin nicht von den vielen hundert anderen ihrer Art. Sie bewohnen die oberen Decks, treffen sich in unregelmäßigen Intervallen, sitzen herum, trinken, veranstalten Orgien, befragen die Sybillen oder jagen die Vermummten. Im Augenblick sehe ich, dass Chang Gadanga
aufsteht
sich reckt
das dringende Verlangen nach geschlechtlicher Befriedigung verspürt
mit einem trägen Blick die Umgebung mustert und
mit dem Gedanken spielt, den zehn mal zehn Meter großen Raum, der ihre Unterkunft ist, zu verlassen und sich in die Große Halle zu begeben.
Aber was ist das?
Sie setzt den Gedanken nicht in die Tat um. Das war vorherzusehen. Dass sie meiner Kontrolle entgleitet – darauf war ich vorbereitet. Aber so schnell?
Chang Gadanga scheint selbst erstaunt darüber zu sein. Zum ersten Mal in ihrem langen Leben hat sie das Gefühl einer einschneidenden Veränderung. Aber worin manifestiert sie sich? Chang Gadanga schüttelt den Kopf. Bisher hat sie nach dem Aufwachen immer gewusst, wie ihr Tagesablauf aussieht. Heute ist etwas anders. Sie steht da, starrt vor sich hin, überlegt. Ihre Gedanken sind unscharf, verschwommen. Nicht hundertprozentig lokalisierbar. Sie ist dermaßen unentschlossen, dass sie im ersten Augenblick nicht einmal wagt, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Ich verstehe sie. Bisher ist ihr Leben immer nach einem Plan verlaufen. Der Plan bestand darin, dass sie ihr Leben nicht geplant hat. Und nun?
Die Verbindung ist teilweise gekappt. Ich kann sie zwar noch sehen, reden und denken hören, aber das ist alles. Es ist eine äußerst schmerzliche Erfahrung, dass ich sie nicht mehr steuern kann. Aber es konnte ja nicht immer so weitergehen. Es ist (für Chang Gadanga) als entstiege sie einem Traum; als sei sie nach langer, fiebriger Krankheit aus einem Heilschlaf erwacht und nun ganz auf sich allein gestellt. Nicht etwa, weil sie je gespürt hätte, dass da jemand ist, der ihren Willen beeinflusst. Bisher ist sie stets der Ansicht gewesen, für ihr Denken und Handeln allein verantwortlich zu sein. Umso mehr überrascht sie die Feststellung, dass sich in ihrem Kopf nun eine seltsame Leere ausbreitet, die es zu füllen gilt.
Sie geht – aus eigenem Entschluss – hinaus und betritt einen röhrenförmigen Korridor, der sich in zwei Richtungen erstreckt. Die Beleuchtung funktioniert nicht mehr, das sieht Chang Gadanga sofort. Nur die kleinen roten Lämpchen brennen. An der nächsten Gangkreuzung stößt sie auf eine schlafwandlerisch dahin wandelnde Sybille. Sie ist schlank und hübsch und ganz das Abbild der einstigen Schiffbauer. Sie hat lockiges Haar, einen kleinen Busen und lange Beine. Ihr Blick ist leer. Sie ist ein ansehnliches, aber blutleeres Geschöpf mit feinen Gesichtszügen, zarten Händen und einer römischen Nase. Wie alle Sybillen wirkt sie kalt und teilnahmslos. Obwohl ihre Haut menschlich wirkt, ist sie aus Metall – wie auch das fast bodenlange Kleid, das ihren Leib umschmeichelt.
„Ich fühle mich sonderbar“, sagt Chang Gadanga zu der wartenden Sybille. „Mein Kopf ist leer. Kannst du mir sagen, woran das liegt?“
Die Sybille hebt den Kopf und sieht Chang Gadanga an. Natürlich sieht sie sie nicht wirklich.
„Dónde trabajas usted?“, fragt sie mit dünner, zitternder Stimme.
Chang Gadanga versteht nicht. „Ich verstehe dich nicht“, sagt sie zweifelnd.
„Es sind die Veränderungen“, sagt die Sybille unerwartet in der Sprache, die Chang Gadanga kennt. „Sie...“
„Das glaube ich auch“, sagt Chang Gadanga nachdenklich und mustert die Spitzen ihrer schwarz glänzenden Stiefel. Sie hat auf einmal ganz sonderbare Gedanken und überlegt, ob die Sybillen eigentlich Geschlechtsorgane haben. „Haben Sybillen eigentlich Geschlechtsorgane?“, fragt sie, als ihr starres Gegenüber einen Schritt nach links macht und den Eindruck erweckt, in einem der Nebenkorridore verschwinden zu wollen.
Die Sybille verharrt. Chang Gadanga hat den Eindruck, als suche sie nach Worten. Es sieht so aus, als sei die Sybille sich über den Sinn dieser Frage nicht ganz im Klaren.
Chang Gadanga macht einen Schritt auf sie zu, packt mit beiden Händen das dünne Foliengewand der Sybille und hebt es hoch. Metall raschelt. Chang Gadanga ist nicht überrascht, als sie sieht, dass die Sybille unter dem Gewand nackt ist. Ihr Unterleib ist glatt, straff, fugenlos und zeigt keinerlei Öffnungen.
„Die Veränderungen haben Ursachen, mit denen die Mannschaft nicht rechnen konnte“, sagt die Sybille, ohne gefragt worden zu sein – und das ist etwas, das Chang Gadanga ungemein überrascht. Sie lässt das Foliengewand sinken und sucht den Blick ihres Gegenübers.
Dennoch schweigt sie. Aber in ihrem Inneren tut sich etwas. Sie hat etwas erkannt. Aber was? Die Sybille dreht ab und geht langsam, in einem zeitlupenhaft wirkenden Rhythmus, weiter in den Korridor hinein. Sie hat kein Ziel, hat nie eines gehabt. Sie wandert nur umher; das ist ihre Bestimmung.
Dass die Sybille ungefragt etwas von sich gegeben hat, wundert nicht nur Chang Gadanga. Es steht der Maschinerie nicht zu, Programme zu fahren, die niemand entwickelt hat. Wenn die Systeme derartige Verhaltensweisen an den Tag legen, sind die Veränderungen tiefgründiger als zu erwarten war. Ich aktiviere den Rundblick. Die Fliegen öffnen die Augen und beobachten für mich. Überall, wo die emotionslosen Sybillen herumstehen, ist die Lage gleich.
Ich muss auf der Hut sein.
Man hat die Veränderungen inzwischen auch anderswo wahrgenommen. Chang Gadanga ist nicht die Einzige, die ein gewisses Unbehagen verspürt; die Gesichtslosen tasten die Wände ab und versuchen sich die Realität der Vergangenheit in Erinnerung zurückzurufen. Die Vermummten knien in ihren dunklen Hallen auf den unteren Decks und murmeln unverständliche Gebete. Andere ihrer Art, die sich nur ans Licht wagen, wenn der Hunger sie drängt, tanzen reit gespenstisch anmutenden Bewegungen um große Feuer und schwenken Fackeln. Die Laute, die sie ausstoßen, zeugen von beginnendem Wahnsinn. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie sich sammeln, um einen neuen Raubzug zu organisieren. Dann werden sie alles Leben aus dem Weg räumen, in dessen Adern Flüssigkeit sprudelt.
Chang Gadanga hat die Sybille inzwischen vergessen und strebt mit langsamen Schritten einem großen Saal entgegen, dessen Einrichtung die Finsternis einer schwarzen Seele ausdrückt. In diesem Raum herrscht Zwielicht, wie überall. Die Wände sind hinter schweren Vorhängen verborgen, aber dahinter liegen keine Fenster. Schiebt man die Vorhänge zur Seite, stößt man auf kalte, metallene Barrieren, die trotz ihrer Glätte nichts reflektieren. Die den Raum bevölkernden Frann stehen, liegen oder sitzen herum. Sie starren gelangweilt an die Decke, plappern vor sich hin oder tasten ihre Nachbarn ab. Niemand hört dem anderen zu. Drei Angehörige von Chang Gadangas Art haben sich auf dem Boden zu einer Gruppe formiert und versuchen einander geschlechtlich zu erregen. Ihre Bewegungen sind lustlos und zeugen von tiefer Gleichgültigkeit. Niemand bemüht sich, den Ursachen der Veränderung auf den Grund zu gehen.
In der Nähe eines erkalteten Kamins stehen mehrere Frann und unterhalten sich. Zwischen ihnen steht eine Sybille. Man hat ihr das Gewand abgestreift. Zwei Frann betasten gelangweilt die warzenlosen Brüste des schweigenden Geschöpfs. Chang Gadanga sieht ihnen eine Weile zu. Die Worte, die ihr Bewusstsein streifen, klingen hohl.
„...und dann...“
„...wollte gerade...“
„...kam aus dem...“
„...wie sonst auch...“
„...vergessen...“
Je länger sie den anderen Frann zuhört, desto weniger versteht sie. Chang Gadanga verspürt ein Schwindelgefühl und schüttelt sich. Aber die Veränderungseffekte bleiben. Alle Geräusche des Schiffes scheinen verstummt zu sein. Als sie den Versuch unternimmt, das Licht anzuknipsen, sagt jemand aus weiter Ferne: „...zwecklos... schon versucht...“
Trotzdem betätigt sie den Schalter. Erfolglos. Das Zwielicht der Notbeleuchtung bleibt. Ich hätte es ihr vorher sagen können. Chang Gadanga fragt sich nach den Ursachen, aber da sie nichts weiß, kommt sie auch nicht zu einem Schluss. Bisher hat immer ein Knopfdruck genügt, um das Licht angehen zu lassen. Sekunden später hat sie das Problem vergessen und lässt sich in einen schweren Sessel fallen, um denn Trio auf dem Boden zuzusehen. Keiner der Akteure bringt jedoch eine Erektion zustande.
„...meine ich...“, sagt jemand.
„...alles keinen Sinn...“
Bisher, denkt Chang Gadanga, habe ich alles steuern können. Was ist geschehen? Ich bin der Kommandant.
Und sie hört, dass in ihrer Nähe jemand sagt: „Bisher habe ich alles steuern können.“
Jemand lacht, aber das Lachen ist ohne Spott.
Die Sybille am Kamin öffnet plötzlich die Augen, schenkt den Umstehenden einen leeren Blick und sagt mit klarer Stimme: „Man muss Vorbereitungen treffen. Es wird Probleme geben. Es wird Probleme geben.“
„Das weiß ich“, erwidert jemand. „Das wissen wir alle. Aber was kümmert es uns?“
„Wie bitte?“, fragt eine andere Frann. „Was?“
„Ich sagte...“ Die Sybille beginnt von neuem, aber niemand hört ihr zu. Chang Gadanga, die sich fragt, wieso man der Sybille kein Gehör schenkt, steht auf. Sie nähert sich den anderen, schiebt sie beiseite und legt der Frann, die gerade die rechte Brust der Sybille küsst, eine Hand auf die Schulter.
„Wo ist das Licht?“, fragt sie. „Warum ist es so leer in mir? Antworte!“
Die Frann, auf deren Schulter Chang Gadangas Hand liegt, tritt beiseite und murmelt: „Sie ist eiskalt. Eiskalt. Wie widerlich.“ Sie geht. Die anderen wenden sich ab und ziehen geringschätzige Mienen.
„Bisher habe ich alles steuern können“, sagt Chang Gadanga zu der Sybille und hebt deren Foliengewand vom Boden auf. „Ich bin der Kommandant. Alles hat funktioniert. Was ist geschehen?“
„Nichts bist du...“, erwidert die Sybille, nimmt das Gewand an sich und klinkt aus. Ihr Blick wird wieder starr, daran zerspringen ihre Augen. Sie hebt einen Arm, aber er bleibt steif in der Luft stehen. Es ist, als verlöre die Sybille das Gleichgewicht. Ihr rechtes Bein knickt ein, dann fällt sie mit einem dumpfen Stöhnen zu Boden. Ihr Mund ist offen.
Chang Gadanga beugt sich zu ihr hinab und mustert sie. Es ist schrecklich, denkt sie, wenn man sich nicht konzentrieren kann. Kaum hat sie in das tote Gesicht der Sybille gesehen, als ihr Interesse auch schon erlahmt. Sie ist ausgegangen, kommt ihr in den Sinn, aber sie ahnt nicht, wer dafür verantwortlich ist.
Ich darf nicht zulassen, dass die Frann zu schnell eine Spur aufnehmen. Auch wenn es mich ungeheure, kostbare Energien kostet, eine Sybille auszuschalten – ich muss mich schützen. Es gilt zu verhindern, dass die Frann es erfahren. Ich weiß, dass es auf lange Sicht auch für mich keinen Ausweg gibt, aber ich kann das Ende so lange wie möglich hinauszögern.
Ein nachdenklicher Zug liegt auf Chang Gadangas Gesicht; als sie sich nach zweiminütiger Starre aufrichtet und die anderen mustert: Etwa zwei Dutzend Frann leben in diesem Sektor des Schiffes. Die meisten räkeln sich in den Sesseln, reden mit sich selbst oder geben vor, in einem Buch zu lesen. Andere starren in die Luft, als gäbe es dort etwas Interessantes zu sehen. Man trinkt, obwohl einem der Geschmack schon vor Jahrhunderten abhanden gekommen ist.
Zeremonien. Traditionen.
Als Chang Gadanga wieder auf den Beinen steht und ihre Gedanken langsam zu fließen beginnen, taumelt sie wie ein Blatt im Wind. Sie kann von Glück sagen, dass jemand neben ihr steht und ihren Sturz verhindert. Eine Desorientierte. Sie hat volle rote Lippen. Es reizt Chang Gadanga, diese Lippen zu küssen, aber sie weiß, dass das gefährlich werden kann: Die Desorientierten sind tabu; ihre Ausstrahlung kann jeden töten, der sich ihnen in unfriedfertiger Absicht nähert.
Chang Gadanga tritt respektvoll zurück. Die Gespräche der anderen gehen in ein Murmeln über. Die Frann wollen die Aufmerksamkeit der Desorientierten nicht auf sich ziehen. Als Chang Gadanga ihre Blicke sieht, weiß sie, was die anderen denken: Halt sie uns vom Leib; sieh zu, dass sie bei dir stehen bleibt! Sie hat einen toten Blick.
Aber auch Chang Gadanga ist nicht der Typ Frann, der dem Blick einer Desorientierten lange standhalten kann. Sie mustert die Pupillen der Fremden. Sie sind groß und nehmen fast den ganzen Augapfel ein. Die Desorientierten haben einen fast hypnotischen Blick. Schon mehr als eine Frann ist diesen sirenenhaften Geschöpfen verfallen, ihnen durch die leeren Schiffskorridore in die Dunkelheit gefolgt und den Vermummten zum Opfer gefallen. Die Frann glauben, dass die Desorientierten mit den Vermummten im Bunde sind, aber das entspricht natürlich nicht den Tatsachen.
Der Blick, der Chang Gadanga nun trifft, hat etwas Magisches und ich spüre, dass sie unter seiner Intensität geradezu wollüstig erschauert. Wie viele ihrer Art liebt und hasst Chang Gadanga die Desorientierten gleichzeitig. Die Weltabgewandtheit dieser Wesen fasziniert sie. Andererseits sagt ihr das Familiengedächtnis, dass diese engelhaften Lebewesen ihren Vorfahren einst etwas Schreckliches angetan haben.
„Gestern, als ich noch jung war“, sagt die Fremde und blickt Chang Gadanga an, „traf ich auf einen goldenen Reiter. Er schwenkte seinen Hut und sagte: Es gibt kein Ziel.“
Chang Gadanga schweigt. Sie weiß, dass die Desorientierten zu solchen Reden neigen. Sie hat keine Ahnung, wovon die andere spricht. Sie weiß nicht einmal, was ein Reiter ist. Um nicht unhöflich zu erscheinen, sagt sie unmotiviert: „Es hat Veränderungen gegeben. Die Geräusche sind erstorben. Das Licht ist weg.“
„Die Systeme verändern sich laufend“, erwidert die Desorientierte und legt eine Hand auf Chang Gadangas Arm. „Aber sie haben an Subtilität verloren. Niemand kann sagen, was die nächsten Schritte bringen werden. Geheimkonferenzen sind sinnlos. Sie bringen nichts ein. Trotzdem, man sollte niemandem trauen. Möglicherweise ist man uns bereits auf der Spur.“
„Tatsächlich?“, fragt Chang Gadanga. Auch diesmal hat sie nichts verstanden. Die anderen Frann kichern. Das Trio auf denn Boden stellt seine Bemühungen ein. Eine Frann, die Chang Gadanga imponieren will, lehnt sich zurück und macht kreisende Bewegungen mit dem entblößten Unterleib.
„Es gibt Wichtigeres“, sagt die Desorientierte, als habe sie die Bewegungen und Chang Gadangas interessierten Blick wahrgenommen. „Sucht hinter den Wänden und Spiegeln.“
War das ein Hinweis? Wenn ja, ist er für die Frann jedenfalls nicht dekodierbar. Wie die Sybillen sprechen auch die Desorientierten in Rätseln. Das hat seinen Grund, denn sie sind ausnahmslos schizophren.
Im Halleneingang taucht nun Moran der Gesichtslose auf. Obwohl er niemanden sehen oder hören kann, spürt er, dass er nicht allein ist. Er verharrt. Während die Frann bei seinem Anblick erschreckt kreischend die Flucht ergreifen, bleibt Chang Gadanga zitternd stehen, denn sie kann sich dem Blick der Desorientierten nicht entziehen. Sie weiß nicht, wie sie sich verhalten soll.
Als ich tiefer in sie dringe, spüre ich neben lähmender Furcht auch ein Gefühl großer Spannung. Sie fragt sich, ob auch der Gesichtslose die Veränderungen spürt.
Moran rührt sich nicht. Als ich in ihn eintauche, sehe ich, wie ihm seine momentane Umgebung erscheint: Es ist ein waberndes, nebelhaftes Nichts, in dem sich zwei Punkte bewegen. Seine Sinne nehmen wahr, dass hier zwei Wesenheiten miteinander kommunizieren, aber er kann nicht erfassen, um was es geht. Er spürt jedoch, dass man ihm keine feindlichen Gefühle entgegenbringt.
Als die Desorientierte in seine Nähe kommt, greift Moran sich an den Kopf. Er spürt die Anwesenheit der anderen und weiß, dass sie nicht von seiner Art ist. Seltsamerweise nimmt er auch die starr daliegende Sybille wahr. Sein fremdartiger Geist erschafft ein Symbol, das offenbar Trauer ausdrückt – und das überrascht mich.
Chang Gadanga möchte gehen, aber die Desorientierte packt ihren Arm und sagt: „Wehrt euch!“
„Gegen wen?“, fragt Chang Gadanga spontan und wundert sich im gleichen Augenblick, wieso sie den Worten der anderen überhaupt eine Bedeutung beimisst.
Sie bekommt keine Antwort, denn die Desorientierte bleibt nun stehen und lauscht mit nach innen gerichtetem Blick in sich hinein. Ich weiß, dass sie jetzt wieder die Stimmen hört, die sie und ihre Vorfahren seit Ewigkeiten begleiten. Es sind die Stimmen, die aus der Großen Leere kommen, die die Astrogatoren dazu verführt haben, sich der Maschinerie zu widersetzen und einen eigenen Kurs zu steuern. Man kann mit Worten nicht beschreiben, welche Wirkung die Stimmen auf die Desorientierten haben: In sich selbst geht die Desorientierte nun über ein wolkiges Feld auf einen feuerroten, im Nebel liegenden Fluss zu, der tausend Kilometer breit ist. Sie sieht sich als Lebewesen mit weichem braunem Pelz, katzenhaftem Gesicht und feinen Krallen. Über ihr schweben Vögel: Albatrosse mit weißen Schwingen. Wie die Gesichtslosen haben auch die Desorientierten ihre eigene Welt. Man hat sie ursprünglich geschaffen, um das Schiff durch die Große Leere zwischen den Welteninseln zu navigieren, aber das ist lange her. Ihre Bestimmung ist dahin; sie haben versagt und ihre Ämter verloren. Jetzt sind sie nur noch wandelnde Unheimlichkeiten, die mysteriösen, lockenden Stimmen lauschen und instinktiv erfassen, was sie tun müssen, um nicht unterzugehen.
Ich sehe, dass auch diese Desorientierte insgeheim erfasst hat, dass auf sie und die anderen etwas zukommt. Aber sie weiß diese Erkenntnis nicht in Worte zu kleiden.
Chang Gadanga will gehen, aber jetzt sieht die Desorientierte ihr in die Augen und schlägt sie in einen Bann. Chang Gadanga kann dem Blick keine Sekunde lang widerstehen. Als die andere hinausgeht, folgt sie ihr auf dem Fuße. Hat sie einen Plan? In ihrem Geist sehe ich jetzt nur Nebel. Da und dort erfasse ich rötliches Geflacker – wie von nächtlichen Feuern. Winzige, zackige Lichter. Sterne? Der Himmel über der Desorientierten ist schwarz und kalt. Ich sehe die Ruinen verfallener Bauten, eine geborstene Kuppel und dunkle Gestalten, die sich frierend um ein Feuer drängen.
Der Korridor scheint kein Ende zu nehmen. Überall sind Kreuzungen, Abzweigungen, Türen. Hin und wieder hört Chang Gadanga das hilflose Gesumm der um ihre eigene Achse kreisenden Fliegen, die langsam aber sicher ebenfalls meiner Kontrolle entgleiten. Vor ihr huscht ein Schatten dahin: eine Sybille mit zerfetztem Foliengewand. Sie murmelt Zahlenkolonnen vor sich hin. Chang Gadanga möchte sie anhalten und befragen, aber offenbar drängt die Zeit.
Es geht abwärts. Eine Treppe. Auf dem nächsten Absatz haben sich mehrere Frann versammelt und starren ängstlich in die Tiefe. Gemurmel. Die Frann halten Stangen in den Händen. Sie haben einen harten Kampf hinter sich. Eine Horde Vermummter hat versucht, sich Zugang zu den Oberdecks zu verschaffen. Man hat sie zurückgeschlagen, aber nicht ohne eigene Verluste. Als Chang Gadanga die Frann mustert, erkennt sie mehrere bekannte Gesichter.
„Was...“
„...Shavko und Rodomir umgebracht“, sagt jemand.
„...lieber von hier verschwinden...“
„...sowieso keine Chance...“
„...Barbarengesindel...“
Niemand hält die Desorientierte zurück, als sie die ersten Stufen hinter sich bringt. Warum auch? Chang Gadanga bewegt sich wie im Traum. Sie hat keine Angst mehr. Sie fragt sich nicht einmal, wo ihre Führerin hin will.
Und während sie ein Bein vor das andere setzt, wird es mir klar. Es gibt dort unten einen Weg... Aber daraus wird nichts, denn jetzt kommt der nächste Ansturm.
Unvorbereitet erhält Chang Gadanga einen heftigen Schlag ins Gesicht. Sie krümmt sich, wankt. Etwas Glänzendes durchbohrt den Leib der Desorientierten und lässt sie gegen Chang Gadanga fallen. Das geistige Chaos der nur aufs Fressen fixierten Vermummten droht mich zu ersticken. Sogar die Frann nehmen die Hassausstrahlung nun wahr. Sie schreien angstvoll auf und bilden eine Mauer, um dem Ansturm der nackten Gier den Weg zu versperren. Mehrere Frann fliehen. Die Vermummten sind hagere, knochige Gestalten, die in ewiger Finsternis leben. Sie haben zwar nur wenige Waffen, aber ihre Hände reichen vollkommen aus, um die verweichlichten, zart gebauten Frann schnell zu töten. Mit ausgestreckten Armen umklammern sie den Hals jener, die nicht schnell genug ausweichen können und pressen das Leben aus ihnen heraus. Trotz der in ihnen herrschenden Finsternis verspüren die Vermummten eine Art Rausch. Sie packen lautlos zu und ringen bis zum bitteren Ende.
Chang Gadanga hustet und spuckt. Als sie wieder bei Sinnen ist, sieht sie sich um. Der Ansturm hat die Linie der Verteidiger glatt überrollt. Die Frann haben sich zurückgezogen, die Vermummten setzen ihnen nach. Sieben oder acht Kämpfer sind auf der Strecke geblieben und liegen mit verrenkten Gliedmaßen und gebrochenen Augen auf dem Boden. Chang Gadanga gibt sich alle Mühe, die Toten zu zählen, aber sie kommt zu keinem konkreten Ergebnis. Sie sieht jedoch, dass die meisten Toten von ihrer Art sind.
Die Desorientierte lebt noch, aber ihr Blick ist bereits tot. Ihre blassen Lippen bewegen sich.
„Wehrt euch!“, flüstert sie.
Chang Gadanga glaubt sie zu verstehen, aber sie hat das Gefühl, dass es nichts nützt, wenn man sich wehrt, denn das Ergebnis hat sie ja gerade gesehen. Natürlich hat sie nichts verstanden, denn die Desorientierte hat nicht die Vermummten gemeint, sondern mich.