Terra - Science Fiction 10: Die Herren der Zeit - Ronald M. Hahn - E-Book

Terra - Science Fiction 10: Die Herren der Zeit E-Book

Ronald M. Hahn

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Beschreibung

Winter 1945. Der Weltkrieg nähert sich dem Ende. Die Rote Armee überflutet Ostpreußen. Die Deutschen packen. Hasso v. Traven, Leutnant zur See, ist auf dem Weg sich zum Dienst zu melden. Doch er kommt niemals dort an. Ein Abstecher zum evakuierten Anwesen seiner Familie bringt ihn unerwartet in Kontakt mit seiner Jugendliebe. Leonie ist als SS-Pilotin unterwegs, um einen Gegenstand zu bergen, der zum Auslöser eines Abenteuers wird, das alle Phantasien Hassos übertrifft. Er wird zum unfreiwilligen Agenten einer interdimensionalen Macht, die ihn durch Raum und Zeit schleudert, um eine kosmische Entität zu bekämpfen, deren Ziele ihm so rätselhaft sind wie die seiner Auftraggeber. Der Herren der Zeit.

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Seitenzahl: 298

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In dieser Reihe bisher erschienen

3301 Dwight V. Swain Dunkles Schicksal

3302 Ronald M. Hahn Die Stadt am Ende der Welt

3303 Peter Dubina Die Wächter des Alls

3304 Walter Ernsting Der verzauberte Planet

3305 Walter Ernsting Begegnung im Weltraum

3306 Walter Ernsting Tempel der Götter

3307 Axel Kruse Tsinahpah

3308 Axel Kruse Mutter

3309 Axel Kruse Ein Junge, sein Hund und der Fluß

3310Ronald M. Hahn Die Herren der Zeit

3311 Peter Dubina Die letzte Fahrt der Krakatau

3312 Axel Kruse Knochen

3313 Ronald M. Hahn Projekt Replikant

DIE HERREN DER ZEIT

TERRA - SCIENCE FICTION

BUCH 10

RONALD M. HAHN

Dieses Buch gehört zu unseren exklusiven Sammler-Editionen

und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.

In unserem Shop ist dieser Roman auch als E-Book lieferbar.

Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt. Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.

Copyright © 2024 Blitz-Verlag, eine Marke der Silberscore Beteiligungs GmbH, Mühlsteig 10, A-6633 Biberwier 

Redaktion: Danny Winter

Bild Künstler: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mario Heyer

Vignette: Ralph Kretschmann

Satz: Gero Reimer

Alle Rechte vorbehalten.

3310 vom 14.09.2024

ISBN: 978-3-68984-078-5

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Ronald M. Hahn

Limbus, ugs. auch Vorhölle,

in der katholischen Theologie ein Vorraum,

in dem sich Seelen aufhalten,

die ohne eigenes Verschulden vom Himmel und dem Anblick Gottes ausgeschlossen sind.

EINS

Januar 1945. Klirrende Kälte. Der Wind trieb dicke Schneeflocken vor sich her. Im Dunkel der Nacht lag die kleine Stadt friedlich und still unter einer weißen Decke.

„Herr Leutnant! Herr Leutnant!“

Friedrichsen klang besorgt. Hasso von Traven hob müde den Kopf. Er war seit einer halben Stunde wach, aber keineswegs ausgeschlafen. Hinter ihm lagen eine Schusswunde und fiebrige Zeiten in einem inzwischen abgebrannten Luftwaffen-Lazarett. Außerdem er hatte von Leonie geträumt.

Obwohl sein Kopf gänzlich klar war, kehrte er nur langsam in die Wirklichkeit zurück.

„Was ist denn, Friedrichsen?“

Der Bootsmann schob den Kopf ins Zimmer. Das Gesicht unter dem Stahlhelm war schmal. Er hatte blaue Augen. Wenn Hasso je einen echten Arier gesehen hatte, dann in diesem Mann. „Wir müssen weiter, Herr Leutnant. Der Bürgermeister hat gerade die Evakuierung befohlen. Hier geht’s gleich rund, und wenn wir in dem Chaos nicht stecken bleiben wollen ...“

Hasso schlug die Decken zurück. Dass er in dem kalten Raum nicht fror, lag daran, dass er in seinen Klamotten geschlafen hatte. Er dachte an seinen Marschbefehl und das Ziel, das Friedrichsen und er erreichen mussten: die Stadt Gotenhafen. Dort wartete ein Schiff auf sie ...

Hasso zog den Vorhang ein Stück beiseite. Der Mond schien bleich durchs Fenster. „Ist der Iwan schon im Anmarsch?“

„Jawoll, Herr Leutnant.“ Friedrichsen kam nicht herein, aber er nickte. „Hören Sie die Sirene nicht? Sie heult doch schon fünf Minuten!“

Hasso spitzte die Ohren. Tatsächlich. Jetzt hörte er sie. Das Geräusch erinnerte an das Winseln eines geprügelten Hundes. Er hörte allerdings auch Stimmen. Und das Knirschen von Schritten auf der Straße. Menschen hasteten durch den rieselnden Schnee. Jemand, vermutlich eine ängstliche Mutter, rief „Peterle, Peterle!“ Ein bellender Hund wurde von einer unwirschen Stimme zum Schweigen gebracht.

Ein Blick auf die Armbanduhr. Es war 3.13 Uhr. Hasso fluchte leise. Obwohl er fünf Stunden geschlafen hatte, fühlte er sich wie gerädert.

Nun griff die Kälte an. Hasso betastete die verpflasterte Schulterwunde. Ihretwegen hatte er sich mehrere Wochen ausruhen können. Musste er ihr dankbar sein?

„Was sagt das Thermometer?“

„Zwanzig Grad minus“, erwiderte Friedrichsen. „Wir haben heftigen Schneefall, und windig ist es auch.“

Hasso schüttelte sich. Draußen wehte der Wind Schnee auf und blies ihn den Menschen ins Gesicht. Schatten huschten über die Straße. Sie gingen nach Westen.

Die Menschen hatten es eilig. Sehr eilig. Viele zogen Schlitten hinter sich her, andere mühten sich mit Handwagen ab, was im Schnee nicht einfach war. Doch alle schleppten Rucksäcke, Koffer oder kleine Kinder. Genaues konnte er nicht erkennen, denn die Sicht wurde nun immer schlechter.

Er hatte auch keine Zeit, um näher hinzusehen.

Er packte seine Stiefel und zog sie an. Mantel und Helm lagen am Fußende des Bettes auf einem kleinen Tisch.

Die Stadt brach auf. Bald würde sie leer sein. Der Ort war nicht der Einzige in diesem kalten Land, der sich komplett auf den Weg nach Westen machte: Seit von Rotarmisten begangene Grausamkeiten an der Zivilbevölkerung Ostpreußens bekannt geworden waren, hatten sich gewaltige Flüchtlingstrecks nach Westen in Bewegung gesetzt.

Wer der Roten Armee in die Hände fiel, sagte Herr Goebbels, musste mit Tod, Verschleppung oder Vergewaltigung rechnen. Die Marine hatte in der Ostsee achthundert Kriegs- und Handelsschiffe zusammengezogen. Eineinhalb Millionen Zivilisten und eine halbe Million Wehrmachtssoldaten sollten aus Ostpreußen, Pommern und Kurland nach Dänemark und Schleswig-Holstein evakuiert werden.

Der Kanonendonner schien aus weiter Ferne zu kommen, doch die Rote Armee war näher, als die Zivilisten ahnten.

Und deswegen war Deutsch-Eylau nun auf den Beinen. Alle 14.000 Einwohner – und dazu unzählige ausgebombte Flüchtlinge aus dem Westen, die vor längerer Zeit hier Zuflucht gefunden hatten.

Bisher hatte der Ort nur wenig vom Krieg gespürt, doch die russische Offensive vom 12. Januar hatte alles geändert: Panzer, Infanterie und Kampfflugzeuge waren in Ostpreußen eingefallen. Die Verteidiger hatten nur kurze Zeit Widerstand leisten können.

Hasso und Friedrichsen waren seit zwei Tagen unterwegs nach Westen. Wie lange würden sie noch brauchen, um nach Gotenhafen zu kommen? Der Gedanke an die eisige Winternacht erzeugte keine positiven Gefühle in ihm.

Es gingen so viele Gerüchte um ... Alles sprach von der Blutspur, die die Panzer der Roten Armee hinterließen. Er hatte natürlich auch die schrecklichen Geschichten über den Ort Nemmersdorf gehört, der den Russen schon im vergangenen Jahr in die Hände gefallen war. Die Propaganda hatte von einem Blutbad gesprochen.

Konnte man ihr glauben? Hasso traute Goebbels‘ Propagandisten durchaus zu, dass sie solche grauenhaften Geschichten nur erfanden, um den Wehrwillen zu stärken. Andererseits ... Die Kommissare der Roten waren keine Engel. Die Mehrheit der Preußen schien der Propaganda jedenfalls zu glauben: Niemand hier wollte in die Hände der Russen fallen.

Hasso selbst glaubte den Nationalsozialisten nichts mehr. Er hatte ihnen von Anfang an nicht geglaubt. Wie lange war es her, dass der Oberkommandierende der Luftwaffe gesagt hatte, er wolle Meyer heißen, wenn es auch nur einem alliierten Flugzeug gelänge, in den deutschen Luftraum einzudringen?

„Ich geh dann schon mal runter“, sagte Friedrichsen.

„Ja, ja.“ Hasso nickte und band seine Stiefel zu. Ich hoffe, sie reißen dir den Arsch auf, Meyer, und erwürgen dich und deine Kumpane mit Klavierdraht. Für euch ist jede Kugel zu schade.

Er verließ das Zimmer. Aus den Nebenräumen drang Gemurmel an seine Ohren: Iwans Panzer standen angeblich schon vor der Stadt. In einer halben Stunde konnten sie hier sein. „Es geht ums nackte Überleben ...“

Das Sirenengeheul wurde lauter. Hasso polterte die Treppe hinunter. In der unteren Etage brannte kein Licht.

Stromausfall? In der Gaststube: Hektik. Menschen liefen von hier nach da. Gäste und Personal waren nicht zu unterscheiden. Die Eingangstür flog auf. Dicke Schneeflocken wehten herein. Jemand rief nach den Wirtsleuten. Eine Frauenstimme erwiderte: „Die sind längst weg!“

Menschen liefen an der Haustür vorbei. Ältere Männer. Eine schwangere Frau. Eine Horde lachender Halbwüchsiger, die all das wohl für ein tolles Abenteuer hielten. Kinder.

Hasso hörte das ängstliche Wiehern von Pferden und das Knarren von Zaumzeug.

„Friedrichsen?“, rief er. „Sind Sie hier irgendwo?“

„Ja, Herr Leutnant“, kam Friedrichsens Stimme aus der Dunkelheit. „Ich bin hier – am Hinterausgang. Kommen Sie, schnell ...“

Hasso hörte das Knurren seines Magens. Er hätte jetzt gern mit einer Tasse Kaffee und einem belegten Brot an einem Tisch gesessen. Aber daraus würde nichts werden. Trotzdem zögerte er eine Sekunde, als er die Küchentür passierte. Friedrichsen stand vor der offenen Hintertür. Auf seinem Rücken ein prall gefüllter Tornister der Kriegsmarine. Als altes Frontschwein musste er natürlich wissen, wo man etwas zu Futtern organisieren konnte.

Hinaus! Hasso und Friedrichsen hasteten durch die Finsternis. Sie hatten den Kübelwagen am Abend zuvor in einem Stall geparkt.

In der Ferne das dumpfe Grollen der Geschütze. Weiße Flocken landeten auf Hassos Nasenspitze. Die schneidende Kälte biss in seine Ohren. Am Himmel glitzerten eiskalte Sterne. Als Schüler hatte er sich oft gefragt, ob diese Sterne wohl Planeten hatten. Nun stellte er sich vor, auf einem Planeten zu leben, auf dem es warm und friedlich und der Frühstückstisch gedeckt war.

Seine Fantasie zerplatzte, als explodierende Granaten den östlichen Horizont erhellten.

Der Stall war stockfinster. Es roch nach Pferden und Mist. Das Tor stand weit offen. Friedrichsen lief fluchend an der Wand entlang, fand aber keinen Lichtschalter. Ein vermummter Lulatsch, der den beiden Marinesoldaten mit einer Petroleumlampe entgegenkam, führte einen Gaul ins Freie.

Hasso schaute gedankenlos hinter dem Mann her. Erst als der Bootsmann den Motor anwarf, kam er zu sich.

In was für ‘ne Scheiße bin ich da nur geraten?, dachte er. Warum bin ich 1936 nicht nach Los Angeles gegangen, als ich die Chance noch hatte? Warum musste ich auf meinen Alten hören und zur Marine gehen?

„Herr Leutnant?“

Hasso fuhr herum. Der Kübelwagen stand knatternd neben ihm. Die Wolken aus dem Auspuff verpesteten die Welt. Friedrichsen hatte den Rucksack zu ihrer sonstigen Fracht nach hinten geworfen. Nun deutete er auf den Beifahrersitz. „Wir müssen uns sputen. Bei dem Schneefall brauchen wir mindestens zwei Tage.“ Sein Gesicht sagte: Falls wir unser Ziel überhaupt je erreichen.

„Ja, ja ...“ Hasso warf den Helm nach hinten und schwang sich in das Fahrzeug. Die Tür fiel ins Schloss.

Friedrichsen gab Gas. Sie fuhren hinaus. Der Stall verschmolz mit dem fallenden Schnee, der unter den Reifen knirschte.

Mein Gott, was wird nur aus unserem Land?, dachte Hasso. Was werden die nach der Kapitulation mit uns machen?

Dass die Alliierten siegen würden, bezweifelte er nicht. Ein Blinder konnte sehen, dass das Reich am Boden lag. Die Wehrmacht ging auf dem Zahnfleisch. Alles setzte sich ab. Der Arsch mit dem Zahnbürstenschnauz saß in Berlin in seinem Bunker und krakeelte jeden Tag in die Welt hinaus, der deutsche Landser werde bis zur letzten Patrone kämpfen. Außerdem sei es nur eine Frage von Stunden, bis die neuen Wunderwaffen die Wende brachten.

Jawoll, mein Führer!

Hasso hätte gern gekotzt. Es lag aber nicht nur an seiner miesen Stimmung: Er hatte Autofahren noch nie gut vertragen. Schon gar nicht als Beifahrer. Mit leerem Magen war es noch schlimmer.

Als er sich zum Fenster hinauslehnen wollte, um frische Luft zu schnappen, klatschte Friedrichsen ihm ein Päckchen in die Hand. „Tut mir leid, Herr Leutnant. Ich hab‘s ganz vergessen ... Sie sind ja noch nüchtern. Essen Sie erst mal ‘n Bütterken, dann wird‘s Ihnen besser gehen ...“

„Danke, Bootsmann.“ Hasso holte mehrmals tief Luft, und das Gefühl der Übelkeit wich. Es war ein angenehmes Gefühl, neben jemandem zu sitzen, dem man nicht gleichgültig war. Friedrichsen kam ihm oft wie der ältere Bruder vor, den er nie gehabt hatte.

Hasso biss mehrmals herzhaft von dem „Bütterken“ ab und spürte bald, dass er seine Zukunft nicht mehr ganz so schwarz und deprimierend sah. Dann fuhr der Kübelwagen durch eine Querrinne und machte einen Satz. Die Ladung auf dem Rücksitz rutschte nach vorn. Es war Aktenkram für den Kapitän des KdF-Schiffes Wilhelm Gustloff, der in irgendein Archiv gebracht werden sollte. Vermutlich interessierte sich im Kriegsministerium kein Schwein mehr dafür. Aber geheime medizinische Informationen über die Magengeschwüre und Psychosen deutscher Marineoffiziere durften dem Iwan halt um keinen Preis in die Hände fallen.

Die Häuser und Menschen von Deutsch-Eylau verschwanden hinter ihnen in der Nacht. Der Himmel wurde zum Universum. Die sich im Licht der Scheinwerfer vor ihnen ausbreitende Landstraße schien endlos zu sein.

Bootsmann Friedrichsen brauste an Strommasten und Tannen vorbei und pfiff Lili Marleen.

Das ständige Buff-Buff! der Geschütze hinter ihnen wurde lauter. Bald beeinflusste es Hassos Denken.

Er dachte an seinen letzten unpathetischen Abschied zu Hause. Er hatte seine Eltern seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Wie mochte es jetzt wohl auf dem Gut der Familie aussehen? Waren die Pferde noch da oder hatte man sie eingezogen? Waren die Leute noch da oder marschierten sie jetzt mit dem Volkssturm gegen einen Gegner, den man nicht mehr besiegen konnte?

Sein Vater war ein hochkarätiger Wissenschaftler, der gewisse Privilegien genoss. Blödsinnigerweise hatte er dem westpreußischen Gauleiter des Öfteren mitgeteilt, was er von seinen ungehobelten und ungebildeten Lakaien auf dem Lande hielt. Da war es nicht auszuschließen, dass der eine oder andere gerüffelte Parteigenosse nur darauf wartete, dem „Adelspack“ die Zähne zu zeigen und zu beschlagnahmen, was zu beschlagnahmen war.

Die Zeiten waren hart, die Lage kaum überschaubar. Vermutlich nutzten nun manche Menschen die Gunst der Stunde, um sich an jenen zu rächen, die ihrer Karriere bisher im Weg gestanden hatten.

Sein Vater hatte viele Nationalsozialisten vor den Kopf gestoßen. Wer dem Herrn Professor und seinem Rittergut schaden wollte, brauchte ihm nur das Personal zu nehmen: Ein Unternehmen wie das seine musste ohne Fachkräfte untergehen.

Buff! Buff! Buff!

Friedrichsen fluchte. Hasso spürte das Beben des Bodens.

Die Einschläge kamen näher. Doch für Angst hatte er keine Zeit. Er hätte gern gewusst, wie nahe die Panzer der Roten Armee schon waren, aber für sein Seelenheil war es wohl besser, nach vorn zu schauen.

Sie holten die ersten Flüchtlinge ein: von Menschen und Pferden gezogene Handkarren und Leiterwagen, auf denen sich Kinder und Möbel türmten. Alle bemühten sich redlich, im Schnee voranzukommen. Wenn ein Gaul stürzte, war es für die Nachfolgenden erst mal aus: Wer zum Hindernis wurde, wurde von den Menschen nicht mehr toleriert.

Die Schlange war lang. Hasso atmete auf, als sie an ihr vorbei waren.

Schließlich erreichten sie die Chaussee zur Kreisstadt Rosenberg. Tausende waren hier unterwegs: Frauen jeden Alters, Greise, Kinder, Kranke. Und auch Soldaten, einzeln oder in kleinen Gruppen. Alle wollten sich in Sicherheit bringen.

Die Straße und das Elend nahmen kein Ende. Sie passierten tote Pferde, Hunde, Schafe und Hühner. Dann und wann kamen sie an einem umgekippten Leiterwagen vorbei, dessen Ladung sich über die Straße ergossen hatte. Die Menschen, die dazu gehörten, luden sich auf die Schultern, was sie tragen konnten, und gingen zu Fuß weiter. Neidische Blicke musterten den müden Marineoffizier und seinen Fahrer. Wie gut sie es doch hatten! Sie konnten sich von einer knatternden Maschine übers Land tragen lassen.

Die Menschen taten Hasso leid. Hin und wieder fragte er sich auch, wie viele dem Führer früher zugejubelt hatten. Kriegten sie nun ihre gerechte Strafe?

Und was erwartet mich? Er knirschte mit den Zähnen. Sein Blick fiel auf eine erschöpfte junge Frau mit blondem Haar, die am Straßenrand auf ihrem Gepäck saß und ihn aus traurigen blauen Augen anschaute. Schon waren sie an ihr vorbei.

Erneut fühlte sich Hasso an Leonie erinnert. Sie war die beste Freundin seiner Schwester, fünf Jahre älter als er und deswegen unerreichbar. Seit seinem elften Lebensjahr spukte sie in seinem Kopf herum. Hasso hatte sie seit sechs Jahren nicht mehr gesehen, und doch verging kein Monat, in dem er nicht wenigstens einmal voller Wehmut an sie dachte. Stand ihm ein Urteil über sie zu?

Plötzlich spürte er die Kälte im Inneren des Wagens doppelt stark. Es war wohl besser, wenn er sich kein Urteil über Leonie anmaßte. Noch nicht. Auch wenn sie ein Nazi war.

„Ich glaub, da vorn ist die Treckspitze“, sagte Bootsmann Friedrichsen. Sie fuhren an einem schwer beladenen Leiterwagen vorbei. Vier starke Gäule zogen ihn.

Hasso drehte sich um. Er sah Gesichter, die ihm vage bekannt vorkamen. Nachbarn? Bevor ihm einfiel, wer sie vielleicht waren, waren sie an ihnen vorbei.

Sie brachten Kilometer für Kilometer hinter sich. Dann wich das Schwarz der Nacht. Der Himmel ergraute. Sie holten einen weiteren Treck ein. Hunderte von Menschen wanderten bleich und spitznasig durch die verschneite Landschaft.

Schließlich hörte es auf zu schneien, doch die Welt blieb grau, denn die Sonne wollte nicht aus ihrer Deckung kommen.

Sehr schlau, dachte Hasso. Sein Blick wanderte zum noch immer sichtbaren Mond hinauf.Irgendwo hatte er die irre Theorie aufgeschnappt, der Mond bestünde aus grünem Käse. Der Gedanke erinnerte ihn daran, dass er alles andere als satt war.

Wie aufs Stichwort fing sein Magen wieder an zu knurren.

Friedrichsen schaute vom Steuer herüber. „Sie haben wohl Hunger, Herr Leutnant ...“

Hasso seufzte. „Ich schäme mich nicht, es zuzugeben, Friedrichsen. Obwohl Ihr Bütterken wirklich lecker war, war es doch nur was für den hohlen Zahn.“

Friedrichsen lachte, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. „So wenig ein Soldat sich entschuldigt“, gab er zurück, „lobt er seinen Vorgesetzten.“

Hasso sah, dass es dem Bootsmann nicht leichtfiel, sein Pokergesicht beizubehalten. „Aber ich muss Ihnen sagen, dass es mir wirklich eine Freude ist, Sie zu fahren. Sie sind nicht nur pflegeleicht, Sie knöttern auch nie.“

Knöttern? Hasso kannte das Wort nicht, nahm aber an, dass es dem hochdeutschen Murren entsprach. „Danke.“ Er fragte sich, welcher Tätigkeit Bootsmann Friedrichsen nachging, wenn er nicht gerade Krieg führte. Er wollte ihn gerade danach fragen, als am Horizont etwas sichtbar wurde, das wie eine dunkelgrüne Wand wirkte.

Es war der Märchenwald seiner Kindheit.

Hasso richtete sich auf. Ich bin zu Hause. Sein Herz fing freudig an zu pochen.

Schon zu Beginn ihrer Reise war er fest entschlossen gewesen, vom vorgeschriebenen Weg abzuweichen, um einen Abstecher zu seinem Elternhaus zu machen. Er wollte sich nach dem Wohlergehen seiner Eltern erkundigen und etwas sehr Persönliches vernichten.

„Da vorn ...“ Hasso deutete auf den Wald. „Da vorn ist irgendwo ‘ne Einfahrt. Nur ein schmaler Waldweg. Er führt zum Häuschen meiner Eltern.“ Er hüstelte. „Na ja ... es ist eher ein Haus. Halten Sie die Augen auf, Bootsmann.“

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war 13.30 Uhr. Sein Magen knurrte wie verrückt. Friedrichsens Magen fiel ein. Sie mussten beide lachen.

„Ich glaube“, murmelte Hasso, „ich kann den frisch aufgebrühten Kaffee schon riechen.“

„Sagen Sie bloß ... Kaffee? Keinen Muckefuck?“

Hasso schnaubte gespielt verächtlich. „Mein Alter ist von Adel, Bootsmann. Und außerdem ein Großkapitalist. Diese Leute wissen immer, wie man um den Muckefuck rumkommt.“

Friedrichsen seufzte. „Wem sagen Sie das?“

Es war Samstag. Während der Rest Preußens nach Westen flüchtete, bog der Kübelwagen ab und knatterte dem Tannenwald entgegen, in dem das Anwesen der Familie von Traven lag.

Friedrichsen musste den Wald halb umrunden. Dann lag eine Ebene vor ihnen.

„Das kann nicht wahr sein.“ Friedrichsen trat auf die Bremse. Vor ihnen – auf der Landstraße – war ein Flugzeug gelandet.

Hasso reckte den Hals. Es war eine Junkers vom Typ 52/3m, auch bekannt unter dem Namen Ju 52 oder Tante Ju. 3m bedeutete, dass sie drei Motoren hatte. Um das zu erkennen, musste man aber nicht unbedingt vom Fach ein. Gute Augen genügten. Was, um alles in der Welt, hatte das zu bedeuten?

„Sehen Sie das auch?“, fragte er. „Oder ist es eine Halluzination?“

„Nee, ich seh die Kiste auch.“

Der Pilot stand im Freien und rauchte eine Zigarette. Sein Haar war schulterlang und blond. Als er den Kübelwagen hörte, hob der die linke Hand und winkte ihnen zu.

Hasso traf beinahe der Schlag.

Leonie!

„Hasso – du?“

Leonie stand vor der offenen Luke der Ju. Erst jetzt sah er, dass sie unter dem Piloten-Overall eine Uniform der SS trug. Ihre schmalen Lippen waren ungeschminkt. Die Zigarette hielt sie nun in der Hand. Ihr Blick zeigte großes Erstaunen.

Hasso hatte ihre Augen größer in Erinnerung. Dass Leonie eine astreine Fliegerin war, wusste alle Welt. Doch dass man sie eingezogen hatte, war ein todsicherer Hinweis darauf, dass die Machthaber wussten, dass ihre Tage gezählt waren. Aber was machte sie ausgerechnet hier, in unmittelbarer Nähe seines Elternhauses? Das Gut ihrer eigenen Familie lag fünfzig Kilometer weiter östlich. Vielleicht stand es schon in Flammen.

„Ja, ich.“ Es fiel ihm schwer, einen Gedanken zu fassen. „Ich bin nach Gotenhafen kommandiert. Und du?“ Er deutete auf die Maschine. „Was machst du hier? Du bist doch wohl nicht notgelandet?“ Wieso bist du so freundlich?, dachte er. Warum spuckst du vor diesem Nazi-Flintenweib nicht aus? Die Antwort war ernüchternd: Weil du im Gegensatz zu den Barbaren, zu denen sie übergelaufen ist, eine Erziehung genossen hast.

Hasso hätte ihr gern von seinem Traum erzählt, aber dann hätte er ihr auch gestehen müssen, dass sie seine Träume seit ihrer ersten Begegnung beherrschte. Er musste plötzlich grinsen. „Hat Herr Meyer dich eingezogen, weil er niemanden mehr hat, der seine Kisten fliegen kann, oder hast du dich freiwillig bei seinem Verein verpflichtet?“

„Ach, Hasso ...“ Leonie warf die Zigarette in den Schnee, ohne sie auszutreten. „Du klingst so gehässig.“ Sie seufzte. „Schade. Ist aber trotzdem schön, dich mal wiederzusehen. Was macht deine Schwester?“

„Felicitas? Die ist in Los Angeles.“ Hasso hörte Leonies Stimme, sah ihr Gesicht. Sie war ein wenig blass und noch dünner als früher, aber noch immer überirdisch schön. Wie süß ihre Stimme klang. Wie sie seinem Ohr schmeichelte. Er dachte an den sonnigen Sommer, in dem er sie als Zehnjähriger in einem Baggersee beim Nacktbaden beobachtet hatte, zwischen dichten Büschen verborgen. Noch heute brauchte er nur daran zu denken, um einen Ständer zu kriegen.

Lass dich bloß nicht einwickeln. Hasso räusperte sich. „Was machst du hier?“ Er wandte sich kurz der Einfahrt zu, an der Friedrichsen geduldig im Kübelwagen wartete. „Es ist doch nichts mit meinen Eltern?“

„Nein.“ Leonie schüttelte den Kopf. Sie wirkte ein wenig enttäuscht. Hatte sie erwartet, dass er sie in die Arme schloss und an sich drückte? „Sie wurden vor ein paar Tagen evakuiert ...“ Sie deutete zum Tannenwald hinüber. „Ich habe ein SS-Kommando aus Lübeck hergeflogen ...“

„Lübeck?“ Hasso wurde hellhörig. „Zu welchem Zweck?“

„Keine Ahnung.“ Leonie zuckte die Achseln. „Und selbst wenn ich es wüsste, dürfte ich es dir nicht sagen.“

„Meine Eltern sind evakuiert worden?“ Hasso wusste nicht, ob er aufatmen sollte. Aus dem Mund der SS konnte das Wort alles Mögliche bedeuten. Im Geist zählte er die Parteigenossen aus der näheren Umgebung, denen sein Alter schon aus Standesdünkel heraus auf die Zehen getreten war. „Wo sind sie?“

„Ich weiß es nicht.“ Leonie zündete sich eine neue Zigarette an.

„Und wenn du es wüsstest“, sagte Hasso, „dürftest du es mir nicht sagen.“

Leonies Mundwinkel zuckten. Hasso wusste nicht genau, ob sie sich ein Lachen oder ein Weinen verbiss. „Ist noch jemand im Haus außer deinen ... Kameraden?“

„Von euren Leuten, meinst du?“ Leonie machte eine hilflose Geste. „Ich hab wirklich keine Ahnung, Hasso, aber ich glaube, sie wurden alle zum Volkssturm eingezogen, die Pferde und Hunde inklusive ...“

„So wie du?“ Hasso wollte es wissen. Er musterte die Fliegerkombination, die ihre Rundungen nicht verbarg.

Leonie nickte stumm. Sie wirkte sehr kleinlaut. „Ja, wie ich.“ Sie räusperte sich. „Mein Onkel ...“ Sie winkte ab, überging seinen Namen. „Er ist ja ein großer Mann in dieser Totenkopf-Organisation – und Herrn Hitler absolut ergeben.“

Dass sie von ihrem geliebten Führer als „Herrn Hitler“ sprach, machte Hasso hellhörig.

„Was ist passiert?“, fragte er. „Seit wann hast du ideologische Bauchschmerzen?“

„Ach ...“ Leonie trat zurück und wandte sich der Luke ihrer Maschine zu. „Menschen lernen hinzu, und dann ändern sie sich halt.“

Ihre Stimme klang dünn. Hasso hatte das Gefühl, dass sie irgendetwas schwer bereute. Dass sie ihm den Rücken zuwandte, deutete er als verlegene Geste. Als gut erzogener Mensch verkniff er sich jede weitere Frage. Er wollte sie nicht in eine noch peinlichere Lage bringen.

„Glaubst du, es ist meiner Sicherheit abträglich, wenn ich mein Elternhaus aufsuche?“, fragte er und gab Friedrichsen mit einem Wink zu verstehen, er solle sich noch einen Moment gedulden.

„Es ist mir wirklich sehr peinlich, dass ich all deine Fragen mit ‘Ich weiß nicht‘ beantworten muss“, sagte Leonie.

Sie drehte sich wieder um, und Hasso sah, dass in ihren Augenwinkeln Tränen glitzerten. „Aber ich bin hier wirklich nur eine Art Chauffeur und habe nicht das Geringste zu melden.“ Sie deutete auf den verschneiten Weg, der zum Gut führte. „Ich habe heute Nacht einige Männer hier abgesetzt und den Befehl, auf ihre Rückkehr zu warten. Mehr kann ich nicht sagen.“

„Männer von der SS?“ Hasso drehte sich um. Auch in den Morgenstunden war noch Schnee gefallen, aber dort, wo die Einfahrt begann, konnte man noch Fußspuren erkennen.

„Ja.“ Leonie zuckte die Achseln. „Ich nehme an, Sie wollten zu eurem Haus. Es war noch dunkel, als sie von Bord gegangen sind.“ Sie deutete auf die Ju. „Ich habe gehört, dass sie sich unterhalten haben. Einer hat gesagt, dass sie hier sind, um viel wegzuschleppen.“

Hasso runzelte fragend die Brauen. „Wegzuschleppen?“ Seine Eltern waren evakuiert worden. Wer evakuiert wurde, durfte in der Regel nur einen Koffer mitnehmen. Bei Privilegierten drückte man vielleicht auch mal ein Auge zu, aber mehr als zwei gestattete man auch ihnen nicht.

Hasso dachte an die Gemälde im Rittersaal, die Bibliothek mit den teuren Erstausgaben, die persischen Teppiche, den altgriechischen Vasenkram im Roten Salon, die klassischen Musikinstrumente, die sich seit Jahrhunderten im Familienbesitz befanden – und an das Schachspiel mit den Elfenbeinfiguren.

„Unter wessen Kommando stehen die Leute?“

„Hauptsturmführer Holtz.“

„Was ist er für einer?“

Leonie schaute ihn an. „Was meinst du damit?“

Hasso gestikulierte fahrig. Er fragte es sich gerade selbst. „Na, ob er ...“ Er hätte gern gewusst, ob Herr Holtz einer jener großmäuligen Schreihälse war, die der Nationalsozialismus zu Tausenden aus dem Dreck an die Spitze gespült hatte: jene Typen, die den Menschen ständig zeigen mussten, wie hoch sie standen. Aber wenn er Leonie schon mit der Wahl seiner Worte zu verstehen gab, wie sehr er alles verachtete, was sie wertschätzte, würde er bestimmt keine brauchbare Antwort von ihr erhalten. Die wichtigsten Dinge, die ein NSDAP-Funktionär ausstrahlte, waren Großkotzigkeit, Lautstärke und die Ausübung roher Macht. Führer befiehl, wir folgen – und wenn die Welt in Scherben fällt; wie gerade in diesem Moment.

„Ich möchte nur wissen, ob man mit ihm reden kann“, sagte er. „Könnte ja sein, dass er nicht aus eigennützigen Gründen hier ist, sondern um die Kunstschätze der Travens für Führer, Volk und Vaterland zu sichern, damit sie dem Iwan nicht in die Hände fallen.“

Leonies Mundwinkel zuckten. Diesmal hatte Hasso den Eindruck, dass sie ein Schmunzeln unterdrückte. Dass die SS in besetzten Ländern alles nicht Niet- und Nagelfeste von Wert zusammengerafft und ins Reich verbracht hatte, war in höheren Offizierskreisen kein Geheimnis. In afrikanischen Kolonien der Tommys und Franzmänner hatten Herrn Himmlers Halunken sogar Banken ausgeraubt.

„Kann man.“ Leonies Blick wanderte zu Friedrichsen hinüber. Er war aus dem Kübelwagen gestiegen, lehnte nun rauchend an einem Kotflügel. „Seinen Leuten gegenüber verhält er sich korrekt.“

„Danke.“ Hasso musterte den Bootsmann. Er stieß graue Rauchkringel aus. „Ich weiß nicht, ob wir uns noch mal sehen, Leonie ...“ Er räusperte sich. „Falls nicht, wünsche ich dir ... für die Zukunft alles Gute.“ Obwohl er geplant hatte, nicht vertraulich zu werden, streckte er die Hand aus.

„Danke.“ Leonie nahm die Hand und schüttelte sie. Sie war eiskalt. „Das wünsche ich dir auch.“ Sie schluckte, und als sie ihn anschaute, fragte er sich, ob er seine Einstellung noch mal überdenken sollte. „Vermutlich werden wir uns aber wiedersehen, denn ich muss warten, bis das Kommando zurückkehrt.“ Sie räusperte sich. „Falls vorher nicht die Hölle einfriert.“

„Umso besser“, hörte Hasso sich sagen. Er ließ die kalte Hand los, nickte Leonie zu und kehrte zu Friedrichsen zurück. Der Bootsmann begutachtete seine halb gerauchte Zigarette, und Hasso sagte: „Qualmen Sie ruhig weiter ...“

Friedrichsen schüttelte den Kopf und warf den Glimmstängel in den Schnee.

Beide Männer stiegen ein. Als der Motor schnurrte, entnahm Hasso seiner Tabaksdose den letzten Zigarillo und steckte ihn in Brand.

Sie fuhren los und nahmen den Weg ein, der durch den Tannenwald zu seinem Elternhaus führte. Nach der ersten Biegung waren Leonie und Tante Ju nicht mehr zu sehen, und nach der zweiten sagte Friedrichsen: „Das war aber ein hübscher Pilot.“

Hasso nickte. „Ja.“

„Ich hatte den Eindruck, dass Sie ihn kannten.“

Hasso musste sich ein Lachen verbeißen. „Das kann man wohl sagen.“

„Er hat Sie schmachtend angeschaut, Herr Leutnant.“

„Was?“ Hasso zuckte zusammen. „Falls es Ihnen nicht aufgefallen ist, Friedrichsen: Der Pilot war eine Frau!“

„Ach, wirklich?“ Friedrichsen klang leicht ironisch.

„Sie heißt Leonie von Dönhoff.“ Hasso deutete auf die verschneite Umgebung. „Ihrer Familie gehört hier oben die halbe Welt.“ Er räusperte sich. „Na, sagen wir ein Viertel. Aber ich nehme an, all das wird bald dem Genossen Stalin gehören.“

„Höre ich aus Ihren Worten möglicherweise Defätismus heraus?“ Friedrichsen klang weiterhin ironisch.

Hasso deutete nach vorn. Vor ihnen endete der Wald. Eine weiß verschneite, kreisrunde Lichtung tat sich vor ihnen auf. Das vierstöckige Gebäude stand genau in der Mitte. Vom Park, der dazugehörte, sah man nicht mehr viel: Er wirkte so winterlich wie kahl.

Vor der Freitreppe stapelten sich pralle Seesäcke, Kartons und Kisten. Drei behelmte SS-Männer, die das Portal bewachten, hörten den knatternden Motor und schauten auf. Ein hagerer Scharführer, im Gegensatz zu den beiden anderen nur mit einer Pistole bewaffnet, stiefelte die Treppe herab und hob die Hand zu einem Gruß, der in Hasso nur Abscheu erzeugte. Der Unversehrtheit seines Halses willen erwiderte er ihn jedoch, als der Wagen angehalten hatte und er ausgestiegen war.

„Wer hat hier das Kommando?“, schnauzte er den Mann an, denn eins wusste er: Mit SS-Leuten kam man nur zurecht, wenn man seinen Dienstgrad ausspielte. „Und was machen Sie hier, verdammt noch mal?“

Die Miene des Scharführers gefror. Seine Augen wurden zu tückischen Schlitzen. „Bei allem Respekt, Herr Leutnant“, knirschte er. „Bevor Sie Fragen stellen, identifizieren Sie sich erst mal! Was glauben Sie, wen Sie vor sich haben? Irgendwelche Laufjungen?“

Die Frechheit des Mannes schlug dem Fass den Boden aus, doch Hasso hatte nicht vor, sich im Wehrmachtsbrüllton zu revanchieren. Es gab bessere Methoden, einen Dienstgrad, der gerade mal so etwas wie ein Unterfeldwebel war, zur Raison zu bringen. Er salutierte knapp. „Leutnant zur See von Traven.“ Er deutete auf das Gebäude, das die SS gerade mit ihrer Anwesenheit entehrte. „Das Haus, das Sie gerade plündern, gehört meiner Familie.“ Er stützte die Arme in die Hüften und rief, ohne sich umzudrehen: „Bootsmann Friedrichsen! Zu mir!“

„Herr Leutnant?“ Friedrichsens Antwort kam ebenso laut. Sekunden später eilte er die Treppe herauf und blieb wartend neben Hasso stehen.

Der Scharführer war erbleicht. Bevor er ein weiteres Wort äußern konnte, fauchte Hasso: „Sie heißen, Scharführer?“

„Sch-sch-scharführer Glitsch.“

Was für ein passender Name, dachte Hasso. „Machen Sie gefälligst Platz“, sagte er, obwohl die Treppe zehn Meter breit war. „Sie werden mich nicht daran hindern, mein Elternhaus zu betreten.“

„Ich ... ähm ...“ Der Scharführer wirkte eine Sekunde unsicher, doch dann fing er sich und knallte die Hacken zusammen. „Bedauere, Herr Leutnant!“, brüllte er. „Aber ich habe Order, niemanden ins Haus zu lassen!“ Er legte die rechte Hand auf seine Pistolentasche. Sein Blick flackerte unstet.

Hasso nahm an, dass sein Vorgesetzter nicht damit gerechnet hatte, dass ausgerechnet heute ein Angehöriger der Familie von Traven hier aufkreuzte.

„Was machen Sie, wenn ich einfach reingehe, Glitsch?“, fragte Hasso wütend und schaute zu den beiden Sturmmännern am Portal hinauf, die den Wortwechsel hörten und blass an ihren Gewehren fingerten. Er kniff die Augen zusammen. „Wollen Sie mich erschießen?“

„Zwingen Sie mich nicht dazu“, sagte Glitsch leise. „Ich kann nicht beurteilen, wer Sie sind.“ Er schluckte nervös und öffnete die Pistolentasche. „Meine Befehle sind eindeutig.“ Er ging rückwärts zwei Treppenstufen hinauf. Fühlte er sich dort sicherer? „Wenn Sie wirklich zur Familie von Traven gehören, rate ich Ihnen, hier zu warten, bis der Kommandoführer herauskommt.“ Er deutete hinter sich. „Und falls Sie es für notwendig erachten, gewalttätig zu werden ...“ Sein Blick wanderte von Hasso zu Friedrichsen und zurück. „Die Wachen sind angewiesen, eigenmächtig zu handeln.“

„Interessant, was, Friedrichsen?“, sagte Hasso.

„Sehr interessant, Herr Leutnant“, erwiderte der Bootsmann.

„Wer ist Ihr Auftraggeber?“, fragte Hasso Scharführer Glitsch, um nicht den Eindruck zu erwecken, er gäbe klein bei. „Der Reichsführer persönlich, oder irgendein Unterling, der zufällig erfahren hat, dass es hier was zu erbeuten gibt?“

„Herrrr ... Leutnant!“, fauchte Glitsch. „Für wen halten Sie uns?“ Empörung schoss wie rote Farbe in seine Wangen.

Für Hasso war dies ein Beweis, dass er zu den Clowns gehörte, die glaubten, für das Gute zu kämpfen. „Was bedeuten die Seesäcke und Kisten?“, schnarrte er. „Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie hier einen Umzug vornehmen?“

Der Scharführer erstickte fast an seiner Wut, doch selbstverständlich wagte er nicht, ihr Ausdruck zu verleihen. Und wenn er tausend Mal bei der SS war: Ein Leutnant zur See konnte ihn, wenn ihm danach war, auf der Stelle zu einem Nichts degradieren.

„Ich bin nicht befugt, Ihnen Auskunft zu geben, Herr Leutnant“, erwiderte Glitsch. „Im Übrigen verweise ich auf die Auskünfte, die ich Ihnen bereits erteilt habe. Ihnen ist nichts hinzuzufügen.“

Er knallte die Hacken zusammen und machte so artig Männchen, dass es seinem geliebten Führer gefallen hätte. Dann wandte er sich auf dem Absatz um und stiefelte steifbeinig zu den Sturmmännern hinauf, die das Eingangsportal bewachten und auf bessere Zeiten warteten.

„Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, Arschloch“, sagte Hasso leise. Er drehte sich um.

Bootsmann Friedrichsen knallte aus ihm unbekannten Gründen ebenfalls die Hacken zusammen. Umspielte ein amüsiertes Grinsen seine Lippen? Hasso war sich nicht ganz sicher.

„Bleiben Sie beim Wagen“, sagte er. „Ich geh mal eben ums Haus und dreh ein Ding.“

Friedrichsen zog die rechte Braue hoch. „Sie werden sich doch nicht in Gefahr begeben, Herr Leutnant? Wenn Sie sich mit diesen Banditen anlegen und ins Gras beißen, wüsste ich in Gotenhafen nicht zu erklären, wieso ich ohne Sie komme.“

„Mir passiert schon nichts“, sagte Hasso. „Ich bin hier aufgewachsen und kenne auf diesem Grundstück jedes Mauseloch.“ Er zwinkerte Friedrichsen zu. „Aber es ist ein erfreuliches Gefühl zu wissen, dass es jemanden gibt, der mich vermisst, wenn ich ins Gras beiße.“

Friedrichsen schaute grinsend zu Boden. „Verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Leutnant“, sagte er. „Aber wenn es wirklich passieren sollte und diese Typen daran beteiligt sind, tun Sie mir bitte den Gefallen und nehmen Sie so viele wie möglich von denen mit.“

Hasso zog fragend eine Braue hoch. „Höre ich da etwa einen Anflug von Defätismus in Ihrer Stimme?“

Friedrichsen spitzte die Lippen, schaute zum Himmel auf und pfiff Lili Marleen.

Hasso umrundete das Gebäude. Hinter der zweiten Ecke öffnete er seine Pistolentasche. Wer euer Auftraggeber auch ist, dachte er, mein Tagebuch nehmt ihr nicht mit. Eher mach ich euch alle kalt.

Die Vorstellung, jemand könne seine in der Obertertia entstandenen Gedichte lesen, ließ ihn vor Scham erröten.

Vier Türen zierten die Rückseite des Gutshauses. Eine führte in einen Raum, in dem die von Travens ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert aufbewahrten: die Kutsche ihres Ahnen Theobald, den der Alte Fritz nach der Schlacht von Langerfeld in den Adelsstand erhoben hatte. Zwei weitere Türen führten in Garagen, die in normalen Zeiten den Benz seines Vaters und den Maybach seiner Mutter beherbergten.

Die vierte Tür führte in die Wohnung des Herrn Melzer. Herr Melzer war nicht nur der Chauffeur des Hausherrn, er hatte auch den grünen Daumen und sorgte dafür, dass der Park und die hinter dem Gebäude liegenden Treibhäuser nicht verkamen. Bei den von Travens war es nämlich Tradition, dass man sich nach Möglichkeit von Märkten unabhängig ernährte, und zwar ganz besonders im Bereich Obst, Gemüse und Salat.

Da Herr Melzer wie auch das andere im Hause wohnende Personal nun wahrscheinlich mit einer Panzerfaust in einem eiskalten Schützengraben lag und darauf wartete, dass der Iwan ihm das Lebenslicht ausblies, war seine Wohnung einsam und verlassen.

Den Schlüssel hatte Hasso vom oberen Türrahmen geklaubt, wo er seit ewigen Zeiten seinen Stammplatz hatte.

Es war kalt in der Wohnung – und so unpersönlich wie nie. Herr Melzer hatte seinen ganzen Besitz in Koffer und Kartons verpackt und im Korridor seiner Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung deponiert. Hatte er etwa vor seiner Einberufung den Plan verfolgt, auf einen anderen Kontinent auszuwandern?

Dann fiel Hasso ein, dass Herr Melzer Jude war, was für die von Travens nie eine Rolle gespielt hatte. Angesichts der zusammengepackten Habe wurde ihm eigenartig zumute: Dass man den Mann eingezogen hatte, war eher unwahrscheinlich.