Terra - Science Fiction 13: Projekt Replikant - Ronald M. Hahn - E-Book

Terra - Science Fiction 13: Projekt Replikant E-Book

Ronald M. Hahn

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Beschreibung

DIE VERGANGENHEIT IST AUCH NICHT MEHR DAS, WAS SIE MAL WAR 1944 wurde Das Dritte Reich vor dem Untergang bewahrt und die alliierte Invasionsflotte vor der Normandie versenkt. 1955 herrscht die Reichshauptstadt Germania über große Teile Europas. Doch der Führer ist dement. Ein Putsch liegt in der Luft. Einige seiner Vasallen können sein Ableben kaum erwarten: Sie greifen nach dem Thron. Hauptkommissar Zander trifft in einer kalten Winternacht in Falkenhayn ein. Hinter dem verschneiten Dorf ragt ein düsteres Gemäuer in die Höhe: Schloss Falkenhayn, die Brutstätte und nationalsozialistische Denkfabrik, in der Wunderwerke konstruiert werden. Und in den verschneiten Gassen der Ortschaft treiben Gestalten ihr Unwesen, deren Ziele weniger der Zukunft als der Vergangenheit zugewandt sind. Ehe Zander sich versieht, findet er sich in einem apokalyptischen Chaos wieder, in dem Realität und Fiktion nicht mehr zu unterscheiden sind.

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Seitenzahl: 303

Veröffentlichungsjahr: 2024

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In dieser Reihe bisher erschienen

3301 Dwight V. Swain Dunkles Schicksal

3302 Ronald M. Hahn Die Stadt am Ende der Welt

3303 Peter Dubina Die Wächter des Alls

3304 Walter Ernsting Der verzauberte Planet

3305 Walter Ernsting Begegnung im Weltraum

3306 Walter Ernsting Tempel der Götter

3307 Axel Kruse Tsinahpah

3308 Axel Kruse Mutter

3309 Axel Kruse Ein Junge, sein Hund und der Fluß

3310Ronald M. Hahn Die Herren der Zeit

3311 Peter Dubina Die letzte Fahrt der Krakatau

3312 Axel Kruse Knochen

3313 Ronald M. Hahn Projekt Replikant

PROJEKT REPLIKANT

TERRA - SCIENCE FICTION

BUCH 13

RONALD M. HAHN

Dieses Buch gehört zu unseren exklusiven Sammler-Editionen

und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.

In unserem Shop ist dieser Roman auch als E-Book lieferbar.

Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt. Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.

Copyright © 2024 Blitz-Verlag, eine Marke der Silberscore Beteiligungs GmbH, Mühlsteig 10, A-6633 Biberwier 

Redaktion: Danny Winter

Titelbild: Mario Heyer unter Verwendung der KI Software Midjourney

Vignette: Ralph Kretschmann

Satz: Gero Reimer

Alle Rechte vorbehalten.

3313 vom 14.09.2024

ISBN: 978-3-68984-081-5

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Ronald M. Hahn

EINS

„Für diese Mission dürfte Commander Bond am besten geeignet sein, denn er hat sich schon im Fall Casino Royale als äußerst fähig erwiesen, wenn seine Neigung zu den eher lasziven Kreisen der Weiblichkeit im Innenministerium auch wenig Beifall fand. Da Commander Bond in Wattenscheid zur Welt kam und die deutsche Sprache und Kultur durch ein intensives autodidaktisches Studium perfektioniert hat, wie die für uns tätigen deutschen Muttersprachler bestätigen, plädiere ich dafür, ihn zur Infiltration des Hugo-Gernsback-Instituts in Falkenhayn abzuordnen. Wir brauchen unbedingt Erkenntnisse über die Projekte, die der Reichsführer SS dort finanziert und die geeignet sind, unserem Empire Schaden zuzufügen.“

Mr. M, MI6, London

an Sir Winston Churchill, Downing Street Nr. 10

Die Einfahrt zu dem Kaff zu finden war angesichts des wütenden Schneesturms und der Dunkelheit keine Kleinigkeit, aber Zander gelang es, das Schild mit der Aufschrift FALKENHAYN 500 METER nicht zu übersehen.

Ein Richtungspfeil ließ ihn in einen zugeschneiten Weg einbiegen, der bergauf in ein Waldgebiet führte. Nach hundert Metern kam er auf eine Art Parkplatz. Hier waren schon mehrere Kraftfahrzeuge abgestellt.

Sie standen nicht ohne Grund hier: Geradeaus ging es steil nach oben, über einen Pfad, auf dem zwei Fahrzeuge sich lieber nicht begegnen sollten.

Mist! Zander schaltete den Motor aus und brummte eine Verwünschung. Myriaden Schneeflocken fielen vom Himmel herab und bedeckten die Windschutzscheibe seines Wagens wie ein Vorhang.

Tja, dachte er, ich hätte wohl früher aufstehen sollen. Er schaute hinaus und schüttelte sich. Nach einer Weile nahm er die Reisetasche vom Rücksitz und stieg aus. Der Weg nach oben war so glatt, dass er bei jedem Schritt darauf achten musste, wohin er trat. Sein Ziel war eine Villa, die seine Mutter vor Jahren von ihrem Vater geerbt und vermietet hatte. Die letzte Mieterin war nach Germania gezogen. Zanders Mutter lebte in Kanada. Da sie keine Lust hatte, ins Großdeutsche Reich zurückzukehren, hatte sie ihm das nun leerstehende Haus vermacht.

Zander war eigentlich ein Kind der Großstadt und hatte nicht vor, sich in einem Nest wie Falkenhayn heimisch zu machen. Doch jetzt war er nun mal hier und fragte sich, ob ihn eine schicke Villa oder eine Bruchbude erwartete. Seine Mutter hatte ihm einst ein Foto der Dame gezeigt, die sie im Internat Schloss Salem kennengelernt hatte: Mama und Emma, eng umschlungen, fünfzehn Jahre alt, saßen auf einer Ziegelsteinmauer und lächelten den Fotografen mit spitzer Schnute an.

Zander fand, dass die beiden Mädchen, wie man heutzutage sagte, sehr „sexy“ wirkten, und er hatte sich oft gefragt, ob sie sich ihres entzückenden Äußeren damals überhaupt bewusst gewesen waren.

Mama war später mit einem adeligen Fähnrich aus dem Klüngel des späteren Reichsflugscheibenministers Göring „gegangen“. Der Schnösel hatte sie geschwängert, aber nicht geheiratet. Opa hatte ihn zur Rede gestellt, und der Herr Fähnrich hatte rotzfrech gesagt, er würde niemals eine Frau heiraten, die nicht unschuldig in die Ehe ging. Opa hatte ihm das Gebiss gerichtet, war wegen Beleidigung und Körperverletzung verknackt worden und als Angehöriger einer Strafkompanie in Stalingrad verschollen. Und so war Mama an seine Villa in diesem Kaff gekommen.

Zander überwand den Hügel. Er stellte die Reisetasche ab und hielt inne, um Luft zu holen und sich die Landschaft anzuschauen. Er sah die finsteren Umrisse und unter dicken Schneedecken verborgenen Dächer von ein- und zweistöckigen Häusern.

Es waren nicht viele. Seine Nachforschungen hatten ergeben, dass Falkenhayn nur aus zwölf Häusern bestand.

Etwa dreihundert Meter rechts vor ihm glänzte ein hundert Meter in die Luft ragendes käseglockenartiges Gebilde, das ihm sagte, dass die künftigen Herren der Welt auch hier einen Stützpunkt errichtet hatten. Das Gebilde – ein RWE-Schirm – war transparent und schützte ein klotziges Gebäude: Schloss Falkenhayn. Zander hatte in einem Reiseführer von 1935 ein paar Zeilen über das Anwesen gelesen, aber jetzt, zwanzig Jahre später, war sein Wissen wohl nicht mehr aktuell.

„Ach, scheiß der Hund drauf“, murmelte er. Er hatte überlegt, ob er Mamas Liegenschaft als Wochenendhaus nutzen konnte, aber es war vielleicht besser, sie einem Makler zu überlassen, den Erlös einzustreichen und in die Karibik zu segeln. Mama, eine ausgefuchste Geschäftsfrau, hatte ihm nämlich nicht nur diese Immobilie überschrieben, sondern auch zwei andere und einen Stapel Bares in Form von Dollar- und Pfundnoten, sodass er nicht mal auf seine Pension angewiesen war.

Der Schnee wehte ihm ins Gesicht. Zander runzelte die Stirn. Er entnahm der Tasche eine graue Pudelmütze, setzte sie auf und setzte seinen Weg fort.

Alle Fenster, an denen er vorbeikam, waren dunkel, außer denen des Gasthofes „Forsthaus“. Da in der Finsternis und dem Schneetreiben keine Hausnummern zu erkennen waren, brauchte er eine Weile, bis er über dem Eingang einer schönen zweistöckigen Villa die Aufschrift VILLA MARLENE erspähte. Marlene war seine Mutter. Opa hatte sie sehr geliebt, auch wenn sie ein wenig aus der Art geschlagen war. Zander lachte leise: Eigentlich mehr als nur ein bisschen.

Er blieb stehen. Inzwischen hatte er kalte Knie, eine kalte Nase, war auch anderweitig schön durchgefroren und verwünschte seine Schusseligkeit, denn er hatte vergessen, Handschuhe mit auf die Reise zu nehmen.

Die Villa Marlene war, wie alle Häuser an dieser Straße, von einer hohen Hecke umgeben. Das Gartentörchen quietschte erbärmlich, weckte aber niemanden auf.

Ein Blick aufs Leuchtzifferblatt seiner Omega-Armbanduhr sagte Zander, welche Stunde es geschlagen hatte: 18.11 Uhr. Um Mitternacht konnte es nicht dunkler sein. Die Läden waren geschlossen, das Schloss der Haustür zugefroren.

Zander fluchte ausgiebig, suchte in allen Taschen nach einem Feuerzeug. Nach zwei Minuten vergeblichen Bemühens wurde ihm klar, dass es zwar eine gute Idee gewesen war, mit dem Rauchen aufzuhören, doch dass sein Entschluss auch Nachteile hatte: Früher war er nie ohne Kippen und Feuerzeug aus dem Haus gegangen; nun musste er sehen, wie er klarkam.

Er porkelte erfolglos mit dem Schlüssel im Schloss herum, bis er begriff, dass er ohne Feuer nicht weiterkam. Na schön. Dann eben zum Forsthaus.

Im Gasthof war es muckelig warm, gemütlich beleuchtet und menschenleer. Die Blondine hinter der Ladentheke, die sich ihm zuwandte, war vielleicht zehn Jahre älter als er, aber so hübsch, dass er einen Moment lang vergaß, was er überhaupt hier wollte.

„Gutän Abänd“, sagte sie mit dem süßesten ungarischen Akzent seit Marika Rökk. „Womit kann ich Ihnän dienän?“

Heiliger Bimbam, dachte Zander. Da fällt mir ‘ne Menge ein. Doch er riss sich zusammen und stellte sich vor. „Mein Name ist Zander. Haben Sie vielleicht ein Zimmer für mich?“

„Abär sichär.“ Die Frau zwinkerte ihm auf eine Weise zu, die ihm signalisierte, dass sie nicht abgeneigt war, ihn näher kennenzulernen. Sie griff unter die Theke und legte ein dickes Buch vor ihn hin. „Bittäschön … Wenn Sie sich eintragän wollän?“

Gottverdammt, ist die süß, dachte Zander. Er trug sich ein. Name: Harald Zander. Geboren am … in … Beruf: Polizeibeamter.

„Ich bin Ildiko Käpplär“, sagte die wunderschöne Frau. „Wie langä wollän Sie bleibän, Härr Zandär? Und …“ Sie lächelte. „Was führt Sie in diesäs ausstärbändä Näst? Ich hoffä, nicht nur das Unwättär.“

Zander musste sich zusammenreißen. Ihr ungarischer Akzent kam so toll bei ihm an, dass er spürte, wie eng seine Hose war.

„Eine … ähm … na, sagen wir so ’ne Art Erbschaft.“

Frau Keppler machte große Augen. „Oh, ist wär gästorbän?“

Zander schüttelte den Kopf und nannte den Namen seiner Mutter.

„Ah!“

„Sie kennen Sie?“

„Nur vom Höränsagän.“

Zander grinste. „Sie lebt in Kanada.“ Er erzählte der Wirtin, was ihn bewogen hatte, bei ihr einzukehren. Während sie miteinander sprachen, gesellte sich eine jüngere Version seiner Gesprächspartnerin zu ihnen, die ihm als „meinä Tochtär Katrin“ vorgestellt wurde. Katrin war so schnuckelig wie Mama, wenn auch vielleicht nur sechzehn Jahre alt.

Zander fragte sich, ob es hier auch einen Herrn Keppler gab … und wenn nicht, ob er es riskieren konnte, mit der Wirtin zu schäkern – oder zu „flörten“, wie man neuerdings sagte. Doch da er nicht über Gebühr neugierig erscheinen wollte, erkundigte er sich erst mal, ob es für ihn auch etwas zu Spachteln gäbe.

„Natürlich. Kein Probläm. Heute ist Gulaschtag.“

Bis dahin, dachte Zander, könnte ich eigentlich noch einen heben.

Er brachte seine Tasche nach oben in ein gut beheiztes Zimmer und kehrte in die Gaststube zurück, um eine ausliegende Zeitung zu lesen und sich ein großes Bier zu genehmigen, bis das Essen kam.

Serviert wurde es von Katrin, die den neuen Gast mit hellblauen Augen eingehend musterte. Die Augen musste sie von Papa haben, denn Mamas Augen waren braun. Auffällig war Katrins wiegender Gang, der so was wie Paarungsbereitschaft signalisierte.

Zander wäre unter anderen Umständen nicht abgeneigt gewesen, das Mädchen näher kennenzulernen, doch nach dem Bier, dass ihn eigenartigerweise leicht anbläute, kam Mama an seinen Tisch und fragte, ob es ihm recht sei, wenn sie bei ihm Platz nähme, da sie ihm etwas erzählen müsse, das mit seiner Erbschaft zu tun hatte.

„Ja, es ist mir sehr recht.“

Frau Keppler nahm Platz, und je länger sie sprach, umso weniger nahm Zander ihren entzückenden Akzent wahr. „Ich habä äs värgässän zu ärwähnän, abär …“ Und dann kam es: Warum Falkenhayn dem ‚Tode geweiht‘ war: Sämtliche Immobilien des Ortes – es waren ja nicht viele – hatte das Großdeutsche Reich aufgrund eines Paragrafen, der mit der nationalen Sicherheit zu tun hatte, enteignet und der SS überschrieben, die im hiesigen Schloss das Hugo-Gernsback-Institut betrieb.

„Gernsback?“ Zander spitzte die Ohren. Der Name war ihm bekannt. Gernsback war ein bekannter Erfinder und Zeitschriftenverleger, der Geschichten über Erfinder schrieb, die die tollsten Dinger bauten. Dass die Reichsingenieure ihm viele entscheidende Hinweise verdankten, hatte der Mann sich wohl kaum träumen lassen.

Die Einheimischen, so Frau Keppler, waren großzügig entschädigt worden und hatten den Ort schon verlassen – bis auf drei, vier Parteien, die noch keine neue Heimat gefunden hatten. Die noch hier Lebenden mussten aber spätestens im Frühjahr die Segel streichen.

„Das ist ja ein Mist.“ Zander fragte sich insgeheim, wie hoch seine „großzügige Entschädigung“ wohl ausfallen würde.

Frau Kepplers Blick besagte nicht, dass sie über ihren anstehenden Umzug traurig war. „Wissän Sie, ich bin ohnehin ähär ein Großstadtmänsch.“ Sie deutete zu den Fenstern hin. „Sie solltän sich mit Doktor Moracäk in Värbindung sätzän. Är ist där Kommandant. Im Schloss.“

„Das ist ja ein Mist“, wiederholte Zander. „Ja, danke, mach ich.“ Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er wirklich angesoffen war. Er beschloss, nach dem nächsten Bier in die Heia zu gehen, weil: Halb besoffen ist rausgeschmissenes Geld.

Als er den Tisch räumen wollte, ging die Tür der Gaststube auf, und zwei gut gelaunte Männer und eine schicke Frau traten ein. Der erste Mann – er trug wie Sherlock Holmes eine karierte Deerstalkermütze – und die Frau waren etwa Mitte dreißig und machten einen großstädtischen Eindruck: Die Dame war sehr hübsch, rothaarig, heftig aufgebrezelt und warf Zander einen interessierten Blick zu. Der zweite Mann, eher ein Bürschlein, war strohblond, ebenfalls sehr hübsch anzusehen und bewegte sich mit weibischer Eleganz. Mit solchen Buben hatte Zander bei der Sitte oft zu tun gehabt.

Das Trio nahm an einem Tisch vorm Kamin Platz. Fräulein Katrin eilte zu ihnen hin. Als Zander am Tresen vorbei zur Treppe stiefelte, öffnete sich links von ihm eine Tür. Ein großer Mann mit blondem Haar, breiten Schultern, einem blauweiß karierten Oberhemd und einer weißen Schürze nickte ihm freundlich zu. „Guten Abend, mein Name ist Keppler. Ich bin der Wirt.“

Zander schüttelte ihm die Hand und stellte sich vor. „Richten Sie der Küche mein Lob aus“, sagte er, bevor er nach oben ging. „Ich hab noch nie ein besseres Gulasch gespachtelt.“

„Ich werd’s mir ausrichten.“ Keppler lächelte.

Zander ging hinauf.

Bevor er sich hinlegte, warf er einen Blick aus dem Fenster. Es schneite wie zuvor, und es sah so aus, als wolle es auch nicht aufhören. Die matt leuchtende Käseglocke, die Schloss Falkenhayn vom Rest der Welt abschirmte, war gut zu sehen.

Ein dick angezogener Bierbauch mit einer roten Ballonmütze wankte von links her ins Bild, rutschte vor dem Gasthof im Schnee aus, fiel auf die Nase und zog sich fluchend wieder auf die Beine. Dass er mehr als nur angetrunken war, zeigte sich spätestens, als er nach drei Schritten erneut hinfiel.

Diesmal brauchte er eine Minute, um wieder auf die Beine zu kommen. Er klopfte sich den Schnee von den Klamotten, schaute sich um und wankte weiter. Dabei pfiff er leise die Internationale.

ZWEI

„… hat sich unsere Hoffnung leider nicht bestätigt, dass sich die Leistungen Ihrer Tochter verbessern, wenn sie die achte Klasse zum zweiten Mal wiederholt. Wir wissen nun, dass sie keine akademische Laufbahn anstrebt, sodass sie auf der Volksschule besser aufgehoben wäre. Katrin bemüht hat sich in keiner Weise, sich in die naturwissenschaftlichen Lektüren zu vertiefen, die zu kennen den Schülerinnen unseres Instituts vorgeschrieben ist. Stattdessen nutzt sie jede Gelegenheit, ihre Bildung in Sachen Biologie zu vertiefen, indem sie sich in den Freistunden mit anderen Schülerinnen in der Turnhalle widernatürlich auf eine Weise betätigt, die näher zu schildern unserem natürlichen Schamgefühl widerspricht …“

Der Direktor des Horst-Wessel-Gymnasiums Kaffhausen

an Herrn und Frau Keppler, Falkenhayn

Dicke Flocken fielen in einem schwerelosen Tanz auf das schlafende Dorf hinab. Heute war keine Winternacht wie jede andere, denn: Katrin stand, aus einem heißen Traum erwacht und von Empfindungen getrieben, die ihr vor drei Jahren noch fremd gewesen waren, in einem himmelblauen Flanellnachthemd am Fenster ihres Kämmerchens und schüttelte sich ekstatisch.

Den wüsten Traum, der sie aus dem Schlaf geschreckt hatte, führte sie auf den gut aussehenden Mann zurück, der heute bei ihnen Quartier genommen hatte: Schon bei seinem Auftauchen war ihr klar geworden, dass Herr Zander, der wie Errol Flynn aussah, alle Qualitäten aufwies, die ein Mann haben musste. Wie ein guter Mann aussah, wusste sie nach der Lektüre des Sittenromans Der schöne Graf von Monte Carlino.

Sie hatte die abgegriffene Schwarte kürzlich auf dem Dachboden gefunden, wo sie wie das restliche Gerümpel der Vorbesitzer in Körben und Pappkartons darauf gewartet hatte, eines Tages im Kamin zu enden. Der schöne Graf aus dem Buch war wie Harald Zander in einer stürmischen Winternacht in einer verschneiten Herberge im Gebirge aufgetaucht und hatte alle dort tätigen Zimmermädchen sowie der Hoteliersgattin und ihren vier Töchtern den Kopf verdreht. Da das von einer anonymen Kraft geschriebene Buch freizügig schilderte, wie sich der Graf seine jeweilige Beute mit heißen Küssen auf gewisse Körperteile so gefügig gemacht hatte, bis sie bereit gewesen war, sich in sturmumtosten Nächten mit ihm im Heustadel zu verlustieren, hatte Katrin so aufgewühlt, dass sie kaum in den Schlaf gekommen war. Und seit sie wusste, was Männer und Mädchen an schönen Dingen alles so miteinander treiben konnten, konnte sie den Tag kaum erwarten, an dem sie endlich all das erleben durfte, worüber ihre Mutter mit ihren Freundinnen früher immer getuschelt hatte.

Es war in Germania gewesen, der prächtigen Reichshauptstadt. Seit sie in Falkenhayn wohnten, wo der Hund begraben war und nur ein einziger junger Mann wohnte, der der Flasche jedoch zugeneigter war als der Weiblichkeit, gab es nichts mehr, auf das Katrin sich freuen konnte. Hier war nichts, das ihre Fantasie in Brand setzte.

Im Traum war Harald Zander ihr im Mondschein auf dem Balkon begegnet, der die Frontseite des Gasthofes einnahm. Er hatte sie an sich gezogen, ihre Schöße hatten sich berührt, und er hatte sie wie der Graf von Monte Carlino innig mit der Zunge geküsst, ungefähr so wie Hiltrud aus der achten Klasse, die ihr beigebracht hatte, was Männer und Frauen alles miteinander machen konnten, wenn keine Kinder in der Nähe waren.

Dass Zanders Zimmer neben dem ihren lag, hatte nicht nur ihre Fantasie befeuert, sondern auch dazu beigetragen, ihren Traum anzustacheln. Sie hatte seine warme Hand auf ihrem bebenden Schamhügel gespürt! Und dann war sie aufgewacht.

So ein Mist, dachte Katrin. Gerade als es interessant wurde!

Und so stand sie nun am Fenster, lauschte dem Pochen ihres Herzens, wiegte sich unmerklich im Rhythmus des wunderschönen Pulsierens ihres Unterleibs und schaute seufzend den fast schwerelos zu Boden sinkenden Schneeflocken zu. Und natürlich fragte sie sich, ob sie Herrn Zander aufgefallen war.

Und wenn ja, ob sie ihm gefiel.

Verheiratet war er nicht, denn er trug keinen Ring. Ob er eine Freundin hatte? Und wenn ja … was machte er dann wohl mit ihr? Etwa so was, wie der Graf von Monte Carlino mit den Dienstmädchen im Heustadel? Mama … Katrin spürte seine Hand noch immer auf ihrem Unterleib. Ihr wurde heiß, als sie sich vorstellte, sich in sein Zimmer zu schleichen und zu ihm ins Bett zu kriechen.

Du bist ja vielleicht ein verdorbenes Ding, dachte ihr spießiges Ich. Gleich darauf musste sie kichern. O, Gott, wenn Mama wüsste, was ich so denke. Sie schüttelte den Kopf und schaute zum nächtlichen Himmel hinauf. Über Schloss Falkenhayn, das den Gipfel des Hügels krönte, war über der „Käseglocke“ ein abnormes Wetterleuchten zu beobachten.

Das Spiel der Lichter war faszinierend. Katrin trat näher ans Fenster und reckte den Hals.

Dann hörte sie ein Brummen. Kam da etwa ein Wagen die Dorfstraße hinauf? Bei dem Schneefall und der Glätte war es kaum möglich. Sie öffnete vorsichtig das Fenster. Eiskalte Luft strömte herein.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Der Wagen war mit Schneeketten ausgerüstet. Ein grauer Horch 830BL. Obwohl er mindestens zwanzig Jahre auf dem Buckel hatte, sah er aus wie neu. Und er fuhr fast lautlos vorbei.

Katrin erblickte eine Hakenkreuz-Standarte. War da jemand in amtlicher Eigenschaft zum Schloss unterwegs? Das Wagendach war von einer dicken Schneeschicht bedeckt.

Der Fahrer war uniformiert und trug eine Schirmmütze auf dem Kopf. Er fuhr am Forsthaus vorbei in Richtung Schloss und verschwand im Dunkel der Nacht. Kurz darauf flackerte die Käseglocke kurz auf und erlosch. Man hatte sie wohl abgeschaltet, um das Fahrzeug aufs Gelände zu lassen. Keine Minute später flammte der Schirm wieder auf.

Katrin schüttelte sich. Durchs offene Fenster kam die Kälte herein. Sie gähnte, machte das Fenster zu und kehrte ins Bett zurück. Sie kuschelte sich unter die noch warme Federdecke und dachte an Harald Zander, der plötzlich in ihrem Zimmer war, nackt zu ihr unter die Decke schlüpfte und sie genau dort anfasste, wo er sie im Traum angefasst hatte.

Haaaach, dachte Katrin mit einem wollüstigen Seufzer. Ist das schööön! Doch bevor es noch schöner werden konnte, war sie wieder eingeschlafen.

DREI

„… möchte ich Ihnen die Herausgabe einer von mir letzten Sonntag konzipierten und in ihrer Einmaligkeit einmaligen kosmischen Romanserie vorschlagen. Es geht um Folgendes: In der Stetson-Galaxis gerät der Held Snöre Fnörpel, ein Kapitän des Kosmischen Kaiserreiches Kuykendall, im 44. Jahrhundert in Kontakt mit irdischen Raumfahrern, die unter dem Kommando eines gewissen Gul Vop auf dem Gral-Planeten R3-4CF gestrandet sind und dringend frischen Sauerstoff benötigen, um nicht zu ersticken. Zusammen mit seiner Kruh – Öle Mök (Android), Perre Phofy (Roboter) und Köbes Hemmylton (ein dreiäugiger Steuermann vom Planeten Köylen) macht Snöre Fnörpel sich auf die Reise, um Hilfe aus der Milchstraße zu holen, da der Sauerstoff der Stetson-Galaxis für irdische Lungen nicht atembar ist. Das war noch nie da!“

Kurt Brand, Schriftsteller

an den Verlag Paul Steinebach, Köln-Sülz

„Das Böse ist irgendwann einfach da. Es wütet, ruft Schrecken und Tod hervor – und noch ehe man begriffen hat, dass es überhaupt da ist, verschwindet es wie ein Gespenst in der Nacht.“

Krtzkratzklirr. Josef Vulpius hörte das Geräusch und schaute von seinem Buch auf. Ein Kratzen und Klirren, kaum hörbar. Suchte jemand im Dunkeln nach dem Schlüsselloch?

Er runzelte nachdenklich die Stirn. Nicht schon wieder. Er ließ das Buch sinken. Helmut, das kann so nicht weitergehen!

Vulpius litt an Schlaflosigkeit, deswegen las er vor dem Einschlafen immer ein Kapitel aus Jeder Schuss ein Russ, den Memoiren des kaiserlichen Offiziers Oskar von Hammerstein. Das Kapitel, das er gerade konsumierte – in dem der Held sich mit einem schartigen Säbel gegen ein Dutzend schlitzäugiger Iwans zur Wehr setzte – war freilich so spannend, dass er seinen nichtsnutzigen Sohn und das Geräusch gleich wieder vergaß.

Doch eine halbe Minute später hörte er es erneut! Diesmal wurde es von einem Stöhnen begleitet, das so grausig klang, dass Vulpius’ Haupthaar sich aufrichtete.

„Was hat das nun wieder zu bedeuten?“, murmelte er ungehalten.

Hatte sich etwa ein Tippelbruder nach Falkenhayn verirrt und suchte einen Unterschlupf?

War der örtliche Suffkopp vor seinem Haus ausgerutscht und kam aus eigener Kraft nicht mehr hoch? Der örtliche Suffkopp war ein verkrachter Schauspieler namens Manfred Hempel. Er wohnte gegenüber. Leider war auch Vulpius Junior als Schluckspecht bekannt. Da die Wehrmacht ihn seit ihrem tollen Sieg über die Alliierten nicht mehr brauchte, hatte Helmut jede Menge Zeit, den weiblichen Bauertrampeln in der Umgebung nachzustellen.

Andererseits hatte er schon öfter seinen Hausschlüssel verloren. In solchen Fällen versuchte er, um den väterlichen Groll nicht auf sich zu ziehen, auf andere Art ins Haus zu gelangen.

Er war bestimmt wieder besoffen. Die Entlassung aus der Wehrmacht hatte ihn aus der Bahn geworfen. Es war immer Helmuts Traum gewesen, in die Leibstandarte des Führers aufzusteigen. Doch nun lungerte er seit sechs Jahren in Falkenhayn herum und lebte vom Erbe seiner Großmutter mütterlicherseits, die ihm ein Aktienpaket der IG Farben hinterlassen hatte.

Vulpius seufzte. Eigentlich konnte ihm egal sein, was der Junge aus seinem Leben machte: Er war dreißig, sah ganz gut aus, war gesund und hatte Glück bei den Frauen. Aber …

Krtzkratzklirr. Wieder das Geräusch. „Jetzt reicht’s mir aber.“ Vulpius stieg aus dem Bett, zog den Bademantel über und machte sich auf den Weg zur Haustür.

Dort angekommen, hörte er ein Stöhnen, das so klang, als läge draußen jemand sterbend in seinem Blut.

„Gütiger Himmel …“ Mit zitternden Fingern und heftig klopfendem Herzen nahm er den Schlüssel vom Haken und öffnete die Tür.

Da lag jemand! Vulpius beugte sich vor. „Helmut?“

„Ungl… Ungl… Ungl…“

Vulpius zuckte zurück. Sein Herz blieb stehen. Vor ihm, im bleichen Licht der Sterne, richtete sich eine Gestalt auf, hob langsam den von einer Kapuze bedeckten Kopf und schaute ihn aus merkwürdig schwarzen Augen an. In einem skelettösen Gesicht öffnete sich ein unmenschlich breiter Mund und entblößte zwei Zahnreihen.

„Ungl…“

„Wer, um alles in der Welt …“, keuchte Vulpius.

Eine knochige Hand packte seinen Hals.

Vulpius wollte schreien, doch er brachte keinen Ton hervor. Der schreckliche Besucher richtete sich zu voller Größe auf. Er überragte ihn um Haupteslänge, was aber daran lag, dass Josef Vulpius nur einen Meter fünfzig maß.

„Wa… wa…“ Vulpius röchelte. „N-n-n…“ Er ließ den Schlüsselbund fallen und wich zwei Schritte zurück. Doch die gotteslästerliche Kreatur war im Nu bei ihm. Zwei unbarmherzig zugreifende Klauen legten sich um seinen Hals.

„Nicht …“ Der Boden unter ihm war plötzlich weg. Bestialische Kräfte hoben Vulpius hoch. Und er sah, dass seine Umgebung leuchtend hell wurde; so hell, dass er die Augen schließen musste, um nicht geblendet zu werden.

Das Blut strömte heiß durch seine Adern. Seine Muskeln zuckten. Seine altersschwachen Sinne funktionierten wieder. Er stand unter Strom, und der Strom war erstaunlicherweise hellblau und schoss aus seinem Kopf hervor und drang in den Schädel der ihn würgenden Bestie ein.

Dann war er tot.

Die Kreatur ließ ihn im Hausflur zu Boden sinken. Sie keuchte und stieß Laute aus, die von Erleichterung und Befriedigung kündeten. Dann rülpste sie, hob den Kopf und richtete den Blick auf die zum oberen Stockwerk führende Treppe.

Und sie kicherte auf eine Weise, die jeden Beobachter in Angst und Schrecken versetzt hätte.

VIER

„Mit siebzehn ging ich zum ersten Mal als Mädchen aus. In einem einschlägigen Lokal sah ich einen süßen Blonden mit blauen Augen. Die Stimmung in dem Lokal war ausgelassen: Der Wirt hatte Geburtstag. Es wurde gelacht und getanzt, und der Blonde zwinkerte mir zu. Wir unterhielten uns. Er war nett und intelligent und hatte Humor. Dann tanzten wir und kamen uns so nahe, dass ich seinen Steifen spürte. Es war erregend. Ich wehrte ihn nicht ab, als er mich küsste. Wir fingen leidenschaftlich an zu knutschen. Seine Zunge machte mich so heiß, dass ich zitterte und befürchtete, ohnmächtig zu werden. Seit diesem Augenblick wusste ich, dass ich gar ein Junge bin. Mein Herz schlug wild. Ich konnte einfach nicht aufhören, ihn zu küssen. Als ich merkte, dass seine Hand sich meinem Schritt näherte, bekam ich Skrupel und hauchte ihm ins Ohr, dass ich kein ‚richtiges‘ Mädchen sei. Daraufhin zog er mich noch fester an sich und sagte: ‚Es ist mir völlig egal, weil ich dich als genau das begehre, was du bist‘.“

Sabrina Mahler: Tagebuch

Und wie sah die Welt am heutigen Morgen aus? Diesig. Dämmerig.

Zander hob den Kopf. Ein Blick durchs Fenster sagte ihm, dass es nicht mehr schneite. Wie schön. Er kroch wieder unter die warme Decke. Er hatte komische Dinge geträumt: Der Führer hatte abgedankt und war nach New York gezogen. Seine Verlobte Eva hatte angekündigt, sie wolle die geplante Eheschließung mit ihm nun doch nicht mehr vollziehen und stattdessen Bubi Scholz heiraten.

Zander machte einen Versuch, erneut ins Land der Träume zu entschwinden. Es klappte nicht. In dem komischen Traum war noch etwas vorgekommen: In seinem Kopf spukten die verschneite Landschaft des vergangenen Abends und der Gedanke herum, dass die Villa Marlene in der Nacht zur Ruine geworden war und seine Entschädigungszahlung nur 4,98 Reichsmark betrug.

Er hatte eigentlich keinen Schimmer, was ein Haus am Arsch der Welt heutzutage wert war und was es kosten würde, es zu räumen. Seine Mutter hatte angedeutet, dass Opa eine Leseratte gewesen war und in dem Gebäude diverse Tonnen Papier lagerten. Hatte er neben einem Klafter Hegel noch zehntausend Leinenbände zum Thema Aufzucht von Zwergpapageien hinterlassen?

Och, näää, bitte nicht. Zander seufzte. Er blieb noch fünf Minuten liegen, begutachtete die holzgetäfelte Decke und stand mit einem leisen Fluch auf.

Ein unangenehmes Gefühl, das er sich nicht erklären konnte, machte sich in ihm breit. Der zweite Blick durchs Fenster zeigte ihm eine bewaldete Umgebung. Von Schnee bedeckte Bäume erstreckten sich von der anderen Straßenseite bis an das Gelände, auf dem der lautlos flirrende RWE-Schirm aufragte. Auf dem Dach des Schlosses, von dem er von hier aus nur die oberste Etage sah, ragte der charakteristische Mast auf, der den Schirm erzeugte.

Die Entwicklung des RWE-Schirms war wie die Reichsflugscheibe von kriegsentscheidender Bedeutung gewesen: Da sie schwerstem Artilleriebeschuss standhielt, hatten die Alliierten bei ihrer missglückten Invasion in der Normandie eine Schlappe nach der anderen erlitten. Die Von Braunschen Reichsflugscheiben-Geschwader hatte sie binnen einer Stunde zu Klump geschossen und versenkt.

Zander runzelte die Stirn, denn nun wurde ihm klar, wo das unangenehme Gefühl herkam: Er hatte Schloss Falkenhayn im Traum gesehen! Und davor, auf einer breiten Freitreppe, einen großen glatt rasierten Mann in SS-Uniform.

Zander schüttelte sich. Es war sinnlos, Träume zu analysieren. Je schneller es Tag wurde, desto schneller würden sich die Einzelheiten seiner Erinnerung in Nichts auflösen.

Als er gestiefelt und gespornt nach unten ging, um das Frühstück einzunehmen, hörte er auf den letzten Stufen der knarrenden Treppe einen Schrei, der den Rest jeglicher Müdigkeit aus seinen Gliedern vertrieb und ihn fast hätte stürzen lassen.

In der offenen Tür der Gaststube stand Katrin, die hübsche Tochter der Wirtin. Ihre fahrigen Gesten und erschreckt aufgerissenen Augen ließen erkennen, dass sie den Schrei ausgestoßen hatte.

Zander wäre vor dem Tresen beinahe mit Herrn Keppler zusammengestoßen, der aus der Küche geeilt kam. Er wirkte panisch. Seine Frau folgte ihm.

„Papa!“, rief das Mädchen. „Papa!“

„Katrin!“, rief Keppler. „Was, in Herrgotts Namen, ist passiert?“

Katrin, wegen der Kälte dick angezogen, zitterte vor Angst. Ihre Zähne klapperten, obwohl es in der Gaststube mollig warm war. Sie stürzte zur Mutter hin und warf sich in ihre Arme. „Er … war schon wieder da“, sagte sie und zog die Nase hoch. „Da draußen! Am Waldrand!“

Er? Zander sah aus den Augenwinkeln, dass Keppler sich an die Nasenspitze fasste, als wolle er signalisieren, dass er dem Mädchen kein Wort glaubte. Seine Gattin erbleichte.

„Er?“, sagte Zander. „Wer?“ Als rational denkender Mensch fragte er sich, wer in diesem Nest wohl so schreckenerregend sein konnte, dass er ein junges Mädchen so außer Fassung brachte. Er ging zur Tür und spähte hinaus. Es war niemand zu sehen.

Keppler hüstelte verlegen. Seine Frau nahm Katrin an die Hand und schob sie hektisch in die Küche, als gelte es zu verhindern, dass Zander ihr Fragen stellte.

„Wer hat Ihre Tochter erschreckt?“, fragte Zander den Wirt.

Keppler zuckte die Achseln. Er war verlegen. Es war nicht zu übersehen.

Zander wollte sich erkundigen, ob es hier vielleicht Wölfe gab, doch da knallte der Wind mit einem lauten Knall die Tür zu.

Keppler zuckte zusammen. Zander glaubte das Klatschen von Vogelschwingen zu hören, aber der Lautstärke nach hätten sie so groß wie Störche sein müssen.

„Ach, wissen Sie …“ Keppler zuckte die Achseln. „Mädchen in diesem Alter sind schwierig … Die haben Angst vor ihrem eigenen Schatten, speziell im Winter in einem verschneiten Nest, in dem es nie richtig hell wird und in dem kaum noch Menschen leben. In diesem Haus knistert und knackt es überall, und streunende Viecher krauchen auch hier rum.“ Er breitete entschuldigend die Arme aus. „Wer weiß, was sie gesehen hat.“ Er deutete zum Fenster hinaus. „Sie hat mal beim Pilze suchen im Wald jemanden gesehen, der … wie ’n Golem aussah.“

Zander runzelte die Stirn. „Golem?“ Er erinnerte sich an einen Film aus Kaisers Zeiten: Arbeiter hatten eine Statue ausgegraben, und ein jüdischer Trödler hatte sie mit einem Zauberspruch zum Leben erweckt. Der von einem Rabbiner angeblich aus Lehm erschaffene „Golem“ hatte sich in die Tochter des Trödlers verliebt und war Amok gelaufen, da sie ihn nicht erhören wollte.

Keppler fabrizierte ein gequältes Lächeln und deutete auf den gedeckten Tisch. „Kaffee oder Tee?“

„Kaffee.“ Zander nahm Platz und frühstückte. Außer ihm war niemand da. Er sah allerdings einen Tisch, an dem vor Kurzem jemand gefrühstückt hatte. Keppler brachte den Kaffee und räumte den anderen Tisch ab.

Wie er von Frau Keppler wusste, ging das Geschäft schlecht. Seit der Fertigstellung der neuen Reichsautobahn kam außer vereinzelten Reisegruppen und einsamen Wanderern niemand mehr hier vorbei. Auch die Seminare, die die SS früher in Schloss Falkenhayn abgehalten hatten, gab es nicht mehr. Sie fanden nun in der Wewelsburg bei Paderborn statt. Dass das Forsthaus noch nicht bankrott war, lag daran, dass es die Schlosskantine mit Speisen und Getränken belieferte.

Zander beendete sein Frühstück. Während er über den mysteriösen Golem nachdachte, fiel ihm wieder ein, wie schnell Frau Keppler Katrin aus dem Raum gebracht hatte. Als Herr Keppler aus der Küche kam, um ein paar Holzscheite in den Kamin zu werfen, versuchte Zander, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen.

„Erzählen Sie mir doch ’n bisschen mehr über diesen merkwürdigen Golem, Herr Keppler. Oder kann ich mit Ihrer Tochter darüber reden?“

„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.“ Keppler zuckte die Achseln. Er wirkte geistesabwesend. Er schien mehr mit sich selbst als mit Zander zu sprechen. „Ist wohl jemand hier rumgeschlichen … Ich weiß nicht recht …“ Er schüttelte den Kopf. „Falkenhayn ist nicht mehr das, was es mal war. Alle ziehen weg. Die Häuser stehen leer. Ich kann nicht ausschließen, dass sich so was auch bei Leuten rumspricht, die man nur ungern als Nachbarn hätte … Unbewohnte Häuser ziehen auch schon mal Tippelbrüder an … Gerade im Winter… Und das Schloss …“ Er runzelte die Stirn. „Keiner weiß eigentlich genau, was die da drin machen.“

Zander versuchte, den Sinn von Kepplers Gestammel zu erfassen, aber es gelang ihm nicht. „Glauben Sie, dass Ihre Tochter Halluzinationen hat, Herr Keppler? Oder dass sie was gesehen hat, dass sie sich nicht erklären kann?“

Keppler hörte ihm nicht zu. Er fachte das Feuer an und verschwand, den Blick in sich gekehrt, irgendwas vor sich hin murmelnd, in der Küche.

Zander leerte seine Kaffeetasse und nahm den Parka, den er am Abend zuvor in der Gaststube hatte hängen lassen, vom Haken.

Katrin tauchte plötzlich aus der Küche auf. Sie schien sich beruhigt zu haben und schenkte Zander ein Lächeln, das ihn sofort für sie einnahm.

„Mama sagt, Sie sind Polizist?“ Sie klang irgendwie erfreut.

Zander nickte. „Ich bin allerdings privat hier.“ Er deutete mit dem Kopf zur Straße hin. „Ich bin hier, um mir eine Immobilie anzuschauen.“

„Ah!“ Katrin nickte. „Darf ich fragen, welche?“

„Sie dürfen. Sie hat meiner Mutter gehört: Marlene Köster.“ Seine Mutter war kurz mit einem Köster verheiratet gewesen und nach der Scheidung ins Haus ihres Vaters nach Falkenhayn gezogen. Das Haus hatte sie einer englischen Fotografin vermietet, die aber nun auch ausgezogen war. „Sie hat in Falkenhayn gewohnt, bevor Ihre Familie das Forsthaus übernommen hat.“

„Ach, die Frau Köster meinen Sie!“ Katrins Augen strahlten Neugier aus. „Ich habe von ihr gehört. Die Mieterin kenne ich. Sie hieß Emma.“

„Haben Sie sie näher gekannt?“, fragte Zander.

„Oh, ja.“ Katrin lächelte. „Ich war oft bei ihr. Sie war immer sehr lieb zu mir.“ Sie errötete plötzlich, als hätte sie mehr erzählt, als sie erzählen wollte.

„Ich hab sie nicht gekannt.“ Zander deutete mit dem Kopf nach draußen. „Ich schau mich dann mal in der Villa um. Und auch sonst … Bin gespannt, was es hier zu sehen gibt.“

„Viel gibt’s in Falkenhayn nicht zu sehen. Nur leere Häuser, die niemand mehr kaufen darf.“ Katrin lächelte. „Im nächsten Frühjahr sind wir auch nicht mehr hier.“

„Sie freuen sich wohl auf die große Welt, hm?“ Zander zwinkerte ihr zu und ging hinaus.

Die Luft war kalt, aber angenehm. Der ganze Ort lag unter einer dichten Schneedecke. So sehr er sich auch bemühte, er konnte die Sonne nirgendwo entdecken.

Irgendwo rechts runter ging es zu dem Platz, an dem er seinen Audi abgestellt hatte. Aus dem Wald kam ein Mann mit einer Schrotflinte auf ihn zu. Er war in einen grünen Parka gekleidet und trug eine schwarze Wollmütze, Handschuhe und Stiefel. Er wirkte wie ein Förster. Als er Zander sah, grüßte er freundlich. „Sie sind wohl fremd hier?“

„Ja.“ Zander nickte. „Ich bin zu Besuch. Mein Name ist Zander. Ich versuche, das Angenehme – also einen Urlaub – mit dem Nützlichen zu verbinden: die Besichtigung einer Immobilie voller Bücher.“

Der Mann lachte. Er hatte einen buschigen Schnauz. Zander schätzte ihn auf etwa gleichaltrig, also Mitte zwanzig. „Ich heiße Oswald, Frank Oswald. Ich bin der neue Förster hier und jage Wilddiebe und sonstiges Gelichter. Die treiben in dieser Jahreszeit vermehrt ihr Unwesen.“ Er schaute finster drein. „Ich vermute auch, dass sich Wölfe in diese Gegend verirrt haben. Die Mistviecher reißen, was sie kriegen können. Sie fressen alles an und lassen es dann liegen.“

Zander schüttelte sich. „Besteht Gefahr für allein spazierende Menschen?“

Oswald lächelte. „Glaub nicht.“

„Na schön.“ Zander bedankte sich. Oswald tippte an seine Wollmütze und setzte den Weg fort – zum Gasthof hin. Vermutlich war er der Gast, der vor ihm dort gefrühstückt hatte. Der Pulverschnee knirschte unter seinen Stiefeln. Zander wünschte sich, er hätte ebenfalls welche mitgenommen.

Über ihm wölbte sich der Himmel in einem diffusen Grau. Es wurde nicht richtig hell. Wohin er auch schaute, er sah nur verlassene Häuser. Verschneite Hecken. Geschlossene Läden und verwilderte Vorgärten.

Zander hatte einiges über Falkenhayn gelesen. Hier sagten sich Fuchs und Hase Gute Nacht. Im letzten Jahrhundert hatten hier betuchte Herrschaften gelebt: Fabrikantenwitwen, pensionierte Staatsdiener und wohlhabende Künstler: Maler, Bildhauer, Dichter, Musiker und Theatermimen. Aber irgendwie hatte sich das alles überlebt: Die Herrschaften wohnten nun in der Stadt und ließen sich dort bedienen.