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Mit Empathie für Insekten die Welt retten! Insekten nehmen wir meist nur wahr, wenn sie uns stören: die Wespe, die uns den Saft streitig macht oder die Stechmücke, die uns den Schlaf raubt. Aber in Wirklichkeit sind Insekten weit mehr als das: Sie sind die Herrscher über das größte und vielfältigste Reich unseres Planeten. Es ist das Reich der Superlative, in dem das Leben unter extremen Bedingungen möglich ist, dessen Bewohner mit übersinnlich erscheinenden Wahrnehmungsleistungen ausgestattet sind und das sich über enorme Zeiträume hinweg entwickelt hat. Dominique Zimmermann nimmt uns mit auf eine fantastische Reise durch diese Welt, die bevölkert ist von Hosenbienen, Kompasstermiten, Goldwespen und vielen weiteren Insekten. Sie zeigt, welche überlebenswichtigen Aufgaben sie er füllen und von welch entscheidender Bedeutung sie für unser Ökosystem sind. Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an alle Sechsbeiner und ein Manifest dafür, Insekten als Lebewesen wahrzunehmen, ihre Lebensräume zu schützen und die Biodiversität des Planeten so gut es geht zu bewahren. Es gibt nur eine Welt für alle Lebewesen: Erhalten wir sie! Spannende und informative Geschichten aus der vielfältigen Welt der Insekten Farbig gedruckt, Hardcover mit Lesebändchen
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Seitenzahl: 276
Über das Buch
„Ein wichtiges Buch über die erstaunliche Welt der Insekten und ihre Bedeutsamkeit für die Natur und uns alle!“Michael Ohl
Insekten bauen Nester mit Klimaanlage, züchten Pilze, versklaven verwandte Arten, ziehen zum Überwintern in den Süden und produzieren schmerzhaftes Gift. Ihre Artenvielfalt und ihre Anzahl übersteigen die aller anderen Tiere an Land. Sie sind also nicht unsere unscheinbaren Mitbewohner – sie sind die Mehrheit. Und als solche spielen sie eine entscheidende Rolle für unser Ökosystem.
Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an alle Sechsbeiner: Ein Manifest für Empathie und für den Schutz der Biodiversität unseres Planeten. Es gibt nur eine Welt für alle Lebewesen: Erhalten wir sie!
Über Dominique Zimmermann
Dominique Zimmermann, geboren 1981 in Wien, ist Entomologin und Kuratorin im Naturhistorischen Museum in Wien. Im Fokus ihrer Forschung stehen Wildbienen und andere Stechimmen, insbesondere der Artenrückgang und dessen Ursachen. Darüber hinaus unterrichtet sie an der Universität Wien. Zimmermann ist Mitverfasserin des Insektenmanifests, das im Rahmen des Kunstwerks „Walk of Insects“ des österreichischen Künstlers Edgar Honetschläger 2023 in 13 Bodenplatten vor der Universität für Bodenkultur verewigt ist. Wissenschaftskommunikation ist ihr ein besonderes Anliegen, dem sie u.a. als Vorstandsmitglied des Vereins GoBugsGo nachgeht.
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leykam:seit 1585
DOMINIQUE ZIMMERMANN
Über das verborgene Leben auf sechs Beinen
Mit Illustrationen vonMichèle Ganser
leykam:Sachbuch
Gewidmet allen Menschen, die dasLeben auch im Kleinen sehen.
Indeed, to a good approximation,all organisms are insects!
Robert May
Prolog
I - Beeindruckende Vielfalt
Von Fritz zu Heteropoda venatoria
Wie viele gibt es?
Eines von vielen
Daten und Artenschutz
Die Evolution der Vielfalt
Die Biomasse der Insekten
II - Faszinierende Phänomene
Anwärter für einen Architekturpreis
Nomaden der Lüfte
III - Bienen, Wespen und Ameisen
Eine kurze Geschichte der Wespen
Parasiten und Parasiten von Parasiten
Ein Bouquet an Giften
Enttäuschte Bienenmännchen und beglückte Orchideen
Die Lebensräume der Stechimmen
Schutzmaßnahmen für Bienen
IV - Von einer lebensfeindlichen Welt
Der Rückgang der Biodiversität
Vom Aussterben der Arten
Nachweise des Insektensterbens
Lebensraumverlust
Die wahren Kosten der Pestizide
Dunkelheit ist essenziell
Gebietsfremde invasive Arten
Klimawandel und Insekten
Natur als Rechtssubjekt
V - Was wir tun können
Kulturlandschaft ist Naturlandschaft
Mithilfe der Landwirtschaft die Insektenwelt regenerieren
Siedlungsraum neu denken
Heile Welt Naturschutzgebiet?
Schutz der Wildnis
Ein Manifest für Insekten
Epilog
Dank
Anhang
Anleitung für Begegnungen mit der Insektenwelt
Glossar
Register
Quellen
Biografie
Den meisten Menschen bleiben Insekten verborgen. Nur manchmal treten sie kurz in Erscheinung. Etwa wenn uns eine Stechmücke mit ihrem Summen in der Nacht den Schlaf raubt, uns der hektische Zickzack-Flug der Wespe beim Picknick verunsichert oder wir die Packung Reis entsorgen, weil daraus eine Motte krabbelt. Doch diese, die Regeln des guten Benehmens missachtenden, Vertreter sind nur Randerscheinungen – ein winziger Anteil einer unvorstellbaren Diversität. Denn Insekten sind die vielfältigste Organismengruppe der Erde. Mit über einer Million wissenschaftlich beschriebenen Arten ist unser Wissen um sie reichhaltig, und mit einem Vielfachen an noch nicht entdeckten Arten unser Unwissen ebenso. Jede Art hat ihren Platz in der Welt, ihre Nische, die im Laufe der Evolution entstanden ist, und erfüllt Aufgaben, die unseren Planeten zu dem unglaublichen Ort machen, der er ist.
Im Naturhistorischen Museum Wien sind Insekten alles andere als verborgen. Rund dreizehn Millionen Individuen umfasst die wissenschaftliche Sammlung. Hier bin ich für die Hautflügler, also Bienen, Wespen und Ameisen, verantwortlich. Meine Aufgabe ist es, sie zu ordnen, zu bewahren, zu erforschen und der Öffentlichkeit näherzubringen. Sammlungen mit toten, genadelten Insekten könnten den Eindruck erwecken, nicht mehr zeitgemäß zu sein. Doch das Gegenteil ist der Fall. An ihnen wird aktiv geforscht, und zwar zu vielen Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft gegenwärtig steht. Sie sind Archive der Biodiversität und – neben der Natur selbst – der wichtigste Ort, um den Artenreichtum der Lebewesen zu erforschen, mit denen wir die Erde teilen. Wissenschaftler:innen entdecken hier neue Arten, beschreiben sie und tragen dazu bei, ihre tatsächliche Vielfalt mitsamt genauen Verortungen zu erfassen. So können sie feststellen, welche Gebiete am dringendsten geschützt werden müssen. Die Sammlungen sind Fenster in die Vergangenheit, durch die wir nachvollziehen können, wie sich die Verbreitung von Arten in Zusammenhang mit Veränderungen der Umwelt entwickelt hat. Auf diesem Weg konnte der Rückgang ihrer Vielfalt in den letzten Jahrzehnten an einigen Orten der Erde nachgewiesen werden. Neben der Abnahme an Biomasse macht der Artenschwund das aktuelle Insektensterben aus. Es ist ein Symptom der globalen Biodiversitätskrise, die mitsamt der Klimakrise eine der größten Gefahren darstellt, vor der wir derzeit stehen.1
Begleiten Sie mich auf eine Reise in die faszinierende Welt der Insekten, auf der wir Hosenbienen begegnen, mit Monarchfaltern und Schwebfliegen übers Gebirge gleiten, auf der Lauer liegende Gottesanbeterinnen beobachten und metallisch-bunt schillernde Goldwespen bewundern. Insekten sind überall um uns herum, in der Wiese, im Wald und in der Stadt, doch ihre Stimme gleicht eher einem Geflüster. Hören wir genau hin und lassen wir uns auf diese wenig bekannte Welt ein, so erfahren wir, auf welch vielfältige Weise sie das Ökosystem der Erde beeinflussen, das unsere Lebensgrundlage darstellt, und wie wir wiederum Einfluss auf ihr Dasein nehmen. Ich bin überzeugt, dass es für jeden Menschen eine Bereicherung ist, sich auf dieses Leben im Kleinen einzulassen. Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an alle Sechsbeiner und ein Appell, Insekten als Lebewesen wahrzunehmen, ihre Lebensräume zu schützen und die Biodiversität des Planeten so gut es geht zu bewahren. Es ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten geht es um persönliche und wissenschaftliche Zugänge zu Insekten, ihre Vielfalt und unfassbar große Biomasse, um faszinierende Phänomene wie Insektenwanderungen und die Architektur von Termitenbauten. Den Abschluss macht mein spezielles Forschungsgebiet, die Welt der Hautflügler. Der zweite Teil fokussiert sich auf die Lebensrealität der Insekten in der Gegenwart, erklärt die Ursachen ihres Sterbens und erläutert, wieso uns das unmittelbar betrifft. Er verhandelt die Fragen, wie das harmonische Zusammenleben von Menschen und Insekten aussehen kann und wie wir über Empathie neue Wege finden, uns für eine Erde einzusetzen, auf der Platz für alle ist.
In meinen Geschichten greife ich auf viele Forschungsergebnisse, Gedanken und Erkenntnisse anderer zurück. Ich habe mich bemüht, sie weitgehend in den Referenzen sichtbar zu machen und Interessierten damit das Eintauchen in ein Thema zu ermöglichen. Auch viele der Gedanken zu dem, was falsch läuft und was wir besser machen können, sind nicht zum ersten Mal gedacht. Etliche Menschen forschen dazu oder arbeiten daran, sie umzusetzen, sei es im Garten, im Grätzel*, im Nationalrat oder in der EU-Kommission. Ich kann viele Bereiche hier nur streifen, während man zu jedem ein ganzes Buch schreiben könnte. Dennoch hoffe ich, dass mein Streifzug durch die Welt der Insekten für Sie bereichernd ist, und dass damit ein kleiner Beitrag zur Sichtbarkeit und zum Schutz der wenig bekannten Wesen geleistet wird. Denn für die Dinge, mit denen wir uns auseinandersetzen, entwickeln wir eher eine tiefe Wertschätzung und den Willen, sie zu bewahren.
* Ostösterreichisch für das Viertel.
Wenn ich hinausgehe und in der Natur oder meiner Umgebung in Wien unterwegs bin, mache ich auf manche Menschen womöglich einen skurrilen Eindruck. Ich stehe dann oft gebückt da und starre scheinbar ins Nichts. Zücke ich mein Handy, um ein Foto zu machen, denken Vorbeigehende vielleicht, dass ich eine Blume fotografiere. Hübsche Blümchen finden alle gut. Ich begeistere mich aber vielmehr für die kleinen Wesen, die sie bevölkern. Im Sommer ist es bei Forschungserhebungen im Freiland für meine Zufriedenheit wesentlich, gute Ergebnisse zu erzielen, die mich wissenschaftlich weiterbringen. Doch auch die wenig erfolgreichen Tage halten kleine Glücksmomente bereit, wenn ich etwa eine Gottesanbeterin im Gras entdecke und sie kurz in die Hand nehme. Dann beobachte ich, wie sie ihren dreieckigen Kopf hebt, die Fangbeine aus der Gebetsstellung löst und an meiner Hand hochklettert. Mit ihren großen Augen nimmt sie mich und unsere Umgebung neugierig wahr. Ich weiß nicht, ob es an ihrer Natur als gefürchtete Räuberin unter den Insekten liegt oder vielleicht vielmehr an ihrer Vorliebe für neue, vielversprechende Orte, an denen sie sich auf die Lauer legen kann, aber Gottesanbeterinnen sind wenig schreckhaft und lassen sich eine solche kurze Begegnung fast immer gefallen. Zudem schneiden sie auf Fotos meist besser ab als ich.
Insekten bieten sich für Naturerlebnisse an – auch im Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Die wenigsten Insekten sind in irgendeiner Weise bedrohlich. Das gefährlichste in unseren Breiten ist die Honigbiene, da ihr Stich Allergien auslösen kann, und der Ölkäfer, wenn man das von ihm ausgeschiedene Sekret aufnimmt oder auf die Idee käme, ihn als Ganzes zu essen. Einige weitere können stechen, aber mehr nicht. Man kann also die meisten bedenkenlos in die Hand nehmen oder vorübergehend in einem kleinen Gefäß einfangen. Sie kommen überall vor, weshalb sie leicht zu finden sind. Für einige Menschen haben sie etwas Exotisches oder gar Gruseliges, was die Wahrscheinlichkeit auf ein erinnerungswürdiges Erlebnis erhöht. Als Organismen sind sie ideal, um mit der Natur in Kontakt zu kommen und die Wahrnehmung für die Umwelt zu schärfen. Die Natur birgt Abenteuer und Entdeckungen ohne Ende, man muss ihnen nur die Tür öffnen. Es ist wie mit einer Sprache. Sie verschafft uns Zutritt zu einer Welt, die uns davor verschlossen war. Der erste Schritt ist, von dieser Welt zu wissen und sich auf sie einzulassen. Mit jedem Baustein an Wissen – Vokabeln und Grammatik im Fall der Sprache oder Artnamen, Lebensweisen und Zusammenhänge im Fall der Natur – können wir tiefer in die uns zuvor verborgene Welt eintauchen. Was wahrgenommen wird, hängt direkt damit zusammen, was benannt werden kann.
Sehe ich ein längliches behaartes Insekt, oder erkenne ich eine Raubfliege, die vielleicht auf eine mich umschwirrende Bremse Jagd macht? Mit jeder Eingrenzung – ob auf Ordnung, Familie, Gattung oder Art – geht Wissen einher, das wir über die jeweiligen Tiere haben. Kann man Insekten nicht ihren wissenschaftlichen Namen zuweisen, so ist es manchmal durchaus hilfreich, ihnen einen menschlichen zu geben, etwa Rosi, Samantha, Karl oder, wie ich es einmal tat, Fritz.
Es war noch vor meinem Biologiestudium, während meiner ersten Fernreise als junge Erwachsene nach Indonesien. Ich übernachtete in einer einfachen kleinen Hütte. Naturliebe hin oder her, ich erschrak sehr, als auf dem WC an der Wand neben der Klomuschel – im Sitzen auf Kopfhöhe – eine handtellergroße Spinne* auf mich wartete. Verunsichert ging ich zur Rezeption und schilderte die Umstände. Woraufhin mich jemand zurückbegleitete, um sich der Sache anzunehmen. Er sah sich das riesige Tier an, erklärte mir, es sei harmlos, nahm einen Flipflop® vom Fuß und erschlug es. Ich weiß nicht mehr, ob ich mich bedankte. Natürlich hatte ich gehofft, dass sie irgendwie entfernt werden würde, aber nicht auf diese Weise. Immerhin steigt das schlechte Gewissen beim Töten von Tierchen jedweder Art in der Regel direkt proportional zur Größe. Jetzt war die harmlose Spinne erschlagen, und alles wegen mir. Wenige Stunden später bekam ich jedoch eine zweite Chance. Als ich erneut auf die Toilette ging, war an einer anderen Stelle eine ebensolche Spinne! Natürlich wusste ich jetzt, was nicht zu tun war. Eine alternative Herangehensweise musste her. So kam sie zu ihrem Namen. Die große, unberechenbare Spinne, vor der ich mich schutzlos entblößen sollte, wurde zu Fritz, der hier lebte und zwar bedrohlich aussah, aber in Wirklichkeit ganz lieb und harmlos war. Ich grüßte ihn, wenn ich reinkam, behielt ihn im Auge, aber er war kein Problem mehr, sondern ein akzeptierter Mitbewohner.* Der, wie ich heute dank Foto-Dokumentation weiß, eine Riesenkrabbenspinne war oder, wie er laut wissenschaftlicher Nomenklatur vollständig heißen würde, eine Heteropoda venatoria (Linné, 1767).
Die heutzutage verwendete Benennung der Arten geht auf den schwedischen Naturforscher Carl von Linné zurück. In seinem Werk „Systema Naturae“ führte er 1753 den zweiteiligen Artnamen ein.* Er besteht immer aus einem großgeschriebenen Gattungsnamen, den nah verwandte Arten miteinander teilen, und einem kleingeschriebenen, so genannten Art-Epitheton, das innerhalb einer Gattung nur einmal vorkommen darf. Der Gattungsname und das Art-Epitheton werden immer kursiv geschrieben.1 Am Ende stehen der Nachname der Person, die sie beschrieben hat, sowie das Jahr der Beschreibung. Diese Informationen dienen dazu, auszuschließen, dass es zu einem Missverständnis kommen kann, welche Art gemeint ist. Im nicht wissenschaftlichen Bereich werden Autor:in und Jahr oft weggelassen. Ich werde hier bis auf wenige Ausnahmen zur Veranschaulichung ebenso darauf verzichten und den deutschen Namen mit dem verkürzten lateinischen in Klammern angeben. Während die Gattungszugehörigkeit bei der Beschreibung meist schlicht festgestellt und zugeordnet wird, darf das Art-Epitheton frei gewählt werden. Oft wird dabei auf den Ort Bezug genommen, an dem die Art entdeckt wurde, wie beispielsweise bei der Grabwespe Pemphredon austriaca Kohl, 1888. Sie wurde von dem ersten Kurator der Sammlung, für die ich heute zuständig bin, anhand von Tieren aus Österreich beschrieben. Oder der Kugelspringer Megalothorax sanctistephani Christian, 1998, der im Stephansdom in Wien entdeckt wurde. Alternativ können charakteristische Merkmale für den Namen herangezogen werden. Ein Beispiel wäre Tiphia femorata (Fabricius, 1775),2 eine Rollwespe, die rotbraune Oberschenkel, also Femora, hat. Darüber hinaus kann sich der Name auf eine Person oder eine Figur aus Kunst und Kultur beziehen. So gibt es seit kurzem den nach mir benannten Kurzflügelkäfer Eucibdelus zimmermannae Schillhammer, 2023. Er wurde von meinem Kollegen Harald Schillhammer beschrieben. Er sammelte 2010 einige Exemplare dieser Art auf einer gemeinsamen Forschungsreise nach Myanmar. Einer meiner liebsten wissenschaftlichen Insektennamen ist Tinkerbella nana, eine Feenwespe, die von meinen Kollegen John Huber und John Noyes 2013 aus Costa Rica beschrieben wurde. Welch passenderer Name hätte für eines der kleinsten flugfähigen Insekten gefunden werden können als jener der Fee Glöckchen, im Englischen Tinkerbell, aus dem Kindermärchen Peter Pan?
Insekten Namen zu geben und sie einzuordnen, ist maßgeblich, um sich innerhalb der Vielzahl zurechtzufinden. Immerhin machen sie rund die Hälfte der zwei Millionen beschriebenen Pflanzen-, Tier- und Pilzarten aus. Das ist jedoch nur ein Bruchteil ihrer tatsächlichen Artenvielfalt, denn im Gegensatz zu Wirbeltieren ist ein Großteil der Insekten, geschätzte achtzig Prozent, noch unbeschrieben. Um sich der tatsächlichen Anzahl zu nähern, gibt es verschiedene Methoden und Herangehensweisen.
Die immensen Lücken im Verständnis der Insektenwelt, gepaart mit ihrer erstaunlichen Vielfalt, waren wesentliche Gründe, dass es mich im Studium letztendlich zu den Insekten zog. Eine fragwürdige Entscheidung, denn das geringe Ausmaß des Bekannten führt dazu, dass Insektenkundler:innen oft dumm dastehen. Meist läuft es in etwa so ab: „Du kennst dich doch mit Insekten aus. Was ist das für ein Käfer?“ – „Das ist ein Laufkäfer, aber welcher, das kann ich dir nicht sagen. Da gibt es viele.3 Ich werde meinen Kollegen fragen.“ Ähnlich verläuft es mit Fragen zu Fliegen, Wanzen, Schmetterlingen, Heuschrecken, Libellen oder anderen Insektenordnungen. Aber auch innerhalb der Hautflügler fragen Sie mich bitte nichts zu Schlupfwespen, Gallwespen, Goldwespen oder Lehmwespen. Betrachten wir nur die Bienen und Grabwespen – die Gruppen, mit denen ich mich etwas besser auskenne –, so existieren allein in Österreich fast 1.000 Arten. Entomolog:innen können froh sein, wenn sie einen winzig kleinen Teil gut kennen und einen groben Überblick über den Rest haben. Dafür können sie jedoch hinsichtlich des noch Unbekannten aus dem Vollen schöpfen. Meine langjährige Mentorin Ulrike Aspöck hat gemeinsam mit ihrem Ehemann Horst Aspöck zum Beispiel mehr als die Hälfte aller 250 bekannten Kamelhalsfliegenarten* beschrieben. Weltweit werden mehrere tausend Insektenarten jedes Jahr neu entdeckt. Die Anzahl der existierenden Insektenarten ist eine unbekannte Größe. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr begann erst in den 80er Jahren.
Eine weltweit aufsehenerregende Studie zur Schätzung der Zahl tropischer Arthropoden – zu denen Spinnentiere, Hundert- und Tausendfüßer, ein paar landlebende Krebse und vor allem Insekten gehören – stammt von dem amerikanischen Entomologen Terry Erwin. Er vernebelte die Baumkronen von neunzehn Bäumen einer tropischen Baumart mit Insektengift und zählte die Käferarten, die er darauf fand – insgesamt über 1.100 verschiedene.4 Er kategorisierte sie in Nahrungsgilden wie Pflanzenfresser, Pilzfresser und Räuber. Außerdem nahm er unterschiedliche Grade der Spezialisierung auf eine Baumart an. Den Wert multiplizierte er mit einer Schätzung der Zahl tropischer Baumarten (50.000) und kam auf etwa acht Millionen Käferarten allein in den Baumkronen der Tropen. Er ging außerdem davon aus, dass am und im Boden etwa halb so viele Arten vorkommen, und addierte danach noch sechzig Prozent für alle anderen Arthropoden, da Käfer etwa vierzig Prozent ihrer Vielfalt ausmachen. Damit kam er auf einen atemberaubenden Wert von dreißig Millionen Arthropodenarten in den Tropen. Heute wissen wir, dass einige seiner Annahmen überhöht waren, wie etwa die Proportion der Käferarten, die auf eine Baumart spezialisiert sind. 2010 wurde das Modell von Terry Erwin mit der gleichen Herangehensweise, aber einem weitaus größeren Datensatz und Simulationen aktualisiert, die die Verteilungswahrscheinlichkeit von Arten berücksichtigen. Es ergab eine Summe von sechs bis acht Millionen tropischer Arthropoden.
Eine andere Herangehensweise, die ohne Feldstudien auskam, stammte ursprünglich von Robert May, einem Zoologen der Universität Oxford. Seine Schätzung leitete sich von der Größenverteilung der Organismen ab.5 Er erkannte, dass es weitaus mehr kleine als große Arten gibt, letztere jedoch weitaus besser bekannt sind. May beschränkte sich aber nicht auf Insekten oder Arthropoden und extrapolierte die Artenzahlen der bekannten großen Organismen nach unten bis zu einem halben Millimeter. Somit kam er auf eine Schätzung von über zehn Millionen Organismenarten. Wenige Jahre später beobachtete Kevin Gaston, Professor für Biodiversität und Naturschutz an der Universität in Exeter, dass die Durchschnittsgröße der aus Großbritannien stammenden neu beschriebenen Käfer seit Beginn der Beschreibungen jedes Jahr geringer wurde.6 Von dieser Erkenntnis ausgehend versuchte der australische Forscher Nigel Stork eine Annäherung über eine der weltgrößten wissenschaftlichen Käfersammlungen, der des Natural History Museums in London.7 Er berechnete anhand einer zufälligen Auswahl die durchschnittliche Größe der bisher weltweit beschriebenen Käferarten pro Jahr. Insekten werden in Museen meist in genadelter Form aufbewahrt und nach Arten sortiert. Je nach Individuenzahl und Größe werden eine oder mehrere Arten in einer Insektenlade aufbewahrt. Die Laden werden wiederum untereinander oder nebeneinander in Insektenkästen oder – noch platzsparender – Kompaktanlagen gelagert, die entlang einer Schiene verschoben werden können. Von den fast 9.000 Laden der Sammlung erhob Nigel Stork eine aus jedem dritten Kasten, insgesamt 189, wodurch etwa 3.000 der 180.000 Arten in der Sammlung vertreten waren. Werden diese Werte mit der entsprechenden Kurve der britischen Käferfauna verglichen, so sind wir weltweit hinsichtlich der Erfassung der Käferarten da, wo man in Großbritannien im Jahr 1762 war. Ein Großteil der Arten muss noch unbeschrieben sein. Der Schätzwert, der sich daraus für die tatsächliche Artenvielfalt ergibt, sind 1,7 bis 2,1 Millionen Käfer- und – das Verhältnis von ihnen zum Rest extrapolierend – 5,5 Millionen Insektenarten.
Das Verhältnis von der britischen zur weltweiten Artenvielfalt wurde auch bei der Betrachtung einer Gruppe herangezogen, die unter den Sammler:innen wohl die beliebteste und in den Tropen gut untersucht ist, nämlich der Schmetterlinge. Die Gleichung mit einer Unbekannten lautet: Die Anzahl britischer Schmetterlingsarten verhält sich zur Anzahl aller britischen Insektenarten wie die weltweite Anzahl an Schmetterlingsarten zur Unbekannten (der weltweiten Insektenarten). Die Berechnung ergibt 5,5 bis 7,2 Millionen Insektenarten weltweit. Eine Unsicherheit hier ist, dass natürlich nicht bekannt ist, ob der Anteil von Schmetterlingsarten an der Insektenvielfalt in Großbritannien und weltweit gleich ist.
In einer weiteren Studie wurden Taxonom:innen – das sind Expert:innen einer bestimmten Organismengruppe – befragt, wie hoch sie die tatsächliche Vielfalt ihrer Gruppe einschätzen. Diese Menschen arbeiten tagtäglich mit den Tieren und haben Einblick in die Bestände einiger wissenschaftlicher Sammlungen weltweit. Hin und wieder fahren sie auf Expeditionen in Gebiete, in denen noch ein beträchtlicher Bestandteil der Arten ihrer Gruppe unbekannt ist, und beschreiben sie anschließend. Aber oft sind sie nur auf eine Region spezialisiert und die Großzügigkeit der Schätzwerte bleibt bis zu einem gewissen Grad eine Frage der jeweiligen Persönlichkeit. Dennoch ergab die Summe aller eingeholten Schätzungen den mit anderen Herangehensweisen in der Größenordnung stark übereinstimmenden Wert von etwa fünf Millionen Insektenarten.
Das sind nur einige der Wege, über die sich Wissenschaftler:innen in den letzten vierzig Jahren der tatsächlichen Artenvielfalt angenähert haben. Die Unsicherheitsfaktoren sind oft so groß, dass es zweifelhaft erscheinen mag, auf diese Weise tatsächlich an haltbare Zahlen zu kommen. Dessen ungeachtet kommen sie trotz unterschiedlicher Herangehensweisen zu einem recht einstimmigen Ergebnis von fünf bis sieben Millionen Insektenarten weltweit. Eine Grundannahme, die sich die Studien teilen, ist jedoch, dass Käfer vierzig Prozent der weltweiten Artenvielfalt ausmachen. Aber ist das wirklich der Fall? Parasitische Arten innerhalb der Fliegen und Wespen sind verhältnismäßig unerforscht und könnten einen weitaus größeren Anteil an der Insektenvielfalt haben als bisher angenommen. Sicher ist, dass wir zum aktuellen Zeitpunkt nur einen Bruchteil der Organismen dieses Planeten kennen und benannt haben. Benennen bedeutet, dass (1) diese Arten von eine:r Wissenschaftler:in in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung beschrieben wurden, (2) Merkmale, durch die sie sich von ähnlichen, bereits beschriebenen unterscheiden, definiert wurden, (3) ihnen ein wissenschaftlicher Name nach den Regeln der zoologischen Nomenklatur gegeben wurde und (4) die der Artbeschreibung zugrunde liegenden Exemplare, so genannte Typusexemplare, in einer wissenschaftlichen Sammlung hinterlegt sind.
Typusexemplare gehören zu den wertvollsten Objekten jeder wissenschaftlichen Sammlung. Eines davon ist in der Regel der Holotypus. Er ist und bleibt das einzige Tier, das per Definition diese Art ist. Betrachten wir etwa die Art Eucibdelus zimmermannae Schillhammer, 2023, so lagen meinem Kollegen zum Zeitpunkt der Artbeschreibung 23 Exemplare vor. Sie werden darin mit ihren genauen Funddaten angeführt. Alle wurden ausschließlich am Mount Victoria im Natmataung National Park gesammelt. Die meisten von ihm selbst. Einige weitere Exemplare steckten jedoch seit über siebzig Jahren unentdeckt in der Sammlung des Natural History Museums London und wurden erst jetzt als neue Art erkannt. Alle 23 Exemplare sind als Typusexemplare gekennzeichnet, doch nur eines davon ist der Holotypus. Die übrigen sind so genannte Paratypen.8 Selten, aber doch kommt es vor, dass sich innerhalb einer Typenreihe zwei Arten verbergen. In einem solchen Fall behält die Art des Holotypus den Namen, während die andere neu beschrieben wird. Das kann passieren, wenn sich hinter einer vermeintlichen Art in Wirklichkeit zwei oder mehrere verstecken, die sich äußerlich sehr ähneln und deshalb längere Zeit unentdeckt blieben. Diese werden „kryptische Arten“ genannt. Ein Beispiel ist etwa die Efeu-Seidenbiene (Colletes hederae), die erst 1993 aus Mittel- und Südeuropa beschrieben wurde. Einige Mitglieder der Gattung der Seidenbienen sind sich äußerlich sehr ähnlich. Die meisten sind auf eine Nahrungspflanze spezialisiert, sodass die Pflanze, auf der die Biene angetroffen wird, einen guten Hinweis auf die Art liefert. Beobachtungen von Pollen-Aufsammlungen der Heidekraut-Seidenbiene (Colletes succintus) und der Salzaster-Seidenbiene (Colletes halophilus) auf Efeu – einer für sie ungewöhnlichen Pflanze – ließen die deutschen Wildbienen-Forscher Konrad Schmidt und Paul Westrich Verdacht schöpfen. Genaue Untersuchungen der entsprechenden Individuen und der Typusexemplare von Colletes succinctus und Colletes halophilus bestätigten die Annahme, dass es sich bei den an Efeu gesammelten Individuen um eine eigene, bisher unbekannte Art handelte.9 Sie konnten feine, aber konsistente Unterschiede feststellen und gaben ihr den Namen Colletes hederae, bezugnehmend auf die wissenschaftliche Bezeichnung für Efeugewächse Hedera.
Wenn sich eine Art als Komplex kryptischer Arten herausstellt, so müssen alle Exemplare, die bisher untersucht wurden, nochmal überprüft werden. Das zeigt, wie wichtig es ist, Exemplare, die in der Forschung verwendet werden, in öffentlichen wissenschaftlichen Sammlungen wie der des Naturhistorischen Museums aufzubewahren. Denn Forschungsergebnisse – ob zur Genetik, Physiologie, Anatomie oder Verbreitung von Arten – sind wertlos, wenn sie nicht eindeutig zugeordnet werden können, und irreführend, wenn sie einer falschen Art zugeordnet werden. Sind die untersuchten Exemplare in einer wissenschaftlichen Sammlung hinterlegt und durch einen individuellen Code identifizierbar, kann jederzeit auf das Original zurückgegriffen und die Bestimmung überprüft werden. Auch im Fall von Datenbanken, derer es in der Welt der Wissenschaft sehr viele gibt, ist die Verknüpfung der Angaben mit einem realen, wieder auffindbaren Objekt eines der wichtigsten Qualitätskriterien.
Das Wissen, das sich in den wissenschaftlichen Sammlungen der Welt befindet, ist immens. Doch das Problem ist, dass es großteils in den Sammlungen feststeckt, konkret am Objekt. Nämlich in Form eines physischen, bei alten Exemplaren oft schwer lesbaren Fundortzettels. Aufgrund der exorbitanten Menge an Objekten – allein in der Insektensammlung des Naturhistorischen Museums Wien sind es an die dreizehn Millionen, im Smithsonian in Washington 35 Millionen Insekten – ist es eine der größten Herausforderungen der Gegenwart, diese Daten digital verfügbar, zugänglich und verwertbar zu machen. Vor allem für den Arten- und Biodiversitätsschutz sind sie von großem Wert.
Eines der wichtigsten Instrumente im Artenschutz sind Rote Listen. Das sind Bearbeitungen einer Organismengruppe auf regionalem, nationalem oder transnationalem Niveau, in der die Gefährdung einzelner Arten analysiert wird. Heutzutage ist es Standard, diese Liste nach den Kriterien der IUCN (International Union for Conservation of Nature) zu erstellen. Hierbei wird eine substanzielle Menge an Daten benötigt, um eine Gefährdungskategorie vergeben zu dürfen. Arten können laut dieser Liste als nicht gefährdet, potenziell gefährdet, gefährdet, stark gefährdet, vom Aussterben bedroht, regional ausgestorben, in der Natur ausgestorben oder ausgestorben klassifiziert werden. Bei der Einstufung der Gefährdungskategorie kommen verschiedene Kriterien zur Anwendung. Einige davon sind für Insekten aber kaum zu gebrauchen, wie beispielsweise der Prozentsatz des Populationsrückgangs einer Art. Ursprünglich wurde die Rote Liste für die Erfassung der Gefährdung von Säugetieren entwickelt, deren Bestände weit besser bekannt sind. Für Insekten gibt es kein flächendeckendes Monitoring. Abgesehen von einigen wenigen, vom Aussterben bedrohten und regional stark begrenzt vorkommenden Arten, wie dem Lord-Howe-Island-Baumhummer, weiß niemand, wie viele Individuen es jeweils gibt, wie viele es vor einer gewissen Zeit gab oder wie viele den Fortbestand sichern. Stattdessen wird zur Erfassung des Gefährdungsgrads oft die Veränderung – in Ausmaß oder Qualität – des Lebensraumtyps hergenommen, von dem eine Art durch ihre Biologie abhängig ist. Das setzt jedoch eine entsprechende Kenntnis ihrer Biologie voraus. Ein anderes Kriterium ist die Veränderung der Ausbreitung, also die Vergrößerung oder Verkleinerung der Fläche, auf der sie zu finden ist. Das erfordert zumindest eine gewisse Menge an Funden. Deren Daten wiederum in Veröffentlichungen, Datenbanken und verschiedenen wissenschaftlichen Sammlungen verstreut sind. Zum aktuellen Zeitpunkt sind aufwendige Recherchen vonnöten, um sie zusammenzutragen. Der Mangel an Daten zu seltenen Arten führt dazu, dass in vielen Roten Listen ein beträchtlicher Anteil – bis zu fünfzig Prozent – als nicht erfassbar angeführt wird.
In den letzten Jahren wurde die Rote Liste der Bienen der Schweiz umfassend nach IUCN-Kriterien überarbeitet. Es wurden dafür Gegenden untersucht, zu denen es bisher keine Daten gab, nach lange nicht mehr gesichteten Arten an früheren Fundorten gesucht, Daten aus den wissenschaftlichen Sammlungen erhoben und bestimmt, bestimmt, bestimmt. Das gesamte Material wurde von Expert:innen gesichtet, um die Identifikationen zu überprüfen. Ein immenser Aufwand, der jedoch unerlässlich ist, wenn man eine annähernd vollständige und haltbare Liste veröffentlichen möchte. In Österreich, einem der letzten europäischen Länder ohne Rote Liste für Bienen, ist ein vergleichbares Projekt im Gange, wenn auch ohne Suche im Freiland. Gemeinsam mit Kolleg:innen bin ich viele Stunden damit beschäftigt, die österreichischen Exemplare der Bienenarten in der Sammlung des Naturhistorischen Museums nachzubestimmen. Das ist notwendig, da es in jeder größeren wissenschaftlichen Sammlung zu einem gewissen Prozentsatz falsch bestimmte Exemplare gibt und wir nicht wollen, dass diese die Evaluierung verfälschen. Es wird einige Jahre dauern, bis alle Daten aus den wissenschaftlichen Sammlungen zusammengetragen und ausgewertet sind. Bei allem Aufwand sind solche Arbeiten eine Notwendigkeit, wenn man Arten schützen möchte, denn Maßnahmen werden meist erst bei einer entsprechenden Gefährdungseinstufung beschlossen.
Darüber hinaus ist die Kenntnis des Artenreichtums von Gebieten ein wichtiges Instrument im Naturschutz. Soll ein Gebiet unter Schutz gestellt werden, muss man in der Regel aufzeigen, dass es sich um ein außerordentlich artenreiches Areal handelt oder dass besondere, seltene Arten darauf vorkommen. Meist geht dem ein großer Einsatz einzelner Personen voraus, und oft gibt es Konflikte mit den Menschen, die die Fläche lieber anderweitig nutzen würden, beispielsweise als Bauland oder landwirtschaftliche Anbaufläche. Um einen umfassenden Einblick in die Artenvielfalt eines Gebietes zu erhalten, müssen Erhebungen durchgeführt oder Literatur, Datenbanken und Sammlungen durchforstet werden. Ein entsprechendes Wissen ist nicht nur in Europa, sondern weltweit notwendig, um die artenreichsten Gebiete der Erde möglichst genau zu identifizieren.
Auf einer Tagung hörte ich einmal einen Vortrag von Stuart Pimm. Er ist ein amerikanischer Evolutionsbiologe und Ökologe, der sich jahrzehntelang sowohl mit der Artenvielfalt, den Ursachen und der Geschwindigkeit des Artensterbens als auch mit globalen Mustern des Lebensraumverlusts auseinandergesetzt hat. In seinem Vortrag diskutierte er die Forderung vieler Wissenschaftler:innen und Umweltschützer:innen, die Hälfte der Welt zum Schutzgebiet zu erklären. Während außer Diskussion steht, dass dringend Flächen unter Schutz gestellt werden müssen, um das Artensterben zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen, kann ein Prozentziel zu falschem Erfolg führen. Die Artenvielfalt ist auf unserem Planeten sehr ungleichmäßig verteilt. Große, unbewohnte und ungenutzte Regionen sind Wüsten oder arktische Gebiete, die nur einen sehr geringen Anteil beherbergen. Sie könnten relativ leicht unter Schutz gestellt werden, ohne dass es jemanden stört, und von Politiker:innen als Feigenblatt vorgehalten werden. Etwa zwei Drittel der globalen Artenvielfalt sind nämlich in tropischen Gebieten beheimatet. Diese sind akut von Zerstörung bedroht. Wäre es möglich, wenige Prozent der Erdoberfläche in den artenreichsten Gebieten effektiv zu schützen, so wäre mehr gewonnen. Im Alter von siebzig Jahren gründete er 2019 die gemeinnützige Organisation Saving Nature10, für die er mit dem Internationalen Kosmos-Preis ausgezeichnet wurde. Die Mitarbeiter:innen arbeiten eng mit lokalen Gruppen in den jeweiligen Gebieten zusammen. Sie unterstützen diese bei Ankauf und Bewahrung besonders wertvoller Flächen, der Wiederherstellung geschädigter Regionen und der Errichtung von Korridoren zwischen Schutzgebieten. Letztere ermöglichen den genetischen Austausch zwischen ansonsten isolierten Populationen und stärken damit ihre Resilienz. Für die Identifikation solcher Flächen ist das Wissen um das Vorkommen von Organismen und der Rückgriff auf die eingangs erwähnten Datensammlungen unerlässlich.* Doch nicht nur in den Tropen sind Insekten artenreich. Sie sind die einzige Tiergruppe, die es geschafft hat, beinahe alle Ökosysteme der Erde zu besiedeln – ob Gletscher, Regenwald, Wüste, Großstadt oder sogar die Meeresoberfläche der Hochsee11. Insofern sind sie in gewisser Weise ein Erfolgsmodell der Evolution.
Die Geschichte der Insekten begann vor über 400 Millionen Jahren. Welche Klasse von Gliederfüßern ihre nächsten Verwandten sind, war lange Zeit umstritten. Während meiner Studienzeit vor zwanzig Jahren wurde noch vermutet, dass es die Myriapoda – die Hundert- und Tausendfüßer – seien, unter anderem aufgrund ihrer Atmung über ein Tracheensystem. Heute hingegen stehen die Krebstiere außer Diskussion. Insekten sind, genauso wie Asseln, eine Gruppe von Krebsen, die das Leben an Land erobert hat. Durch Anpassungen haben sie sich so stark verändert, dass sie sich äußerlich wesentlich von ihnen unterscheiden. Während für die Hypothese vorwiegend genetische Untersuchungen ausschlaggebend waren, verfeinert sich nun das Bild auch aus morphologischer Sicht. Mittlerweile kann man die Gruppe, aus deren Vorfahren sich Insekten entwickelt haben, innerhalb der Krebse eingrenzen. Die Zukunft wird zeigen, ob die aktuelle Hypothese Bestand hat.12
Die Stammbaumforschung ist wie die Geschichtsforschung ein Prozess, bei dem auf der Basis von Fakten Interpretationen gemacht werden. Zur Gänze können beide nie aufgedeckt werden. Fossilien repräsentieren dabei einen sehr kleinen Anteil der tatsächlichen Vielfalt der Vergangenheit. Die Gene und die Morphologie der Tiere enthalten nach hunderten Millionen Jahren nur noch ein schwaches Signal, das auf ihre Verwandtschaft hinweisen könnte. Außerdem ist es auch nicht leicht, an frisches Material aller in Frage kommenden Gruppen für genetische Analysen zu gelangen.
Als nächste Verwandte von Insekten gelten derzeit die Remipedia. Das sind farb- und augenlose, ein bis fünf Zentimeter große Krebse, die räuberisch in Höhlensystemen mit Meereskontakt leben. Sie stellen eine eigene Klasse von Krebsen dar, was bedeutet, dass sie sich von anderen heute lebenden stark unterscheiden. Dennoch wurden sie erst in den 1980er Jahren entdeckt und sind bisher nur von einigen Orten auf der Welt mit knapp über zwanzig Arten bekannt. Merkmale, die sie mit Insekten gemeinsam haben, sind etwa der Bau der Mundwerkzeuge, das Fehlen eines zweiten Antennenpaares, das bei den meisten Krebsen vorhanden ist, sowie Merkmale des Nervensystems.
Wie könnten die Ahnen der heutigen Insekten ausgesehen haben? Ein „Ur-Insekt“, die Stammart aller heute lebenden Insekten, gibt es natürlich nicht mehr. Aber eines der ursprünglichsten, das wohl alle kennen, ist das Silberfischchen (Lepisma saccarina). Diese flinken, ungeflügelten Badgenossen sind in ihrer Form ursprünglicher als das älteste bisher gefundene Insektenfossil. Im Karbon, vor circa 359 Millionen bis 299 Millionen Jahren, konnten Fischchen bis zu sechs Zentimeter groß werden. Noch länger gibt es etwa Springschwänze (Collembola).13 Gegenwärtig machen ursprüngliche, ungeflügelte Insekten aber nur einen relativ kleinen Anteil der Fauna aus. Denn Flügel sind eine ihrer wichtigsten „Erfindungen“. Die Eroberung des Luftraumes ermöglichte eine viel schnellere Verbreitung und Flucht vor ungünstigen Bedingungen. In den ersten 100 Millionen Jahren, vielleicht sogar länger, gehörten die Lüfte ihnen allein. Sie waren die ersten Organismen der Erde, die aktiv fliegen konnten, lange vor den ersten Flugsauriern und Vögeln. Daneben war ein weiterer entscheidender Schritt in der Evolution der Insekten der Übergang von der so genannten unvollständigen zur vollständigen Entwicklung.
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Lepisma saccharina