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Die Lesenden werden zu einem philosophisch-schamanischen Dialog eingeladen, ohne dass die Wege dieser Reise vorgezeichnet sind. Das Gespräch ist geprägt von einem Miteinander, das einer Durchdringung der Themen dient und erfrischend unzeitgemäss und frei ist. Roman Steiner schöpft nicht nur aus seinem langjährigen schamanischen Erfahrungsschatz, sondern ermöglicht einen Blick in seinen reichen Fundus an Wissen hinsichtlich verschiedener schamanisch geprägter Kulturen.
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Seitenzahl: 375
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Dankesworte
Prolog
Über das Buch
Einleitung
1. Verschiedene Weltsichten
1.1 Ein schamanischer Blick auf verschiedene Disziplinen
1.2 Die Welt, die den Schamanismus vergass
2. Existenz, Sein, Sinn
2.1 Menschliche Existenz
2.2 Konzepte, Glauben, Religionen
2.3 Schamanische Methoden
2.4 Moral, Tabu, Gesetz
3. Mensch und Gesundheit
3.1 Physische Phänomene
3.2 Psychische Phänomene
3.3 Die Seele im Kontext
4. Raum, Zeit, Materie
4.1 Bewusstsein und Materie
4.2 Wirklichkeiten und Zeit
4.3 Geburt, Sterben und Tod
Essenz
Anhang
I Begriffserklärungen
II Literatur und Filme
III Anmerkungen
AW
Alltägliche Wirklichkeit
FSS
Foundation Shamanic Studies
FSSE
Foundation Shamanic Studies Europe
MW
Mittlere Welt
NAW
Nicht-Alltägliche Wirklichkeit
OW
Obere Welt
UW
Untere Welt
Die Worte, die vor allen anderen kommen
Dankesworte der Oglala, einem Unterstamm der Lakota1
Der Blick in den Kreis zeigt, dass die Lebenskreise weitergehen. Wir sind dankbar für den Einklang und die Verpflichtung, miteinander und mit allen Lebewesen zu leben. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Wir danken Mutter Erde, denn sie gibt uns allen, was wir zum Leben brauchen. Sie trägt unsere Füsse und Körper, wenn wir auf ihr gehen. Wir freuen uns, dass sie weiter für uns sorgt, so wie sie es seit Anbeginn der Zeiten getan hat. Unserer Mutter entrichten wir Dank, Liebe und Respekt. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Wir danken allen Wassern der Erde, dass sie unseren Durst stillen, dass sie Kraft und Nahrung für alle Lebewesen bieten. Wir anerkennen ihre Kraft in allerlei Formen – Wasserfälle, Regen, Nebel, Schnee, Flüsse, Bäche, Meere und Quellen. Wir sind dankbar, dass die Wasser noch immer hier sind und ihre Verantwortung für alle wahrnehmen. Danken wir dem Wasser in Demut. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Wir danken allen Lebewesen im Wasser, denn sie tragen Sorge und kümmern sich um das Wasser. Sie geben uns Nahrung und wir danken ihnen, sind sie da und erfüllen ihren Teil der Pflicht. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Wir danken dem weiten Feld des Pflanzenlebens. Soweit unsere Augen reichen, wachsen Pflanzen und bewirken Wunder. Sie erhalten und ernähren viele Lebensformen. Wir verneigen unsere Gedanken und Herzen und freuen uns, dass die Pflanzen noch viele Generationen überdauern werden. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Wir verehren alle Pflanzen, die uns ernähren, uns Freude bereiten oder uns heilen. Viele Lebewesen erfreuen sich des Lebens, dank der Nahrung, die sie von den Pflanzen erhalten. Danken wir der Bereitschaft und der Verantwortung der essbaren und anderen Pflanzen. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Unser Dank gilt den Heilkräutern und Pflanzen. Sie lindern Krankheiten seit langer Zeit. Treu stehen sie uns zur Seite, um uns zu heilen. Dankbar sind wir den Hüterinnen und Hütern der Medizinen. Dankbar sind wir um das Wissen und die Erfahrung mit der Pflanzenmedizin. Einmütig entrichten wir unseren Dank, Respekt und unsere Liebe den Heilkräutern. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Wir danken den Bäumen, die uns alle umgeben. Die Erde hat viele Baumfamilien, jede mit ihrer eigenen Lehre, Kraft und mit ihrem Nutzen. Die einen geben Schutz und Schatten, die anderen Frucht und Schönheit und nützliche Gaben. Wir Menschen erkennen in den Bäumen ein Symbol der Kraft und des Friedens und sind dankbar dafür. Wir entrichten unseren Dank den Baumwesen und ihrem Leben. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint. Wir vereinen unsere Gedanken und Herzen und entrichten unseren Dank an all die schönen Tiere der Welt. Sie lehren uns Menschen viele Dinge. Wir sind dankbar, dass sie weiterhin um uns sind und ihre Leben mit uns teilen. Habt Dank ihr Tiere. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Wir vereinen unsere Gedanken und Herzen und danken allen Lebewesen in der Luft; den Vögeln, ihrem Lufttanz und Gesang. Sie erinnern uns, das Leben zu geniessen und Freude zu zeigen, habt Dank. Allen Vögeln und Tieren in der Luft entrichten wir unseren Dank. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Wir sind dankbar für die Kräfte der Winde und der Luft aus allen vier Richtungen. Wir hören ihre Stimmen in der bewegten Luft, wenn sie uns erfrischen und die Luft, die wir atmen, reinigen. Sie tragen bei zum Wechsel der Jahreszeiten. Aus den Richtungen strömen Botschaften und Kraft zu uns, die sie uns schenken. Wir danken den Winden und der Luft. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Richtung Westen, danke unseren Ahnen und Donnerwesen. Begleitet von Donnern und erhellenden Blitzen bringen sie das Wasser und die Luft, die das Leben erneuern. Wir vereinen unsere Herzen, Seelen und Gedanken und grüssen unsere Ahnen und danken ihnen. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Wir richten unseren Dank zur Sonne, unseren ältesten Bruder, unsere älteste Schwester. Jeden Tag durchmisst du den Himmel von Ost nach West, bringst Licht eines neuen Tages. Du bist die Quelle aller Feuer des Lebens. Einmütig entrichten wir unseren Dank an dich Sonne. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Wir vereinen unseren Dank an dich Mondin, danken dir älteste Ahnin, die du den Nachthimmel erhellst. Du bist die erste aller weiblichen Kräfte und beherrschst die Gezeiten, die Bewegung des Meeres. In deinem wandelnden Gesicht messen wir die Zeit, und du wachst über die Ankunft der Menschenkinder auf der Erde. Vereinen wir unseren Dank an Grossmutter Mond. Schicken wir unseren Dank hoch zum Nachthimmel, danke du Urahnin. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Wir danken den Sternen, die wie Juwelen über den Himmel verteilt sind. Wir sehen in der Nacht, wie sie helfen, die Finsternis der Nacht zu erhellen, wie sie den Gärten Tau bringen und alles wachsen lassen. Bei unseren Reisen durch die Nacht geleiten sie uns sicher nach Hause. Wir danken Euch Sternen. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Wir vereinen unsere Gedanken, Herzen und Seelenkräfte und danken unseren Lehrern und Lehrerinnen, die uns über alle Zeit hinweg unterstützen. Wenn wir unser Miteinander vergessen, erinnern sie uns daran, wie wir Menschen in Frieden miteinander leben können. Wir danken den umsorgenden Lehrern und Lehrerinnen. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Wir richten unseren Dank der Kraft der Natur und ihrem grossen Geist-Geheimnis zu. Mit unseren Herzen danken wir für all die Gaben. Alles, was wir zum Leben brauchen, ist in Fülle da. Wir danken für all die Liebe und Geborgenheit, die uns umgeben. Vereinen wir unsere Herzen, Gedanken und Seelenkräfte und danken innigst und aus tiefem Herzen dem Geist-Geheimnis der Natur, wir sind vereint in allem. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Wir entrichten all unseren Dank in alle Richtungen, für jene, die wir nicht mit Worten genannt haben, die aber da sind und zu unserem Leben und unserer Kraft gehören. Halten wir Stille und senden wir die Kraft des Dankes an alle, die um uns sind, die Unbenannten. Unsere Gedanken, Herzen und Seelen sind vereint.
Danke für die Worte, die vor allen anderen kommen. Mögen wir uns stets daran erinnern, mit ihnen zu beginnen und zu enden, denn so sind unsere Gedanken, Herzen und Seelen vereint.
Dank von Roman Steiner
Roman Steiner dankt spezifisch allen Menschen und Trägerinnen und Trägern der schamanischen Kraft, der Erfahrung und des Wissens, den schamanischen Kulturen und Völkern. Sein Dank gilt zudem ihren Familien und Freundinnen und Freunden sowie Unterstützerinnen und Unterstützern. Er dankt allen Wesen, die ihn gelehrt und in seinen Worten und Taten unterstützt haben, allen sichtbaren und unsichtbaren Wesen und all jenen, die es möglich gemacht haben, dass er lernen und wachsen durfte.
Weiter dankt er respektvoll und in Demut Michael und Susan Harner, ihren Familien, Freunden und Unterstützenden für ihre Arbeit und Kraft, in der sie eine Tradition und Wurzel zum Leben erweckt haben, die ihn und andere nähren und kraftvoll in Verbindung sein lassen. Sein Dank gilt respektvoll und in Demut Paul Uccusic und Roswitha Uccusic, ihren Familien und Freunden, die die schamanische Wurzel und Tradition in Europa wachsen und entstehen liessen.
Roman Steiner erinnert und dankt weiter dem Kreis der Foundation Europe und Schweiz, all ihren Trägerinnen und Trägern der Kraft, Erfahrung und des Wissens, ihren Familien und Freunden, dass die Kraft weiterhin verfügbar ist und allen Wesen zukommen kann.
«Dank euch schöpfe ich Kraft, Erfahrung und Wissen aus euch. Ich hoffe, Werte, Kraft und Liebe in die Welt und zu allen Wesen zu tragen, mit all meiner möglichen Kraft. Namentlich danke ich: Chantal Hänggi, meiner Frau, die mich unterstützt und für mich da ist. Meinen Kindern, für das Glück, das sie in mein Leben gebracht haben. Simone Plüss, die mich mit dem Schamanismus bekannt gemacht hat. Dominique Zimmermann, ohne sie gäbe es kein Buch. Daniela Rupp, für ihre Freundschaft und ihr endlos scheinendes Wissen und ihre Erfahrung. Mar Wieland, die als kostbare Begleiterin an meiner Seite das Wissen und die Erfahrung mit hütet, trägt und lehrt. Roland Urban, Präsident der Foundation Shamanic Studies Europe (FSSE), für seine Kraft und Freundschaft. Adrian Bühler, für dass er den tibetisch-buddhistischen Weg mit seiner Kraft geht und mich mitnimmt. André Kummer, dass er Seelenbruder und Gefährte ist und mir in allen Zeiten loyal zur Seite steht. Und da sind noch so viele wertvolle und kostbare Menschen, für die ich dankbar bin, da sie mit ihren Kreisen meine berührt, genährt, erweitert, gefordert und geliebt haben. Ich danke euch allen. Ohne Euch gäbe es das Buch nicht.»
Dank von Dominique Zimmermann
Dominique Zimmermann schliesst sich dem Dank von Roman Steiner an und dankt allen sichtbaren und unsichtbaren Wesen, allen verstorbenen und noch lebenden Mitmenschen, deren Wissen über Roman in das Buch floss, sodass es ermöglicht wurde. Ihr besonderer Dank gilt allen, die sie ermutigt haben und weiterhin ermutigen, schreibend die Welt mitzugestalten.
«Allen voran danke ich der Ethnobotanikerin Caroline Weckerle, die schon seit unserer frühen Kindheit meinem Schreiben Mut zusprach und die stets mit Interesse meinen Gedanken folgt und diese auch kreativ hinterfragt. Speziell danke ich auch meinen Eltern, die mich stets darin unterstützen, meinen eigenen Weg zu gehen und meinen Kindern, für die Freude und Liebe, die sie in mir wecken. Ich danke allen Verbündeten und Freundinnen sowie Freunden, dass sie mir zur Seite stehen. Meiner Mutter und Schwester danke ich speziell dafür, dass sie beide das Manuskript sorgfältig gelesen und Rückmeldungen gegeben haben. Ganz besonders danke ich Roman Steiner, dass er sich mit mir auf diesen Weg begab und mein diesbezügliches Drängen stets dankbar entgegennahm. Der gemeinsame Gespräch- und Schreibprozess hat mein Leben in einer wundervollen Weise transformiert, sodass fortan mein Wirken und Handeln von dieser Kraft begleitet sein werden. Ein riesiges Dankeschön geht – auch im Namen von Roman Steiner – an Daniel Bruckner, der den Text liebevoll überarbeitet und mit viel Geduld lektoriert hat und an Patrick Vent, der mit ästhetischem Feingefühl grafisch die für unser Buch passende Form fand; beide haben mit ihrer Erfahrung, ihrem Wissen und Können zum Gelingen bis zum Druck beigetragen. Danke an alle!»
was brauchst du
Friederike Mayröcker, 1924–2021
was brauchst du? einen Baum ein
Haus zu
ermessen wie gross wie klein das
Leben als Mensch
wie gross wie klein wenn du
aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger
Schönheit
wie gross wie klein bedenkst du
wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit
dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du
brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen
Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu
träumen
zu schreiben zu schweigen zu
sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume
den Himmel
Wie kommt es, dass eine Philosophin einem schamanischen Praktiker so viele Fragen stellt, dass sie ein ganzes Buch füllen? Ganz einfach: die Philosophie hat viel mit Neugierde zu tun. Dominique Zimmermann brachte nicht nur ein philosophisches Wundern mit, sondern sie fand mit ihrer Offenheit für spirituelle Fragen in Roman Steiner einen interessanten, cleveren Gesprächspartner. So führten die beiden über vier Jahre einen Dialog, in dem Dominique Zimmermann ihre Fragen und auch ihre kritischen Einwände einbrachte, Roman Steiner antwortete – die Interviews füllten viele Stunden. Dominique Zimmermann transkribierte fortan die Gespräche und Roman Steiner überarbeitete das Entstandene.
Wie für beide Teile deutlich wurde, tangiert ein schamanisches Weltbild durchaus auch philosophische Komponenten und die Philosophie bringt eine Offenheit für die grossen Fragen mit: so wunderte sich schon Platon, was es mit der Seele auf sich hat, auch die Frage nach dem Sein und dem Nichts versuchten und versuchen viele Denkende aus unterschiedlichen Perspektiven zu beantworten. Dominique Zimmermann liegt die Philosophische Praxis am Herzen und insofern alles, was sich im Leben konkret umsetzen lässt und für alle Menschen zugänglich und tatsächlich erfahrbar sein kann. Die Idee für das vorliegende Buch entstand erst, nachdem sie Roman Steiner als schamanischen Praktiker kennenlernte und staunend erlebte, mit welcher Kraft das durch ihn und dank seiner ausserzeitlichen Verbündeten vermittelte Wissen auf sie wirkte. Erst kam also die Erfahrung und dann die Neugierde, auch auf kognitiver Ebene noch besser zu erfassen, was es mit Schamanismus auf sich hat.
Was hier zu lesen ist, darf als Resultat ohne Absolutheitsanspruch betrachtet werden. So wie es nicht die Philosophie gibt, so gibt es auch nicht den Schamanismus. Was hier entstanden ist, hat auch persönlichen Charakter: zwei wache und suchende Geister machten sich auf zu einem Abenteuer, dessen Ausgang völlig offen war. Und wie es so ist mit Abenteuern: Manche – die bescheidenen – Reisenden wissen um die Beschränktheit ihrer Kräfte. Genau dies war die Haltung und die Idee: es ging hier nicht um die Stärkung zweier Egos, sondern darum, dass sich die Protagonisten quasi zur Verfügung stellen, um zu schauen, was an Wissen fliessen mag und wohin; so gross oder klein war der Anspruch beim Entstehungsprozess. Der Dialog ist freilich nicht fertig, sondern wird in dieser Form sichtbar und webt sich dann hoffentlich – dank neuer Impulse und Anregungen von allen, die dieses Buch lesen – fort.
Grundsätzliches zum Schamanismus2
Die Techniken des Schamanismus und das damit einhergehende Verständnis der Welt entstanden bei indigenen Völkern rund um den Globus. Viele Kulturen und gelebte Traditionen konnten bisher erforscht und beschrieben werden. Wegweisende Beobachtungen, Feldversuche und Studien stammen von Michael Harner, der gleichzeitig auch viele praktische Erfahrungen sammelte.3 Harner hat auf bauend auf seinen Studien und Erfahrungen sowie unter Einbezug der Forschung anderer, zum Beispiel jener von Mircea Eliade4, gemeinsam mit seinen Studierenden den Core-Schamanismus entwickelt, der den Kern der schamanischen Techniken lehrt.
Grundlage ist das Weltverständnis indigener Völker. Begriffe wie «Andere Wirklichkeiten», «Geister», «Seelenwanderung», «Obere Welten» und «Untere Welten» sind Beschreibungen von Vorgängen oder Erklärungen dieses Weltverständnisses. Funde, Malereien und Fundorte können mangels schriftlicher Überlieferungen meist nur hypothetisch mit Schamanismus in Verbindung gebracht werden. Feldforschung bei den letzten indigenen Jäger- und Sammlerkulturen geben gewisse Hinweise auf deren Weltverständnis, das sich aber nicht in einen beweisbaren Zusammenhang mit Schamanismus setzen lässt. Wenn man Schamanismus praktiziert oder als Ratsuchende erfährt, kommt man nicht umhin, sich mit dem Weltverständnis der Naturvölker zu beschäftigen, die möglicherweise als schamanische Kultur leben oder gelebt haben. Das schamanische Weltverständnis ist untrennbar mit dem Animismus verbunden.
Schamanismus Der Begriff Schamanismus wurde im 19. Jahrhundert von Ethnologen geprägt. Er stammt aus dem Tungusischen (shaman) und bedeutet unter anderem: Der Wissende, der Erhitzte, oder der Wild-Tanzende. Der Beschrieb zeigt bereits, dass es sich um einen Zustand und eine Funktion, nicht aber um eine generalisierte Rolle handelt. Es ist ein Begriff, der in Bezug zu der erwähnten Ethnie steht, und kann darum nicht prinzipiell auf alle indigenen-schamanischen Kulturen angewendet werden; das wäre vereinfacht und würde den verschiedenen Ethnien nicht gerecht werden. Der Begriff umschreibt vielmehr Menschen unterschiedlicher globaler Herkunft, welche zu den naturnahen animistisch geprägten Völkern gehören. Diese Menschen wurden von der Gemeinschaft und von den Geistern ausgewählt, um Wissen und Erfahrung und vor allem Kraft zur Verfügung zu stellen, die sie von verschiedenen Welten beziehen. Die unterschiedlichen Methoden und Vorgehensweisen, um dies zu erreichen, werden gemeinhin unter dem Sammelbegriff Schamanismus verstanden.
Die Begrifflichkeit der Schamanin/des Schamanen ist folglich ein neuer Begriff: Durch die Zusammenfassung der verschiedenen Funktionen in einem Wort führt er in die Irre, da die Ausübung schamanischer Tätigkeiten so divers ist. Die Begrifflichkeit des Schamanismus beschreibt eigentlich den Animismus und die Ethnien, die animistisch geprägt sind, aber auch Menschen, die schamanisch tätig sind. Solche Funktionsträger werden als solche unterschiedlich bezeichnet: etwa Medizinfrau/Medizinmann, Wissende, Hüterin/Hüter, Seelenreisende, Zaubererin/Zauberer, Magierin/Magier sowie Pflanzenkundige/Pflanzenkundiger. Das Wort Schamanismus steht folglich für das Sammelsurium schamanisch Tätiger und ist ein undifferenzierter Oberbegriff für die Ausübenden.
Indigen Als indigen kann eine Person bezeichnet werden, die als Mitglied einer Gemeinschaft die Erinnerungen an ein nachhaltig gelebtes Leben auf Grundlage des Landes bewahrt und sich selbst als Teil des Landes betrachtet.
Lebensbedingungen und Weltsicht
Es ist erstaunlich, wie viele übereinstimmende Weltbilder rund um den Globus existieren, obwohl die Völker geografisch weit voneinander entfernt leben und die Natur sehr unterschiedlich ist. Es ist zu vermuten, dass sich ähnliche Weltbilder vor allem durch vergleichbare Lebensbedingungen der indigenen Völker entwickelt haben. Wetterphänomene, Himmelskörper, Sonnenlauf und Jahreszeiten, aber auch wesensspezifische Phänomene wie Geburt und Tod, Wachstum, Krankheit sowie das Beobachten der Tiere und die Jagd lassen folgende Gemeinsamkeiten indigener Kulturen erkennen: Abhängigkeit und Teil der Natur sein, und die damit verbundenen Erfahrungen der einwirkenden Kräfte, Hilflosigkeit gegenüber Krankheit, Verletzung und Tod sowie Risiken bei Schwangerschaft und Geburt.
Um seine Lebensgrundlagen zu verbessern, hat der Mensch von jeher versucht, sich in seiner jeweiligen Lebenssituation zu orientieren. Auch in den daraus resultierenden Lösungsstrategien sind Gemeinsamkeiten zu erkennen. Die Menschen erkannten ihre Ohnmacht, aber auch die Kraft des Bittens, des Flehens, die Hinwendung zu spirituellen Akten. Dabei spielen das Eingeständnis, der Lebenswirklichkeit nicht gewachsen zu sein, und das Wissen um die eigene Begrenztheit eine zentrale Rolle. Alles Bekannte wurde hilfesuchend angerufen: Tiere, die Elemente, Verstorbene, Himmelskörper, Dinge, die übermenschlich mächtig erschienen. Unterschiedliche Anrufungsrituale und Anrufungstechniken – beispielsweise Fasten, rituelles Trommeln, Singen und Tanzen, asketischer Rückzug – dienten nicht nur der Suche nach Unterstützung, sondern versetzten die Menschen in einen anderen Bewusstseins- und Sinneszustand. Dieser Zugang, der sich bei verschiedenen indigenen Völkern wiederfindet, kommt einem Kontakt mit der Kraft, der Erfahrung und dem Wissen einer anderen Wirklichkeit jenseits der Alltagsrealität gleich. Aus dieser «anderen Wirklichkeit» kamen Hilfe, Antworten und Unterstützung, sonst hätten die Menschen diese rituellen Techniken nicht Jahrtausende lang wiederholend praktiziert und verbessert. Über Volksgruppen und Epochen hinweg ähneln sich interessanterweise die Methoden und das gefundene Wissen in der Berührung mit den anderen Welten und deren Wirklichkeiten. Beispiele von Tierdarstellungen oder Darstellungen von Tier-Mensch-Zwischenwesen finden sich an verschiedenen Orten des Globus. Mythen und Sagen erzählen von Wesenheiten, die in die Geschicke des Menschen eingreifen oder ihm helfen. Die Vorstellung einer Seele oder von einer den Wesenheiten innewohnenden Lebenskraft ist ein weiterer Aspekt, den sich viele indigene Naturvölker teilen. Rituelle oder heilende Handlungen haben natürlich mit dieser Kraft zu tun. Die Kraft kann vermehrt oder vermindert werden, verloren gehen oder weggegeben werden. Ziel ist es, das Gleichgewicht im Sichtbaren wie im Unsichtbaren wiederherzustellen.
Animismus
Der Begriff Animismus leitet sich ab aus dem Proto-Indoeuropäischen *h2enh1mos; altgriechisch von ἄνεμος, Wind, Hauch, sowie lateinisch von animus, später in religiösen Zusammenhängen auch von anima, Seele oder Geist genannt.
In animistischen Kulturen gibt es Formen von Geistwesen, Wesenheiten, die einer unsichtbaren Wirklichkeit angehören, die allerdings ebenso erfahrbar ist wie die alltägliche Wirklichkeit. «Heilig» im Sinne von Ehrfurcht gebietend, aber auch Respekt fordernd, ist die Natur in all ihren Erscheinungsformen. In jedem Stein, in jeder Pflanze, in jedem Tier, in jedem Menschen und an jedem Ort entwickelt sich eine Lebenskraft oder eine Seele mit eigenem Willen, die natürlichen Regeln folgt. Diese Belebtheit und Beseeltheit werden respektiert und mit ihnen wird kommuniziert. Verstösse und Tabubrüche werden vermieden, um die unsichtbaren Seelenkräfte nicht gegen sich und die Gemeinschaft aufzubringen.
Kraft/Kräfte Mit dem allgemeinen Begriff der Kraft/Kräfte sind im schamanischen Kontext alle Potentiale gemeint, die uns umgeben und mit denen gearbeitet werden kann. Damit sind aber nicht ausschliesslich die spezifischen Verbündeten/Hilfsgeister der schamanisch Tätigen gemeint, das können auch Elemente, Gestirne und Ähnliches sein.
Der Animismus zeichnet sich durch das Fehlen jeglicher Form von allmächtigen Göttern oder der Idee eines monotheistischen Gottes aus, obwohl es durchaus «höhere Wesen» und eine Art von Ursprungsmythos gibt. Es handelt sich um die unmittelbar erfahrbare Natur, die selbst beseelt ist und die sich durch Naturereignisse ausdrückt und so direkt mit dem Menschen interagiert. Monumentale, sakrale Bauten fehlen grösstenteils oder stehen nicht im Mittelpunkt des Animismus. Vielmehr steht die Kommunikation mit der beseelten Natur im Mittelpunkt des Animismus. Es geht um mehrere erfahrbare und nutzbare Wirklichkeiten oder Weltenebenen.
Dies ergibt sich aus der jeweiligen Alltagswelt, in der der Animismus gelebt wird. Eine belebte Umwelt fordert Respekt und Achtung, denn sie ist beseelt und belebt, hat einen Willen und eine Funktion im Dasein für sich selbst und für jedes einzelne Wesen, für jeden Menschen. Die Missachtung wirkt sich unharmonisch und unheilvoll auf das Kräftegleichgewicht aller von dieser Disharmonie Betroffenen aus. Das Gleichgewicht mit den Naturkräften und den inneren Kräften ist für die Gesundheit der Einzelnen, der Familie und des Volkes existenziell. Übergänge und Prozesse im Leben, in denen der Mensch besonders ausgeliefert und verletzlich ist, wie etwa Geburt, Erwachsenwerden, Tod, sind vom Wunsch nach Gesundheit und Heil begleitet, der sich in verschiedenen rituellen Formen oder Initiationen ausdrückt. Die Menschen der indigenen Kulturen waren sich und sind sich bewusst, dass alles um sie herum belebt und beseelt ist und dass sie ihren Teil zum Gleichgewicht des Grossen beitragen müssen.
Die Klarheit des animistischen Weltbildes ist vermutlich aus dem Erfahrungsschatz vieler Generationen als Antwort auf real erfahrene Bedrohungen, Naturkatastrophen und Krankheiten entstanden. Man könnte daher die These aufstellen, dass die Menschen der Naturvölker beziehungsweise Jäger- und Sammlerkulturen die Grundlagen des menschlichen Glaubens entwickelt und die Grundpfeiler für die späteren Religionen und Riten gelegt haben. Für den Schamanismus und die daraus entstandenen Techniken kann dies mit Sicherheit gesagt werden.
Animismus und Schamanismus
Das Weltbild vieler Naturvölker war und ist nicht, wie heute allgemein angenommen, in eine spirituelle, nicht-alltägliche Wirklichkeit und eine profane, alltägliche Wirklichkeit geteilt. Viele Zeugnisse und Interviews von Ethnologen zeigen, dass materielle und immaterielle Ebenen als eine einzige Wirklichkeit wahrgenommen und verstanden wurden und werden. Die Übergänge zwischen der alltäglichen und nicht-alltäglichen Wirklichkeit sind fliessend, wobei sich die schamanisch Praktizierenden in beiden Wirklichkeiten bewegen, die Verbindung zu den Geistern pflegen und aufrechterhalten und die Wechselwirkungen zwischen beiden Welten meistern.
Neben der alltäglichen Wirklichkeit ist es schamanisch Erfahrenen möglich, mit tiefen verborgenen Wirklichkeiten Kontakt aufzunehmen. Dort kann Hilfe für eine Stammesaufgabe, für das Bauen, für die Jagd, für Übergangsrituale, Krankheit, Krieg, Wetter, Ernten usw. erbeten werden. Dieser Kontakt wird durch die Mittler, die Schamaninnen und Schamanen, hergestellt und gepflegt. Ihre Verantwortung ist gross, wenn man sich bewusst macht, welche Erwartungen an sie gestellt werden. Sie haben die Aufgabe, für das Wohlergehen ihrer Sippe zu sorgen, manchmal in lebensbedrohlichen Situationen. Nicht selten wurden sie bei Versagen verstossen oder sogar getötet. Schamaninnen und Schamanen meistern ihre Aufgaben mit Hilfe jener Geister, die für spezifische Fragen angerufen werden. Ihre Kraft und ihr Wissen ergeben sich für alle erkennbar aus dem erlernten Umgang mit den Geistern und durch die Wirkung, die sie für alle sichtbar und erlebbar machen. Die nicht-alltägliche Wirklichkeit wird von Schamanen in Malereien, Skulpturen und Liedern offenbart. Auch diese ähneln sich weltweit, wie beispielsweise auf bestimmte Art bemalte Trommeln oder geometrische Muster. Die Ähnlichkeit der Beschreibungen rund um den Globus zeigt ein animistisches «globales» Weltverständnis. Die Schamaninnen und Schamanen sind Träger dieses Wissens und Verständnisses.
Das schamanische Wissen lässt sich nicht aufteilen in einzelne, getrennte Kulturkreise, denn sowohl im Inhalt als auch in der Darstellung finden sich zu viele kulturübergreifende Parallelen. Nirgendwo auf der Welt hat der Animismus sakrale Monumentalbauten, dafür aber interessanterweise vergleichbare, teils identische Vorstellungsinhalte der unterschiedlichen Wirklichkeiten und der darin befindlichen Wesenheiten hervorgebracht. Selbst mit dem Schamanismus verbundene Orte und Plätze ähneln sich in ihren Eigenschaften rund um den Globus. Und letztlich verwenden Schamaninnen und Schamanen überall ähnliche Symbole und strukturieren die nicht-alltägliche und alltägliche Wirklichkeit in vergleichbarer Weise. Das Weltbild entspricht den Beobachtungen in der Natur und den durch schamanische Praktiken gewonnenen Erfahrungen in den anderen Wirklichkeiten. Die beseelte Alltagswelt setzt sich im Animismus also auch in einer als ausserzeitlich erlebten, nicht-alltäglichen Wirklichkeit fort, die mit verstorbenen, noch nicht geborenen oder im Übergang befindlichen Lebenskräften oder Seelen verbunden ist.
Die Darstellung der animistisch geprägten alltäglichen Wirklichkeit
Die Welt wird in Scheiben-Form oder einem Kreis und in mehreren Teilen dargestellt. Die Aufteilung ist kulturell und traditionell bedingt. In die so umrissene Basis werden zusätzlich Wesenheiten, Menschen wie auch Tiere, Elemente wie das Weltmeer oder die Gebirge sowie Gestirne eingezeichnet. In den Darstellungen wird auch die Abhängigkeit beziehungsweise die Eingebundenheit in die Natur deutlich. Besondere Tiere, die mächtig oder geheimnisvoll sind, spielen eine wichtige Rolle, wie zum Beispiel der Bär, der Adler, der Bison, der Wolf. Gestirne wie Sonne, Mond und Polarstern dienen als Orientierungshilfen. Die eingezeichneten Ost-West- und Nord-Süd-Achsen beschreiben die Himmelsrichtungen. Da im Animismus alles beseelt ist, wird jeder Teil auch bestimmten Kräften oder Wesenheiten zugeordnet. Natürlich gibt es auch hier lokale und kulturelle Unterschiede, da die natürlichen Gegebenheiten unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Die Orientierung in der mittleren oder unmittelbar erfahrbaren Welt ist stark an die Lebensumwelt gebunden.
Die Darstellung der animistisch geprägten nicht-alltäglichen Wirklichkeit
Neben der alltäglichen Wirklichkeit nehmen die Menschen in animistischen Kulturen auch eine nicht-alltägliche Wirklichkeit wahr, die strukturiert ist. So werden zwei Bereiche dargestellt; eine die oberhalb und eine die unterhalb der alltäglichen Wirklichkeit besteht. Diese beiden Bereiche werden je nach kulturellem Hintergrund in weitere Ebenen unterteilt. Vergleicht man diese Darstellungen, so fällt auf, dass überall und immer Tiere, Tiermenschen und Menschen dargestellt werden. Diese Darstellungen beschreiben Geister, Ahnen oder Wesenheiten in der nicht-alltäglichen Wirklichkeit, mit denen die Eingeweihten oder Erfahrenen in Kontakt stehen und von denen sie sich Hilfe und Antworten erhoffen. Oft wird zwischen der Oberen Welt (OW), Unteren Welt (UW) und Mittleren Welt (MW) eine Verbindung mittels einer Leiter, eines Baumes oder Ähnlichem dargestellt. Durch diese Verbindungen ist es Eingeweihten möglich, mit bestimmten Anliegen durch verschiedene Wirklichkeiten zu reisen.
Der Schamanismus baut gleichsam auf dem Weltverständnis des Animismus auf. Ohne ihn verliert er seine Kraft und sein Selbstverständnis. Denn die schamanisch Tätigen interagieren und schöpfen ihre Kraft aus allem, was beseelt und damit lebendig ist. Ohne das Verständnis oder die kulturelle Basis des Animismus wird die Aufgabe für schamanisch Tätige noch schwieriger. Wie sonst sollen Schamaninnen und Schamanen ihre Tätigkeit erklären und diese ausüben, wenn die Grundlage oder die Einsicht in die Möglichkeit einer wandelbaren Lebenskraft beziehungsweise Seele in ihrer Umgebung fehlt?
Ausserzeitlichkeit Die verschiedenen Welten der schamanischen Kosmologie haben verschiedene Wesenheiten und Charaktere. Die OW und die UW sind ausserzeitlich, das heisst, sie unterliegen nicht dem Faktor Zeit im Sinne des Zeitfaktors der MW. Die Trennung der Welten ist für die schamanisch Praktizierenden klar erkennbar und unterscheidbar. Die Ausserzeitlichkeit der OW und UW macht es den schamanisch Praktizierenden möglich, mit Kraft ausserhalb unseres begrenzten zeitgebundenen vergänglichen Blickwinkels der MW in Kontakt zu kommen. Diese Kraft, Wissen und Erfahrung sind hilfreich und mitfühlend, weitsichtig und frei von den Charakteristika der MW.
Obere Welt Mitfühlende ausserzeitliche Welt. Der Begriff «oben» dient lediglich zur Orientierung.
Untere Welt Mitfühlende ausserzeitliche Welt. Der Begriff «unten» dient lediglich zur Orientierung.
Mittlere Welt Jene Welt, in der wir unsere materielle Existenz leben. Sie ist der Zeitlichkeit, der Vergänglichkeit und allen Facetten des Lebens unterworfen. Leid, Schmerz, Krankheit, Werden und Vergehen, Emotionen, Gedanken und Taten gehören ihr an. Mitgefühl und Liebe sind genauso ein Teil wie Hass und Zerstörung. Die MW ist folglich nicht verlässlich. In der MW gibt es einen nicht alltäglichen Wirklichkeits-Aspekt, den wir nicht wahrnehmen können, der aber existiert. Alle Wesenheiten – wahrnehmbar oder nicht – sind sowohl alltäglich wie auch nicht alltäglich; folglich ist eine Zusammenarbeit mit Gegenleistung verbunden.
Eine beseelte Umwelt, die über den Tod hinaus fortbesteht und als Realität erlebt werden kann, ist eine schwer zu akzeptierende Realität für monotheistisch geprägte Menschen, da sie sich von den jüdischchristlich und auch den islamisch geprägten Erfahrungen und den damit verbundenen kulturell-religiösen Erfahrungen diametral unterscheidet.
Animismus und Schamanismus – blosse Glaubensfrage?
Die Verantwortung, die der Weg den heute schamanisch Tätigen abverlangt, ist sehr einfach und klar, aber schwer umzusetzen. Verzicht, Mehrarbeit, ständige Bereitschaft und stetige Auseinandersetzung, Vertrauen in ein aus den Tiefen der Menschheitsgeschichte gewachsenes Weltbild und das Leben mit einer den «modernen» Anforderungen oft zuwiderlaufenden Weltanschauung lassen sich im heutigen Alltag und Umfeld nur schwer umsetzen und sind dennoch für den schamanisch praktizierenden Menschen beziehungsweise für die Anwendung schamanischer Techniken essentiell. Der Kontakt mit anderen Wirklichkeiten und Wesenheiten erfordert einen verantwortungsvollen Umgang und eine klare, gefestigte Absicht. Der Animismus und damit der Schamanismus ist keine blosse Frage des Glaubens, sondern eine für alle Menschen erfahrbare Realität.
Die Allbeseeltheit aller existierenden Formen von Dingen und Wesen ist die Grundlage schamanischer Techniken. Für schamanisch Tätige ist dies jene Lebensanschauung, die es zu vermitteln und vorzuleben gilt. Wer sich unvoreingenommen und ernsthaft auf den Schamanismus einlässt, wird Vorstellungen und Erklärungen über die Welt und ihre fortwährende Entstehung und somit auch jene über das eigene Dasein in einem neuen Licht zu sehen lernen.
Dominique Zimmermann: Was ändert sich in der Weltsicht, wenn man sich mit dem schamanischen Blick auf die Welt auseinandersetzt?
Roman Steiner: Vieles kann sich ändern, denn es ist eine Weltsicht, die in unserer Gesellschaft nicht gelehrt wird. Eine wesentliche Veränderung besteht darin, dass wir uns nicht als Gast in der Welt sehen, um uns selbst zu verwirklichen und unsere Ichbezogenheit in allen Lebenslagen zu leben. Persönlicher Erfolg und Leistung stehen nicht im Zentrum der Entwicklung und des Geschehens. Erfolg bedeutet im schamanischen Weltbild das gelingende Zusammenspiel des Grossen Ganzen und die Einbettung aller Wesenheiten darin. Wir sind ein Teil der Welt und als solcher macht es keinen Sinn, nach Selbstverwirklichung zu streben, sei es spirituell, wirtschaftlich oder wissenschaftlich. Sehr wohl aber macht es Sinn, sich gemeinsam in der Gemeinschaft darum zu bemühen, allen Wesen zu dienen und das Beste zu geben. Der grösste Perspektivwechsel, den die menschliche Gemeinschaft vollziehen könnte, wäre wohl das Erwachen der Demut vor dem Grossen Ganzen, vor der allbeseelten Kraft und daraus folgend die Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit. Wir sind Teil der Welt, aber nicht die «Krone der Schöpfung».
Im Schamanismus ist die Existenz einer Seele evident. Im Allgemeinen vermuten viele Menschen, dass es irgend so etwas wie eine Seele geben könnte, aber die Vorstellungen darüber sind meist individuell und unterschiedlich. Was unterscheidet aus deiner Sicht den Begriff des Wesens von dem der Seele und wie würdest du die Seele beschreiben?
Das Wesen ist eine manifestierte, materielle Form einer Kraft, ein gerichtetes Potential, das sich durch und in seiner Seele, dem Ur-Kraftpotential, manifestiert. Kraft und Seele sind aus schamanischer Sicht umfassender als das Wesen selbst, sie sind neben der Bindung an den Menschen oder an das Wesen auch mit früheren, älteren Kräften verbunden, zum Beispiel mit denen der Ahnen und unterschiedlicher Welten. Das Wesen hat bestimmte Kräfte und Fähigkeiten, die sich in materialisierter Form manifestieren und entsprechend in der MW erscheinen – mit diesen Kräften und Fähigkeiten handelt und lebt das Wesen als Körper und Seele.
Genau genommen sind es diese Kräfte, die ein Wesen oder eine Manifestation ausmachen. Vor der Manifestation, also vor der Materialisierung, ist das Potential viel divergenter und undefinierter. In Bezug auf den Menschen bedeutet das, dass wir vor der Zeugung nicht genau so hier sind, wie wir jetzt auf dieser Welt sind oder erscheinen, aber das Kraftpotential war als Möglichkeit schon angelegt. Es gibt vermutlich verschiedene Kraftpotentiale, die zusammenkommen müssen, damit es genau zu dieser oder jener Manifestation kommt, die sich in der spezifischen Erscheinungsform eines Menschen oder eines anderen Wesens zeigt.
Neuerdings können interessante Parallelen zur Genetik gezogen werden. Wir sind ein Sammelsurium von Materie, dem sogenannten Erbgut, das nicht nur bis zu unseren Eltern, sondern weit in unsere Ahnenreihe zurückreicht und ein Teil von uns ist. Lange Zeit war dies wissenschaftlich nicht nachweisbar, doch heute lassen sich dank präziser DNA-Analysen Eigenschaften, die bis zu zehn oder elf Generationen zurückreichen, auch stofflich nachweisen.
Welche Einflüsse wirken zusammen, um eine Manifestation entstehen zu lassen?
Betrachten wir das Kraft-Potential, das ein Wesen vor dem Beginn der materiellen Manifestation ausmacht, dann haben wir es mit einer Vielzahl von Kräften und Potentialen zu tun, die schon da sind und die sich zusammenfinden, um sich in der MW zu entfalten. Dazu gehören nicht nur die Familie und die «genetische Linie», sondern auch der Einfluss anderer Wesenheiten. Es ist gleichsam eine Anreicherung von Kraft mit Erfahrung und Wissen ausserhalb des Alltäglichen und des Sichtbaren, die sich wieder neu formiert und materiell strukturiert. Dies geschieht, um ein Gefäss, einen Körper, eine materielle Form für das Kraft-Potential – die Seele – entstehen zu lassen, das auf ein manifestes materielles Erscheinungsbild drängt und dann normalerweise zu einer Manifestation führt. Der Schamanismus geht davon aus, dass unser Sein und Werden nicht nur auf die alltägliche Existenz in der MW reduziert sind, sondern dass es noch andere Welten und Zeitformen gibt, in denen Wesen Kraft, Erfahrungen, Wissen und Seinszustände erleben. Das Sein in der zeitgebundenen und vergänglichen MW und die menschliche Existenz sind somit nur ein materieller Teilaspekt des Kraft-Potentials. Manifestiert sich ein Wesen in der MW, so wird es zu einer Ansammlung von Kraft und Wissen, das sich eben aus diesen verschiedenen Welten, Realitäten, Zeiten und Seinszuständen zusammensetzt. Das bedeutet aus schamanischer Erfahrung und Sicht, dass unsere Seele und damit unser spezifisches Kraft-Potential über unsere aktuelle, materielle Existenz hinaus eingebunden ist, lebt und wirkt.
Gibt es aus schamanischer Sicht klare Gesetzmässigkeiten im Universum, die wir als Menschen nicht wirklich verstehen können?
Mit Sicherheit. Aus schamanischer Sicht geht es nicht in erster Linie darum, alle Zusammenhänge mit unserem menschlichen Instrumentarium der Wahrnehmung und des Verstandes bis ins Detail zu verstehen. Vielmehr geht es darum, durch und von den Dingen, Kräften, Geistern und Wesen zu lernen, durch Austausch, Berührung und Erfahrung. Wir sind nicht nur die Betrachtenden, die verstehen wollen, sondern wir sind gleichwertig und ein Teil anderer Wesen und können voneinander lernen. Es gibt keine Trennung zwischen Beobachtenden und Beobachtetem. Die Erfahrung erzeugt verlässliches Wissen und darin liegt die Kraft, die notwendig ist, um Dinge zu verstehen und in der Alltägliche Wirklichkeit (AW) der MW zu nutzen, zu wirken und zu verankern.
Wie generieren schamanisch Tätige ihr Wissen?
Die schamanischen Methoden, um Dinge zu erfassen, sind einerseits die Divination als wissenschaftliche Disziplin der schamanisch Tätigen, mit der Wissen generiert und erforscht wird, und andererseits die Initiation in Zeremonien und Ritualen, um die Dinge und Zusammenhänge direkt und individuell zu erfahren und davon zu lernen. Dabei sind es die Geister und Kräfte, die die schamanisch Tätigen direkt unterweisen und ihnen Information und Wissen vermitteln. Diese schamanisch-wissenschaftlichen Methoden und Techniken sind ganz auf die Gemeinschaft ausgerichtet. Wenn Wissen notwendig ist, um eine Herausforderung zu meistern, geht das schamanische Weltbild davon aus, dass es am besten ist, alle möglichen Kräfte zu kontaktieren, um ein Maximum an Wissen, Kraft und Erfahrung anzusammeln und so Impulse zu geben und Wirkung zu erzielen. So können wir die Herausforderungen, die die MW und die AW an uns stellen, mit Hilfe der ausserzeitlichen Geister meistern und eingebettet in das Grosse Ganze Lösungen finden. Vielleicht haben die schamanischen Methoden deshalb zirka 40 000 Jahre überdauert: Sie sind fundiert, wirkungsvoll, den Herausforderungen angepasst, eingebettet und mit Demut und Eleganz ausgeführt.
Wenn mich jemand für eine schamanische Arbeit anfragt und ich eine schamanische Reise mache, in der ich um Hilfe, Wissen oder Kraft bitte, dann ist das ganz auf das bestimmte Wesen ausgerichtet, welches mich angefragt hat, und dann dreht sich auch alles um die Fragen oder Herausforderungen genau dieses Individuums. Innerhalb des Grossen Ganzen ist aus schamanischer Sicht alles miteinander verbunden, aber in diesem Moment geht es um das einzelne Wesen und insofern um Individualität. Dennoch wird durch die Zusammenarbeit mit ausserzeitlichen, mitfühlenden Geistern ein hohes Mass an Einbindung des Anliegens, der Absicht und der Lösung in das Grosse Ganze angestrebt. Es geht also um eine Lösung, die in Harmonie mit dem Grossen Ganzen steht und hilfreich für das Individuum und die Gemeinschaft ist. In indigenen schamanischen Kulturen ist die Vorgehensweise identisch, nur dass die Gemeinschaft daran teilnimmt und folglich Teil der Arbeit ist: Sie teilt die Kraft, das Wissen und die Erfahrung. Auch wenn ein einzelnes Wesen im Zentrum steht, sind immer alle an der Kraft beteiligt und alle profitieren davon.
Schamanische Divination Das ist eine der Kernaufgaben der schamanisch Tätigen. Gemeint sind die methodische Grundlage für den Blick in die mögliche Zukunft, die Diagnosestellung durch die Geister, die Verantwortlichkeit für den Zugang zu jeglichen Informationen, in Bezug zur Arbeit in der Gemeinschaft. Dies betrifft etwa Politik, Wetter, Rituale, Heilvorgänge, Initiationen und so weiter.
Schamanische Initiation Das ist eine absichtsvoll begleitete Anreicherung an Wissen und Erfahrung. Eine oder mehrere schamanisch erfahrene Personen führen innerhalb eines klaren Rahmens und Vorgangs die vorbereitete und willige Person durch die Kraft-Erfahrung, die Initiation. Kern der schamanischen Initiation ist die
Unterweisung durch die Geister und die Kräfte. Der Rahmen und die Begleitung sollen sicherstellen, dass die Person, welche die Initiation erf ährt, eine möglichst intensive und lebensverändernde Kraft-Wissens-Erfahrung und Unterweisung erhält, da die Informationen und die Kraft, welche die Person durch die Initiation von den Geistern erhält, der ganzen Gemeinschaft dient und nützt.
Ritual Oberbegriff für einen Rahmen, der den Ablauf für alle involvierten Wesen in Bezug auf eine spezifische Handlung beschreibt. Diese Handlung oder Vorgehensweise geschieht absichtsvoll und steht in klarer Verbindung zu den Geistern und Kräften.
Sind Schamanen traditionell eher Männer, oder gab beziehungsweise gibt es grundsätzlich ebenso oft Frauen, die Schamaninnen sind?
Wegen der – nicht nur – in westlichen Gesellschaften immer noch nicht gelösten Genderproblematik wird Vieles in Bezug auf andere Traditionen durch eine bestimmte Brille gesehen. Aufgrund der Prägung und Geschichte werden Frauen in der europäisch geprägten Kultur in vielen gesellschaftlichen Bereichen bis heute oft als weniger angesehen; sie verdienen weniger Geld, der Status ist nicht gleich und Männer geniessen zum Teil ein grösseres Ansehen und einen höheren Status und werden als leistungsfähiger angesehen, selbst wenn sie gar nicht mehr leisten. Wegen dieser gesellschaftlichen Brille und Prägung kommt diese Frage überhaupt auf. Ich kann sie nicht pauschal beantworten. Dazu müsste ich wissen, wie viele Frauen und Männer tatsächlich schamanisch tätig und auch erfasst sind. Das ist mir nicht möglich. Was ich aber weiss, ist, dass es in den verschiedenen Völkergruppen mit schamanischen Traditionen immer Männer und Frauen gab, die ihre spezifische Kraft und Funktion hatten. Oft ist das aus den natürlichen Gegebenheiten heraus entstanden. Frauen hatten oft die Kraft und Verbindung zu den Geistern in Bezug auf soziale Themen oder auf Kräuter- und Heilkunde, Erziehung und Initiation. Männer hatten eher die Verbindung zu Jagd, Politik, zu Zeremonien und Heilverfahren. Bei indigenen Völkern sind es meist individuelle, geographische und geschichtliche Hintergründe, die die unterschiedlichen Gesetzmässigkeiten der sozialen Prägung und Politik der verschiedenen Ethnien generieren.
Grundsätzlich kann man sagen, dass es in indigenen Kulturen üblich ist, dass beide Geschlechter gleichwertig sind, auch wenn es geschlechtsspezifische Aufgaben und Tätigkeiten gibt. Es gibt dieses westlich-europäische Wertesystem nicht, das monetär auf Leistung und Status aufgebaut ist. Status, Rolle und Funktion in indigenen, schamanisch geprägten Kulturen sind eher in Bezug auf die Kraft und die Wirkung der Einzelnen auf die Gemeinschaft und darüber hinaus zu sehen. Es kann sein, dass Männer bestimmte Aufgaben und Tätigkeiten ausüben, die für uns den Anschein von ungleichen Machtverhältnissen und Unterdrückung erwecken. Dies ist nicht grundsätzlich der Fall, obwohl es diese sozialen Machtstrukturen auch in schamanischen Kulturen gibt. Im Zentrum steht aber die Zusammenarbeit aller. Sodann kommt es auf die Kraft an, die sich durch die Geister in den einzelnen Menschen manifestiert und die so, abhängig von Geschick und Kraft, ihre Aufgaben beispielsweise in der Jagd, der Politik, der Gesundheit wahrnehmen. Es gibt also Männer, die in der Tradition des Töpferns und Webens wichtige Aufgaben übernehmen, die sonst eher Frauentätigkeiten sind, und umgekehrt kann es sein, dass Frauen politisch tätig sind und dort wichtige Funktionen erfüllen, weil ihnen diese besondere Kraft gegeben ist. Es geht also darum, welche Fähigkeit sich in welchem Wesen manifestiert. Um dies zu verdeutlichen, ist der «Rat der 13 Grossmütter» ein gutes Beispiel. Diesem ist der Film For the next 7 Generations5 gewidmet: hier ist zu sehen, wie Kraft in Verbindung mit den Geistern aus einer Demut und Normalität des Lebens heraus noch heute wirken kann.
So wie Michael Harner über die Jivaros6 berichtet, ist es dort offenbar so, dass es wirklich nur Männer sind, die als Schamanen tätig sind.
Hier muss man berücksichtigen, dass die Jivaro ein extrem kriegerisches Volk sind. Man muss diese Ethnie als solche betrachten und nicht im gendertheoretischen Kontext. Die Kultur dieser Ethnie basiert auf Krieg und darauf, Macht für sich zu generieren, und dafür werden schamanische Aktivitäten eingesetzt. Wenn die Frauen zum Beispiel das Bier brauen, dann ist das aus unserem westlichen Blickwinkel betrachtet weniger wert als schamanische Arbeit. Aber die Grundlage ist dieselbe. Und die Frauen übernehmen bei den Jivaro auch andere Tätigkeiten, die sie mit schamanischen Methoden ausüben, zum Beispiel Heilungen mit Pflanzen. Die Stellung der Geschlechter muss im Zusammenhang mit der Gesellschaftsstruktur gesehen werden und nicht nur im Zusammenhang mit dem gelebten Schamanismus, das würde zu kurz greifen und zu Fehlinterpretationen führen.
Im gleichen Buch wird berichtet, dass es auch unter Schamanen eine gewisse Hierarchie gibt und dass diejenigen, die weiter oben stehen, beschenkt werden, da die anderen eine gewisse Angst und Respekt vor ihnen haben.
Dies ist richtig. Es ist auf der Welt verbreitet, dass es einen Respekt vor Schamaninnen und Schamanen gibt, weil sie die Möglichkeit haben, in der MW Geister zu rufen – vor allem Ortsund Naturgeister, also Mittelweltsgeister – die Ihnen dienen, um Macht und Kraft für eigene Ziele zu generieren. Möglicherweise kommen noch die Ahnengeister hinzu, was bei den Jivaros sehr verbreitet ist, wie Michael Harner ebenfalls beschreibt. In diesem Fall stellen Verstorbene den noch lebenden Verwandten ihre Kraft zur Verfügung, damit diese möglichst viel Macht und Kraft über andere erlangen. Wenn das alles Teil der schamanischen Kultur ist, ist es naheliegend, dass es eine Hierarchie gibt und dass man Angst hat, zum Beispiel angegriffen oder vergiftet zu werden. In den Himalaya-Regionen ist es so, dass man darum lieber zum Lama geht als zu schamanisch Tätigen. Das sind Phänomene, die zum Schamanismus gehören. Wobei hier auch unterschieden werden muss, damit der Schamanismus nicht als eine von der ethnisch-kulturellen Färbung losgelöste Kraft gesehen wird. Das ist, wie wenn man das Christentum auf die Kreuzzüge oder die Inquisition reduzieren würde. Auch das würde zu kurz greifen.
Die Seele spielt beim Schamanismus eine wesentliche Rolle. Das Wort «psych» kommt aus dem Griechischen, bedeutet ursprünglich unter anderem Atem oder Hauch und wird in der griechischen Philosophie im Sinne von Geist, oder eben Seele verwendet. Bei den antiken Philosophen Platon und Aristoteles findet man Beschreibungen der Seele. Heute wird anstelle von Seele oft auch von Psyche gesprochen. Wie überschneiden sich aus deiner Sicht die verschiedenen Vorstellungen von Psyche und Seele?
Es sind verschiedene Begriffe, die dasselbe beschreiben. Es handelt sich um ein beschreibbares, erklärbares Konzept für das unbeschreibbare und schwer verständliche Sein von Wesenheiten und deren Beziehungen. Es sind interessante Beobachtungen und geistige Konzepte, welche die Menschen beschrieben haben. Die Konzepte entstanden wahrscheinlich aus einer Mischung von Ahnungen, Beschreibungen und Erfahrungen der Vorfahren, also aus Lehren von Vorgängerinnen und Vorgängern und anderen Kulturen. Menschen versuchen in erster Linie, das Dasein zu erforschen und Antworten auf das Daseins zu finden, die Orientierung und Sicherheit geben. Dafür wurden alle zur Verfügung stehenden gängigen Konzepte und Erklärungen hinzugezogen. Schon immer haben Menschen das Leben und das Sein, das Werden und das Vergehen beobachtet und nach Zusammenhängen und Sinnhaftigkeit gesucht. Das war und ist überlebenswichtig. Die jahreszeitlichen Veränderungen erkennen und einschätzen zu können, solches Wissen förderte die Ernte oder die Jagd und sicherte das Überleben. Was die Menschen wussten, was sie ahnten und was sie durch Erfahrung als Wissen verinnerlicht hatten, versuchten sie zu beschreiben und in strukturierten Konzepten festzuhalten und anderen zugänglich zu machen. Dieses Wissen und diese Erfahrung wiederum dienten anderen, späteren Menschen dazu, Orientierung und Sicherheit im Dasein zu finden. Viele Phänomene sind beobachtbar, aber trotzdem nicht zwingend erklärbar. Der Versuch, sie zu erklären, führt zu individualisierten geistigen Konzepten, die studiert und erforscht werden konnten und können. Der schamanische Ansatz ist komplementär: Wenn es etwas gibt, das ich erfahren und wissen möchte, weil ich es nicht verstehe, suche ich nach Antworten. Dies geschieht aus einem Bedürfnis, aus einer Not heraus: Ich brauche Hilfe und akzeptiere, dass ich nicht alles allein wissen kann. Deshalb gibt es die Möglichkeit, andere Kräfte und Wesen zu befragen, um Antworten zu finden. Diese Antworten kommen zum Beispiel von Hilfsgeistern, Verbündeten oder Ahnen.
Das Verständnis der Seele ist in diesen verschiedenen Fragestellungen und Herangehensweisen der Menschen zu suchen. Sie ist ein dem Körper innewohnendes, nicht sichtbares, aber dennoch präsentes Gefäss, das im Wesen unterschiedliche materielle und immaterielle Ausprägungen zeigt und als solches seine Kraft und Fähigkeiten repräsentiert. Mit dem physischen Tod verlässt es als Kraft den Körper und zieht weiter. Die Seele, das Gefäss oder das Kraftpotential wandern also weiter. Der Schamanismus beschreibt den Kontakt zu Seelen und Seelenteilen in anderen Welten.