Inselzauber - Gabriella Engelmann - E-Book
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Inselzauber E-Book

Gabriella Engelmann

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Beschreibung

Die Nordsee-Insel Sylt ist die traumhafte Kulisse, vor der Bestseller-Autorin Gabriella Engelmann die Geschichte von zwei Frauen erzählt, die beide mit unterschiedlichen Herausforderungen kämpfen und von Liebesgeschichten eigentlich die Nase voll haben. Zunächst sieht es allerdings so aus, als wenn Nele und Lissy nur wenig gemeinsam haben. Dort, wo andere Urlaub machen – zwischen Wellen, Sand und Wattenmeer –, sind die beiden von heute auf morgen gezwungenermaßen Nachbarn: Nele führt mehr schlecht als recht ein Café in Westerland, die Hamburgerin Lissy übernimmt als Vertretung für ihre reiselustige Tante für ein paar Monate deren Buchladen direkt nebenan. Lissy ist vom Schicksal schwer getroffen: Ihr Freund hat hinter ihrem Rücken eine Geliebte und erwartet nun sogar ein Kind von ihr. Die Flucht auf die Insel Sylt kommt Lissy gerade recht. Doch wie soll es weitergehen? Dass sie gerade an der Nordseeküste eine Freundin für's Leben findet, hätte sie nicht erwartet. Zwischen blauem Himmel, den Sylter Dünen und der Nordsee im Sommer bekommen Träume nun vielleicht doch noch Flügel und auf einmal scheint auch in der Liebe wieder alles möglich. Wer beim Lesen die Nordsee rauschen, die Möwen schreien hören und die salzige Luft riechen möchte, für den ist die Gabriella Engelmanns Büchernest-Serie von der Insel Sylt genau richtig. Der erste Band "Inselzauber" ist nicht nur eine stimmungsvolle Liebesgeschichte, sondern ebenso ein bezaubernder Reiseführer von der herrlichen Nordsee. Syltliebhaber werden es lieben und alle anderen auch. ullasleseecke.blogspot.com Mit ihrer Kombination aus wunderschönem Reiseziel und tiefgreifender Liebesgeschichte, sind [Gabriella Engelmanns] Romane immer ein Volltreffer. feelings-magazin.de Die Nordsee-Romane von Gabriella Engelmann in der Reihe "Büchernest": Band 1: Inselzauber Band 2: Inselsommer Band 3: Wintersonnenglanz Band 4: Strandkorbträume

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Seitenzahl: 480

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Gabriella Engelmann

Inselzauber

Knaur e-books

Über dieses Buch

Bei ihrer ersten Begegnung sind sich Larissa und Nele herzlich unsympathisch, dabei haben die Frauen mehr gemeinsam, als sie ahnen. Denn das Leben meint es mit beiden derzeit nicht gut: Neles Café steht kurz vor dem Konkurs, und Larissa wurde von ihrem Freund verlassen und flüchtete deshalb auf die Insel Sylt. Doch schon bald stellen die beiden Frauen fest, dass man zusammen stärker ist als allein. Zwischen Himmel, Dünen und Meer bekommen ihre Träume Flügel …

»Mal eine Runde träumen? Dieses Sommermärchen spielt auf Sylt und ist so schön, dass man packen und hinfahren möchte.«Für Sie

Inhaltsübersicht

WidmungAutorenhinweisKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19
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Für L. Danke für alles!

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Dieser Roman spielt auf einer Insel, mit der mich persönlich einiges verbindet und die ich immer wieder gern besuche.

Lassen auch Sie sich verzaubern und an Orte entführen, die mir viel bedeuten oder nur in meiner Phantasie existieren.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim literarischen Rundgang über die »Königin der Nordsee«.

Gabriella Engelmann

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Kapitel 1

Gerade noch geschafft, den Zug zu erwischen, doch Sie haben noch kein Ticket? Dann begeben Sie sich bitte umgehend auf die Suche nach einem Zugbegleiter, um sich eine Fahrkarte zu kaufen. Sollten Sie dies nicht tun, kann das als versuchtes Schwarzfahren gewertet werden«, reißt mich die Stimme der Zugansage der NOB, der Nord-Ostsee-Bahn, brutal aus meinen Gedanken.

Nein, ich fühle mich von der barschen Aufforderung nicht angesprochen, denn meine Reise ist von längerer Hand geplant, weshalb ich nicht nur im Besitz eines gültigen Schleswig-Holstein-Tickets bin (allerdings ohne Rückfahrkarte), sondern auch einen Sitzplatz reserviert habe.

Denn es steht seit einem halben Jahr fest, dass ich heute, kurz vor Weihnachten, zu meiner Tante Bea nach Sylt reisen werde, um sie für drei Monate in ihrer Buchhandlung zu vertreten. Was danach mit mir passiert – keine Ahnung! Dafür weiß ich seit genau zwei Wochen, dass Stefan, der Mann, den ich heiraten wollte, jetzt eine andere Frau liebt, die ein Kind von ihm erwartet. Melanie, Sprechstundenhilfe in Stefans kardiologischer Praxis und der Grund dafür, dass ich gerade versuche, ein neues Leben zu beginnen. Abseits von Stefan, abseits von Hamburg kehre ich nun zurück zu meinen Sylter Wurzeln.

Doch so traurig mich diese Fahrt ins Ungewisse auch stimmt, so sehr muss ich beim Gedanken an meine Tante Bea lächeln, weil ich mich wahnsinnig auf sie freue. Ich habe sie lange, viel zu lange, nicht gesehen und weiß, dass wir beide einiges nachzuholen haben.

Während ich die Landschaft betrachte, die an mir vorbeigleitet, denke ich ein wenig ängstlich, aber auch neugierig an die Zeit, die nun vor mir liegt. Eine Zeit der Entscheidungen, das spüre ich deutlich.

Vor meinem inneren Auge lasse ich Revue passieren, was ich in Hamburg zurückgelassen habe: eine Liebe, ein Heim, einen festen Job in einem renommierten Hotel. Ein überschaubares Leben. Eines, das mir Sicherheit geboten hat und nun vorbei ist.

Aller Trauer zum Trotz freue ich mich darauf, meiner Tante den langgehegten Traum zu ermöglichen, mit ihrer besten Freundin Veronika, genannt Vero, auf einem Kreuzfahrtschiff auf Weltreise zu gehen.

Nachdenklich betrachte ich die unzähligen Windräder, welche die Bahnstrecke säumen. Ihre Arme bohren sich in den Winterhimmel und drehen sich so synchron, als wären sie Teil einer Ballettchoreographie. Kurz schießt mir ein Bild aus Kindertagen durch den Kopf: ich, die siebenjährige Larissa, im roséfarbenen Tüllröckchen, wie ich aufgeregt die Hand meines Vaters halte, eingehüllt in meinen Wintermantel, auf dem Weg zur Ballettstunde. Eine Erinnerung an glückliche Kindertage, als meine Eltern noch lebten.

Bevor ein Autounfall drei Jahre später mit einem Schlag ihrem jungen Leben ein viel zu frühes und gewaltsames Ende setzte.

 

Nun kehre ich zurück auf die Insel Sylt, zu meiner Tante, die mich als Zehnjährige zu sich genommen und mich großgezogen hat.

Zusammen mit ihrem Mann Knut, einem Seefahrer, der naturgemäß die meiste Zeit seines Lebens auf dem Meer verbracht hat. Die beiden wohnten in einem alten Kapitänshaus, das mir damals Sicherheit und Geborgenheit gab, ebenso wie die Arme meiner Tante, die mich umschlungen hielten, als meine Kinderwelt in Trümmern lag.

 

»In wenigen Minuten erreichen wir Westerland Hauptbahnhof«, ertönt erneut die Zugansage, und mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Rasch sammle ich meine Gepäckstücke zusammen, die ich um mich herum verteilt habe, denn für diesen langen Aufenthalt auf Sylt ist es mit einer kleinen Tasche wahrlich nicht getan.

Nach dem bezaubernden Anblick der schier endlos weiten norddeutschen Landschaft, den die Überfahrt auf dem Hindenburgdamm geboten hat, versetzt mir die Stadt Westerland nahezu einen Schock. Die Betonbauten und Hochhäuser stehen in absolutem Kontrast zu den Deichlämmern, die ihre buntbemalten Hintern in die Luft recken und in harmonischem Einklang nebeneinander grasen, und ebenso wenig zum Bild des gurgelnden Meeres, das seine grauen Schaumkronen in die Ausläufer um den Bahndamm herum spült.

Die Kälte des Ferienorts steht auch in völligem Kontrast zu dem heimelig wirkenden Turm der Keitumer Kirche, der alle Sylt-Besucher willkommen heißt und sie aufzufordern scheint, das Gotteshaus in aller Stille aufzusuchen, um der umtriebigen Welt den Rücken zu kehren und ein wenig durchzuatmen. Genau das werde ich tun. Nach den Turbulenzen der letzten Wochen kann ich wahrlich Ruhe gebrauchen, denke ich, während der Zug auf dem Bahnsteig einfährt und ich Bea und Veronika winken sehe.

Ein Bild wie Pat und Patachon: Bea ist groß und hager und trägt ihre grauen Haare kurz. Veronika hingegen ist klein, leicht untersetzt und hat ihre silberblonden Haare zu einem Dutt hochgesteckt.

Dass es so eine Frisur überhaupt noch gibt, überlege ich schmunzelnd, während ich meine Koffer aus der Tür ins Freie wuchte. Ein älterer Herr ist mir freundlicherweise behilflich und wechselt dabei kurz einen Blick mit Bea, während Veronika eine rote Rose schwenkt. Ja, meine Tante hat schon immer eine große Wirkung auf Männer gehabt, obwohl sie auf den ersten Blick kein femininer Typ ist und auch im Alter noch viel Unabhängigkeit ausstrahlt. Viel zu viel für den Geschmack der meisten Herren.

Veronika hingegen ist ein absolutes Weibchen, eine Herzensgute, im Gegensatz zu Bea, die zunächst erst einmal skeptisch in die Welt schaut. Wenn ich meine Tante so sehe, mit ihrer schwarzen Lederjacke, die langen Beine in eine Cargohose gehüllt, wundere ich mich wieder einmal, wie es eine solche Frau überhaupt auf diese Insel verschlagen konnte, noch dazu an der Seite eines Seemanns, der auf den ersten Blick so gar nichts mit ihr gemeinsam hat.

»Moin, min Deern«, unterbricht Veronika meine Gedanken und zieht mich an ihre Brust, während die Rose die ersten Blätter verliert.

»Vero, schön, dich zu sehen!«, rufe ich und drücke ihr links und rechts herzhafte Küsse auf ihre mittlerweile leicht erschlafften Wangen, die sich zart und weich anfühlen. »Hattest du denn eine gute Reise, Kind?«, fragt Veronika und schnappt sich sofort den schwersten meiner Koffer. Sie ist es gewohnt, zuzupacken, so kennt sie es von dem Hof, auf dem sie lebt.

»Lissy«, meldet sich nun endlich auch Bea zu Wort, die ihrer Freundin energisch den Koffer aus der Hand nimmt und ihn auf einen Gepäckwagen wuchtet.

Rasch werfe ich die restlichen Sachen hinterher und stürze mich in die Arme meiner Tante. Auch wenn sie rein physisch so gar nichts Kuscheliges an sich hat, fühle ich mich dennoch in ihrer Nähe so geborgen wie bei sonst niemandem auf der Welt. Selbst bei Stefan habe ich nicht so viel Wärme und Behaglichkeit empfunden. Ihr Parfüm – sie trägt seit ich sie kenne dasselbe – umhüllt mich wie ein Seidentuch, und ich fühle mich sofort zu Hause. Zu Hause bei ihr und auf dieser Insel, die zwar lange meine Heimat war, die ich aber in den letzten Jahren fast komplett aus den Augen verloren habe.

»Gut siehst du aus«, plappert Veronika drauflos, während wir gemeinsam zum Parkplatz laufen.

Bea und ich gehen Arm in Arm und lösen uns erst voneinander, als meine Tante hinter dem Steuer Platz nimmt, um ihren Wagen – einen alten, wackeligen Jeep – zu starten. Ich öffne die hintere Tür und werde in Sekundenschnelle von Timo abgeschlabbert. Beas Berner Sennhund erkennt mich auch nach so langer Zeit wieder und ist offensichtlich begeistert, mich zu sehen.

»Hallo, Süßer«, begrüße ich ihn, streichle ihm über den Kopf und stecke meine Nase in seinen Hundepelz.

 

Während der Fahrt nach Keitum betrachte ich schweigend die Landschaft und lausche den Worten der beiden Freundinnen, die vorne im Wagen plaudern. Genauer gesagt plaudert vor allem Veronika. Bea hört ihr aufmerksam zu und wirft ab und zu einen Blick in den Rückspiegel, um mit mir Blickkontakt aufzunehmen. Nachdem wir die hässlichen Neubauten Westerlands hinter uns gelassen haben, fahren wir an Tinnum vorbei Richtung Keitum.

Wie jedes Mal, wenn ich auf der Insel bin, amüsiere ich mich über die Namen, die, wie es scheint, allesamt auf »um« enden. Natürlich ist das nicht wirklich so, denn Westerland, Kampen, List, Wenningstedt oder Braderup machen ja die andere Hälfte der Orte aus, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass das wahre Sylt in den Dörfern stattfindet, die auf »um« enden.

Schon allein diese Silbe klingt irgendwie kuscheliger als das ruppige »rup« von Braderup oder als das scheinbar listige »List«. Morsum, Archsum, Hörnum, Keitum, Rantum – das sind die Orte, die ich mag, zu denen ich mich hingezogen fühle.

Während wir uns Keitum nähern, sehe ich Pferde, Kühe und Schafe auf den Weiden, beschienen von der kalten Dezembersonne, die alles in klares, gleißendes Licht taucht und die Konturen schärft.

Dann – ganz allmählich – vollzieht sich eine Wandlung: Die Weiden werden weniger, die freien Flächen verschwinden, und in meinem Blickfeld tauchen die ersten typischen Friesenhäuser auf, für die ich diesen Ort so liebe.

An dieser Stelle ist Sylt besonders lieblich, besonders hübsch und beinahe puppenhaft.

»Timo, Lissy, raus mit euch!«, ruft Bea, scheucht ihren riesigen Hund von der Rückbank, reißt die Wagentür neben mir auf und lässt keinen Zweifel daran, dass die Zeit des Träumens und Betrachtens vorbei ist, denn jetzt sind wir da.

Eine halbe Stunde später sitzen wir vor dampfendem Tee und Friesenwaffeln, bestäubt mit jeder Menge Puderzucker, der wie Schnee auf dem Gebäck liegt, heißen Kirschen und Vanilleeis.

»Autsch«, entfährt es mir, während mich ein gemeiner Schmerz durchzuckt. Heiß und kalt ist eine Kombination, die ich überhaupt nicht vertrage.

Bei diesem Vergleich fällt mir umgehend Stefan ein, der mich am Bahnhof Altona in Hamburg ziemlich unterkühlt verabschiedet hat. Genau wie ich ihn auch.

Wie aufs Stichwort fragt Veronika, von der die leckeren Waffeln sind, im nächsten Moment: »Wie geht’s eigentlich Stefan? Wann heiratet ihr denn nun?«, und sieht mich erwartungsvoll an.

Vermutlich bastelt sie im Geiste bereits an der Menüfolge und der Hochzeitstorte, schließlich ist es schon eine Weile her, dass sie dergleichen für ihre Kinder tun konnte, und nun fühlt sie sich wohl nicht ausgelastet. So gern, wie sie die Gastgeberin spielt.

Vero ist nun mal ein echtes Familientier. Seit nunmehr fast vierzig Jahren ist sie mit ihrem Mann Hinrich verheiratet, einem eher wortkargen Bauern – und das allem Anschein nach glücklich, auch wenn ich nicht viel über diese Ehe weiß. Die beiden haben sich in der Schule kennen- und lieben gelernt. Mit zwanzig bekam Vero ihre Tochter Friederike, auf die später die Zwillinge Lars und Ole folgten.

Offensichtlich hat Bea ihre Freundin noch nicht über den neuesten Stand der Dinge informiert, was meine Familienplanung betrifft.

»Vero, lass mal«, bekomme ich Schützenhilfe von meiner Tante, die an ihrem Tee nippt und die Augen rollt. »Als ob es für Lissy nichts Wichtigeres gäbe, als diesen Stefan zu heiraten.«

Veronika sieht mich kurz irritiert an, blickt dann unsicher zu Bea, und ich fühle mich bemüßigt, die Freundin meiner Tante selbst aufzuklären.

»Ich werde diesen Stefan wohl nicht heiraten, denn er wird in vier Monaten Vater.«

An dieser Stelle wird Vero noch unruhiger, und ich sehe kurz die Hoffnung in ihren Augen aufglimmen, ich sei schwanger und es gäbe bald wieder ein Baby im Haus.

»Die glückliche Mutter bin allerdings nicht ich«, fahre ich fort, während sich Veros Gesichtszüge in Sekundenschnelle enttäuscht verfinstern, »sondern eine gewisse Melanie Immendorf. Melanie ist Sprechstundenhilfe in Stefans Praxis, zwanzig, blond, vollbusig und meines Wissens ein bisschen doof. Allerdings nicht zu doof, um sich auf diesem Wege einen gut situierten Kardiologen zu angeln, der die Praxis, in der sie arbeitet, unter anderem meiner finanziellen Unterstützung verdankt«, vervollständige ich den Bericht über meine private Situation. Dabei versuche ich zu ignorieren, wie sich mein Herz verkrampft.

Das alles tut immer noch weh – viel zu weh!

Ich fühle, wie mir Tränen in die Augen schießen, und bin dankbar, dass Timo mir in diesem Moment die Hand leckt, vermutlich als verspätetes Zeichen seines Dankes für die Leckerli, die ich ihm mitgebracht habe.

»Oh, so ist das also«, murmelt Veronika bedrückt und schafft es kaum, mich anzusehen. »Das tut mir leid. Ihr wart so ein schönes Paar.« Damit ist dann auch alles gesagt.

Wir waren ein schönes Paar, und nun sind wir es eben nicht mehr.

»Ich gehe dann mal nach oben, um meine Sachen auszupacken«, sage ich und stelle mein Geschirr in die Spüle.

Wie gemütlich diese alte Friesenküche ist. Alles ist wunderhübsch gekachelt, in traditionellem Blau-Weiß, mit Motiven der hiesigen Region. Wie sehr ich das alles genießen könnte, wenn ich mich nur besser fühlte.

»Komm einfach runter, wenn dir nach Gesellschaft ist. Ansonsten gibt es um acht Uhr Abendessen«, ruft Bea mir nach, während ich die knarrende Treppe nach oben gehe und Timo mir hinterhertrottet.

In meinem alten Zimmer angekommen, werfe ich mich überwältigt von Schmerz aufs Bett. Dabei versinke ich fast in den flauschigen Daunen und atme den Duft von Sandelholz ein, der sich im Stoff der Tagesdecke verfangen hat. Timo legt sich artig auf den Bettvorleger, nimmt den Kopf zwischen die Pfoten und sieht mich, wie ich finde, besorgt an.

Dann kann ich die Tränen nicht länger zurückhalten. Tränen, die ich in Hamburg nicht hatte vergießen können, weil ich nicht wusste, wo ich dies ungestört hätte tun sollen, ohne in dieser Wohnung zu sein, die nun nicht länger mein Zuhause ist. Die Wohnung, in der nun wohl bald Melanie Einzug halten und triumphierend ihren schwangeren Bauch vor sich hertragen wird. Vermutlich verteilt sie bereits überall Ultraschallaufnahmen. Eine Frau wie sie pinnt sicher das erste Bild ihres Kindes an die Kühlschranktür, stolz auf das, was die Natur da in ihr hervorbringt, weil sie sonst nichts anderes hat, worauf sie blicken kann.

Aber wie ist das mit mir? Was kann ich eigentlich?, frage ich mich plötzlich und rolle mich in Embryohaltung auf der Decke zusammen. Wie war es eigentlich bislang, mein Leben, auf das ich vor kurzem noch so stolz war? War ich nicht total auf Stefan fixiert? Habe ich mich nicht komplett über IHN definiert? SEINE Pläne unterstützt? Sie sogar FINANZIERT? Mich mit SEINEN Interessen identifiziert? Mit SEINEN Freunden Umgang gepflegt? Nichts EIGENES gehabt, außer einem Job, der mir keinen Spaß macht und mich auch nicht erfüllt?

Ich habe ja noch nicht einmal eine beste Freundin, denke ich nun und schnüffle in mein Taschentuch, das ich, seit es Melanie gibt, immer griffbereit bei mir trage. Wie sehr ich Bea und Veronika beneide! Auch wenn die beiden auf den ersten Blick eine etwas skurrile Kombination sind – und zwar nicht nur äußerlich. Bea ist die Kluge, die Strenge, die alles Hinterfragende. Vero die ewig Gutgelaunte, Weiche, Warmherzige, manchmal aber auch ein wenig einfach Gestrickte. Sie weiß nicht viel von der Welt. Ihr Kosmos ist diese Insel, ihre Familie, der Hof. Und Bea. Vero ist das totale Gegenteil zu meiner mutigen, starken und abenteuerlustigen Tante: übervorsichtig, ängstlich, stets auf Sicherheit bedacht.

Mir ist überhaupt nicht klar, wie Bea es geschafft hat, ihre Freundin, die außer Kiel und Hamburg nichts weiter von Deutschland, geschweige denn von Europa gesehen hat, zu überreden, eine Weltreise mit ihr zu unternehmen. Das muss ich Bea unbedingt fragen, nehme ich mir fest vor, während mich eine Welle des Selbstmitleids unerbittlich überrollt.

Wie schön wäre es, jetzt eine gute Freundin zu haben, denke ich. Denn Bea und Vero sind in ein paar Tagen auf hoher See und kommen erst in drei Monaten wieder. Wir können kaum telefonieren, allerhöchstens mal mailen oder uns mit ein paar knappen SMS auf den neuesten Informationsstand bringen. Wer wird mich trösten, wenn ich nachts weinend im Bett liege, weil es mir vor Sehnsucht nach Stefan fast das Herz zerreißt und ich die Bilder von ihm und Melanie nicht aus dem Kopf bekomme?

Wie aufs Stichwort leckt Timo mir mit seiner rauhen Hundezunge die Hand, die über den Bettrand baumelt. Hund müsste man sein, überlege ich. Tiere denken angeblich nicht und haben auch keine Seele. Obwohl ich das gar nicht glauben kann … Wenn man Timo so betrachtet, in seine großen, dunkelbraunen Hundeaugen schaut und er den Kopf schief legt, sieht es immer so aus, als verstehe er einen. Sobald es mir wieder bessergeht, werde ich in Erfahrung bringen, wer so einen Mist über Tiere verbreitet, und gegen denjenigen vorgehen. Jawohl!

Bei dem Gedanken daran, wie ich womöglich anlässlich eines Symposiums eine flammende Rede halte, die beweisen soll, dass die Tierforschung irrt und nur ich, Larissa Wagner, die einzig Wissende bin, muss ich schon wieder ein wenig grinsen. Denn erstens bin ich nicht der Typ, der kluge Reden schwingt, schon gar nicht vor vielen Zuschauern, und zweitens wäre ich viel zu faul, um mich ernsthaft in die Materie zu vertiefen. Diese partielle Faulheit hat mich auch eine Ausbildung als Hotelkauffrau beginnen lassen, anstatt nach dem Abitur zu studieren.

Tja, fasse ich mich nun sozusagen an die eigene Nase – was unterscheidet dich an dieser Stelle eigentlich von Melanie? Die ist immerhin schwanger geworden, und das ist doch schon mal was. Zumindest wenn man zu dem Typ Frau gehört, deren Ziel es ist, eines Tages Ehefrau und Mutter zu sein. Melanie hatte wenigstens ein Ziel – ich dagegen habe momentan keines, so wie es aussieht.

 

Über diesem traurigen Gedanken muss ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich wieder auf die Uhr sehe, ist es 19.50 Uhr und stockdunkel im Zimmer. Nur der Mond lugt hinter einer kahlen Baumkrone hervor und wirft einen schmalen Lichtstreifen in den Raum. Fröstelnd ziehe ich mir die Decke um die Schultern und überlege, ob ich nach unten gehen soll. Timo ist nicht mehr da, sicher war es ihm zu langweilig, mir beim Schlafen zuzusehen. Während ich noch auf dem Rücken liege und an die dunkle Decke starre, höre ich auf einmal die Treppe knarren und schnuppere den Duft von Beas Parfüm, der ihr stets vorauseilt.

»Lissy, Schätzchen. Hast du Hunger? Magst du mit nach unten kommen?«, fragt meine Tante und lugt vorsichtig durch den Türspalt.

So viel kann ich trotz der Dunkelheit erkennen.

»Komme gleich«, antworte ich und krabble aus dem Bett, während Bea schon wieder auf dem Weg nach unten ist.

Kindheitserinnerungen werden wach, genau so habe ich mich als Zehnjährige gefühlt, als sie mich bei sich aufgenommen hat. Ein wenig ermattet vom Nachmittagsschlaf, begebe ich mich ins Badezimmer, um mir Hände und Gesicht zu waschen. Ein Blick in den Spiegel sagt mir, dass man mir meinen Kummer ansieht.

Ich bin blass, trage einen enttäuschten Zug um den Mund und habe nur wenig mit der attraktiven Endzwanzigerin gemeinsam, die noch bis vor kurzem mit ihren braunen Augen neugierig und zuversichtlich in die Welt sah. Verärgert bemerke ich, dass meine Haare sich im Schlaf verknotet haben, und flechte sie zu einem Zopf. Stefan hat meine langen nussbraunen Locken immer geliebt und sie mir oft gekämmt, eine zärtliche Geste, die ich vermissen werde. In Zukunft werde ich mich wohl selbst kämmen müssen.

Aus der Küche zieht Essensduft zu mir hoch, und ich merke, dass ich Hunger habe. Was es wohl gibt?, frage ich mich, während ich ein paar dicke Socken anziehe und eine Jacke aus dem Koffer hole. Ich bin gespannt, denn Bea ist, das muss man einfach so klar sagen, eine absolute Niete als Köchin. Sie isst nicht besonders gern – ganz im Gegensatz zu mir – und betrachtet Küchenarbeit ausschließlich als lästig und unnütz. Sie verbringt ihre Zeit lieber mit Büchern oder macht mit Timo lange Spaziergänge am Meer.

Als Kind wäre ich vermutlich verhungert oder elendiglich an Skorbut zugrunde gegangen, wäre da nicht Vero gewesen, bei der ich entweder zum Essen Dauergast war oder die uns mit Selbstgekochtem versorgt hatte, das Bea nur noch aufzuwärmen brauchte. Doch selbst das Aufwärmen konnte bei meiner Tante zum Abenteuer geraten, insbesondere wenn sie – etwa völlig versunken in ein Buch – alles um sich herum vergaß und es noch nicht einmal bemerkte, wenn dichte Rauchschwaden durch die Küche zogen.

Ich persönlich neige ja zu der Ansicht, dass Knut deswegen so gern lange auf See war, weil er dort vor seiner Frau und ihren zweifelhaften Kochkünsten fliehen konnte.

Beim Gedanken an meinen Onkel muss ich seufzen. Sein Tod ist nun auch schon fünf Jahre her. Ob Bea wohl noch immer um ihn trauert?

 

»Hmm, das duftet ja lecker«, sage ich, eher, um mir selbst Mut zuzusprechen, als zu Bea, und luge vorsichtig in Richtung Herd.

Doch dort scheint ausnahmsweise alles im grünen Bereich zu sein – merkwürdig! Eine dicke, sämig aussehende Krabbensuppe blubbert gemütlich vor sich hin, und im Ofen schmort eine Lammkeule. Der Tisch ist hübsch gedeckt, Rotwein schimmert in einer Karaffe, und als musikalische Untermalung laufen Vivaldis »Vier Jahreszeiten«. Idylle pur.

»Bea, was ist passiert?«, frage ich überrascht, als meine Tante, in eine Küchenschürze gewandet (allmählich mache ich mir ernsthaft Sorgen!), im Türrahmen auftaucht.

Bewaffnet mit einem Paar Topflappen, die ich als Kind gehäkelt und ihr zu Weihnachten geschenkt habe, nimmt sie den Schmortopf aus dem Ofen.

»Da staunst du, was?«, sagt Bea lachend, stellt den Bräter auf den Herd und füllt die Krabbensuppe in Schüsseln.

Während ich die heiße Suppe genieße und sich eine wohlige Wärme in meinem Körper ausbreitet, erzählt meine Tante begeistert, dass Veronika sie zu einem Kochkurs überredet hat. »›So kann es nicht weitergehen‹, hat Vero zu mir gesagt, und irgendwann fand ich, dass sie recht hat. Es ist zwar viel einfacher, sich immerfort darauf zu berufen, dass man für etwas zu untalentiert ist, als sich mal daranzumachen und sich selbst das Gegenteil zu beweisen. Aber was hat das Leben für einen Sinn, wenn man sich nicht weiterentwickelt? Man muss doch immer mal wieder etwas dazulernen, damit man nicht komplett einrostet und verblödet, oder wie siehst du das?«, fragt sie mich mit einem Hauch von Provokation im Blick, während ich beeindruckt meine Suppe löffle.

»Aber du bildest dich doch ständig weiter«, protestiere ich und trinke einen Schluck Wein. »Du liest andauernd. Und wenn du nicht liest, bist du in deinem Literaturzirkel oder siehst dir irgendwelche Dokumentationen oder Theaterstücke auf ARTE oder 3sat an. Du fährst nach Hamburg zu Konzerten, du besuchst Vorträge. Wo ist denn da auch nur die kleinste Gefahr einzurosten?«

»Das ist sicher alles richtig. Aber wenn du genau hinsiehst, dann merkst du, dass alles, was du gerade geschildert hast, keine echte Herausforderung für mich ist. Weil es mir leichtfällt. Weil ich zeit meines Lebens nichts anderes getan habe. Ich muss mich nicht anstrengen, um bestimmte Dinge zu verstehen. Ich muss mich nicht dazu aufraffen, nach Hamburg zu fahren, um in die Oper zu gehen. Und Vorträge könnte ich manchmal sogar selbst halten. Aber die einfachen Dinge des Lebens zu regeln, gut zu sich selbst zu sein, zu fühlen und nicht nur mit dem Kopf zu arbeiten, fällt mir oft schwer. Genau das möchte ich nun auf meine alten Tage ändern!«

Bei »alten Tage« zucke ich unwillkürlich zusammen, denn für mich ist Bea mit ihren fast sechzig Jahren zwar älter, aber dennoch irgendwie zeitlos. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es sie womöglich eines Tages nicht mehr geben sollte. So wie meine Eltern. An dieser Stelle bildet sich ein dicker Kloß in meinem Hals.

»Und weil Vero dir das Kochen beigebracht hat, was ihr übrigens ausgezeichnet gelungen ist, lernt sie nun im Gegenzug die weite Welt kennen? Auch wenn bereits eine Fahrt nach Kiel für sie eine ähnliche Herausforderung darstellt wie für mich die Aussicht, den Himalaja zu besteigen. Wie hast du es nur geschafft, sie zu dieser Reise zu überreden?«, hake ich nach. Dabei bemühe ich mich, den Gedanken zu verdrängen, Bea könnte eines Tages nicht mehr für mich da sein.

»Tja«, erwidert meine Tante lächelnd und schenkt uns Wein nach. »Darauf, dass mir das gelungen ist, bin ich in der Tat stolz. Ehrlich gesagt, werde ich es aber selbst erst glauben, wenn es tatsächlich so weit ist. Noch fühlt Vero sich in Morsum sicher, und am Kachelofen lässt es sich gut träumen. Aber sie ist wie ich der Meinung, dass wir im letzten Drittel unseres Lebens noch ein bisschen was ausprobieren müssen. Jetzt hoffe ich einfach mal, dass es in ihrem Fall gut geht. Wenn nicht, kommen wir eben wieder zurück. Es ist ja nicht so, dass wir auf einer einsamen Insel stranden werden, von der wir nicht mehr wegkönnen. Es gibt von überall Flüge zurück – das ist auch das Sicherheitsnetz, mit dem ich Vero locken konnte. Außerdem sind wir nicht als Backpacker unterwegs, die morgens nicht wissen, wo sie abends schlafen werden. So eine Kreuzfahrt ist immerhin bestens durchorganisiert, und bei dieser Art zu reisen kann nicht allzu viel passieren.«

»Aber wärst du nicht furchtbar enttäuscht, wenn ihr trotzdem nach zwei oder drei Wochen schon wieder umkehren müsstet? Was, wenn Vero auf dem Schiff die Krise bekommt oder wenn ihr die Ausflugsziele an Land zu exotisch sind?«, frage ich skeptisch nach. Gleichzeitig genieße ich die Lammkeule mit provenzalischem Gemüse, das so aromatisch ist, als käme es direkt aus dem Himmel.

»Nein, ich glaube nicht«, antwortet Bea. »Ich würde es akzeptieren müssen. Ich kenne Vero nun schon sehr lange und mache mir keine Illusionen darüber, wie sie gestrickt ist. Das Risiko, dass ihr die Reise womöglich nicht gefällt und sie Heimweh nach Morsum und ihrer Familie hat, muss ich eingehen. Ich wäre keine gute Freundin, wenn ich das nicht verstehen könnte. Ich hätte ja auch die Möglichkeit, alleine zu reisen oder mit meiner Freundin Iris, der Reisejournalistin aus Hamburg. Aber ich möchte dieses Wagnis nun mal mit Vero eingehen. Wenn das Experiment scheitert, sind wir beide um eine Erfahrung reicher, wissen aber dennoch zu jeder Zeit, was wir aneinander haben.«

Beeindruckt von ihren Worten, kaue ich weiter und betrachte meine Tante. Wie toll sie immer noch aussieht, wie vital, wie klug. Wie gerne wäre ich ein wenig wie sie. So gelassen, in mir ruhend, so voller Vertrauen in mich und das Leben. Wie wird man nur so?

»Willst du mir vielleicht kurz erzählen, was da mit dir und Stefan passiert ist?«, fragt Bea und reißt mich aus meinen Gedanken.

Lust habe ich eigentlich keine, aber natürlich bin ich es meiner Tante schuldig, die ganze Geschichte zu berichten, immerhin hat sie sich lange genug in Zurückhaltung geübt. Vielleicht ist es auch ganz gut, wenn ich mal mit jemandem über die Trennung spreche, denn bislang habe ich alles mit mir selbst ausgemacht.

 

Dann sprudelt es aus mir hervor, als hätte jemand einen Wasserhahn aufgedreht. Es ist ungemein befreiend, endlich alles aussprechen zu können, was mir seit Wochen auf der Seele lastet. Ich schildere ihr, wie ich an unserem fünften Jahrestag eine SMS entdeckte, aus der ziemlich eindeutig hervorging, dass Stefan eine Affäre hat. Weiter berichte ich, dass ich eine Zeitlang versucht war, diese Tatsache zu ignorieren, und wie sehr ich darunter litt, dass Stefan sich immer mehr von mir distanzierte, fast nur noch auf dem Golfplatz oder angeblich mit Freunden unterwegs war. Zuletzt führten wir nicht einmal mehr richtige Gespräche, weshalb ich ihn eines Tages zur Rede stellte, weil dieser Zustand nicht mehr auszuhalten war. Zumindest nicht für mich.

Ich habe immer schon mehr vom Leben erwartet.

Totale gegenseitige Hingabe und Liebe, die bis ans Lebensende dauert.

So wie bei meinen Eltern.

Da brach Stefan endlich sein Schweigen und beichtete mir alles. Dass diese Melanie die Frau seines Lebens sei, dass er noch nie zuvor für eine Frau so empfunden habe, und zu guter Letzt auch noch, dass sie ein Kind von ihm erwarte. Während ich mir anhörte, was er zu sagen hatte, war ich eigentümlich ruhig und irgendwie gar nicht verwundert. Im Grunde wusste ich, dass wir uns unwiederbringlich voneinander entfernt hatten. Aus den einst verschlungenen Pfaden waren auf einmal parallel laufende Schienen geworden, die einander niemals mehr treffen konnten.

Trotz dieser Erkenntnis tat das, was Stefan sagte, mir weh. Sehr weh sogar. Er selbst wirkte indes erleichtert, endlich nicht mehr lügen zu müssen, denn im Grunde seines Herzens ist er ein ehrlicher Mensch.

Nachdem er gesagt hatte, was er sagen musste, ging er »spazieren, um noch ein wenig frische Luft zu schnappen«, dabei wussten wir beide, dass es ihn zu Melanie zog. Er wollte so schnell wie möglich bei der Frau seines Herzens sein. Bei der zukünftigen Mutter seines Kindes.

Sobald die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, rollte ich mich auf dem Sofa zusammen, auf dem ich gesessen hatte, als meine Welt zum zweiten Mal nach dem Tod meiner Eltern zerbrach, und wartete auf die Tränen, die jedoch nicht kamen.

Sie kamen weder am nächsten Tag noch an den folgenden. Im Hotel funktionierte ich wie ein Roboter, wies meine Vertretung ein, die von einer Zeitarbeitsfirma kam und für drei Monate einsprang, und organisierte nebenbei den Haushalt, wie ich es immer getan hatte. Stefan schlief ab sofort auf dem Sofa, und ich fühlte mich unendlich einsam und schrecklich allein in diesem großen Doppelbett.

Schließlich kam der Tag meiner Abreise nach Sylt, und Stefan war noch so nett, mich zum Bahnhof zu fahren. Wir verabschiedeten uns förmlich, ich stieg in den Zug und blickte nicht zurück. Vermutlich hätte ich sowieso nichts anderes gesehen als den Rücken von Stefan, der es eilig hatte, wieder zu Melanie zu kommen.

 

»Und wie geht es dir jetzt damit?«, fragt Bea mitfühlend und streichelt mir die Hand.

Ich komme jedoch gar nicht dazu, ihr zu antworten, weil die Türglocke läutet. »Erwartest du jemanden?«, frage ich und bin ein wenig enttäuscht, nicht weiter mit meiner Tante allein sein zu können.

»Eigentlich nicht«, antwortet sie und geht an die Eingangstür, um zu öffnen.

»Ach, du bist’s«, höre ich Bea sagen. Ein paar Sekunden später steht sie zusammen mit einem jungen Mann im Raum, dem die Störung sichtlich unangenehm ist, als er merkt, dass wir gerade beim Essen sind.

»Ich wollte nur schnell das Buch zurückbringen«, sagt der Unbekannte und streckt mir freundlich die Hand zum Gruß entgegen. »Hallo, ich bin Leon«, stellt er sich vor.

»Lissy Wagner«, antworte ich und mir fällt auf, dass sich seine Hand angenehm warm und fest anfühlt.

»Leon ist Journalist und arbeitet für den Sylter Tagesspiegel«, erklärt Bea, während wir beide uns eingehend mustern.

Der Besucher ist etwas älter als ich, groß, schlank, dunkelhaarig und macht einen sehr sympathischen Eindruck. Seine langen Beine stecken in verwaschenen Jeans, unter seinem Parka trägt er einen anthrazitfarbenen Rollkragenpulli. Die dichten Haare hat er lässig nach hinten gestrichen, und die zarte Nickelbrille verleiht seinem eher jungenhaften Gesicht einen gewissen intellektuellen Touch.

»Das ist meine Nichte, Larissa Wagner«, fährt Bea fort. »Lissy wird mich in der Bücherkoje vertreten, wenn ich mit Vero auf Reisen gehe«, erklärt sie, und ich bemerke, wie Leons Blick interessiert an mir auf und ab wandert.

Unwillkürlich nestle ich an meinen Haaren und wippe mit den Füßen, wie immer, wenn ich nervös bin. Hoffentlich sieht mein Gesicht von der ganzen Heulerei nicht mehr allzu verquollen aus, denke ich und frage mich gleichzeitig, weshalb es mir überhaupt wichtig ist, was dieser Mann von mir denkt.

»Was ist das denn für ein Titel?«, erkundige ich mich mit einem Blick auf das Buch, das Leon in der Hand hält. Als Buchhändlerin in spe kann ich ruhig gleich heute damit beginnen, mich in die Materie einzuarbeiten.

»Pu der Bär«, antwortet Leon, offensichtlich ebenfalls leicht verlegen.

Ich schmunzle. »Mein Lieblingskinderbuch«, sage ich, nehme ihm das Exemplar aus den Händen und betrachte gerührt die liebevollen, hauchzarten Illustrationen von E. H. Shepard.

Auf dem Cover lehnen Pu (der tapsige und verfressene Bär aus dem Hundertmorgenwald, der nichts anderes als Honig im Kopf hat), sein Freund Ferkel (ein junges Schwein, wie der Name schon sagt) und Christopher Robin (der einzige menschliche Protagonist der Geschichte) an einem Brückengeländer und starren völlig versunken in den Bach, der ihnen zu Füßen liegt und gemütlich vor sich hin plätschert. Als ich den Innenteil aufschlage, sehe ich mit krakeliger Kinderschrift geschrieben die Worte:

 

Dieses Buch gehört Lissy Wagner. Wer so gemein ist, es auszuleihen und nicht zurückzubringen, ist es nicht wert, mein Freund zu sein!

 

Tatsächlich, dieser Leon hat sich mein persönliches Exemplar von Bea ausgeliehen.

»Lassen Sie mich raten. Sie arbeiten gerade an einem hochbrisanten Beitrag über die Psychologie des Zusammenlebens von Bären, Ferkeln und Eseln in der Enge des Hundertmorgenwalds«, necke ich den Journalisten.

Der lächelt mich daraufhin erfreut an. »Ich sehe schon, Sie sind noch immer eine Pu-Expertin«, antwortet er, rückt seine Brille gerade und mustert mich ernst. »Wenn das so ist, können Sie sich doch sicher auch noch erinnern, wie Pu hieß, bevor er beschloss, Winnie der Pu zu sein?«, fragt er und nimmt nun ebenfalls am Tisch Platz.

Bea hat inzwischen einen weiteren Teller, Besteck sowie ein Glas geholt. Das bedeutet wohl, dass wir den Rest des Abends mit diesem Leon verbringen werden.

Mist, wie war das noch?, grüble ich und versuche mich zu entsinnen, was meine Tante mir immer vorgelesen hat. Pu der Bär war nämlich eines der ersten Bücher, die bei unserem allabendlichen Vorleseritual fester Bestandteil meiner kindlichen Traumwelt wurden. Manchmal glaubte ich eine Art weiblicher Christopher Robin zu sein, dessen Freunde allesamt Tiere waren, die ich gern mochte. Ich konnte Stunden damit verbringen, mir Geschichten auszudenken, in denen Elefanten, Giraffen, Zwergkaninchen oder Rehkitze eine tragende Rolle spielten. Auch wenn ich mit zehn Jahren schon fast zu alt für solche Phantastereien war.

»Wenn Sie es nicht wissen, halb so schlimm«, erlöst Leon mich aus meiner Grübelei. »Das Wichtigste ist doch, dass ich Ihnen das Buch zurückgebracht habe. Denn ich möchte keinesfalls riskieren, dass Sie böse auf mich sind!«

»Kinder, wollt ihr euch nicht duzen?«, mischt sich nun Bea in unser Gespräch ein und hebt energisch ihr Weinglas. »Ich finde, wir sollten darauf anstoßen, dass ich endlich meine Weltreise antreten kann, dass Lissy hier ist und hoffentlich die Zeit auf Sylt genießen wird und dass du, Leon, den Job als stellvertretender Chefredakteur bekommen hast. Auf eine tolle Zukunft!«, sagt meine Tante und prostet uns zu. Irre ich mich, oder zwinkert sie mir hinter dem funkelnden Rotwein verschwörerisch zu?

Nachdem Leon und ich auf Du und Du getrunken und wir uns gegenseitig verschämt ein Küsschen auf die Wangen gehaucht haben, sind wir auch schon verstrickt in ein Gespräch, das sich um Reisen, Zukunftspläne und Bücher rankt. Doch sosehr ich mich auch amüsiere und mich an dem verbalen Schlagabtausch über Bücher erfreue, den Bea und Leon sich gelegentlich liefern, kann ich nicht umhin, ab und zu an Stefan zu denken.

Ich war zwar nicht oft mit ihm hier und will auch nicht behaupten, dass meine Tante und er ein Herz und eine Seele gewesen wären, dennoch gab es Momente, an die ich mich gern erinnere.

Zum Beispiel unser erster Aufenthalt hier, als ich Stefan »mein Sylt« jenseits der bekannten und touristisch frequentierten Ecken gezeigt habe. Das Sylt, das mit dem Promitreiben in Kampen oder in der Sansibar ebenso wenig zu tun hat wie mit dem Nacktbaden an der Buhne 16, den schicken Partys im Roten Kliff, dem Schaulaufen in der Sturmhaube oder auf der Terrasse des Grand Plage.

Es versetzt mir einen kurzen Stich, als ich daran denke, wie Stefan und ich in der Alten Friesenwirtschaft hier in Keitum saßen und zum ersten Mal darüber sprachen, wie es wohl wäre, wenn wir zusammenwohnten. Oder als wir beim Strandspaziergang um den »Ellbogen« Pläne für Stefans Praxis schmiedeten. Als wir überlegten, wie wir das Geld dafür zusammenbekommen könnten. Und schließlich eine Lösung fanden.

Ich habe nicht lange Gelegenheit, meinen trüben Gedanken nachzuhängen, denn Leon fragt mich nach meinen Lieblingsbüchern. Es stellt sich heraus, dass der Kulturteil des Tagesspiegels in sein Ressort fällt, und ehe ich es mich versehe, stecken wir auch schon mitten in einer Diskussion darüber, ob das Lesen als Freizeitbeschäftigung in dieser von Hektik und Zeitmangel geprägten Zeit in Zukunft überhaupt noch eine Bedeutung haben wird. Als er sich wundert, dass ich als Hotelkauffrau in Sachen Literatur so bewandert bin, erzähle ich ihm, dass mein Vater Lehrer für Deutsch und Geschichte war, dass Bücher in unserem Leben immer schon eine große Rolle gespielt haben und die Liebe zur Literatur bei uns in der Familie liege.

»Er hieß übrigens Eduard Bär«, sage ich, als Leon sich gegen 24.00 Uhr verabschiedet und in die eiskalte, sternklare Nacht verschwindet.

Ich sehe noch, wie er anerkennend grinst, und schließe die Tür hinter ihm.

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Kapitel 2

Morgen, meine Süße! Zeit, aufzustehen«, vernehme ich unvermittelt die Stimme meiner Tante und kann kaum glauben, wie dynamisch und fröhlich sie klingt. Verschlafen werfe ich einen Blick auf meinen Wecker, der 6.30 Uhr anzeigt.

»Bea, ich fasse es nicht! Spinnst du?«, quake ich in die Richtung, aus der die Stimme kommt, und ziehe mir die Decke über den Kopf. »Was willst du denn schon so früh?«

»Es ist gar nicht so früh, mein Liebling, angesichts des Programms, das auf uns wartet«, lautet die lapidare Antwort meiner Tante, die offensichtlich schon mit Protest meinerseits gerechnet hat. »Wir müssen doch alles ganz genau durchspielen, für die Zeit, wenn ich nicht da bin. Und wir müssen aus einer Hotelfachfrau möglichst schnell eine Buchhändlerin machen. Also, raff dich auf, unten steht Tee, der wird bald kalt.« Beas Stimme duldet keinen Widerspruch.

Also schwinge ich missmutig die Beine aus dem Bett und treffe damit aus Versehen Timo, der demonstrativ seine Leine in der Schnauze hat und mich auffordernd ansieht.

»Oh, Timo, nein. Ich KANN jetzt nicht mit dir Gassi gehen, vergiss es!«, versuche ich ihm klarzumachen, dass ich keine dynamische Frühaufsteherin bin. Da muss er sich schon jemand anderen suchen, der zu dieser nachtschlafenden Zeit mit ihm um die Ecken tobt.

Da fällt mir plötzlich siedend heiß ein: Wenn Bea auf Reisen ist, muss sich jemand um den Hund kümmern. Und dieser jemand werde naturgemäß wohl ich sein. Ein Gedanke, der mir überhaupt nicht behagt. So ein riesiges Tier braucht jede Menge Auslauf, und ich gehe nicht gerade gern spazieren. Erst recht nicht mitten in der Nacht.

»Dich bringen wir als Erstes auf Veros Hof«, sage ich zu Timo, der erfreut mit dem Schwanz wedelt.

Er sieht aus, als würde ihm die Vorstellung gefallen, den ganzen Tag auf dem Bauernhof Enten zu jagen und im angrenzenden Teich zu baden. Als er jedoch erkennt, dass es – wenn überhaupt – nicht sofort losgeht, weil ich unmissverständlich den Weg ins Bad einschlage, trottet er missmutig die Treppe hinunter. Ich könnte schwören, dass er dabei Protestlaute von sich gibt.

Um wach zu werden, spritze ich mir erbarmungslos eiskaltes Wasser ins Gesicht, was mich eine ungeheure Überwindung kostet, denn im Bad ist es alles andere als warm. Für mich als Hamburger Frostbeule, die mitunter sogar im Sommer die Heizung anmacht, stellt dieses zweihundert Jahre alte Kapitänshaus eine echte Herausforderung dar. Denn hier gibt es keine Zentralheizung, sondern pro Raum entweder einen Öl- oder einen Kohleofen und im Wohnzimmer zusätzlich einen gemauerten Kachelofen, an den ich mich als Kind immer gern gekuschelt habe. Da Bea von Natur aus nicht besonders kälteempfindlich und immer in Aktion ist und Knut sowieso fast nie zu Hause war, ist es für sie ein Kinderspiel, mit diesen Gegebenheiten zu leben.

O mein Gott, ich muss mir unbedingt noch zeigen lassen, wie diese Öfen funktionieren, ärgere ich mich, während ich unter der Dusche allmählich auftaue. Ich bin mehr als froh, dass es wenigstens Warmwasser gibt. Doch Moment mal! Wie kann das sein?, wundere ich mich und beschließe, mit Bea nicht nur über Timos Unterbringung zu sprechen, sondern mir auch die Heizung erklären zu lassen. Und zwar rechtzeitig, bevor ich in ein Hotel umziehen muss, um nicht jämmerlich zu erfrieren.

»Wie gefällt dir eigentlich Leon?«, erkundigt sich meine Tante unvermittelt.

Wir sitzen inzwischen gemeinsam am Frühstückstisch, und ich bin im Geiste immer noch beim Thema Öfen. Wie soll ich bloß die schwere Kohle in den ersten Stock schleppen?, überlege ich, während ich etwas Kandis in meinen Tee gleiten lasse.

»Ich finde ihn ganz nett«, antworte ich, ohne lange zu überlegen. Leon ist sehr sympathisch, klug, witzig, offen – ein angenehmer Mensch, mit dem es Spaß macht, zusammen zu sein.

Jede weitere Ausführung zu diesem Thema erübrigt sich jedoch, weil es an der Tür klingelt und eine Frau (die Nachbarin?) ihre kleine Tochter bei uns abliefert.

»Das ist Paula«, klärt Bea mich auf, als ich verwundert registriere, mit welcher Selbstverständlichkeit das kleine Mädchen am Küchentisch Platz nimmt und meine Tante ihm einen heißen Kakao kredenzt. »Ich bringe Paula jeden Morgen zum Kindergarten«, fährt sie mit ihrer Erklärung fort.

Beinahe hätte ich mich an meinem Tee verschluckt. O nein! Bedeutet das etwa, dass ich morgens nicht nur Timo ausführen und alle Öfen befeuern, sondern auch noch dieses Mädchen zum Kindergarten bringen muss? Das ist selbst für jemanden, der danach nicht noch den ganzen Tag in der Buchhandlung stehen und abends die Abrechnung machen muss, ein volles Pensum. Dabei wird es Herausforderung genug sein, mich überhaupt in diesen für mich völlig fremden Beruf einzuarbeiten.

»Aber abgeholt wird sie schon, oder gehört das auch zu meinen Aufgaben?«, erkundige ich mich vorsichtig.

»Nein, keine Sorge, das macht Vero«, klärt Bea mich auf und wirkt, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass die kleine Paula offensichtlich fast komplett von meiner Tante und ihrer Freundin betreut wird.

»Was ist mit Paulas Mutter?«, frage ich irritiert und bin mir gleichzeitig nicht ganz sicher, ob ich die Antwort überhaupt hören möchte.

»Paulas Mutter ist alleinerziehend und arbeitet in Westerland als Kellnerin. Sie hat es nicht leicht, seit ihr Mann sie verlassen hat und auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. Weil wir Tanja (aha, das muss wohl die Mutter der Kleinen sein!, denke ich) und Paula so gern mögen, helfen Vero und ich eben, so gut wir können.«

Ich sehe schon, ich habe nicht die geringste Ahnung von dem Leben, das meine Tante hier führt. Trotz zahlloser Telefonate habe ich wichtige Sachen offenbar nie erfahren. Merkwürdig! Was es wohl noch so alles gibt, wovon ich nichts weiß?

Neugierig und, wie ich finde, auch ein wenig feindselig beobachtet Paula mich mit gerunzelter Stirn, während sie ihren Kakao trinkt.

»Gehst du gern in den Kindergarten?«, frage ich sie – zugegeben nicht besonders originell – und kassiere prompt einen genervten Blick.

Ihr gedehntes »Hmm« lässt nicht einwandfrei darauf schließen, was sie meint. Aber ich bin momentan auch nicht in der Verfassung, Freundschaft mit einem Kind zu schließen, von dessen Existenz ich bislang noch nicht einmal etwas wusste.

»Wie alt bist du?«, frage ich beharrlich weiter, denn wenigstens das will ich verbindlich geklärt wissen.

»Paula ist gerade vier geworden. Nicht wahr, Schätzchen?«, antwortet Bea anstelle des Mädchens. Vorsichtig nimmt sie mit einem Löffel die Haut ab, die sich auf dem Kakao gebildet hat. Wie lieb und fürsorglich meine Tante sein kann, stelle ich mal wieder fest. Genau so hat sie es früher mit meiner heißen Schokolade auch immer gemacht.

»Wie soll ich eigentlich das mit dem Heizen handhaben?«, erkundige ich mich nun bei Bea, da Paula ganz offensichtlich nicht mit mir kommunizieren möchte.

»Das erkläre ich dir, wenn du von deinem Rundgang mit Timo zurück bist«, antwortet Bea. Dann drückt sie mir energisch die Hundeleine in die Hand und räumt mein Frühstücksgeschirr weg.

»Halt, stopp!«, protestiere ich, denn für mein Gefühl habe ich noch gar nichts gegessen.

Aber Bea sieht mahnend auf ihre Armbanduhr, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als Schuhe und Mantel anzuziehen, während Timo erfreut an mir hochspringt und mich dabei fast umwirft. »In einer halben Stunde müsst ihr wieder da sein«, sagt meine Tante mahnend.

Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, dass Paula sich ein Marmeladenbrötchen schmiert und mir triumphierend die Zunge herausstreckt. Na warte, du Früchtchen, denke ich und zerre Timo hinaus in den kalten Wintermorgen.

 

Draußen ist es nicht nur kalt, es pfeift auch ein scharfer Wind – auf dieser Insel beinahe ein Dauerzustand. Unwillkürlich muss ich an den dummen Spruch denken, der da lautet: »Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung«, und ziehe fröstelnd meinen Wollmantel enger um mich. Für das Hamburger Wetter ist er optimal, aber für hier? Vermutlich muss ich mir einen dicken Parka besorgen, wie Leon einen anhatte, oder einen anderen wattierten Mantel, auch wenn ich damit mit Sicherheit aussehen werde wie die sprichwörtliche Wurst in der Pelle.

Überhaupt vermute ich, dass Sylt meinem Äußeren nicht besonders gut bekommen wird. Ich merke jetzt schon, wie die jodhaltige, frische Luft meinen Appetit anregt. Das war noch jedes Mal so, wenn ich hier war. Gestern Abend habe ich bereits eine Suppe und zwei Portionen Lammkeule mit provenzalischem Gemüse gegessen. In spätestens vier Wochen werde ich meine Kleider zwei Nummern größer benötigen, in Gummistiefeln herumstapfen, mir die Haare aus praktischen Erwägungen ausschließlich zum Zopf binden und zur friesischen Landpomeranze mutieren. Mein Magen knurrt, und ich denke sehnsuchtsvoll an das Brötchen, das sich Paula vorhin in den Mund gesteckt hat. MEIN Brötchen, um genau zu sein!

Während Timo und ich Seite an Seite die dunkle Straße zum Watt hinuntertrotten, begegnet uns ab und zu ein anderer Fußgänger und begrüßt uns mit einem fröhlichen »Moin«.

Das gefällt mir an den Inselbewohnern so gut. Egal, ob Fremder oder bester Freund. Egal, ob es regnet oder die Sonne scheint. Egal, wo und zu welcher Tages- und Nachtzeit man sich trifft. Ein freundliches »Moin«, begleitet von einem Nicken, ist das mindeste, was man als Gruß erwarten kann. Und natürlich erwidert man ihn gern.

Bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, wenn man in Hamburg jeden grüßte, der einem begegnet, muss ich kichern. Dann käme man zu nichts anderem mehr. Man wäre andauernd mit Grüßen beschäftigt, und überall wäre es furchtbar laut, wenn diese permanenten »Hallos« durch die Luft schwirrten. Tja, auf so einer kleinen Insel ticken die Uhren und die Menschen wirklich anders. In manchen entlegenen Ecken sprechen die Bewohner sogar noch echtes Friesisch. Wenn ich als Kind mit Vero auf dem Markt war, konnte ich vor lauter Knack-, Krach- und Schluchzlauten kaum etwas verstehen und war immer völlig beeindruckt, dass sie genau das bekam, was sie haben wollte.

Bea hat es Gott sei Dank nicht mit dem Friesischen, auch wenn Knut diese Mundart als alter Seebär natürlich beherrscht hat.

Über dem Eingang des Kapitänshauses hängt ein Schild, auf dem steht »Rüm Hart, klaar Kimming«, was so viel bedeutet wie »Offenes Herz, klarer Horizont«. Ein Sinnspruch, der gut zu einem ehemaligen Seefahrer wie ihm passt und zudem zahllose Sylter Hauseingänge oder im Wind flatternde Fahnen ziert.

Meinen klaren Horizont trübt im nächsten Moment eine große, männliche Gestalt, die sich vor den Mond schiebt, der noch als schmale Sichel am dunklen Morgenhimmel hängt.

»Moin, Lissy, Moin, Timo, welch Überraschung. Ihr seid ja früh unterwegs!«

Kaum hat die unbekannte Silhouette ihren Morgengruß ausgesprochen, reißt Timo sich auch schon los, um an dem Fremden hochzuspringen. »Feiner Hund, braver Hund«, höre ich den morgendlichen Spaziergänger sagen, während ich einen besseren Blick auf ihn werfen kann.

Es ist Pastor Lorenz Petersen, der mich konfirmiert hat und von dem ich gehofft habe, dass er eines Tages Stefan und mich trauen würde.

»Moin, Lissy, hab schon gehört, dass du wieder auf der Insel bist und eine Weile bleiben willst. Aber wieso bist du zu dieser nachtschlafenden Zeit unterwegs? Seit ich dich kenne, hast du die Nase nie vor dem späten Vormittag vor die Tür gestreckt!«

Deshalb bin ich auch so manchem Sonntagsgottesdienst ferngeblieben, denke ich beschämt, während Lorenz mich so fest an seine Brust drückt, dass ich kaum Luft bekomme.

»Das tue ich nicht freiwillig, das können Sie mir glauben, Pastor«, antworte ich und versuche, mich wieder aus seinen Armen zu befreien. »Aber Sie kennen Bea. Wenn die sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist es schwer, dagegen anzukommen. Und da ich für eine Woche quasi ihre Schülerin, oder nennen wir es besser Praktikantin bin, mache ich erst mal brav, was sie sagt.«

»Um dann später das genaue Gegenteil davon zu tun«, vervollständigt Lorenz Petersen meinen Satz. »So hast du es zumindest als Kind immer gemacht. Ich hoffe, wir sehen uns zur Christmette. Und denk daran: Wann immer du etwas brauchst, wenn Bea und Veronika unterwegs sind, Lina und ich sind für dich da. Mach’s gut, min Deern, bis Freitag.« Spricht’s und verschwindet hinter der nächsten Böschung.

Ich kann gerade noch »Grüßen Sie bitte Lina von mir« hinter ihm herrufen und dabei zusehen, wie mein Atem kleine Wölkchen bildet. »Komm, Timo, es ist Zeit, nach Hause zu gehen und Paula, das unfreundliche Monster, in den Kindergarten zu bringen«, rufe ich nach dem Berner Sennhund. Er schnüffelt gerade neugierig an einer Straßenlaterne, als hätte er sie nicht schon mindestens tausendmal gesehen und gerochen.

 

»Da seid ihr ja endlich«, begrüßt Bea den Hund und mich und dirigiert uns sofort energisch ins Auto.

Paula nimmt völlig selbstverständlich vorne neben meiner Tante Platz, während ich mir mit Timo die Rückbank teile.

Der Kindergarten ist am anderen Ende des Dorfes, gleich neben der Boy-Lornsen-Grundschule. Die Fenster dort sind mit selbstgebastelten Kerzen aus rotem und gelbem Tonpapier geschmückt, und in den Hecken, die den Spielplatz säumen, hängen Lichterketten. Ein Klettergerüst und eine Schaukel laden zum Herumtollen ein, und bei ihrem Anblick muss ich sehnsuchtsvoll an den Sommer denken. Gegenüber liegt die Kurverwaltung mit dem dazugehörigen Schwimmbad, nebenan ist eine Apotheke. Alles ist nur ruhig und friedlich wie jetzt, solange keine Touristen auf der Insel sind. Irgendwie graut mir schon vor der Zeit, wenn hier wieder Hochbetrieb herrscht. Aber wer weiß, was bis dahin ist?

Vielleicht bin ich dann schon gar nicht mehr auf Sylt?

 

Als wir Paula abliefern, verabschiedet sie sich nicht von mir, sondern drückt lediglich Bea einen feuchten Kuss auf die Wange. Dennoch beruhigt meine Tante mich netterweise im Hinblick auf die Babysitterqualitäten, die in Zukunft von mir gefordert werden.

»Keine Sorge«, sagt sie lachend, als sie den Blick bemerkt, den ich dem Mädchen zuwerfe, nachdem es ausgestiegen ist. »Das mit euch beiden wird schon noch. Am Anfang ist Paula immer ein wenig schüchtern. Außerdem ist sie über Weihnachten und Silvester bei ihren Großeltern in Stuttgart, so dass du dich hier in Ruhe einleben kannst, ohne dich um sie kümmern zu müssen.«

Aha, denke ich erleichtert, da habe ich ja noch einmal Glück gehabt!

Dann erreichen wir die Bücherkoje – meine berufliche Herausforderung für die kommenden drei Monate. Gerührt betrachte ich die reetgedeckte Kate, die mit ihren beleuchteten Schaufenstern verträumt in den Morgen blinzelt. Die Eingangstür wird umsäumt von mehreren Rosenstöcken, die für Keitum so typisch sind. Natürlich sind sie um diese Jahreszeit längst verblüht und warten nun im Winterschlaf darauf, dass der Frühling sie wieder wachküsst. Die Tür ist in den friesischen Farben Blau-Weiß gestrichen und wird links und rechts von den beiden Schaufenstern flankiert.

Neugierig betrachte ich, welche Themen Bea darin präsentiert: Im rechten steht ein großes Lebkuchenhaus, der Boden ist mit weißer Watte ausgelegt, die wohl Schnee darstellen soll. Auf einem Schlitten liegen mehrere Astrid-Lindgren-Bücher, darunter und daneben Koch- und Backbücher, ein Band mit alten Sylter Sagen und eine wunderschön illustrierte Bibel. Kein Zweifel, in wenigen Tagen ist Weihnachten.

Das linke Fenster steht offensichtlich im Zeichen der guten Vorsätze, die so mancher an Silvester fasst. Ein großer Schornsteinfeger, Blumentöpfe mit vierblättrigem Klee und Luftschlangen weisen auf den Jahreswechsel hin. Diätbücher, Reiseführer, Esoterik-Ratgeber oder Gesundheitsbücher sprechen ihre eigene Sprache – je nachdem, ob man sie als Mahnung oder Inspiration verstehen will. Beide Fenster sind liebevoll dekoriert und alles andere als kitschig überladen – sie sehen eben ganz nach Bea aus!

Meine Tante öffnet die Eingangstür, und schon schlägt mir der typische Duft entgegen, der in fast allen Buchhandlungen hängt: diese köstliche Mischung aus dem Staub, den Bücher anziehen, dem Sisalboden, der überall ausliegt, einem Hauch von Kaffee und eben dem Geruch von Büchern, den ich weiter gar nicht spezifizieren kann. Es ist der Duft meiner Kindheit, denn ich habe es immer schon geliebt, mit Bea in der Bücherkoje zu sein.

»Als Erstes musst du immer den Marktwagen und die Zeitungsständer hinausschieben, sonst kommst du gar nicht an die Kasse heran«, erklärt sie.

Ehe ich es mich versehe, wuchte ich auch schon einen nicht ganz leichten Holzkarren nach draußen und plaziere ihn rechts neben der Tür. Daneben gehören zwei Rollständer, die ich wenige Minuten später unter der strengen Anleitung meiner Tante fachgerecht mit den Tageszeitungen und Zeitschriften bestücke, die ordentlich gebündelt und gegen etwaige Nässe in Folie verpackt vor der Tür gelegen haben. Als ich den Sylter Tagesspiegel in Händen halte, muss ich unwillkürlich an Leon denken und lächeln. Schön zu wissen, dass ich eine Anlaufstelle für die Zeit habe, in der Bea und Vero weg sind.

Wäre wirklich nett, ihn wiederzusehen, überlege ich, während ich noch immer alte Zeitungen aus dem Ständer nehme und auf dem kalten Boden staple. Anschließend muss ich sie für die Remission in Listen eintragen und verpacken, wie mir Bea erklärt. Zu weiteren Träumereien bleibt ohnehin keine Zeit, denn nun erklärt sie mir den Kopierer, die Kasse und den Briefmarkenverkauf.

»Ich dachte, du betreibst eine Buchhandlung und keinen Gemischtwarenladen«, maule ich ein wenig. Ich habe nämlich nicht die geringste Lust, mich damit zu beschäftigen, wie man einen etwaigen Papierstau entfernt, was man macht, wenn die Kasse klemmt oder jemand nicht weiß, wie ein Brief nach Frankreich ordnungsgemäß frankiert werden muss. Okay, das mit der Kasse kann ich noch akzeptieren, weil es nun mal zum Buchverkauf gehört, aber alle anderen Tätigkeiten erinnern mich fatal an meinen Job im Hotel.

 

»Na, wie lässt sich der erste Arbeitstag an?«, erklingt auf einmal eine männliche Stimme, und ich drehe mich um. Es ist Leon, einen Berg von Zeitungen und Zeitschriften in der Hand, die er gerade aus dem Ständer genommen haben muss.

»Oh, hallo, lange nicht gesehen«, antworte ich leicht ironisch, weil ich mich wundere, was er hier macht.

»Tja, an meinen Anblick wirst du dich wohl oder übel gewöhnen müssen, denn ich besorge hier jeden Morgen auf dem Weg zum Verlag meinen Pressespiegel«, beantwortet Leon meine unausgesprochene Frage und lächelt mich an.

»Wohnst du denn hier in der Nähe?«, erkundige ich mich, während ich fieberhaft überlege, wie genau die Kasse funktioniert. Der Redakteur des Sylter Tagesspiegels scheint mein erster offizieller Kunde zu sein.

»Kann man so sagen«, antwortet Leon und legt den Zeitungsstapel auf den Tresen. »Ich wohne direkt nebenan. Über dem Möwennest.«

»Dem Möwennest?«, frage ich irritiert, während ich mit zitternden Händen die ersten Beträge in die Kasse tippe. Gar nicht so schwer, denke ich aber dann. Beim Anblick der Gesamtsumme, die der Bon am Ende auswirft, runzle ich die Stirn. Zeitungen sind ganz schön teuer!

»Ja, das Café gleich nebenan. Sag bloß, das hast du noch nicht gesehen?«

Verwundert überlege ich, dass es bislang meines Wissens kein Café neben der Buchhandlung gegeben hat. Aber ich war immerhin seit zwei Jahren nicht mehr hier, da kann sich natürlich einiges getan haben.

»Das Möwennest gehört Nele Sievers, einer Bremerin, die seit zwei Jahren auf der Insel lebt. Genauso lange gibt es auch das Möwennest schon. Wenn du Lust hast, können wir da abends mal ein Glas Wein trinken. Nele kocht auch ganz gut …«, fährt Leon fort und lässt seine Worte verlockend in der Luft hängen.

»Gern«, antworte ich. »Wenn ich mich ein wenig akklimatisiert habe, wäre das sicher nett.«

»Also, dann bis morgen, viel Spaß noch«, verabschiedet sich der Journalist. Seine Beute unter den Arm geklemmt, steigt er auf ein Fahrrad, das im Ständer vor der Bücherkoje steht.

Es gibt also auch noch Männer, die kein Auto fahren, denke ich, während ich plötzlich ein Bild von Stefan vor Augen habe, wie er vor seinem BMW steht. Wieder versetzt mir der Gedanke an ihn einen Stich, insbesondere, weil ich bereits Melanie und den Kindersitz auf der Rückbank vor mir sehe.

»Alles in Ordnung mit dir?«, höre ich auf einmal meine Tante fragen, die mir liebevoll durchs Haar streicht. »Das wird schon alles wieder, du wirst sehen«, flüstert sie und lächelt mich an. »Du wirst hier aufblühen wie eine Keitumer Rose und bald vergessen, dass du jemals um Stefan getrauert hast«, fügt sie hinzu, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

»Versprochen?«, frage ich ängstlich, wie ein kleines Kind, und muss mir die Tränen verkneifen, die sich schon wieder in meinen Augenwinkeln sammeln.

»VERSPROCHEN!«, antwortet Bea im Brustton der Überzeugung, und irgendwie glaube ich ihr.

 

Die Einarbeitungswoche verfliegt im Nu, und bald habe ich mich fast daran gewöhnt, morgens früh aufzustehen, mit Timo meine Runde zu drehen (vielleicht bringe ich ihn doch nicht zu Vero) und den ganzen Tag in der Buchhandlung zu arbeiten. Das viele Stehen ist anfangs mein größtes Problem, dem ich abends mit heißen Lavendelfußbädern zu Leibe zu rücken versuche. Aber Schwächeleien oder Ähnliches kann ich mir nicht leisten, denn so kurz vor Weihnachten ist die Buchhandlung voll.

Bea, Frau Stade, Lisa und ich haben alle Hände voll zu tun, die Kunden zu beraten und die empfohlenen Bücher anschließend als Geschenk zu verpacken. Ich bin froh, dass es neben den beiden älteren Damen auch noch unsere Aushilfe gibt. Lisa ist eine nette, unkomplizierte, 32-jährige Goldschmiedin, die sich mit dem Nebenjob in der Bücherkoje etwas dazuverdient. Sie ist blond, von zierlicher Statur und beeindruckt mich immer wieder mit ihren selbstentworfenen Ringen und Kettenanhängern. Vielleicht werde ich mir eines Tages das eine oder andere Stück aus ihrer Kollektion gönnen.