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Seit September ist die AfD mit 92 Abgeordneten im Bundestag vertreten und inszeniert einen medienwirksamen Konfrontationskurs zu den etablierten Parteien. Doch was treibt die Partei hinter den Kulissen an – und ist die Fremdenfeindlichkeit eine geteilte Grundposition aller? Niemand kann darüber besser Auskunft geben als Franziska Schreiber, die noch 2017 im Vorstand der Jungen Alternativen, der Jugendorganisation der AfD, saß. In ihrem Buch spricht sie Klartext über Antrieb, Ziele und Schwächen der AfD-Führung um Alexander Gauland sowie deren radikale Hetzer wie Björn Höcke. Die heute 27-Jährige trat 2013 in die AfD ein und machte eine steile Karriere. Innerhalb eines Jahres wird sie die Vorsitzende der Jungen Alternativen in Sachsen. 2017 ist sie im Bundesvorstand angekommen. Gegen den immer stärker und radikaler werdenden Flügel um Björn Höcke bezieht sie an Frauke Petris Seite Stellung. Entsetzt von den Aussagen, die innerhalb der AfD inzwischen üblich und akzeptiert sind, unternimmt sie mit anderen liberalen Mitgliedern im März 2017 einen letzten Versuch zur Kurskorrektur auf dem Bundesparteitag in Köln. Doch der Versuch scheitert. Es wird Zeit für eine Distanzierung. Ihren Parteiaustritt vollzieht sie eine Woche vor der Bundestagswahl 2017 öffentlich. Sie übernimmt die Verantwortung, die Wähler über den Rechtsruck der Partei aufzuklären. In ihrem Buch erzählt sie die ganze Geschichte der AfD und macht unmissverständlich deutlich, warum die Partei und ihre Anführer heute gefährlicher sind als je zuvor.
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Seitenzahl: 276
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FRANZISKA SCHREIBER
Der Berichteiner Aussteigerin
Unter Mitarbeit vonPeter Köpf
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1. eBook-Ausgabe 2018© 2018 Europa Verlag GmbH & Co. KG, MünchenUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,unter Verwendung eines Fotos von © Grey HuttonLektorat: Silwen RandebrockLayout & Satz: Robert Gigler, München
Konvertierung: BookwireePub-ISBN: 978-3-95890-251-0
Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.
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Einleitung
1. Unbehaust im eigenen Land: Das große Versprechen AfD
Im Vollrausch: Jungmitglied in der AfD
Junge Alternative: Grenzenlose Toleranz für grenzwertige Äußerungen
2. Diktatur der Basis: In der AfD wackelt der Schwanz mit dem Hund
Schleichende Radikalisierung: Wie die AfD nach rechts rutschte
Dolchstoß gegen Bernd Lucke: Die AfD schafft ihren Gründer ab
Das Volk: Sucht nach schlechten Nachrichten und Männlichkeit
3. Propaganda als Tat: Wie wir das Bedrohungsgefühl der Menschen stärkten
4. Potemkinsche Dörfer: Das Programm verdeckt die wirklichen Ziele der AfD
Die AfD und die Frauenrechte: Mutti ist am glücklichsten zu Hause
Volkes Stimme: Die geheimen Ziele der AfD
5. Rechte Freunde: AfD, Pegida und die Identitäre Bewegung
Natürliche Verbündete: Die Bewegungspartei und die Rechts-Apo
Außerparlamentarischer Arm: Die Bewegungspartei und die Identitäre Bewegung
6. Das AfD-Geschichtsalphabet: Nationalismus, Revisionismus, Antisemitismus
Mein Sündenfall: Missverständliche Worte zur Holocaustleugnung
Antisemiten in Ämtern: Zion, Zündel, Zyklon B
7. Der Basisflüsterer: Björn Höcke ist nicht allein
Die AfD beerbt die NPD: »Nun sind wir da, wir sind die neue Rechte«
An den Fleischtöpfen: Rechtsextremisten im Bundestag
Die AfD-Allergie: Woran Parteiausschlussverfahren immer wieder scheitern
8. Nach dem Austritt: Nun ist Deutschland wieder schön
Anmerkungen
Mein endgültiges Erwachen kam im Moment der größten Enttäuschung. Binnen weniger Stunden hatten die Delegierten der Frau, an deren Seite ich in den vergangenen Jahren gekämpft hatte, einen Schlag nach dem anderen verpasst. Die politische Karriere von Frauke Petry in der Alternative für Deutschland (AfD) endete auf dem Parteitag in Köln, weil die Mehrheit der Mitglieder an diesem 22. April 2017 ihr nicht mehr folgte. Petry wollte »das Spielfeld und die Regierungsbank nicht dauerhaft den etablierten Parteien und ihren brüllenden Unterstützern da draußen überlassen«. Doch die Delegierten entschieden sich für Fundamentalopposition, ja sie weigerten sich, über Petrys Zukunftsantrag überhaupt abzustimmen. Die Mehrheit legte keinen Wert auf eine demokratische Partei, die realistische Ziele verfolgte und diese gemeinsam mit anderen Parteien umsetzen wollte. Ein Flügel, der der Rechtsaußen, hatte die Partei in der Hand. Das nicht sehen zu wollen wäre Selbstbetrug gewesen. Keine erkannte das so klar wie Frauke Petry, die vorn am Vorstandstisch saß in ihrem roten Kleid, das sich über dem Babybauch spannte. Ihr Kopf und ihre Schultern sanken immer tiefer.
In den Monaten vor dem Parteitag hatte das Parteigezänk die Vorsitzende so sehr zermürbt, dass sie sich zu einer Entscheidungsschlacht entschloss. Entweder die Partei folgte ihr, oder sie werde hinschmeißen. Die Partei folgte ihr nicht. Nachdem die Delegierten sich geweigert hatten, sowohl über den Zukunftsantrag als auch über die Israelanträge (»Israel als strategischen Partner stärken« und »deutsch-israelische Freundschaft stärken«) und ein paar weitere von ihr unterstützte Anliegen überhaupt zu sprechen, war sie so gut wie gestürzt. Statt über die Zukunft der Partei und des Landes zu diskutieren, verbissen sich die verbliebenen Parteisoldaten in belanglose Debatten, etwa der, ob in der Parteikommunikation der Begriff Verfassung noch benutzt werden dürfe, weil wir doch nur ein Grundgesetz hätten. Es war zum Heulen!
Und nun gab Jörg Meuthen dem Parteivolk, wonach es lechzte: »Dieses Land ist unser Land, und es war das Land unserer Eltern und Großeltern, und es ist unsere Bürgerpflicht, es auch noch das Land unserer Kinder und Enkel sein zu lassen.« Nur vereinzelt sehe er noch Deutsche in seiner Stadt, behauptete Meuthen, ein »ungeheures Maß an wie auch immer in unser Land gekommenen Migranten« verwandle das Land. Und dann trat er, den Frauke Petry zwei Jahre zuvor zum zweiten Bundessprecher gemacht hatte, kräftig nach: »Debatten über eine vermeintliche realpolitische und eine vermeintliche fundamentaloppositionelle Ausrichtung helfen uns da kein Jota weiter.« Die Delegierten johlten, pfiffen und klatschten. In diesem Moment begriff auch ich: Das ist nicht mehr meine Partei. Ich werde sie verlassen. Frauke Petry, das Gesicht erstarrt, stand umständlich auf und verschwand hinter dem Vorhang.
Wenig später zupfte mich Sarah Händel, Frauke-Getreue aus dem Vogtland, am Ärmel und flüsterte mir ins Ohr: »Komm mal mit, da will uns jemand sehen.« Gemeinsam mit Julien Wiesemann gingen wir nach unten ins Restaurant, passierten die Bodyguards und betraten einen vor Blicken geschützten Bereich in einer Ecke des Raums. Ich erwartete ein zerbrochenes Sternchen – so durften ihre Nächsten Frauke Petry nennen –, aufgelöst in Tränen und bedrückt, wie ich selbst es war. Aber sie scherzte mit ihrem Mann, Marcus Pretzell, und wirkte sehr zufrieden.
Ich umarmte sie und setzte mich an den Tisch. Wir sollten nicht traurig sein, sagte sie, das Leben gehe weiter. »Dass ich diesen Antrag gestellt habe, war ein letztes Geschenk an die Liberalen in der AfD.« Sie habe gewusst, dass er scheitern werde, aber sie habe uns allen die derzeitigen Mehrheitsverhältnisse zeigen wollen. Und dann sagte sie etwas Überraschendes: »Aber es geht weiter, auch wenn sich die AfD von ihrem Weg entfernt hat.« Uns war sofort klar, dass sie die Gründung einer neuen Partei andeutete. Ich war beruhigt. Ich würde weiter für meine politischen Ziele kämpfen können, dachte ich. Doch alles sollte ganz anders kommen.
Mehr als vier Jahre war ich Mitglied der AfD, meinen Aufnahmeantrag hatte ich im Juni 2013 gestellt, vier Monate nach Gründung der Partei. Ein Jahr später war ich Vorsitzende und Sprecherin der Jungen Alternative (JA) in Sachsen, schließlich Mitglied des Bundesvorstands. In Sachsen gehörte ich bald zum Team um Frauke Petry mit Generalsekretär Uwe Wurlitzer, Carsten Paul Hütter, Uwe Schuffenhauer, Thomas Hartung, Julien Wiesemann, Ronny Steinicke, Sebastian Freund,1 Sarah Händel und Sven Simon. Und so erlebte ich ihre größten und ihre schwächsten Stunden als Politikerin. Als sie auf dem Parteitag in Essen zur Parteivorsitzenden gewählt wurde, war ich bei ihr. Und ich war auch bei ihr, als sie in Köln gedemütigt wurde, wo der nationalistische, rechtsradikale Flügel die AfD endgültig an sich riss.
Wenige Monate später, zehn Tage vor der Bundestagswahl 2017, verließ ich die Partei, indem ich auf Facebook einen Wahlaufruf für die FDP postete und diesen Schritt in mehreren Interviews begründete. Frauke Petry und Marcus Pretzell, der Vorsitzende der AfD in Nordrhein-Westfalen, traten nach den Bundestagswahlen im September 2017 aus, einige Wegbegleiter wie Uwe Wurlitzer, Vorstandsmitglied Ralf Nahlob und die sächsischen Fraktionsmitglieder Kirsten Muster, Andrea Kersten und Gunter Wild folgten. Der stellvertretende Landesvorsitzende von Sachsen, Sven Simon, und der Landesvorsitzende der Jungen Alternative (JA) Sachsen, Julien Wiesemann, legten ihre Ämter nieder. Auch in anderen Bundesländern kam es zu Austritten von Funktions- und Mandatsträgern, die wie ich den Rechtskurs der AfD nicht mehr mittragen wollten.
Ich war lange und nahe genug dabei, um beurteilen zu können, wohin die Partei sich bewegt hat und bewegen wird. Ich werde in diesem Buch begründen, weshalb ich die Empfehlung von Justus Bender, AfD-Berichterstatter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), nicht teile, der in seinem Buch für Gelassenheit plädiert: »Am Beispiel der Grünen lässt sich im historischen Vergleich verstehen, inwieweit sich Parteien über die Jahre zu staatstragenden und pragmatischen Kräften entwickeln können.«2 Das aber übersieht, dass sich die Bundesrepublik in den Jahrzehnten seit Gründung der Grünen, die sich als »Alternative zu den herkömmlichen Parteien« sahen, sehr verändert hat – und ein durchaus grüner Staat geworden ist. Die Ziele der Grünen waren in den Siebzigerund Achtzigerjahren fortschrittlich, der Zukunft zugewandt. Inzwischen sind Umweltschutz, Atomausstieg, Frauenrechte und Entkriminalisierung der Meinungsfreiheit selbstverständlich geworden, sie sind Mainstream. Daraus ist zu lernen, dass ein Staat sich verändert, wenn alternative Kräfte an ihm zerren. Die Bundesrepublik ist vergrünt. Sollte das mit den Themen einer AfD geschehen, dann könnte das Land verblauen – oder verbraunen. Denn die AfD ist rückschrittlich, der Vergangenheit zugewandt, es scheinen nicht die Realos zu obsiegen, sondern die Fundamentalisten, die nationalkonservativen, radikalen Rechtsaußen. Ich war Zeugin und Opfer dieser Entwicklung und werde sie im Folgenden nachzeichnen.
Vorab sei gesagt: Ich schäme mich nicht dafür, im Sommer 2013 einen Antrag auf Mitgliedschaft in der AfD eingereicht zu haben. Damals war nicht abzusehen, welche Richtung die Partei einschlagen würde. Aber dass es die falsche war, hätte ich früher erkennen müssen. Ich habe zu lange gebraucht, die Partei zu verlassen. Ich war zu betriebsblind, wollte es nicht wahrhaben, dass der Wind die Partei gen steuerbord blies.
Das hat auch damit zu tun, dass die AfD sich im Osten anders entwickelte als im Westen. Die Wähler im Osten kippten angesichts der Debatte über den Islam und die Flüchtlinge schneller und radikaler ins Nationale, der Wunsch nach Abschottung war dort bei deutlich mehr Menschen zu spüren als im Westen, wo die Leute seit mehr als 50 Jahren mit den sogenannten Gastarbeitern in Kontakt gekommen waren, sogar mit muslimischen aus der Türkei. Und so musste Petry, das Gesicht des Ostens, mit schnell aufkommenden radikaleren Erwartungen fertigwerden, während Bernd Lucke den liberaleren Mitgliedern im Westen gefallen und sich daher thematisch beschränken musste. Lucke verschlief den Moment, in dem sich die Stimmung in der Basis deutschlandweit verschob. Die Partei lief ihm davon.
Die permanente Rechtsdrift der AfD hatte schon wenige Monate nach der Gründung im Jahr 2013 begonnen, als in Leipzig die Patriotische Plattform (PP) entstand. Hans-Thomas Tillschneider und den Seinen war die »Heterogenität der Anhängerschaft« ebenso zuwider wie das Festhalten von Parteichef Bernd Lucke am Thema Euro. Der Islamwissenschaftler Tillschneider erkannte schon vor dem Zuwachs bei den Flüchtlingszahlen das Wählerpotenzial im Widerstand gegen eine neue Bedrohung: den Islam. Von »Deutschland zuerst« und »Ausländer raus« war damals zwar noch nichts zu hören, aber die Palette der Themen rutschte von nun an von liberal zu national. Das veränderte sehr rasch die ganze Partei. Weil ich das nicht bemerkte, rutschte auch meine Einstellung in den ersten zwei Jahren stetig nach rechts.
Mit dem Wort von der »Heterogenität der Anhängerschaft«, die Klarheit in den Äußerungen der Partei verhindere, hatte Tillschneider schon früh angedeutet, dass er, ginge es nach ihm, die Partei von den »Halben« säubern würde, von denen, die nicht bereit waren, den Karren in die Richtung zu ziehen, in die seinesgleichen ihn lenken wollten. Dabei war und ist in der Partei bis heute die Rede davon, die »ganze Bandbreite« der Stimmen müsse zu Wort kommen. Aber längst verstehen die Wortführer der Rechten darunter eine möglichst weite Ausdehnung des Meinungsspektrums nach rechts, während sie den Liberaleren den Mund verbieten. Wo die Radikalen schon früh in der Mehrheit waren, in Thüringen und Sachsen-Anhalt, wurden ganze Kreisverbände unter Aufsicht des Landesvorstands gestellt, Vorstände entmachtet und Mitglieder diffamiert, die gegen die nationalistischen Rädelsführer aus den Reihen des sogenannten Flügels opponierten.
Die Liberalen in der Partei hätten Tillschneiders Vorstoß entschieden widersprechen müssen, aber das ließ das Dogma nicht zu. Außerdem waren die Rechten im ersten Jahr des Bestehens noch Minderheit. Das änderte sich rasch, nachdem die Tillschneiders der Partei das Gift des Antiislamismus injiziert hatten. Bald schwanden die Berührungsängste mit Rechtsaußen-Organisationen wie der Identitären Bewegung (IB) und den Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida). So war der Weg nicht mehr weit zur Werbung um NPD-Mitglieder, die etwa Jens Maier aus Sachsen mit dem Argument lockte, ihre Partei sei nicht zukunftsfähig, weil ihr »Bemühen um eine gerechte Bewertung der Vergangenheit als Verherrlichung des Dritten Reiches umzuinterpretieren« sei, aber sie seien noch zu gebrauchen: in der AfD, die nun »die neue Rechte« sei und sich klüger anstellen und tarnen werde.
Schon 2015 war klar, dass Bernd Lucke, seit Mai 2014 als Europaabgeordneter weitab vom Parteigeschehen, das Vertrauen der Parteimehrheit verloren hatte – auch weil er dort für das Freihandelsabkommen TTIP gestimmt und sich für Sanktionen gegen Russland ausgesprochen hatte. Als Frauke Petry in Essen den Bundesvorsitz übernahm, sahen wir, sie und ihr Team, uns als Schutzwall gegen die Rechtsaußen in der Partei.
Aber bald waren wir die Gejagten. 2017 in Köln putschten die Rechtsaußen die Mitglieder auf und sich an die Macht. Spätestens seitdem laufen in der AfD nicht nur ein paar Rechtsradikale oder -extremisten mit, sondern die Partei wird inzwischen von undifferenzierten, rassistischen, nationalistischen, revisionistischen, fremdenfeindlichen und antisemitischen Rednern bestimmt. Die an Joseph Goebbels erinnernden Wortverdrehereien eines Björn Höcke, Fraktionsvorsitzender im thüringischen Landtag, sorgen seit dessen Auftritt mit Deutschlandfähnchen bei Günther Jauch für Fremdschämen bei den liberalen Mitgliedern. Beklommen treten sie ihren Familien und Kollegen gegenüber, wenn er über den »lebensbejahenden afrikanischen Ausbreitungstyp« räsoniert oder ein anderer Maulheld, André Poggenburg, während einer Klaumaukveranstaltung in einer »großen Halle bis oben hin gefüllt mit Patriotismus« seine Verbalfäkalien absondert.
Es verstört mich zutiefst, wenn ich heute den wie gleichgeschaltet wirkenden rasenden Beifall der meisten Anwesenden sehe, wenn vorn auf dem Podium von »Kümmelhändlern« und »Kameltreibern« die Rede ist, die zurückzuschicken seien zu ihren »Lehmhütten« und »Vielweibern«. Das alles ist an Niedertracht nicht zu überbieten. Die hoch erregt klatschenden Männer und wenigen Frauen mit ihren roten Händen und Köpfen mögen solche Reden für ein berechtigtes Aufbegehren gegen politische Korrektheit halten, dabei zeugen sie von nichts anderem als einem erschreckenden Mangel an Anstand, einem abstoßenden Ausbund an Zynismus und politischer Pflicht- und Verantwortungsvergessenheit. Ich werde in diesem Buch zeigen, wer den Verbalradikalismus in der AfD salonfähig gemacht hat und welche Bedeutung er für deren Entwicklung hatte.
Ist die AfD noch eine demokratische Partei? Justus Bender schrieb, er halte AfD-Mitglieder »in ihren Absichten nicht für Anti-Demokraten«.3 Das Bundesamt für Verfassungsschutz sah das allerdings anders, Frauke Petry war schon im Herbst 2015 bewusst, dass die Partei in den Fokus des Inlandsgeheimdiensts rückte. Dessen Chef, Hans-Georg Maaßen, wandte sich an sie, schrieb das Magazin Der Spiegel Monate später. Petrys Bestreben, den saarländischen Landesverband wegen Überschneidungen mit dem rechtsextremen Milieu aufzulösen, sei auf Hinweise des obersten Verfassungsschützers zurückzuführen.4 Petry hat dies öffentlich immer bestritten – auf Maaßens Wunsch hin.
Tatsächlich trafen sich die beiden mehrfach, sie sprach in meiner Gegenwart sehr wohlwollend von den Zusammenkünften und von ihm. Die beiden schienen so etwas wie Sympathie füreinander entwickelt zu haben. Viel wichtiger aber: Hans-Georg Maaßen signalisierte Petry, wenn die Partei mit einer Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu rechnen hatte, und er sagte ihr, was sie dagegen tun müsse. Mindestens zweimal ging es dabei darum, dass der Parteivorstand ein Parteiausschlussverfahren gegen den Thüringer Rechtsaußen Björn Höcke einleiten müsse, weil sonst die Beobachtung und eine Nennung im Verfassungsschutzbericht unvermeidbar seien. Es sei nicht entscheidend, so erläuterte es Maaßen, dass es tatsächlich zu einem Ausschluss komme, sondern es gehe darum zu zeigen, dass der Bundesvorstand noch in der Lage sei, auf demokratische Weise Entscheidungen gegen solche Unruhestifter herbeizuführen. Damit wäre bewiesen, dass die demokratischen Kräfte noch in der Mehrheit seien – unabhängig vom weiteren Verlauf. Die Interventionen Maaßens sorgten dafür, dass Frauke Petry 2015 und 2017 die Parteiausschlussverfahren gegen Höcke betrieb – wissend, dass die Schiedsgerichte in der »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen«-Partei generell wenig zu Parteiausschlüssen neigen.
Derart altväterliches, nachsichtiges Verhalten nützt jedoch nichts, großzügiges Wegsehen auch nicht. Dass seit September 2017 Männer und Frauen im Bundestag sitzen, die sich nicht nur der AfD, sondern zugleich rechtsextremistischen Organisationen verbunden fühlen, ist das Ergebnis einer vierjährigen Rechtsdrift, die ich aus nächster Nähe beobachten konnte. Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen im Herbst 2018 rechnet die AfD mit einem zweistelligen Ergebnis. Bei den Wahlen im Osten, in Brandenburg, Thüringen und Sachsen im darauffolgenden Jahr, will die AfD sogar die Ministerpräsidenten stellen. Aber wer würde sich als Partner hergeben?
Ich weiß, dass die CDU in Ostdeutschland kaum Berührungsängste hätte. In Sachsen-Anhalt plädierten 2016 namhafte Vertreter der CDU für eine schwarz-blaue Koalition. Ich arbeitete damals für die Fraktion und hörte von einem Vorgespräch zwischen den Vorständen beider Parteien. André Poggenburg, obwohl Fundamentaloppositioneller, war wegen der Aussicht, Vorsitzender der ersten Fraktion in Regierungsverantwortung zu werden, außerordentlich aufgekratzt. Auch die Abgeordnetendiäten hätten ihn beglückt, hatte er sich doch, wie zahlreiche Medien berichteten, beim Kauf eines Ritterguts übernommen.5 Es bedurfte eindringlicher Telefonate aus der Bundes-CDU, um das zu verhindern. In Thüringen wollte sich CDU-Fraktionschef Mike Mohring im Herbst 2014 mithilfe der AfD-Abgeordneten zum Ministerpräsidenten wählen lassen, jüngst schloss er eine Verbindung »mit der aktuellen AfD« aus und rückte lieber selbst nach rechts, die konservativen Wurzeln der Partei seien »etwas ausgedörrt«.6 In Sachsen verfügte die AfD schon immer über gute Kontakte zu Landtagsabgeordneten der CDU; in deren Kreisverbänden wie auch in solchen der CSU in Bayern drohten zahlreiche Mitglieder wegen der Flüchtlingspolitik mit dem Übertritt zur AfD. In der Facebook-Gruppe »Konservative in der CDU« vernetzten sich Angehörige der Union und der FDP mit solchen der AfD; alle wussten, wer welcher Partei angehörte, und wir kommunizierten ausgesprochen kollegial und freundschaftlich.
Heute ist die AfD keine liberale Partei mehr, als die sie 2013 gegründet wurde, auch keine konservative. Sie ist reaktionär, und ein beträchtlicher Teil der Mitglieder ist extrem nationalistisch. Die AfD ist die Partei der gelebten Fremdenfeindlichkeit. Sie lehnt das »System« ab, und die maßgeblichen Führungsfiguren betreiben den Umsturz. Ich befürchte, dass viele Wähler das bisher nicht ernst nehmen – wie offenbar auch Mitglieder von »Systemparteien« sowie die weiter schrumpfende Minderheit der eigentlich demokratisch gesinnten AfDler.
Sie sind nicht unseretwegen gekommen, aber wir und unser Wahlkampfstand säumen ihren Weg. Eben habe ich einem Mittdreißiger unseren AfD-Flyer in die Hand gedrückt, dessen desinteressierter Vater, vielleicht 70 Jahre alt, ein paar Schritte weiter wartet. Da biegen sie, drei Dutzend Männer, vom Augustusplatz kommend in die Grimmasche Straße ein. Sie sind schwarz gekleidet und mit Schlaghandschuhen und Stöcken bewaffnet. Die Augen hinter ihren Skimasken erfassen uns, schon stürmen sie auf uns zu. Diese Leute gehören nicht zu den friedlichen Demonstranten, die an diesem 19. September 2017 auf dem Augustusplatz gegen den Aufmarsch der NPD in Leipzig protestieren, diese Leute, das ist offensichtlich, sind auf Gewalt aus.
Ein Schwarzvermummter schnappt sich einen Zuckerstreuer vom Tisch des Café Lukas, neben dem wir uns aufgebaut haben, und schleudert das zweckentfremdete Wurfgeschoss in meine Richtung. Ich spüre es an meiner linken Wange vorbeizischen, ich höre, wie es knapp hinter mir an einer der alten Steinsäulen zerschellt, und registriere den Einschlag von Splittern und Zuckerkörnern auf meiner Wange. Ein zweiter Randalierer tritt unseren Stand in Stücke, die anderen jagen den Rentner, der sich verzweifelt umsieht und dabei fast das Gleichgewicht verliert; sie holen ihn ein, umkreisen ihn, brüllen auf ihn ein. Der Sohn spurtet ihnen hinterher und versucht, die Meute zu beruhigen, kann aber den Kreis der schwarzen Männer nicht durchbrechen. Auch ich stoße dazu, hebe beschwichtigend die Hände und höre mich rufen: »Die haben nichts mit uns zu tun! Die gehören nicht zu uns!« Erst später bemerke ich, dass meine linke Hand den kleinen Stoß AfD-Flyer noch immer umklammert.
Die Vermummten verstummen, sie sind offenbar beeindruckt, gehemmt und wissen nicht, was sie nun tun sollen. Vor ihnen stehen ein alter Mann und eine 23-Jährige. Was sollten sie mit denen tun? Aus den Sehschlitzen blicken Augen hektisch von hier nach dort und zurück. Und bevor sie zu einem Entschluss fähig sind, ist die Polizei da und trennt sie von uns.
»Scheiß Zecken!«, fluche ich, während wir die Trümmer unseres Stands einsammeln, den Uwe Schuffenhauer zusammengezimmert hatte, ein selbst entwickeltes Stecksystem, bestehend aus ein paar klug verbundenen Holzteilen, leicht zu montieren und auch ohne Auto von einer einzelnen Person transportierbar. Gegen die Tritte dieser enthemmten Meute hatte das Möbel keine Chance, und es gelang uns nicht, es zu reparieren. Das machte mich noch einmal sehr wütend. Es kam mir so vor, als hätten wir eine Schlacht verloren – und die anderen gewonnen.
Unser Land ist in Gefahr, dachte ich. Die sind noch gefährlicher als die Neonazis. Die werden den Umsturz versuchen! Und weder Politik noch Zivilgesellschaft werden den gewalttätigen, enthemmten Linksextremismus stoppen. Das müssen wir schon selbst in die Hand nehmen, und ich werde nicht feige sein, schwor ich mir. Ich werde diese Leute bekämpfen, die behaupteten, wir, die AfD, seien die Totengräber von Demokratie und Freiheit, während sie unbescholtene Bürger attackieren.
Dieser Gedanke, geboren in einem Moment ohnmächtiger Wut, gab mir ein Gefühl grimmiger Befriedigung und neue Hoffnung. An diesem Tag verwandelte ich mich in eine radikale Anti-Antifa. Las ich Berichte über Gewalt von Rechtsextremisten, stellte ich immer die Frage: Warum wird in Deutschland so viel darüber berichtet, aber so wenig über die Gewalt der Linken? Und so verfestigte sich auch in mir Stück für Stück die Verschwörungstheorie von der »Lügenpresse«, wonach Taten der Linken systematisch verschwiegen würden, weil sie in den Redaktionen ihre Sympathisanten sitzen haben.
Dabei hatte ich einmal grundsätzlich alle Ziele geteilt, die diesen hasserfüllten Extremisten wichtig zu sein schienen: Klimaschutz, gerechter Ausgleich zwischen Armen und Reichen und dergleichen. Als Teenager hielt ich meinen Eltern ihren rücksichtslosen Konsum vor, ihre Saturiertheit, ihre Tatenlosigkeit. Sie beklagten die Verhältnisse, aber sie engagierten sich nicht, zum Beispiel bei den Linken oder wenigstens bei den Grünen, wenn man schon zu viel verdiente, um noch mit den Sozialisten sympathisieren zu können.
Im Projekttheater Dresden hatten wir ein Stück geschrieben über einen, der aus einem anderen Land an die Schule kommt und dort gemobbt wird, sich aber behauptet und Respekt gewinnt. Wir wollten damit für Toleranz werben und wandten uns gegen Ausländerfeindlichkeit. Wir waren fast nur Mädchen, ich war das kräftigste und trug mein Haar am kürzesten, deshalb spielte ich den fetten Klopper mit den Springerstiefeln, ich war der Nazi; von den kleinen Jungs hätte keiner glaubwürdig einen Neonazi verkörpern können. Aber glücklich war ich nicht mit der mir zugeteilten Rolle. Ich, ein Neonazi? Wie sollte ich das bloß zu Hause erklären?
Ich entstamme einer wilden, bunten, verrückten Patchworkfamilie; meine Mutter hat vier leibliche Töchter mit drei Männern. Mich, die Älteste, erzog und versorgte sie bald allein, und ich erfuhr erst als Elfjährige, dass der von einem Balkon gestürzte »Onkel« im Rollstuhl, der zweimal im Jahr vorbeikam und Geschenke brachte, mein leiblicher Vater war. Mit ihrem zweiten Mann, den sie heiratete und den ich als meinen Vater ansah, hatte sie zwei weitere Töchter. Als sie sich trennten, war ich 17. Damals hasste ich sie, weil sie sich so egoistisch verhalten hatte, statt an die Interessen der ganzen Familie zu denken, vor allem die ihrer Kinder. Mit dem nächsten Mann hatte sie eine weitere Tochter, und der vierte, mit dem sie jetzt lebt, brachte zwei Kinder mit in die Ehe.
Sie war und ist eine offene, liberale Frau, eine Bauchlinke, die sich instinktiv dem Sozialismus zugewandt hatte, ohne sich mit theoretischen Grundlagen der Politik zu beschäftigen. Der DDR stand sie moderat kritisch gegenüber, sie beteiligte sich Ende der Achtzigerjahre an den Montagsdemonstrationen und sang dort die Protestgesänge der Kirche mit, obwohl sie nicht christlich war. Gleichwohl glaubte sie zumindest zeitweise an den Kommunismus. Ihre Mutter, meine Oma, die mir bis heute sehr wichtig ist, trat kurz vor der Wende sogar in die SED ein, weil sie glaubte oder hoffte, die Partei auf den dritten Weg lenken zu können. Gregor Gysi war in unserer Familie der große Held.
Meine Helden sind die Frauen aus der Familie meiner Mutter. Die Urgroßmutter war schon emanzipiert, als die meisten deutschen Frauen das Wort noch nicht schreiben konnten. Sie brachte die Kinder als Schaffnerin bei der Reichsbahn durch, weil ihr Mann in den Krieg gezogen und nach der westlichen Kriegsgefangenschaft lieber nicht in die DDR zurückgekehrt war, weshalb sie die Ehe beendete. Meine Großmutter studierte in der DDR, schaffte es ins Management eines Seniorenheims und ließ sich ebenfalls einmal scheiden, bevor sie meinen Opa heiratete. Und meine Mutter, eine selbstbewusste Frau, die nie daran gedacht hätte, sich vom Staat oder einem Mann aushalten zu lassen, studierte Bauingenieurwesen, stets begleitet von einem Baby, das ich war; anschließend machte sie sich selbstständig. Gleichberechtigung? Ich wusste nicht, was die Feministinnen wollten; das war doch eine Diskussion aus dem vergangenen Jahrhundert!
Dass die Mauer fiel, warf niemanden in meiner Familie aus der Bahn. Aber meine Großmutter sagte später: »In der DDR war nicht alles schlecht. Der Grundgedanke war gut, aber es hat Fehlentwicklungen gegeben, die von gierigen Menschen verursacht wurden.« Dass die »Wessis« uns die DDR erklären wollten, empört sie manchmal noch heute.
Fehlentwicklungen gab es auch nach der Wiedervereinigung. Dresden-Prohlis, wo wir wohnten, war zu DDR-Zeiten als Wohnort sehr begehrt. Nach dem Mauerfall verloren viele Menschen dort ihre Arbeit, vor allem Männer flüchteten in den Alkohol. Ich kenne Kinderarmut deshalb nicht aus dem Fernsehen, sondern von Freunden und Freundinnen. Nicht erst in meiner linken Phase empfand ich Mitleid für meine Spielkameraden, die in beträchtlicher Not aufwuchsen. Und so lernte ich dieses »neue« System zunächst als äußerst ungerecht kennen. So weit wie Ronald, der erste Ehemann meiner Mutter und Vater von zwei meiner Schwestern, würde ich aber nicht gehen. Er schockierte mich, als er mir anvertraute, er habe bei den Bundestagswahlen 2005 die marxistische MLPD gewählt. »Das sind die Einzigen, die meine Interessen vertreten«, sagte er. »Ich will die Mauer zurück.«
Ich selbst hatte meine Krise, als meine Eltern ein Grundstück kauften und ein Haus bauten. Ich war elf Jahre alt, als ich meine vertraute Gegend und die alten Spielkameraden verlor. In Borthen, südöstlich von Dresden gelegen, lebten spießige Familien mit verzogenen Einzelkindern. Aber die Mauer wollte ich deshalb nicht zurück. Ich war nach deren Fall geboren und hatte keine Vorstellung davon, wie das Leben in der DDR gewesen war.
Aber mit dem Staat, in den ich hineingeboren war, stimmte etwas nicht. Als ich zum ersten Mal wählen durfte, hatte ich meine linke Jugendphase längst hinter mir. Das kindlich-naive Gebaren der Linken und Grünen – wie ich es damals empfand – stieß mich ab, auch dass jeder Gescheiterte sich zum Opfer der Gesellschaft stilisieren durfte, war mir zuwider. Leistung muss sich lohnen, das war (und ist) meine Überzeugung. Wer täglich ins Büro oder in die Fabrik geht, muss mehr Geld haben als diejenigen, die nicht arbeiten; die Differenz ist heute zu gering. Statt sich zu bemühen, bemühen zu müssen, verlassen sich viele Deutsche auf den fürsorglichen Staat. Da war und ist mir zu wenig Initiative, zu wenig Selbstverantwortung.
Am klarsten vertrat das 2009 die FDP. »Arbeit muss sich wieder lohnen«, plakatierte die Partei mit Guido Westerwelle. »Deutschland kann es besser.« Er versprach ein gerechteres, einfacheres Steuersystem, das die fleißige, normale Bevölkerung entlasten sollte, und versprach: »Wir halten Wort.« Westerwelle erschien mir ehrlich und glaubwürdig, ich mochte ihn und seine Art. Er war jünger und wirkte agiler als die Anführer der anderen Parteien. Mit seinem Guidomobil machte Westerwelle auf Popstar, er wollte ein bisschen Glamour in den langweiligen Politikbetrieb bringen. Die FDP war mutig und modern, ihre Kandidaten nutzten das Internet wie ich selbst, sie lebten in derselben Zeit wie ich, ganz anders als Angela Merkel, die Physikerin, die vier Jahre später noch sagen sollte, das Internet sei »für uns alle Neuland«.
Die FDP war meine Partei. Die wollte ich wählen. Ganz anders meine Schulkameraden, von denen die meisten dem linken Lager angehörten. Schon bald nach Eintritt der von mir bevorzugten Partei in eine Regierungskoalition mit der Union erntete ich von ihnen Spott und Häme. Nichts von den großen Versprechen der Liberalen blieb übrig, stattdessen reduzierten sie die Mehrwertsteuer für Hotels. Die erste Regierung, die ich mitwählte, hat mich verraten. Der Neuanfang, den die FDP versprochen hatte, blieb aus. Stattdessen schaffte diese Koalition die Wehrpflicht ab und beschloss den Ausstieg aus der Atomkraft. Und sie riskierte zur Rettung des Euro das Geld der Steuerzahler.
Mit Beginn meines Jurastudiums in Leipzig, später in Frankfurt/Oder, beschäftigte mich Grundsätzliches: Ich hatte den Eindruck, dass mehr als 20 Jahre nach der Wiedervereinigung noch längst nicht zusammengewachsen war, was laut Willy Brandt zusammengehörte. Das lag daran, sagte ich mir, dass die Deutschen die Wende nicht genutzt hatten, um noch einmal, nun gemeinsam, von vorn zu beginnen. »Wir sind das Volk« hatte ja nicht signalisiert, dass die Ostdeutschen sich dem Westen anschließen wollten, sondern gemeint war: Wir beteiligen uns an einem Neuanfang; manche suchten nach einem dritten Weg in einer reformierten DDR; andere wollten mit dem Westen fusionieren, aber nicht nach dessen Regeln; und ein wachsender Teil beugte sich dem Diktat des Faktischen und rief: »Kommt die D-Mark nicht zu uns, kommen wir zu ihr.«
Aber um wirklich zusammenwachsen zu können, hätte es der Antworten auf nie gestellte Fragen bedurft. Wohin wollen wir? Gemeinsam? Und wenn ja, wie? Hilfreich wäre eine Debatte und Einigung über die Frage gewesen, was das neue Deutschland ausmachen sollte. Wie die Deutschen in Ost und West tatsächlich zusammenwachsen sollten. Zu was? Ich hätte mir eine Abstimmung über das Grundgesetz gewünscht, schon allein, um ein gemeinsames Gefühl für Recht und Ordnung zu schaffen und uns jetzt als eine Einheit zu definieren, statt lediglich auf einen Wirtschaftsboom und blühende Landschaften zu hoffen. Gleichzeitig wäre ein Blick nach außen nötig gewesen: Wofür stehen wir eigentlich? Was ist Deutschlands Rolle in der Welt, gerade wegen der historischen Verantwortung?
Statt gemeinsam etwas Neues zu beginnen, setzten die Westdeutschen voraus, dass die Brüder und Schwestern von drüben sich wider- und anspruchslos andockten. Niemand fragte die Ostdeutschen: Was wollt ihr eigentlich? Die Vereinigung ist über sie gekommen. Dabei hätte eine große Volksbefragung nicht nur Legitimation erzeugen, sondern einen Mythos bilden können, sie hätte die Geburtsstunde eines gemeinsamen, von der Mehrheit gewollten Staats sein können. Zwei Fragen wären nötig gewesen: Wollen wir uns vereinigen? Und wollen wir das bestehende Grundgesetz als gemeinsames akzeptieren?
Nach dem Mauerfall hätte eine offene Debatte über den Beitritt und die Übernahme des Grundgesetzes den Ostdeutschen signalisiert: Ihr dürft im neuen, gemeinsamen Staat mitreden. Das wäre fair gewesen, schließlich ging es auch um deren Zukunft. Aber im Westen gab es kein Problembewusstsein für die Lebensläufe der Menschen, dass sie ganz anders ausgebildet waren, im Sinne einer gänzlich gegensätzlichen Ideologie, dass sie neu beginnen mussten, wieder lernen, als hätten sie in ihrem bisherigen Leben nichts geleistet. Und so geriet die Wiedervereinigung zu einer Sturzgeburt.
Hätten sich die Westdeutschen damals die Mühe gemacht, die ostdeutschen Schwestern und Brüder verstehen zu wollen, dann hätten sie bemerkt, dass die meisten anders dachten als sie selbst. Wenn sie sich – spät genug – heute dieser Mühe unterzögen, statt die nun widerständischen Ostdeutschen nur abzuqualifizieren, dann könnten sie vielleicht verstehen, woher deren Trotz und Wut rühren.
Was die Ostdeutschen vom Kapitalismus wussten, war: Der Kapitalismus macht die Reichen immer reicher, während die Armen verelenden. Im Kapitalismus ist der Mensch nur ein Zahnrädchen in der Maschine. In der globalisierten Welt hat der Staat die Kontrolle über die Wirtschaft verloren, insbesondere internationalen Unternehmen gegenüber. Nicht nur unter Rechten gibt es deshalb den Wunsch nach Protektionismus und Entglobalisierung.
In der DDR durften sich alle »Werktätigen« für unersetzlich halten, in einer nach Marktgesetzen funktionierenden Globalisierung würden die Menschen austauschbar – das war in Zusammenhängen denkenden und sozialistisch geschulten Menschen klar. Sie würden austauschbar gegen Konkurrenten aus Osteuropa, die bereit waren, für weniger Geld zu arbeiten. Deren Familien in Polen, Rumänien oder Bulgarien könnten, das war offensichtlich, mit geringeren Budgets auskommen, weil die Lebenshaltungskosten dort niedriger waren, während sie sich in Ostdeutschland schnell dem westlichen Niveau anpassen würden. Deshalb hatten die Menschen, als der Kapitalismus in ihr Leben trat, große Bedenken. Und diese sollten sich in vielen Fällen als begründet erweisen.
Tatsächlich mussten sie zusehen, wie die Besitzenden immer mehr anhäuften und die Armen nicht mithalten konnten. Sie sahen, dass unsolidarische Staaten internationale Unternehmen mit Dumpingsteuern veranlassten, ihre Gewinne ins Land zu verlagern; dass Banken, die mit Steuergeldern gerettet wurden, mit den bekannten Geschäftsmodellen erneut Gewinne einstrichen und behalten durften; dass die einfachen Menschen die Zeche für rauschende Feste der Vergangenheit mit Arbeitslosigkeit und sinkenden Reallöhnen bezahlten. Sie glaubten, dass Politiker, wirtschaftlich der Büttel der längst unkontrollierbaren Großkonzerne, nicht mehr in der Lage seien zu gestalten. Unterm Strich: Die Volksvertreter hätten die Lage nicht mehr im Griff. Und zu alledem kämen nun Hunderttausende Syrer, Iraker, Afghanen, Pakistani, Menschen aus einer anderen Kultur, mit anderer Religion, die ihnen – so fürchten die Verunsicherten – Arbeitsplatz, Wohnung und Sozialmittel streitig machten.
Der totalitäre Staat war ein Unterdrücker, aber er war auch einer, der sich um seine Anhänger kümmerte. Die Behörden fragten nach dem Verbleib eines Kinds, das in der Schule fehlte, sie suchten es und halfen ihm, bis es wieder an seinem Platz saß. Drogen und Gewalt an Schulen? Das gab es nicht, und wenn, dann hätten die staatlichen Organe durchgegriffen; und die Eltern hätten die Suche nach einer Lösung unterstützt, statt sich, wie heute, schützend vor ihrem verzogenen Nachwuchs aufzubauen. Im Ärztehaus waren alle Fachbereiche an einem Platz, nun musste man stundenlang von Doktor zu Doktor fahren. Der totalitäre Staat hatte jedem seinen Arbeitsplatz gegeben, und nun hieß es: Such dir deinen Job allein, hilf dir selbst. Verschwunden war der sorgende Staat, der den Alltag geregelt hatte; er kontrollierte nicht mehr, aber er interessierte sich auch nicht mehr für die Einzelnen. Da war plötzlich viel Furcht vor der Freiheit, die man doch herbeigesehnt hatte. Und so kam es, dass die Menschen, obwohl sie so frei waren wie nie zuvor, im Grunde große Machtlosigkeit empfanden.