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Der große Gefängnis-Report Wie lebt es sich im Knast und wie überlebt man ihn. Hohe Betonmauern, massive Stahltüren, kleine enge Zellen. Dieses Bild hat man vor Augen, wenn man an Gefängnisse denkt. Aber wie sieht die Realität der fast 67 000 Inhaftierten wirklich aus? Wie lebt es sich auf acht Quadratmeter ohne Küche, Bad, Internet und Handy? Wie viel Gewalt herrscht unter den Häftlingen? Wer hat das sagen, wie kauft man im Knast ein, was kostet eine Rolle Toilettenpapier? Burkhard Benecken, Deutschlands bekanntester Strafverteidiger, kennt so gut wie jede deutsche Haftanstalt von innen. In Inside Knast lässt er seine inhaftierten Mandanten zu Wort kommen: von der jungen Frau, die im Frauentrakt schwanger wird, über den Mehrfachmörder, der durch die Kontaktbörse Jailmail erfolgreich Frauen kennenlernt, bis hin zu dem Wärter, der im Gefängnis selbst kriminell wird. Dieser ungeschönte Insiderreport gewährt uns einen exklusiven Einblick in das System Knast und lässt uns hautnah am deutschen Gefängnisalltag teilhaben. Erhellend. Schockierend. Bewegend.
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Seitenzahl: 299
BURKHARD BENECKEN
BURKHARD BENECKEN
LEBEN HINTER GITTERN – DER KNALLHARTE ALLTAG IN DEUTSCHEN GEFÄNGNISSEN
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Originalausgabe
1. Auflage 2021
© 2021 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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80799 München
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Redaktion: Sabine Franke
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer
Umschlagabbildung: C_FOR/istockphoto.com
Satz: Carsten Klein, Torgau
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN Print 978-3-7423-1668-4
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1360-4
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1361-1
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Für Salam, Eva & Eva, Veronika, Ulfeta, Irene und Nijo
Alle für dieses Buch interviewten Protagonisten sind Mandanten meiner Kanzlei Benecken & Reinhardt im Ruhrgebiet. Sämtliche geschilderten Fälle sind wahr. Soweit erforderlich, habe ich die Namen zum Schutz meiner Mandanten geändert. Die Betroffenen haben mich für dieses Buchprojekt von meiner anwaltlichen Verschwiegenheitsverpflichtung entbunden. Hierfür möchte ich ihnen danken.
Bei der Erstellung des Manuskripts haben mich tatkräftig insbesondere meine Assistentin Janine sowie Axel Spilcker, der die externe Recherche übernommen hat, unterstützt. Mein ganz besonderer Dank gilt zudem Margret, Monika, Steffen, Iolanda und Ananda.
Vorwort
Rein in den Knast
Kapitel 1
Kontakte
Kapitel 2
Gefangen im Knasttrott
Kapitel 3
Im Frauenknast
Kapitel 4
Der Jugendknast
Kapitel 5
Arbeiten im Knast
Kapitel 6
Ausbrechen
Kapitel 7
Partnerschaft hinter Gittern
Kapitel 8
Unter Druck
Kapitel 9
Hierarchien
Kapitel 10
Andere Länder, andere Sitten
Nachwort
Raus aus dem Knast
Anhang
Tagesablauf
Das Essen
Einkaufsliste
Antrag auf Taschengeld und Taschengeldvorschuss
Begleitumschlag für abgehende Briefe
Glossar
Der Herbsttag beginnt mit einer Haftsache. Ich bin unterwegs, um einen Mandanten im Gefängnis zu besuchen. Dieses Mal geht es zu Christian nach Hamburg-Fuhlsbüttel. Jenem Mann, den sie den »Internetkiller« nennen. Ein weitläufiger, klotziger Bau ragt vor mir auf. Im Volksmund hat der skandalträchtige Knast seinen Namen längst weg. »Santa Fu« heißt er bei den Einheimischen, so als handelte es sich um einen Wildwest-Amüsierschuppen. Das Gegenteil ist der Fall. Hier sitzen vor allem die Schwerkaliber aus dem Verbrechermilieu ein.
Ein Summer öffnet gleich mehrfach Türen, dann erst schwingt die Gefängnispforte auf, öffnet und schließt sich hinter dem Besucher wieder. Beinahe mechanisch steckt der Vollzugsbeamte seine Schlüssel in die Türschlösser. Stetig dringt der Wärter weiter vor und lotst mich in eine Welt, die eine beklemmende Düsternis ausstrahlt: trister Linoleumboden, Stahltüren, Gitter, miese Aussicht, Kantinenfraß, Gewalt, Drogen, der Kampf ums Überleben – geistig wie physisch. Santa Fu steht für die vorläufige Endstation von 800 Häftlingen. Ein Schicksal, das sie mit den gut 67 000 Insassen in den Gefängnissen der Republik teilen.
Willkommen im deutschen Knastland, willkommen in einem ganz eigenen Orbit, in dem andere Gesetze herrschen und eine andere Sprache gesprochen wird als da draußen in der wohlbehüteten bürgerlichen Gesellschaft – wo kaum einer weiß, was es heißt, »Qualm«, nämlich ein hartes Urteil, zu bekommen, oder dass die Glaskanzel, in der die JVA-Bediensteten sitzen, »Aquarium« genannt wird, und der Anstaltskaffee »Spüli« heißt.
Lange Zeit habe ich mir über die Verhältnisse hinter Gittern Gedanken gemacht. Wer wüsste besser darüber Bescheid als ein Strafverteidiger? Ich habe sie alle vertreten, die Mörder, Totschläger, Vergewaltiger, Kinderschänder, Clan-Größen, Menschenhändler, Prostituierten, Betrüger bis hin zu Drogendealern. Ich habe sie alle, während sie zwischen Stuttgart-Stammheim, Butzbach, Castrop-Rauxel und Berlin-Moabit hinter Gittern saßen, in den deutschen Haftanstalten besucht.
Dieses Buch habe ich geschrieben, weil viele ihre Vorstellungen vom bundesdeutschen Knastleben offenbar aus Hollywood-Filmen beziehen und statt echten Kenntnissen vor allem Klischees vorherrschen. Was wirklich täglich hinter Gittern geschieht, scheint vielen Leuten unbekannt zu sein. Eine fremde Welt, ein abgeschottetes Universum.
Die Gefängnismauern halten viele Blicke fern. Problemlagen bleiben schlicht hinter den Gittern verborgen, da die Justiz nur wenig davon preisgibt – es sei denn, ein Skandal offenbarte die Schwachstellen, wie etwa bei dem Foltermord im Jugendknast in Siegburg, als drei Häftlinge ihren Zellengenossen 2006 stundenlang zu Tode marterten. Die Nachforschungen förderten ein erhebliches Versagen der Anstaltsleitung zutage. Auch stellte sich heraus, dass die JVA Siegburg, ein Bau aus dem 19. Jahrhundert, nicht für die besonderen Lebenslagen jugendlicher Gefangener taugte. In Wuppertal-Ronsdorf ist inzwischen eine neue Jugendhaftanstalt entstanden, die von 2011 an die Gefangenen aus Siegburg übernahm.
Nur selten erfährt die Öffentlichkeit, was sich tatsächlich in den Zellentrakten abspielt. Berichtet wird meist über spektakuläre Geiselnahmen, Meutereien, Razzien, Verfehlungen durch Wärter und Wärterinnen oder aber Selbstmorde. Vom alltäglichen Leben in der Justizvollzugsanstalt (JVA) zwischen dem Weckruf um sechs Uhr morgens und dem Einschluss nach dem Abendessen bekommt kaum ein Außenstehender Details mit – und in den meisten Fällen endet das Interesse der Öffentlichkeit auch nach der Verurteilung des Straffälligen an den Gefängnistoren.
In diesem Buch erzählen Mandanten, mit denen ich tagtäglich zu tun habe, von ihrem Alltag im Knast: Wie gehen die Inhaftierten damit um, täglich nur eine Stunde Freigang zu haben? Und wie vertreiben sie sich den restlichen Tag über die Zeit? Warum spielen Drogen, Gewalt und die stete Angst zu überleben, so eine große Rolle? Was ist, wenn man krank wird? Wie sehen die hygienischen Verhältnisse aus? Wie kommt man mit HIV-Infizierten aus? Gibt es im Knast tatsächlich Ratten? Wie funktioniert das Einkaufssystem für die Knackis und wie kommt man zu neuem Toilettenpapier? Wer darf zu Besuch kommen und wann ist Besuch erlaubt? Was hat es mit den sogenannten »Liebeszellen« auf sich? Welche Sicherheitsvorschriften bestehen für Fernseher? Und wie gehen Anwälte vor, wenn sie mit ihren Mandanten den anstehenden Prozess besprechen wollen?
Die meisten Klienten – und so auch den sogenannten »Internetkiller«, zu dem ich heute unterwegs bin – habe ich erst hinter Gittern kennengelernt. In einer ganz besonderen Ausnahmesituation. Oft wie aus dem Nichts der Freiheit beraubt, sitzen viele von ihnen zum ersten Mal in Untersuchungshaft. Noch ist kein Urteil ergangen, noch besteht die Unschuldsvermutung, allerdings hat ein dringender Tatverdacht nebst Haftgründen wie Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr die Delinquenten ins Untersuchungsgefängnis geführt.
Die Unterschiede der Untersuchungshaft zur späteren Strafhaft fallen marginal aus: Zunächst darf man während der U-Haft seine Alltagskleidung tragen und das Limit für Einkäufe liegt bei 210 Euro anstatt wie später in der Strafhaft bei 40 Euro pro Monat. Zudem gibt es Unterschiede bei den Besuchsregelungen, insbesondere der Anzahl und Dauer. Ansonsten gleicht sich der Horror der Gefangenschaft. Rausgerissen aus ihrem normalen Leben, agieren manche Untersuchungshäftlinge panisch, beinahe orientierungslos: »Es ist, als würdest du von einem sicheren Felsen plötzlich abgleiten und in 30 Meter Tiefe stürzen, hinein ins Ungewisse, und nichts anderes nimmst du mit als die Furcht vor der Zukunft.« So hat es einer meiner Mandanten einmal beschrieben.
Der Satz geht mir nicht aus dem Kopf. Er sagt alles aus, auch wenn er wahrlich nicht für alle Häftlinge gelten kann. Dafür ist die Melange, aus der die Haftgemeinde besteht, zu vielschichtig. Hartgesottene Gewalttäter, die auf eine lange Verbrecherkarriere zurückblicken, lassen sich nach der erneuten Inhaftnahme nicht mehr durch die trübe Gefängnisatmosphäre beeindrucken. Die wissen, was auf sie zukommt. Für die Knastneulinge aber ist man als Verteidiger der Vertraute, der Libero, der letzte Rettungsanker vor dem Schiffbruch. Nur mit mir darf der Delinquent unbeobachtet über den Fall reden, über das Tatgeschehen und seine Sicht der Dinge. Er kann sich mir anvertrauen und alle Eventualitäten mit mir durchgehen, ohne eine Überwachung fürchten zu müssen. Der Mandant weiß, dass ich der Schweigepflicht unterliege, zugleich wird ihm klar, dass es nur einen gibt, der ihm helfen kann: sein Verteidiger. Andere Besucher werden bei den Treffen mit dem Beschuldigten durch Vollzugsbeamte überwacht. Gespräche über die Ermittlungen, die Tatvorwürfe sind dann tabu.
Bei meinen Mandanten lassen sich immer wieder zwei Extremtypen ausmachen: Da ist derjenige, der mit der Haftsituation überhaupt nicht umgehen kann. Unter Tränen klagt er dann: »Ich komme hier nicht klar, ich bringe mich um, ich halte das hier keine zehn Tage aus.« Vor allem bei Drogensüchtigen stellen sich bald Entzugserscheinungen ein. Wahnvorstellungen brechen sich Bahn. In einem Fall glaubte einer meiner Schützlinge, man wollte ihn in der Viermannzelle vergiften. Es dauerte einige Zeit, ihm diese fixe Idee auszureden. Weitaus seltener tritt mir jedoch das totale Gegenstück entgegen: Cool, abgeklärt geht der Mandant mit seiner schwierigen Lage um, manche genießen sogar den Ausnahmezustand, eingesperrt zu sein. Ein Saunaclubbetreiber erzählte mir glatt: »Herr Anwalt, die bisherigen 14 Tage in U-Haft sind meine schönste Zeit seit Langem gewesen. Ich kann hier täglich in der Muckibude trainieren, ich lese viel, bin echt tiefenentspannt. Die vergangenen zehn Jahre habe ich mich nur um meine drei Clubs gekümmert, da war kein Platz für andere Dinge. Und nun komme ich auch einmal zu mir selbst.« So kann man es auch sehen. Allerdings sind solche Klienten eher rar gesät.
Psychologisches Geschick spielt bei den ersten Zusammenkünften mit meinem inhaftierten Mandanten eine weitaus wichtigere Rolle als den Fall detailliert zu besprechen. Ich bin dann so eine Art Mutmacher. Einer, der seinem Gegenüber nicht die ganze Zeit Vorwürfe macht, der ihn nicht stundenlang mit grimmiger Miene verhört oder wie so mancher Staatsanwalt nebst Kripobeamten eine Drohkulisse aufbaut. Vielmehr geht es darum, eine Perspektive aufzuzeigen, eine Art Hoffnungsschimmer – und wäre der noch so klein. Ein lockeres Gespräch hilft mitunter weit mehr als enervierendes Durchkauen der Fakten. Natürlich will der Klient die Kardinalfrage beantwortet wissen: »Was kommt als Strafe heraus? Muss ich dauerhaft ins Gefängnis?« Er will wissen, welche Chancen er im Prozess hat und ob eventuell eine Möglichkeit besteht, ihn gegen Kaution kurzfristig rauszuholen. Da heißt es, den Druck aus dem Kessel zu nehmen – und zwar ohne Schönfärberei der Lage. Hat der Tatverdächtige bereits bei der Vernehmung ausgepackt, bevor er mich angeheuert hat, ist es meist viel schwieriger als umgekehrt. »Schweigen ist Gold« – nirgends gewinnt dieses alte Sprichwort so viel Bedeutung wie im Strafverfahren.
Abseits dessen gilt es den Inhaftierten zu beruhigen, ohne ihm falsche Versprechungen zu machen: »Warten wir mal ab, was in der Ermittlungsakte steht«, heißt es, »und dann sehen wir weiter.« Zugleich managt der Verteidiger die Kontakte des Untersuchungshäftlings nach draußen zu seinen Angehörigen, der Lebenspartnerin oder dem Lebenspartner.
Zu guter Letzt kläre ich die Mandanten auf, welche Gefahren hinter den Gefängnismauern lauern. »Passen Sie auf, dass Sie gegenüber Zellengenossen nicht über ihre Tat plaudern, denn viele Knackis versuchen gerade die neuen Gefangenen auszuhorchen, um sich bei der Anstaltsleitung oder den Strafverfolgern lieb Kind zu machen.« Paragraf 31 des Betäubungsmittelgesetzes sieht insbesondere bei Drogendelikten für sogenannte »Zinker« aus dem Knast mildernde Umstände vor, sollten sie helfen, ein anderes Verbrechen aufzuklären. Die Knackis sprechen hier vom »Judasparagraphen« – Verrat geht erfahrenen Verbrechern oft völlig gegen den Strich. Ich habe nicht selten erlebt, dass die Staatsanwaltschaft Leute gezielt auf schweigsame Häftlinge ansetzt, um sie zu überführen. Und noch ein Trick ist unter Ermittlern üblich: In den geschlossenen Justizvollzugsanstalten dürfen die Insassen keine Handys besitzen. In einem bekannten Fall haben die Ankläger gezielt Mobiltelefone zu Beschuldigten reinschmuggeln lassen. Blauäugig wie sie waren, redeten sich die Zielpersonen aus der Zelle heraus um Kopf und Kragen, indem sie freimütig telefonisch über die Taten konferierten.
In knapp 180 Justizvollzugsanstalten sind hierzulande Kriminelle jeglicher Couleur inhaftiert. Jedes dritte Gefängnis steht in Bayern und Nordrhein-Westfalen. München-Stadelheim (1500 Plätze) und Köln-Ossendorf (gut 1100 Plätze) rangieren oben auf der Skala der größten Knäste. Mit mehr als 1600 Insassen nimmt die offene Vollzugsanstalt Bielefeld-Senne den bundesweiten Spitzenplatz ein. Die Kosten pro Häftling betragen monatlich im Schnitt knapp 4000 Euro – ein teures Unterfangen. Allein das bevölkerungsreichste Bundesland zwischen Rhein und Weser gab 2017 gut 840 Millionen Euro für den Strafvollzug aus.
Das Gefangenenportfolio ist so gemischt wie die Schwere der Delikte: Angefangen beim notorischen Schwarzfahrer, der eine Ersatzfreiheitstrafe verbüßt, weil er die Geldstrafe nicht zahlen kann, über den Betrüger, den Serienmörder, den islamistischen Terroristen bis hin zu Rocker- und Clan-Bossen oder Anführern der Mafia-Syndikate wie der russischen »Diebe im Gesetz«, die in vielen deutschen Knästen das Sagen haben, findet sich in den Haftanstalten alles versammelt. Neben dem Superhirn verbüßt der Einfaltspinsel seine Strafe. Da ist der Obdachlose, der im Winter das kalte Straßenpflaster gegen eine warme Zelle eintauscht, oder die Masse von Junkies, die wegen Diebereien und Einbrüchen immer wieder aufs Neue in der JVA landen. Schwindler, Vergewaltiger und Clan-Mitglieder sitzen mit hochrangigen Wirtschaftskriminellen, Bankern und Funktionären ein.
Fünf Prozent der Knackis machen Frauen aus. Wie die Männer müssen auch sie sich in dieser schwierigen Situation behaupten. Sie müssen sich hinter den Gefängnismauern oft gegen ihre eigenen Zellengenossinnen zur Wehr setzen, wie gegebenenfalls auch gegen übergriffige Wärter, Lehrer oder Ausbilder. Manche Straftäterinnen sind schwanger, wenn sie in Haft kommen, sie gebären ihr Kind gefesselt im Kreißsaal. Wenn die inhaftierten Frauen Glück haben, ergattern sie mit ihrem Baby in speziellen Mutter-Kind-Trakten einen der wenigen begehrten Plätze. Andernfalls müssen sie ihr Kind zu Verwandten oder Pflegeeltern geben.
In den Justizvollzugsanstalten entwickeln sich Parallelwelten. So manches Klischee über den Knast scheint zuzutreffen – und zugleich dann doch wieder nicht. So unterschiedlich die Menschen draußen ticken, so verschieden denken und leben auch die JVA-Insassen. Christen, Muslime, Juden und Atheisten sitzen im selben Zellentrakt. Russen, Türken, Syrer, Nordafrikaner bilden eigene Cliquen, die gemeinsam agieren – nur die Deutschen schaffen es meist nicht, Gemeinschaften zu bilden.
Dieser Report schildert den Gefängnisalltag in seinen ganz unterschiedlichen Facetten und liefert einen tiefen Einblick in das Seelenleben Gefangener in verschiedenen Situationen. Es wird erzählt, wer hinter Gittern das Sagen hat und wer im Knast-Ranking ganz unten landet. Dabei geht es auch um die Fragen, warum immer wieder Häftlinge den Freitod wählen und warum die Resozialisierung nur teilweise funktioniert. An ausgewählten persönlichen Biografien werden die allgemeinen Probleme und Schwachstellen in den deutschen Haftanstalten kritisch beleuchtet.
Yusuf aus Gelsenkirchen wollte als 16-jähriger Fanatiker im Namen der Terrormiliz »Islamischer Staat« einen Tempel der Glaubensgemeinschaft der Sikh in Essen in die Luft jagen. An seinem Fall zeigt sich unter anderem, dass politische Extremisten – hier radikal-islamische Terroristen – Mithäftlinge auch im Knast noch in ihren Ideen, wie dem Dschihad gegen die Ungläubigen, bestärken, oder aber sie erstmals dafür zu begeistern versuchen. Längst sieht Yussuf sich durch die Teilnahme an einem Aussteigerprogramm sowie den starken Beistand seiner Familie geläutert, hat sich abgewandt von der islamistischen Doktrin. Sein größter Wunsch: Yusuf will sich als Musikproduzent versuchen.
Sunny, die Prostituierte, die vom großen Geld träumte und einen Millionendeal plante, der sie beinahe wieder hinter Gittern gebracht hätte, kann viel erzählen über das Gefängnisdasein einer schwangeren Frau, die dem harten Knastleben trotzt. In drastischer Weise schildert die junge Türkin zudem verbotene Liebesbeziehungen hinter Gittern – mit oder ohne Aufseher.
Für Ausbrecherkönig Michael Heckhoff gilt die höchste Sicherheitsstufe, nachdem ihm im Herbst 2009 zusammen mit seinem Kumpel Peter Paul Michalski mit Hilfe eines Wärters die spektakuläre Flucht aus dem Hochsicherheitstrakt der JVA Aachen gelang. Bewaffnet mit Dienstpistolen der Strafanstalt hielten die Schwerverbrecher vier Tage lang die Republik in Atem, kidnappten auf ihrer Flucht fünf Geiseln, ehe sie dann doch der Polizei ins Netz gingen. Das Landgericht Aachen verurteilte die beiden mehrfach vorbestraften Straftäter zu hohen Haftstrafen und anschließender Sicherungsverwahrung. Heckhoff, heute 61 Jahre alt, beschreibt sein Schicksal, seine Fehler und die Probleme im geschlossenen Vollzug. Dabei offenbart er die Gemütsverfassung eines Gefangenen, der womöglich im Knast sterben wird.
Und da ist der eingangs erwähnte »Internetkiller« aus Hamburg, der aus dem Gefängnis heraus neue Liebschaften anbahnt. Sein Fall wirft Licht auf die Frage, warum so viele Frauen auf hochgradige Gewaltverbrecher stehen. Er berichtet über seine Ausgänge und gewährt Einblicke in seinen Aufenthalt in der sozialtherapeutischen Abteilung der JVA, in der er einsitzt.
Mehmet, ein ehemaliger Vollzugsbeamter, legt offen, warum er für einen Gefangenen ein Handy einschmuggelte. Der Ex-Wärter kritisiert ferner die desaströse Personalsituation in den Gefängnissen. Er allein musste 50 Häftlinge unter Kontrolle halten. »Bei dem Job schwingt stets auch ein Stück Furcht mit«, lautet sein Fazit.
Mehmets Erlebnisse belegen eine offenkundige Misere, die in den zuständigen Bundesländern bisher auf taube Ohren stößt: Der Strafvollzug in Deutschland steht am Limit. Es fehlen gut 2000 Vollzugsbeamte. Die Bezahlung ist nicht gerade üppig und die Aufstiegsmöglichkeiten für Vollzugsbeamte sind überschaubar. Angriffe auf das Aufsichtspersonal steigen seit Jahren massiv an. Allein in Nordrhein-Westfalen ereigneten sich 2018 mehr als 600 Fälle von Gewalt, Bedrohung und Beleidigung. »Die Hemmschwelle für Gewalt ist dramatisch gesunken. Insbesondere ausländische Straftäter attackieren das Personal in einem noch nie dagewesenen Ausmaß«, konstatiert René Selle, Vizechef des Bundes der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands (BSBD).
Auch sind die Haftanstalten überfüllt. So fehlen in Baden-Württemberg 1000 Haftplätze, die Abschiebehaftanstalten quellen genauso über wie die normalen JVAs. Die Enge, die stetige Langeweile im Strafvollzug, der Mix kultureller Backgrounds, die Perspektivlosigkeit, das Misstrauen nebst dem Knastcodex sorgen häufig für Ärger und Gewalt.
In letzter Zeit hat die Flüchtlingskrise 2015 und 2016 zu einem weiteren Anstieg der Gefangenenzahlen geführt. In Nordrhein-Westfalen, mit rund 16 000 Insassen das Bundesland mit den meisten Häftlingen, stieg der Anteil ausländischer Inhaftierter von 29 Prozent im Jahr 2013 auf 36 Prozent (2018) an. In Baden-Württemberg schnellte die Rate im selben Zeitraum von 35 Prozent auf 48 Prozent, also um etwa 800 Personen, empor. Die Zustände werden in absehbarer Zeit jedenfalls nicht einfach von alleine besser werden, und schon gar nicht dadurch, dass man weiterhin die Ohren gegenüber den Schwachstellen des Systems verschließt.
Durchgreifende Reformen sind dringend nötig, um die Justiz und den Strafvollzug in die Moderne des 21. Jahrhunderts zu überführen. Ich denke etwa auch an das Lotteriespiel, das psychiatrische Gutachter oft aufführen, wenn sie über die vorzeitige Entlassung von Schwerkriminellen entscheiden müssen. Mitunter reichen der oder dem Sachverständigen kurze Besuche bei dem Delinquenten, um den Daumen zu senken oder zu heben. Diese Art von Exploration erinnert an ein automatisiertes Laufband, das nach dem Aschenputtel-Prinzip die Guten ins Töpfchen und die Schlechten ins Kröpfchen verfrachtet und bei dem mehr das Wohlverhalten und der Mitmachwille des Gefangenen den Ausschlag gibt als eine fundierte Risikoanalyse. Ein Mandant hat mir einmal gesagt: »Wenn du dich im Knast gegenüber den Therapeuten einsichtig zeigst und Ja und Amen sagst, bekommst du Vorteile. Wenn du dieses falsche Spiel gegenüber dem Gutachter fortsetzt, kommst du vorzeitig in Freiheit. Wenn du dein wahres Gesicht zeigst, sitzt du deine Strafe bis zum letzten Tag ab.« Viele Justizbehörden arbeiten aber auch mit den immer gleichen Hausgutachtern zusammen, deren Urteil dann gegebenenfalls willkürlich nach Wunsch der Justiz ausfällt. Besonders auffällig ist dieses Phänomen im Rahmen der Prüfung der vorzeitigen Entlassung aus dem Maßregelvollzug: Hier geht der Gutachter-Daumen permanent nach unten, zur großen Freude der Anstalt und der Gutachter selbst – kostet doch ein Platz in einer psychiatrischen Klinik rund 300 Euro pro Tag, und der Gutachter bekommt bei der nächsten Prüfung der vorzeitigen Entlassung einen weiteren, oft mehrere Tausend Euro teuren Auftrag. Da würden Sachverständige sich ja ins eigene Fleisch schneiden, wenn sie zu einem günstigen Ergebnis für den Inhaftieren kämen – und die Anstalten freuen sich über weitere knapp 10 000 Euro monatlich für jeden nicht vorzeitig entlassenem Insassen aus der Schatulle des Steuerzahlers.
Vieles liegt beim Strafvollzug im Argen. Das fängt bei einer besseren personellen Ausstattung und Bezahlung im Vollzugsdienst an und hört bei einem Resozialisierungsprogramm auf, das seinen Namen auch verdient. Natürlich sind solche Forderungen in der Öffentlichkeit meist nicht mehr wert als eine Randnotiz. Sie tragen auch keine Wählerstimmen bei der Bevölkerung ein. »Es wird schon seine Gründe haben, wenn diese Leute hinter Gitter müssen«, heißt es meist. »Die können froh sein, dass sie in deutschen Gefängnissen einsitzen und nicht in einem Knast der Türkei, in Mexiko oder Asien.« Und tatsächlich mag es sein, dass die Haftbedingungen und das Strafmaß in Deutschland im internationalen Vergleich vielen noch recht erträglich erscheinen. Das heißt jedoch keineswegs, dass wir uns der Zustände in den bundesdeutschen Gefängnissen rühmen können. Dieses Buch will ein Bild davon vermitteln, wie Gefangene und Vollzugsbeamte den Alltag in einer Haftanstalt tatsächlich erleben. »Dass ich hier nicht das Paradies vorfinde«, hat mir mal mein Klient Christian bei meinem Haftbesuch offenbart, »war mir schon klar. Aber mir war nicht bewusst, dass es so eine Hölle ist.«
Da ist er wieder in seinem Element: Wenn es einen gibt, der das Netz virtuos als Kontaktbörse zu nutzen weiß, dann Christian. Weder parshippt der Enddreißiger, noch sucht er Beziehungen über Elite Partner oder Lovescout24. »Irgendwann habe ich Jailmail für mich entdeckt«, erzählt der gebürtige Hamburger lächelnd. Über das digitale Portal suchen Gefangene »Kontakte von drinnen nach draußen«. Die »Webmistress Erna« vermittelt seit 2005 über ihre Plattform Brieffreundschaften zu Inhaftierten – je nach Wunsch zu Mann oder Frau. Eingangs hat die Administratorin allerdings einen Warnhinweis für Interessierte eingestellt: »Auf den folgenden Seiten inserieren strafgefangene Menschen zur Suche nach Brieffreunden. Da Jailmail dabei nicht nach Straftaten selektiert, können sich darunter auch Inserenten mit sehr schweren Straftaten befinden. Also auch mit Taten wie Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Geiselnahme, Kindesmissbrauch, Körperverletzung etc.« Wer damit mental nicht klarkommt, ist damit informiert und hat die Gelegenheit, die Homepage wieder zu verlassen.
Christian hat auf dem Feld sicherlich keine Probleme. Er sitzt seit zwölf Jahren hinter Gittern, die meiste Zeit in dem berühmt-berüchtigten Knast in Hamburg-Fuhlsbüttel, der besser bekannt ist unter dem Spitznamen Santa Fu. Die Boulevardpresse hat ihn seinerzeit den »Internetkiller« oder den »Chatroom-Mörder« genannt. Christian ist quasi der kriminelle Pionier der virtuellen Dating-Bazare. Über den Onlinedienst »knuddels.de« gab er den Frauen-Versteher, unter dem Pseudonym »Riddick300«, einer Anspielung auf den von Vin Diesel in mehreren Filmen und Videospielen verkörperten Science-Fiction-Action-Helden. Zeitweilig unterhielt der Loverboy neben seiner jeweiligen Freundin hundert Flirt-Chats gleichzeitig. Für ihn stellte das Liebes-Daddeln am PC ein Muss dar, eine Bestätigung seines labilen Egos. Hier offenbarte sich die verschattete Seite seiner Seele, die stets nach neuen sexuellen Abenteuern suchte, um sich selbst zu überhöhen. Im Netz war er wer, er spielte Riddick, jenen Helden, der es so geschickt verstand, Frauen und junge Mädchen zu beeindrucken. Hier war er nicht der erfolglose Gelegenheitsarbeiter, der meist anderen auf der Tasche lag, weil er nie Geld hatte. Nicht jene Niete, die andere zwar zunächst durch ihre charmante Art beeindruckte, sich aber bald als Langweiler entpuppte.
So sehr Christian in der realen Welt versagte, so sehr feierte er im digitalen Kontakt-Orbit Erfolge. Gekonnt arrangierte er Rendezvous, gaukelte seinen Bekanntschaften die traute Zweisamkeit vor, um schon nach kurzer Zeit erneut im Netz Nachschub für seine Bedürfnisse zu suchen. Seine Aktivitäten via Mausklick entwickelte Christian zur wahren Meisterschaft. Bis er schließlich im Jahr 2008 zwei Frauen tötete und zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Seitdem hat er auch in Santa Fu den Nimbus des Internetkillers weg.
Inzwischen ist Christian in die sozialtherapeutische Einrichtung der JVA gewechselt; dort geht es weit lockerer zu, die Zellentüren stehen den ganzen Tag auf. Hier soll der Delinquent sich in psychotherapeutischen Sitzungen mit seinen Taten auseinandersetzen, um irgendwann doch wieder freigelassen zu werden.
In der sozialtherapeutischen Abteilung begann Christian sich erneut nach einer Beziehung zu sehnen. Das jahrelange Alleinsein, die ständige Einsamkeit zerrte zunehmend an seinen Nerven. Und so drängte sich der Gedanke auf, »dass es wieder Zeit für eine neue Frau ist«, berichtet mir der Häftling an dem Septembertag, an dem ich ihn besuche, gut gelaunt. »Die lange Zeit ohne eine Beziehung ist richtig hart und ich bin schon so lange ohne, deswegen wollte ich es versuchen.« Da sitzt er nun entspannt und spricht über sein Leben in Santa Fu, und vor allem über sein erfolgreiches Werben via Jailmail.de.
Christian darf in der therapeutischen Anstalt ein Handy benutzen – allerdings ohne Internetzugang. Und so hat er ein Selfie angefertigt. Per Post ging die Aufnahme an die Kontaktbörse. Für das Inserat hatte er folgenden Text verfasst: »Suche Briefkontakt, um dem harten Gefängnisalltag zu entgehen. Wenn du Langeweile hast, schreibe mir doch einfach.« Die Anzeige bei Jailmail.de einzurichten sei simpel, berichtet der JVA-Insasse: »Brief schreiben, hinschicken, warten. Dann kommt die Bestätigung von Jailmail auch per Brief und man steht für sechs Monate online. Ganz leicht«, erzählt Christian.
Gleich auf seine erste Anzeige hin erhielt er einen ganzen Schwung Antworten. Anfangs ging es meist um belanglose Dinge. »Die Frauen schreiben über sich, was sie so machen, über ihre Hobbys. Dann wollen sie meist wissen, warum ich im Knast sitze und wie es mir geht.« Nach einiger Zeit wurden manche Briefkontakte jedoch intimer. Eine Frau schrieb dem Inserenten: »Ich stelle mir gerade vor, wir fahren mit dem Auto zum Strand. Du holst deine Boxershorts und ich ziehe meinen schwarzen Bikini an. Dann gehen wir ins Wasser. Ich werde tauchen und du bleibst stehen. Ich werde dir einen bl…« Christian stoppt an dieser Stelle, in der die Fantasien auf ein Schäferstündchen mit Oral-Sex hinauslaufen. Mehr möchte er nicht aus dem Schreiben zitieren. »Sonst werde ich ja noch richtig rot.«
Insbesondere der Brief einer Frau namens Nadine fiel dem Schwerverbrecher ins Auge. Der Kontakt wurde enger, man tauschte sich aus. Bald besuchte die junge Frau den Mörder. Anfangs war es nicht so einfach. Als sie von den zwei toten Frauen erfuhr und all die ganzen Horrorberichte über ihn googelte, herrschte zunächst zwei Wochen Funkstille. Dann aber meldete sich die 24-Jährige wieder bei Christian. »Es ist schlimm, was du getan hast, aber jeder hat eine zweite Chance verdient«, schrieb sie ihm. Nach sechs Monaten beschlossen die beiden im Jahr 2014, dass man nun ein Paar sei.
Christian stand auf Nadine. Er war froh, endlich jemanden da draußen zu wissen, der etwas für ihn empfand. Jemanden, auf den er sich verlassen konnte, denn sonst gab es da nur seine Mutter. Endlich tat sich eine Beziehung auf, ein Miteinander, das ihn das Einerlei im Strafvollzug oder in der therapeutischen Einrichtung vergessen ließ. Jenseits der Gefängnismauern wartete jemand, der sich kümmerte, der sich nach seinem Befinden erkundigte, der ihn liebte. Blonde Haare, normale Figur, etwas schüchtern, lebte Christians neue Freundin seinerzeit von Hartz IV. Sie war keine Heidi Klum, aber eine tolle Frau. Das Thema »gemeinsame Zukunft« stand bei dem Paar zunächst nicht im Vordergrund. Eher das Hier und Jetzt. »Wir wollten es erst mal langsam angehen lassen«, erinnert sich Christian, »und alles Weitere nach meiner Entlassung besprechen.«
Knastliebe ist nicht einfach. Oft scheitern die Beziehungen am häufigen Getrenntsein. Nur selten sind Besuche zugelassen. Im geschlossenen Vollzug beschränkt sich der Kontakt zudem auf wenige Telefonate im Monat. »Und wen rufst du dann an?« Christian schaut mich fragend an. »Du musst entscheiden, ob es etwa deine Mutter ist oder deine Freundin.« Also bleibt meist nur das Schreiben, gepaart mit der Hoffnung, dass die Partnerin da draußen auf ihn wartet. Herzgeflüster allein auf dem Papier verliert bald seinen Reiz. Zumal die Wärter alles mitlesen. »Das ist echt krass, die Vollzugsbeamten scannen auch die Post, die von den Freundinnen reinkommt«, erklärt Christian empört. »Manchmal kommen dann auch Kommentare: Wieso schreibt sie dir so was? Wer ist sie? – Wieso mischen sich diese Leute da ein?« Dasselbe geschieht, wenn Rechnungen eintreffen. »Da geben die Wärter auch ihren Senf zu ab, das geht gar nicht.«
Sex hinter Gittern in sogenannten »Liebeszellen« ist einzig auf Antrag möglich. Und das nur einmal im Monat. »Dazu kam es erst gar nicht«, erinnert sich Christian, weil es zuerst einer Genehmigung für einen solchen Langzeitbesuch bedarf. Erst nach zwölf Besuchen durch Nadine hätte es etwas werden können. Erst dann entscheiden der Abteilungsleiter und eine Psychologin der Anstalt über das Ersuchen. Das kann lange dauern. Nur bei einem positiven Entscheid kann der Häftling schließlich einen Langzeitbesuch für sieben Stunden beantragen.
Bevor es soweit war, stand die Beziehung bereits vor dem Aus. Offenbar war das Feuer auf beiden Seiten nach dreijähriger Partnerschaft merklich abgekühlt. Das Paar geriet in Streit, als Nadine begann, über Christians Mutter herzuziehen. Der Santa-Fu-Häftling beendete die Liaison im Jahr 2017. Die Trennung machte er endgültig, indem er Nadine aus der Besucherkartei streichen ließ. Inzwischen hat Christian weitere Frauen über das Internet kennengelernt. Gerade hat er wieder eine Kontaktanzeige via Jailmail veröffentlicht.
Die Bekanntschaft mit einem bekannten Schwerverbrecher ist offenbar für manche Frauen von ganz besonderem Reiz. Je prominenter die Tat, desto größer fällt das weibliche Interesse am Täter aus. »Der norwegische Massenmörder Anders Breivik hat beinahe an jedem Hauptverhandlungstag bis zu 70 Heiratsanträge erhalten«, weiß der Kriminalpsychologe Christian Lüdke und ordnet derartige Fälle dem Krankheitsbild der »Hybristophilie« zu, auch »Bonnie-and-Clyde-Syndrom« genannt. Obschon Bonnie Parker und Clyde Barrow zu Beginn der 1930er Jahre im mittleren Westen der USA 14 Morde überwiegend an Polizisten begingen, feierten Teile der Bevölkerung das Gangsterpaar als eine Art moderne Robin-Hood-Ausgabe. Insbesondere Frauen entwickelten große Sympathie für die eiskalten Killer.
In seinem Buch Profile des Bösen befasst sich Christian Lüdke mit dem sogenannten »AMIGA-Phänomen« – AMIGA ist eine Abkürzung für den Satz »Aber meiner ist ganz anders.« Aus Sicht des promovierten Psychologen entwickeln bestimmte Frauen den Wunsch, den Gefangenen zu kontrollieren. »Sie glauben, die Einzigen zu sein, die verstehen, was mit dem Straftäter geschehen ist, in ihren Augen ist er meist unschuldig. Durch die anrüchige Liebschaft versuchen diese Frauen eigene Defizite zu kompensieren.« Oft handele es sich um Frauen, die auf der Verliererseite des Lebens stehen und die aus schwierigen Beziehungen kommen. »Viele von ihnen haben massive Grenzverletzungen erlebt, sind gescheitert«, erläutert der Kriminalpsychologe: »Und deshalb suchen sie sich kein normales Liebesglück, sondern etwas anderes, etwas Skandalöses, die Partnerschaft zu einem Mörder. Damit erhöhen sie ihr Selbstwertgefühl.« Lüdke nennt zudem die »Faszination des Abscheulichen«: »Die Gewalttäter ziehen diese weibliche Klientel massiv an.« Oft fühlten sich die Frauen von ihrem Umfeld nicht geliebt. »Und nun kehren sie den Spieß um, konfrontieren ihre Familie oder ihre Freunde damit, dass sie mit einem hochgradigen Verbrecher zusammen sind. Damit polarisiert man und erhält jene Aufmerksamkeit, die vorher nicht gegeben war.« Die neuen Partnerinnen identifizierten sich mit dem aggressiven Täter, indem sie sogar seine Verbrechen rechtfertigten, so Lüdke. »Insgeheim wünschen sich manche, ebenso gehandelt zu haben, weil sie sich selbst als Opfer erlittener Demütigungen sehen«, erklärt Lüdke, »diese Knastlieben sind der paradoxe Versuch einer Eigentherapie«. Die Liebe zum Mörder soll demnach das eigene, schwache Selbstwertgefühl stärken.
Natürlich spielt auch eine erotische Komponente eine wichtige Rolle: »Liebesbriefe regen die kranke sexuelle Fantasie vieler Täter an.« Lüdke weist in dem Kontext auf Peter Madsen hin. In den Jahren 2017 und 2018 beherrschte der Däne weltweit die Schlagzeilen, weil er eine schwedische Journalistin an Bord seines selbstgebauten U-Boots auf brutale Weise gefoltert und ermordet hatte. Ein Jahr nach seiner Verurteilung sorgte der Endvierziger erneut für Aufsehen. Vom Knast aus fand er eine neue Liebe. Der prominente Häftling heiratete eine russische Aktivistin und Künstlerin, die in Finnland lebt. Die Vermählung verkündete Madsen stolz via Facebook. Seine neue Frau zumindest hob ihren Gatten in den sozialen Netzwerken in den Olymp: »Mein Mann hat ein schreckliches Verbrechen begangen und wird dafür bestraft. Aber da ich ihn wirklich kenne, habe ich das Exklusivrecht zu sagen, dass ich das Glück habe, mit der schönsten, klügsten, talentiertesten, hingebungsvollsten und einfühlsamsten Person und dem besten Mann aller Zeiten zusammen zu sein.«
Kriminalpsychologe Lüdke rückt solche Äußerungen an den Rand eines »Wahns, einer falschen Wahrnehmung der Realität«. Derartige Beziehungskonstellationen entsprechen nach seinen Angaben einem Krankheitsbild, das die Franzosen mit dem Begriff Folie à deux (»Geistesstörung zu zweit«) versehen. Heißt: Einer leidet unter einem psychischen Defekt, mit dem er seinen normalen Partner infiziert. Nach Ansicht von Lüdke wurde »die junge Künstlerin im Fall Madsen durch einen manipulativen Soziopathen mit in den Sumpf gezogen«. Lüdke vergleicht Verbrecher wie Madsen mit perfekten Manipulatoren: »Sie verwandeln diese Frauen zu Marionetten. Die wissen genau, welche Knöpfe sie drücken müssen, kennen zwar keine Gefühle, können sie sich aber erdenken und vortäuschen. Diese Leute wissen, was sie schreiben müssen, damit die Frauen total von ihnen fasziniert sind.«
Studien zufolge entstehen derartige Avancen zu Kapitalverbrechern immer durch Frauen. »Diese Beziehungen gehen meist nicht gut«, erklärt Lüdke. »Wenn die Täter dann freikommen, fallen sie schnell in ihre alten Verhaltensmuster zurück. Solche Liebschaften funktionieren häufig nur, solange die Männer im Knast einsitzen.« Denn sitzt der Geliebte hinter Gittern, entsteht ein Machtgefälle, bei dem die Frau die Kontrolle hat: Sie muss sich nicht darum sorgen, dass ihr Geliebter sie hintergeht. Es kann kein Alltag entstehen, der die Liebe killt. Besuche sind selten und sind eine freie Entscheidung der Frau. Gleichzeitig glauben sie, dass der Partner sich ändern könnte. Diese Hoffnung nährt das Gefühl, gebraucht zu werden.
Mitunter aber scheitern Romanzen auch an der mangelnden Perspektive der Langzeitgefangenen, in absehbarer Zeit entlassen zu werden. Oder aber die große Liebe hat sich in einen anderen verguckt. Vor zehn Jahren beendete ein 50-jähriger Kindermörder in der »Liebeszelle« der JVA Remscheid das Verhältnis zu seiner vier Jahre jüngeren Freundin in brutaler Manier. Vier Jahre lang hatte die Lebensgefährtin ihren Traummann regelmäßig besuchen dürfen – das Paar verbrachte jeweils mehrere Stunden unbeobachtet in dem »Langzeitbesucherraum«. Die beiden hatten sich über eine Brieffreundschaft näher kennen und lieben gelernt. Dass er ein kleines Mädchen vergewaltigt und ermordet hatte, machte der Verkäuferin und Mutter eines Kindes nichts aus.
An jenem Sonntag im April 2010 öffneten die Vollzugsbeamten die Zellentür. Eine entsetzliche Szene bot sich ihnen dar: Die 46-jährige Besucherin lag unbekleidet und blutüberströmt auf dem Boden, neben ihr zwei Messer und ein Radmutterschlüssel. Offenbar hatte das Opfer nicht mehr den Alarmknopf drücken können. Der Täter saß zusammengesunken und mit aufgeschnittenen Pulsadern auf einer Couch. Er überlebte. In der Zelle fand sich eine Notiz, die bekundete, dass die Frau sich trennen wollte. Diese Nachricht schien er nicht verkraftet zu haben. Fünf Monate später erhängte er sich in der Vollzugsanstalt Werl.
Christian hat sich um solche Auswüchse und Schwierigkeiten, die aus einer brieflichen Beziehung erwachsen können, keine Gedanken gemacht. Für ihn bieten die Briefkontakte eine Chance. Die Möglichkeit, sich mit anderen und darunter auch mit Frauen da draußen auszutauschen. Klar geht es auch darum, sein Ego zu befriedigen. »Aber dieses Vertrauen ausnutzen?« Christian schüttelt den Kopf. »Nee, gewiss nicht, das ist nicht meine Schiene, die Frauen zu manipulieren, das geht gar nicht.« Nach wie vor träumt der Knacki von einer einfachen Zukunft: Eine Beziehung soll es sein, mit einer gestandenen Frau, keinem unsicheren Mädchen. »Beide müssen auf eigenen Beinen stehen, für einander da sein, beide sollten berufstätig sein. Wenn Kinder infrage kommen, ist das auch okay«, schreibt er später in seinen Antworten auf meinen Fragenkatalog.
Länger als nötig will Christian in Santa Fu nicht verbringen. Hier bekommt man nichts geschenkt. »Die vier Jahre im geschlossenen Vollzug waren richtig scheiße«, gesteht der Enddreißiger. Die Beamten gingen meist ruppig mit ihm um. Mit den anderen Gefangenen kam er auch nicht klar, weil sie ihm den Promi-Status neideten. Christian zog sich sehr zurück, um Gefahren aus dem Weg zu gehen. Er suchte sein Heil in der Defensive. Nur ja nicht anecken, lautete seine Devise. Besser man hielt sich aus allem heraus, was Ärger verursachen könnte. Nach dem Urteil »lebenslänglich« hatte er um eine heimatnahe Verlegung gebeten. Seine Mutter und seine Oma leben in der Hansestadt, sie waren seine einzigen Bezugspunkte. Dass er damit den Weg in die Hölle gewählt hatte, ahnte der Internetmörder damals noch nicht.
Santa Fu mit seinen 800 Plätzen rangiert von der Größe her im oberen Mittelfeld deutscher Justizvollzugsanstalten. Das über 140 Jahre alte Gefängnis blickt auf eine äußerst skandalträchtige Geschichte zurück: organisierter Drogenschmuggel, politische Untersuchungsausschüsse, bestechliche Wärter, tödliche Revolten. Noch in den 1930er Jahren wurden Neuankömmlinge zur Begrüßung auf eine Pritsche geschnallt und von den Wärtern verprügelt. Laut »Santa-Fu-Report« der Hamburger Morgenpost stürzte bei der ersten Knastmeuterei im Juli 1972 ein Gefangener vom Dach in den Tod. Mit dem Beginn der Liberalisierung des Vollzugs häuften sich in Hamburg-Fuhlsbüttel die Zahl der Ausbrüche. »Santa Fu und raus bist du«, spotteten die Inhaftierten.