18,99 €
Im Zweifel gegen den Angeklagten! Reihenweise Fehlurteile in Deutschland! Jens Söring, deutscher Diplomatensohn, wurde wegen angeblichen Doppelmordes in den USA verurteilt - 33 Jahre verbrachte er hinter Gittern, obwohl vieles gegen seine Täterschaft sprach. Ein Justizirrtum, der nur im "Unrechtssystem" der USA möglich ist? Keinesfalls! Die beiden Strafverteidiger Burkhard Benecken und Hans Reinhardt, bekannt durch ihren True-Crime-Podcast "Advokaten des Bösen", zeigen auf, was im deutschen Strafverfahren tagtäglich falsch läuft. Von schlampig arbeitenden Polizeibeamten über korrupte Pflichtverteidiger, die ihre unschuldigen Mandanten an das Gericht "verkaufen", bis hin zu Deals in der Gerichtskantine zwischen Staatsanwälten und Richtern: Erfahren Sie mehr darüber, wie skandalöse Gerichtsurteile entstehen und wie schnell Unschuldige auch in Deutschland im Gefängnis landen! - Tagtäglich Justizirrtümer: Deutschlands Gerichte haben eine hohe "Fehlerquote" - Zu Unrecht verurteilt: wahre Fälle aus der eigenen Strafverteidiger-Tätigkeit der Autoren - Der Netflix-Doku-Fall Jens Söring: wie ähnliche Fehlurteile in Deutschland entstehen - Unfassbare Fehlurteile: Ein spannendes Sachbuch für True-Crime-Fans Justizopfer in Deutschland: ein erschreckender Blick hinter die Kulissen der scheinbar sauberen Justizwelt "Die deutsche Strafjustiz ist relativ instabil und irrtumsanfällig." Dieses beunruhigende Urteil fällen die Autoren auf Grund ihrer Erfahrungen als Strafverteidiger. In diesem Buch zeigen sie Kapitel für Kapitel die Ursachen für Justizirrtümer auf, die in Deutschlands Gerichtssälen dazu führen, dass die Falschen hinter Gittern landen. Dabei reden sie Klartext und schildern wahre Fälle. Ein packendes Sachbuch, das den Glauben an das Prinzip "Im Zweifel für den Angeklagten" untergräbt und der deutschen Justiz einen unschönen Spiegel vorhält.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 263
Burkhard BeneckenHans Reinhardt
ZWEI STRAFVERTEIDIGERÜBER DEN ALBTRAUM JUSTIZIRRTUM
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.
1. Auflage 2023
Copyright © 2023 eco Wing Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Lektorat: Regina Carstensen
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Gesetzt aus der Palatino, Komu, Kheops
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München,
Umschlagabbildungen: © Claus Schunk / SZ-Photo / picturedesk.com (vorne), © Benevento Publishing / Hendrik Wardenga (hinten)
Vor- und Nachsatz: Auszug aus der Urteilsverkündung im Fall Jens Söring, 21.6.1990
Autorenillustration: © Claudia Meitert/carolineseidler.com
ISBN: 978-3-7110-0326-3
eISBN: 978-3-7110-5348-0
Wir widmen dieses Buch allen Strafverteidigern, die tagtäglich für die Rechte ihrer nicht selten unschuldigen Mandanten kämpfen. Hierbei von einer häufig vorurteilsbehafteten Strafjustiz bis kurz vorm Freispruch müde belächelt, leisten sie einen unerlässlichen Beitrag für einen funktionierenden Rechtsstaat.
Vorwort: Dreiunddreißig Jahre hinter Gittern – schuldig!?!
1Selbst reingeritten: Wenn, wann und warum Beschuldigte sich selbst belasten
2Zeugen: Ein maximales Risiko für die Wahrheit
3In dubio contra reum – Im Zweifel gegen den Angeklagten
4Schöffen: Wenn Amateure über Schuld und Strafe richten
5Staatsanwälte: Wenn Jäger sich verbeißen
6Kantinensolidarität: Kuhhandel beim Morgenkaffee
7Minimalverteidigung: Anwälte als Doppelagenten
8Polizisten: Wenn Freunde sich am Ende nur selbst helfen
9Sachverständige: Zwischen Genie und Wahnsinn
10Strafbefehle: Die stille Verurteilung
11»Ich war es nicht!«: Was macht es mit einem Menschen, unschuldig verurteilt zu werden?
Nachwort: Freiheit vs. Gerechtigkeit – Unschuldig!
Hinweis der Autoren
»Mr Hetler, sind die Mitglieder der Jury zu einem Ergebnis gekommen?« In der Stimme des Gerichtssekretärs sind militärischer Drill und aufgesetzte Höflichkeit herauszuhören. Nach einer kleinen Pause steht der Vorsitzende der Jury auf und antwortet: »Ja, das sind wir.« Er nickt einmal kurz und überreicht dem Gerichtssekretär ein einziges Blatt Papier – das einstimmige Urteil.
Im bis auf den letzten Platz gefüllten Gerichtssaal des Kreisgerichts in Bedford County im US-Bundesstaat Virginia ist die Luft zum Schneiden. Alle warten auf die Entscheidung. Es geht um ein fünf Jahre zurückliegendes Verbrechen in Boonsboro, dem wohlhabenderen Teil von Bedford. Ein Ehepaar wurde dort am 30. März 1985 getötet, nein, im wahrsten Sinne des Wortes in seinem eigenen Haus abgeschlachtet. Ein doppelter Overkill. Eine Freundin des Paars hatte das Verbrechen vier Tage später entdeckt. Die Ehefrau lag in der Küche, ihr Mann zwischen Ess- und Wohnzimmer. Beide hatten offensichtlich mit ihrer Mörderin, ihrem Mörder oder ihren Mördern noch gemeinsam etwas gegessen und getrunken. Danach war das Paar bestialisch massakriert worden. Der Boden war blutgetränkt, die Leichen übersät mit Stich- und Schnittwunden, die Gesichter schrecklich entstellt, die Köpfe beinahe vollständig abgetrennt. Eine Tatwaffe war ebenso wenig gefunden worden wie Zeugen für das mörderische Blutbad.
Auf der Anklagebank sitzt an diesem Junitag 1990 ein dreiundzwanzigjähriger Student und wartet auf das Ende des dreiwöchigen Prozesses. Auf sein Urteil. Nervös tupft sich der Sohn eines deutschen Diplomaten fast im Minutentakt Schweißperlen von seiner Stirn. Er ist voller Zuversicht, glaubt an ein gerechtes Urteil.
Endlich überreicht der Vorsitzende der Jury, John Carson Hetler, dem Gerichtssekretär den gefalteten Zettel mit dem Ergebnis der Geschworenen. Der Sekretär räuspert sich noch kurz, bevor er das Blatt auffaltet und mit fester Stimme vorliest: »Wir, die Jury, erklären den Angeklagten schuldig des Mordes im ersten Grad an Derek William Reginald Haysom laut Anklage und setzen als Strafe lebenslange Haft fest. Ebenso erklären wir den Angeklagten schuldig des Mordes im ersten Grad an Nancy Astor Haysom laut Anklage und setzen als Strafe lebenslange Haft fest.« Zweimal schuldig. Zweimal lebenslänglich.
Im Saal ist es für mehrere Sekunden gespenstisch still. Selbst die Fliegen, die in der Hoffnung, aus dem stickigen Raum in die Freiheit entkommen zu können, zuvor permanent an den Fensterscheiben gescheitert waren, scheinen sich für einen Moment in ihr Schicksal zu fügen.
»Geben Sie mir bitte das Urteilsformular«, sagt Richter William Sweeney zu dem Gerichtssekretär. Dann wendet er sich den Geschworenen zu: »Mitglieder der Jury, in beiden Fällen lautet das Urteil auf Mord im ersten Grad, lebenslange Haft. Ist es das Urteil von jedem und allen Mitgliedern der Jury?« Die Geschworenen antworten zusammen, beinahe wie im Chor: »Ja, Sir.« Danach bekräftigt einer nach dem anderen sein »Ja« auch noch einmal einzeln. Richter Sweeney richtet danach den Blick zur Anklagebank, zu dem Studenten, und fordert ihn auf, sich zu erheben. Anschließend fragt er: »Können Sie mir noch einen Grund nennen, warum dieses Gericht in beiden Fällen jetzt nicht das Urteil verkünden sollte?«
Die Antwort kommt prompt: »Ich bin unschuldig!«
Einer der wenigen, aber am Ende für die Jury wichtigsten Beweise für die Annahme der Täterschaft des Studenten war ein am Tatort auf dem Holzfußboden hinterlassener blutiger Abdruck einer Socke. Das Beweismittel »LR3«.
Das Beweismittel »LR3« (Foto: Bedford County Circuit Court)
Der Abdruck eines Fußes in einer Socke ist als Beweis in etwa vergleichbar mit einem Fingerabdruck einer Person, die einen Handschuh getragen hat. Typische Hautrillen, die sogenannten Papillarleisten, die Finger- oder Fußsohlenabdrücke üblicherweise zu absolut einzigartigen Identifizierungsparametern machen (es wurden noch nie zwei Menschen mit dem gleichen Fingerabdruck entdeckt), waren jedoch nicht gefunden worden. Trotzdem hatte die Staatsanwaltschaft sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt, um genau diesen Sockenabdruck als schlagkräftiges Beweismittel zur Überführung des Tatverdächtigen heranzuziehen.
Ein Forensiker der Staatsanwaltschaft hatte ein durchscheinendes Foto eines Tintenfußabdrucks des Studenten schablonenhaft über den blutigen Sockenabdruck »LR3« vom Tatort gelegt. Tatsächlich wiesen die beiden Fußumrisse eine verblüffende Ähnlichkeit auf. Bis auf einen Unterschied: Die Größe passte nicht. Dass der Tintenfußabdruck des Studenten de facto einen Zentimeter länger war als der Sockenabdruck »LR3«, stützte der Forensiker auf die Vermutung, dass die Ferse des Angeklagten in der Situation offensichtlich zweimal aufschlug.
Die Schlüsselrolle von »LR3« für die Schuld des Studenten machte der Geschworene Jake Bibb nur einen Tag nach der Urteilsverkündung öffentlich. Er verriet in einem Interview, dass die Jury am Anfang der Doppelmord-Verhandlung noch gespalten gewesen sei: Sechs Mitglieder hätten für »schuldig« plädiert, sechs für »unschuldig«. »Gamechanger« sei am Ende einzig und allein die Socken-Spur gewesen. Das forensische Beweismittel inklusive der nachvollziehbaren Erklärung, dass die Sockenspur mit dem Vergleichs-Fußabdruck des Angeklagten eine gute Übereinstimmung ergeben hätte, führte am Ende dazu, dass sich nach und nach alle Bedenken auflösten und die Karten innerhalb der Jury neu gemischt wurden. So hätten auch die sechs zunächst zögerlichen Geschworenen sich zuletzt von der einen auf die andere Seite ziehen lassen und seien von der Schuld des Studenten überzeugt gewesen. Alle anderen Indizien seien für ihn, so der Geschworene, ohnehin nahezu bedeutungslos geworden. »Was er schrieb (es gab verdächtige Liebesbriefe), hat nicht zu seiner Verurteilung geführt, auch nicht, was andere über ihn sagten (insbesondere eine Kronzeugin)«, enthüllte Jack Bibb. »Es war, was er am Tatort hinterließ. Ohne den Sockenabdruck hätte ich ihn für unschuldig gehalten.« Dazu muss man wissen: In den USA reicht ein einziger Geschworener, der auf »nicht schuldig« plädiert, um einen Freispruch zu erreichen.
Der verurteilte Doppelmörder war wenige Wochen nach der Juryentscheidung aus der U-Haft entlassen und in ein anderes Gefängnis in Bedford verlegt worden. Kurz danach erhielt er Besuch von seinem Verteidiger, der ihn mit den Worten begrüßte: »Entweder hast du das größte Glück der Welt oder das größte Pech.« Strahlend präsentierte der Jurist im kleinen Besucherraum seinem Mandanten einen Umschlag und zog daraus ein Foto. Es zeigte einen Tintenfußabdruck, jedoch einen, den bisher kaum jemand zu Gesicht bekommen hatte. »Das ist ein Abdruck von Elizabeth Haysom«, sagte der Verteidiger. »Und er passt von der Form her genauso gut zum blutigen Sockenabdruck ›LR3‹ wie deiner. Nur stimmt es bei dem von Elizabeth Haysom auch von der Länge her. Da muss man gar nicht über einen doppelten Aufschlag der Ferse spekulieren.« Mit Elizabeth war die Tochter des getöteten Ehepaars Haysom und einstige Freundin des Studenten gemeint. Sie selbst war bereits 1987 wegen Anstiftung zum Mord an ihren Eltern zu neunzig Jahren Haft verurteilt worden und hatte im Prozess gegen den Diplomatensohn als Kronzeugin ausgesagt. Doch woher kam das Beweisstück auf einmal?
Nachdem das Interview mit dem Geschworenen Jake Bibb veröffentlicht worden war, hatte der Anwalt des Studenten in der Asservatenkammer des Gerichts noch einmal die Akte des Forensikers zu dem entscheidenden »Socken-Beweis« studiert. Und war dort mit Elizabeths Fußabdruck auf etwas mit gewaltiger Sprengkraft gestoßen. Hier war ein Beweismittel, das im Prozess voraussichtlich alles verändert hätte. Denn damit war klar: Der Forensiker wusste zwar, dass es einen Vergleichs-Fußabdruck der Kronzeugin gab, der es mindestens genauso möglich erscheinen ließ, dass sie ihre Eltern ermordet hatte. Der Jury wurde aber nur der Fußabdruck des Studenten präsentiert, wodurch der Forensiker einseitig Stimmung gegen den Angeklagten gemacht hatte. War der viel wahrscheinlichere Abdruck von dem Sachverständigen der Staatsanwaltschaft etwa bewusst unter Verschluss gehalten worden?
Der wahre Skandal im Zusammenhang mit der Existenz des praktisch geheim gehaltenen Beweismittels war allerdings hausgemacht: Denn statt Hoffnung zu verbreiten, musste der Anwalt des Verurteilten im weiteren Verlauf kleinlaut einräumen, dass der Tintenfußabdruck von Elizabeth Haysom keineswegs bewusst zurückgehalten worden war, denn für ihn als Verteidiger sei die forensische Akte jederzeit zugänglich gewesen. Offensichtlich hatte der Anwalt diese vor dem Prozess nur oberflächlich studiert. Von einer böswilligen Unterschlagung möglicherweise entlastender Beweismittel im Strafprozess konnte jedenfalls in letzter Konsequenz keine Rede sein. Der Verteidiger hatte einfach verschlafen, den vermeintlich belastenden Sockenabdruck seines Mandanten rechtzeitig nach allen Regeln der juristischen Kunst in Zweifel zu ziehen. Er hatte bei seiner Verteidigung versäumt, in den Vordergrund zu stellen, dass die Schuhgröße, die durch den Sockenabdruck ermittelt wurde, bereits in dem forensischen Bericht ausdrücklich eher einer üblichen Frauen- als einer Männergröße zugeschrieben worden war. Von der Länge her passte er wesentlich besser zum Fuß einer Frau.
All das wusste die Jury nicht, als sie das Urteil fällte. Außerdem hatte es der Anwalt schlicht versäumt, die gewagte These zum doppelten Aufschlag der Ferse durch ein Gegengutachten zu widerlegen. Und es kam noch schlimmer: Der Verteidiger hatte ein weiteres Mal gepatzt: Er hatte die so wichtige Einundzwanzig-Tage-Frist für das nachträgliche Vorbringen neuer Beweise verstreichen lassen. Die »21 Day Rule« gibt es nur im Bundesstaat Virginia, sie legt fest, dass verurteilte Straftäter neue Beweise, die auf ihre Unschuld hindeuten, innerhalb von einundzwanzig Tagen nach Verkündung des Urteils vorbringen müssen. Unfassbar: Diese Frist war abgelaufen, als der Verteidiger triumphal mit dem Vergleichsabdruck im Gefängnis aufgetaucht war. Zu den abenteuerlichen Fehlern des Strafverteidigers passt, dass er wenige Jahre später seine Zulassung als Anwalt verlor. Der Tintenfußabdruck von Elizabeth Haysom war durch seine Unfähigkeit als Beweismittel ein für alle Mal verbrannt – kein Gericht würde sich jemals wieder damit befassen. Der einstige Student Jens Söring ist auch deswegen bis heute offiziell in den USA ein schuldig verurteilter Doppelmörder. Bis heute kämpft er dagegen an.
Die Geschichte von Jens Söring, der schließlich am 17. Dezember 2019 nach dreiunddreißig Jahren, sechs Monaten und fünfundzwanzig Tagen Haft auf Bewährung freikam, abgeschoben wurde und nun in Deutschland lebt, mag man vorschnell als US-typisch oder Einzelfall abtun und hierzulande für ausgeschlossen halten. Die Realität sieht anders aus. Auch an deutschen Strafgerichten werden Tag für Tag Fehlurteile verkündet. Egal ob bei einem Geschworenengericht in den USA, einem Schöffengericht in Recklinghausen oder einem Kammergericht in Berlin – Fehler, Irrtümer und Nachlässigkeiten sind menschlich. Sie machen vor Grenzen und Systemen keinen Halt. Richter, Staatsanwälte, Gutachter und Verteidiger sind keine programmierbaren »Rechtsautomaten«, keine KI (künstliche Intelligenz) mit der Garantie für stets umsichtige, faire und gerechte Entscheidungen. Jedes Beweismittel ist am Ende ein Stück weit Auslegungssache. Unterschiedliche Interpretationen, Meinungen und Überzeugungen sind auf Beweisebene in vielerlei Hinsicht möglich und münden zum Schluss in verschiedene Bewertungen.
Unsere jahrelange Erfahrung als Strafverteidiger zeigt allerdings: Die deutsche Strafjustiz ist relativ instabil und irrtumsanfällig. Dass es, wie häufig kolportiert, unterm Strich kaum falsche Strafurteile geben soll, ist nichts anderes als ein Märchen. Dies zeigt schon die hohe Anzahl in der Berufungsinstanz aufgehobener erstinstanzlicher Urteile. Die Quote liegt nach unserer Erfahrung bei rund 50 Prozent. Das heißt: Jedes zweite angefochtene amtsgerichtliche Urteil ist aus Sicht der höheren Instanz falsch. Die Dunkelziffer unrichtiger Schuldsprüche ist riesig. Man denke an all die Angeklagten, die ohne anwaltlichen Beistand am Amtsgericht in Unkenntnis ihrer juristischen Möglichkeiten sogar abenteuerlichste Urteile »schlucken«. Fehlurteile sind aber keinesfalls als systemimmanente, unvermeidliche Kollateralschäden entschuldbar, die beim Ringkampf um Gerechtigkeit vorkommen. Für Justizirrtümer existieren zahlreiche handfeste Gründe und Erklärungen: Die Spuren führen mal zur Richterbank, mal zur Staatsanwaltschaft, für die Ursachen sind ebenso Ermittler, Angeklagte, Zeugen, Verteidiger oder Gutachter verantwortlich. In diesem Buch legen wir den Finger in die Wunde – in jedem Kapitel benennen wir jeweils eine Ursache, warum es tagtäglich zu Justizirrtümern in Deutschland kommt. Die einzelnen Fehlerquellen werden dargestellt anhand von authentischen Fällen aus unserer eigenen Strafverteidigertätigkeit.
Viele unserer Mandanten standen anfangs massiv unter Verdacht, am Ende stellte sich ihre Unschuld heraus. Wir haben wahrgenommen, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung hierzulande wenig objektiv gegenüber Personen ist, die einer Tat verdächtigt werden. Nach dem Motto: »Da wird schon etwas dran sein.« Auch besteht vielfach die Annahme, dass Gerichtsurteile fast gottesgleiche Kraft hätten und im Prinzip immer richtig seien. Wie schnell man unschuldig verdächtigt und im Extremfall durch die deutsche Justiz zu Unrecht verurteilt wird, merken Betroffene meist erst dann, wenn sie selbst in die Mühlen der Justiz geraten. Erst dann wird ihnen klar, wie polemisch, wie voreingenommen und wie ungerecht Polizeibeamte, Staatsanwälte, Richter, ja sogar der eigene Anwalt sein können. Ein gesundes Maß an Selbstreflexion und Selbstkritik scheint der Strafjustiz teilweise abhandengekommen zu sein. Belastende Beweismittel werden nur zu gerne entgegengenommen, Entlastendes wird konsequent ausgeblendet.
Wie schnell einem mit objektiv unrechtmäßigen Methoden eine Straftat angehängt wird und wie nachhaltig die vermeintliche Schuld an einem kleben bleibt, zeigt eindrucksvoll der Fall von Jens Söring. Er ist inzwischen zwar seit mehr als drei Jahren frei, doch der Stachel der Ungerechtigkeit sitzt tief: Er gilt nach wie vor als schuldig. Er lebt vermutlich für immer mit dem Stigma Doppelmörder.
Vor Gericht und bei Ermittlern gilt ein Geständnis als Königin der Beweismittel. Geständnisse führen am Ende fast immer zu einer Verurteilung, zu einem Schuldspruch. Gerichte hinterfragen sie nur selten. Selbst wenn ein Beschuldigter sein einmal abgelegtes Schuldbekenntnis später widerruft, wird dies von der Strafjustiz nur müde belächelt. Doch viel häufiger als gedacht ist ein Geständnis falsch – sozusagen eine Königin mit Schrammen im Gesicht.
Jahr für Jahr landen zahlreiche Menschen in Gefängnissen, obwohl sie die ihnen vorgeworfenen Taten in Wirklichkeit überhaupt nicht begangen haben. Nicht selten ist der Verantwortliche für das Albtraum-Szenario, unschuldig in einer Gefängniszelle zu sitzen, der Beschuldigte, indem er zuvor selbst falsche Fährten gelegt hat. Sich selbst reingeritten hat. Selbst ein falsches Geständnis abgelegt hat. Jens Söring, der in den USA wegen Doppelmords verurteilte »33-Jahre-Häftling«, hat genau das getan. Er hat ein falsches Geständnis abgelegt. Mit Kalkül. Und mit einer verhängnisvollen Illusion.
Als 1932 das Baby des legendären US-amerikanischen Flugpioniers und Atlantiküberfliegers Charles Lindbergh entführt wurde, sollen sage und schreibe fast 200 Personen die Begehung der medial zum Jahrhundertverbrechen hochstilisierten Tat zugegeben haben. Doch warum nur gesteht jemand ein Verbrechen, das er gar nicht begangen hat? Die Dimensionen dieses Phänomens werden unterschätzt. Es ist bei Weitem nicht allein Größenwahn, krankhafter Narzissmus oder der bizarre Wunsch, verurteilt zu werden, der Unschuldige zu falschen Schuldbekenntnissen veranlasst. Mal spielen taktische Erwägungen eine Rolle, mal unerträglicher, mal unerklärlicher Druck, mal pure Verzweiflung. Wissenschaftlich gesehen sind für das Phänomen des falschen Geständnisses im Wesentlichen zwei Faktoren ausschlaggebend. So gibt es einerseits erzwungene falsche Geständnisse. Diese fußen auf druckausübende Befragungstechniken bei Polizeivernehmungen. Betroffene gestehen, weil sie sich von Ermittlern bedrängt oder gar bedroht fühlen. Eines der bekanntesten Beispiele sind die »Central Park Five«, fünf New Yorker Teenager, die aufgrund manipulativer Verhöre eine Gruppenvergewaltigung einräumten, obwohl sie nachweislich unschuldig waren – der eigentliche Täter gestand Jahre später die Tat.
Der wohl spektakulärste Fall in Deutschland ist der des Bauern Rudi Rupp. 2001 verschwand Rupp spurlos. In seinem Dorf wurde schnell getuschelt, seine Familie habe Rudi den Hunden zum Fraß vorgeworfen. Eines Tages gaben dann auch seine beiden Töchter, die Ehefrau und der Schwiegersohn zu, Rudi Rupp getötet und zerstückelt zu haben – und wurden anschließend auch verurteilt. Obwohl die Leiche des Landwirts bis dahin nicht gefunden worden war. Fünf Jahre später dann wurde Rudis Auto aus der Donau geborgen. Dabei rutschte vom Fahrersitz der Leichnam des Bauern. Ohne Spuren von Gewalt. Rupp wurde weder mit einer Holzlatte noch mit einem Hammer erschlagen, er wurde nicht zersägt oder von Hoftieren aufgefressen. Polizeivideos sollen später belegt haben, wie Ermittler und Staatsanwaltschaft, aber auch das Gericht versagt haben. Es stellte sich nämlich heraus: Die falschen Geständnisse der vier minderbegabten Angehörigen entstanden durch massive Beeinflussung seitens der Polizei.
Es gibt andererseits falsche Geständnisse, die freiwillig abgelegt werden. Sprich: ohne jeglichen Druck der Ermittlungsbehörden. Ein häufiges Motiv ist die Sehnsucht nach Berühmtheit. Der Schwede Sture Bergwall hatte in den Neunzigerjahren dreißig Morde zugegeben und wurde als einer der gefürchtetsten Massenmörder der Welt verurteilt. Im Nachhinein kam heraus: Er hatte alles frei erfunden und stand unter Medikamenten.
Ein weiterer Beweggrund kann das Bedürfnis sein, Schuld an früherem Fehlverhalten zu tilgen. Jemand gesteht also deshalb, weil er einst Mist gebaut hat und dabei unentdeckt geblieben ist. Jetzt möchte er sein Gewissen reinwaschen, indem er eine nicht begangene Tat gesteht. Weitere Motive für freiwillig abgelegte, falsche Geständnisse können sein: verschobene Wahrnehmung von Realität und Fantasie, intellektuelle Defizite und psychische Störungen. Auch kann Ursache sein, dass ein Betroffener einer Zwangslage entkommen möchte. Fühlt sich jemand verfolgt oder bedroht, rettet er sich durch ein falsches Geständnis ins scheinbar sichere Gefängnis. Eine versprochene Belohnung kann ebenso ein Grund sein, sich selbst zu Unrecht in die Pfanne zu hauen. Wedelt ein reicher Täter mit einem dicken Geldbündel, wird der mittellose Drogenabhängige unter Umständen schwach: Was sind schon einige Jahre unschuldig hinter Gittern, zumal wenn man dort auch an Drogen kommen kann, wenn man danach im Leben durchstarten kann.
Gerade bei Teenagern kann das Motiv für ein freiwillig abgelegtes falsches Geständnis aber auch in dem Wunsch liegen, den wahren Täter zu schützen. Etwa aus Liebe – so wie es Jens Söring in seinem Fall bis heute beteuert. Sein Gradmesser war damals seine innere Zerrissenheit und die Frage: Bin ich ein Ehrenmann oder ein feiges Schwein?
Nach dem schrecklichen Doppelmord an den Eltern von Jens Sörings damaliger Freundin Elizabeth Haysom hatte die Bundespolizei der Vereinigten Staaten von Amerika, das Federal Bureau of Investigation (FBI), 1985 zügig ein Verdächtigen-profil erstellt. Der Täter sei eine Frau in enger Beziehung zu den Opfern, so der FBI-Experte. Daraufhin nahmen Ermittler zuerst die Tochter ins Visier, doch die lenkte den Verdacht schnell auf eine ehemalige Verlobte ihres Halbbruders. Nachdem dies sich als falsche Fährte entpuppte, kehrten die Kriminalbeamten zu Elizabeth Haysom zurück – und ihren Freund Jens Söring. Die Ermittler verlangten Fingerabdrücke, Blut und Fußabdrücke von dem Paar. Während Elizabeth dem nachkam, verwies Söring darauf, dass er als Sohn eines Diplomaten zuerst die Genehmigung der deutschen Botschaft einholen müsse. Einige Tage später floh das Paar aus den USA, reiste unter Alias-Namen und in diversen Verkleidungen in verschiedene Länder und landete schließlich Anfang 1986 in London. Dort gerieten beide im April wegen Scheckbetrugs mit dem Gesetz in Konflikt und wurden festgenommen. Einen Monat später hatten auch US-Ermittler von der Verhaftung der mutmaßlichen Haysom-Mörder erfahren und waren nach London geflogen, um Elizabeth Haysom und Jens Söring zu befragen.
Am Nachmittag des 8. Juni 1986 saß Jens Söring in seiner Zelle im Keller des Polizeireviers in London. Sie war blau gekachelt, trübes Licht drang durch einen Fensterschacht hoch oben in der Wand. Dreieinhalb Tage lang war er inzwischen verhört worden, immer ohne einen Anwalt an seiner Seite. Sein englischer Strafverteidiger hatte ihm beim letzten Treffen vier Tage zuvor eingebläut: »Sage nichts, bis ich da bin.« Bei seiner Ankunft im Revier hatte man Söring dann aber zu dessen Verwirrung plötzlich ein Papier vorgelegt, auf dem die Frage stand, ob er einen Anwalt wünsche. Er kreuzte »Nein« an – in dem festen Glauben, dass er bereits einen Verteidiger hatte, der früher oder später auf dem Weg zum Polizeirevier sei.
Dieses Kreuz nennt Jens Söring heute »einen der größten Fehler meines Lebens«. Denn fortan wurde ihm sein »Nein« durchweg so ausgelegt, als ob er auf einen Anwalt verzichten wollte. Dabei stimmte das gar nicht. Er wollte seinen ihm bekannten Anwalt, nicht irgendeinen. Im Logbuch des Polizeireviers wurde für den Diplomatensohn »Incommunicado-Haft« eingetragen, das bedeutete vollständige Isolation, absolute Kontaktsperre, nicht der geringste Zugang zur Außenwelt. Üblicherweise wird diese Maßnahme nur bei verdächtigen Terroristen angewendet. Tatsächlich wurde Söring später erlaubt, mit einem Mitarbeiter der Botschaft zu telefonieren – doch nur in Anwesenheit der Ermittler. Ein Telefonat mit seinem Strafverteidiger hingegen wurde ihm nicht gestattet. Selbst als der Anwalt später, wie versprochen, im Revier erschien, durfte er nur mit Elizabeth Haysom sprechen, nicht jedoch mit Jens Söring. Der konnte das im ersten Moment überhaupt nicht einordnen. »Ich war doch nur ein neunzehn Jahre alter Nerd mit Hornbrille«, sagte er.
Ein Kriminalbeamter, der Söring in den USA verhört hatte, soll bei seinem Anblick gesagt haben: »So ein Bürschchen kann niemals so etwas getan haben.« Nachdem der Student unter der Schlagzeile »Voodoo-Morde« übergroß auf der Titelseite des britischen Boulevardblatts Daily Mail abgebildet war, sahen die zuständigen Ermittler das anders. Isolation konnte da schon nützlich sein, um die Widerstandskraft dieses »bestialischen Verbrechers« zu brechen. Als Ermittler konnte man damit rechnen, für seinen »Erfolg« – ein abgerungenes Geständnis – in einem prominenten Fall befördert zu werden.
Sechsmal wurde Söring in den folgenden Tagen verhört, immer ohne Anwalt. »Wieder und wieder wurde ich in einen kleinen Verhörraum geführt, in dem mir drei Ermittler gegenübersaßen. Drei gegen einen. Und die drei waren groß, erwachsen und erfahren, ich hingegen schmächtig, unreif und ahnungslos«, erinnerte er sich später. Ein Geständnis legte Söring nicht ab, einzig dass er am Tatort gewesen sei, räumte er am ersten Tag des Verhörs ein. Immer wieder, wenn die Ermittler ihn aufforderten, endlich zuzugeben, dass er der Killer von Derek und Nancy Haysom ist, hatte er sich geweigert. Zwei Tage später fragte ihn dann einer der Ermittler, ob er sich vorstellen könne, sich für eine Tat schuldig zu erklären, die er nicht begangen hatte: »Would you consider, under those circumstances, taking into account your answer, pleading gulity to something you didn’t do?« Und Söring antwortete darauf tatsächlich: »Ja, das kann ich mir vorstellen. Ich glaube, so etwas passiert im wirklichen Leben.«
Vor Gericht sagte Söring später, sein Plan sei es gewesen, das Leben seiner damaligen Freundin und Mitverdächtigen Elizabeth Haysom vor der Todesstrafe und der Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl zu schützen. Deshalb hatte er den Ermittlern gegenüber versichert, dass sie nicht am Tatort, sondern zum fraglichen Zeitpunkt in Washington, D.C., gewesen sei. Dass Elizabeth und er aus der »Nummer« nicht folgenlos herauskommen, dass also beide ins Gefängnis kommen würden – damit hatte Jens Söring sich zu diesem Zeitpunkt schon arrangiert. Aber vor dem qualvollen Tod durch einen Stromstoß von bis zu 3500 Volt wollte er seine damalige Liebe unbedingt retten.
Sein Kalkül war es, besonders clever zu sein. Weil sein Vater damals deutscher Vizekonsul in den Vereinigten Staaten war, er selbst einen deutschen Diplomatenpass mit einem A-1-Visum des US-Außenministeriums besaß, wähnte sich Jens Söring durch eine gewisse diplomatische Immunität geschützt. Sein Plan: »Ich dachte, ich würde wegen meines Vaters nach Deutschland abgeschoben werden und dort vor Gericht kommen. Nach deutschem Jugendstrafrecht drohten maximal zehn Jahre Haft, nach fünf Jahren hätte ich eine vorzeitige Entlassung beantragen können.«
Fünf Jahre im Gefängnis, um das Leben seiner geliebten Freundin zu retten – das war ein Tausch, den er bereit war einzugehen, sagte Jens Söring vier Jahre später vor Gericht. Die Frage, die ihn während der Vernehmungen so beschäftigt hatte – Ehrenmann oder feiges Schwein? –, beantwortete er laut eigener Aussage klar: Ehrenmann. Er entschied sich, sein vor der Festnahme abgegebenes Versprechen gegenüber Elizabeth zu halten, rief einen Beamten und sagte ihm, er wolle nochmals mit dem Ermittler sprechen. Dann legte er sein falsches Geständnis ab:
Im Verhörraum erzählte ich dem Ermittler die Geschichte, die ich in der Tatnacht erfunden hatte. Ich sei nachts im Haus von Derek und Nancy Haysom angekommen. Dort hätte ich mit den beiden Alkohol getrunken und etwas gegessen. Dann sei im Esszimmer ein Streit ausgebrochen, der damit endete, dass ich Derek und Nancy Haysom die Kehle durchtrennte. Im Laufe des Kampfs hätte ich mich an der Hand verwundet, sodass meine Finger stark bluteten. Dann sei ich zurück nach Washington, D.C., gefahren, wo Elizabeth auf mich wartete.
Dass Jens Söring den Ermittlern damit Täterwissen vermittelt hatte, war ihm bewusst. Denn Alkoholgläser befanden sich im Wohnzimmer, im Esszimmer Teller mit Essen, und Blut war auf dem Fußboden gefunden worden. Und die Kehlen der zwei Opfer waren durchtrennt worden. Dieses Wissen will Jens Söring von der wahren Täterin Elizabeth Haysom erfahren haben, so sagte er im Doppelmord-Prozess in Virginia 1990 aus. Real sei das Verbrechen im Hause Haysom nämlich so abgelaufen: Er sei mit Elizabeth übers Wochenende nach Washington, D.C., gefahren, wo sie in einem Hotel eingecheckt hätten. Dort habe ihm Elizabeth anvertraut, dass sie wieder Drogen genommen und aufgelaufene Schulden bei ihrem Dealer durch einen Kurierdienst tilgen müsse. Mit einem vorgespielten Kinobesuch sollte Söring derweil in Washington das Alibi für den Drogentransport sicherstellen. Als er nachts wieder im Hotelzimmer eingetroffen war, soll kurz danach Elizabeth erschienen sein und ihm anvertraut haben: »Ich habe meine Eltern getötet. Die Drogen waren schuld. Sie haben es sowieso verdient.« In diesem Augenblick soll in Jens Söring die in seinen Augen geniale Idee des falschen Geständnisses gereift sein. Der damals Achtzehnjährige will das Verbrechen auf sich nehmen. Ihm als Diplomatensohn werde schon nichts passieren. Ein fataler Irrglaube.
Am Tag nach dem Ablegen des falschen Geständnisses traf Jens Söring erstmals wieder auf seinen Strafverteidiger. »Er sagte mir, ich hätte gerade Selbstmord begangen.« Und weiter: Sein Vater sei zwar Vizekonsul, das habe er, sein Anwalt, zwischenzeitlich in Erfahrung bringen können. Als Konsulardipolmat genoss allerdings nur der Vater selbst diplomatische Immunität – nicht aber seine Familienangehörigen. Trotz Diplomatenpass, diplomatischem Visum und diplomatischer Identitätskarte. Nur Familienangehörige von Auslandsvertretern, die an einer Botschaft arbeiten, seien ebenso wie diese selbst durch diplomatische Immunität geschützt. Jens Sörings Vater arbeitete aber im Generalkonsulat, nicht in der Botschaft. Daher würde nun ziemlich sicher in Virginia Anklage wegen Kapitalmords erhoben werden, fuhr der englische Anwalt fort. Unter Androhung der Todesstrafe. Und da Jens Söring ein ausführliches Geständnis abgelegt habe, bestünde so gut wie keine Chance, dem Todesurteil zu entkommen.
Nur fünf Tage später, am 13. Juni 1986, erhob die Staatsanwaltschaft von Bedford County tatsächlich Mordanklage. Strafbestand: Kapitalmord, in Virginia eine Form des schweren Mordens, bei der gegen den Täter die Todesstrafe verhängt werden kann. Jetzt drohte Jens Söring die Hinrichtung, vor der er seine Freundin Elizabeth durch sein falsches Geständnis hatte retten wollen. Der elektrische Stuhl. Sein englischer Verteidiger versuchte alles: Gutachter attestierten Söring und der im Laufe der Zeit ebenfalls geständigen Elizabeth eine wahnhafte Störung, um die Auslieferung in die USA nur noch mit dem herabgestuften Vorwurf des Totschlags (wegen verminderter Schuldfähigkeit) und nicht mehr wegen Mordes zu erreichen. Denn nur ein Kapitalmord wurde mit Hinrichtung bestraft, nicht jedoch Totschlag. Aber das interessierte die britischen Richter nicht für die bevorstehende Auslieferung in die USA, sie wollten die dortige Justiz entscheiden lassen, ob die Tat Mord oder Totschlag sei.
Der nächste Versuch, Sörings Leben vor dem elektrischen Stuhl zu retten, zielte auf einen Prozess in Deutschland. Nach deutschem Recht hätte man Jens Söring auch hierzulande vor Gericht bringen können, obwohl die Morde in Amerika verübt worden waren. Doch um eine Auslieferung von England nach Deutschland beantragen zu können, benötigte der deutsche Staatsanwalt einen schlagkräftigen Beweis für die Täterschaft Sörings. Und so musste dieser die Morde erneut gestehen, im verzweifelten Versuch, sein eigenes Leben vor der Hinrichtung in den USA zu retten. Doch genau wie bei den psychiatrischen Gutachten ließen die britischen Auslieferungsrichter sich davon nicht beeindrucken. Die Morde waren in den Vereinigten Staaten verübt worden, also sollte der Prozess dort stattfinden, hieß es.
Schließlich reichten Sörings Anwälte eine Klage gegen das Vereinigte Königreich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. Sie wollten das Gericht überzeugen, dass die Menschenrechte ihres Mandanten verletzt würden, wenn Söring unter Androhung der Todesstrafe in die Vereinigten Staaten ausgeliefert würde. Doch es war und bleibt überaus schwierig, einen Fall vor den EGMR zu bringen, fast alle Anträge werden abgelehnt. In Sörings Fall mussten seine Anwälte zuerst beweisen, dass ein großes Risiko bestand, in den USA hingerichtet zu werden. Durch diese Klage geriet Jens Söring in eine Zwickmühle: Er durfte bei keiner Gelegenheit erkennen lassen, dass er sich für unschuldig hält. Hätte die britische Regierung, die ihn an die USA ausliefern wollte, davon erfahren, hätte sie darauf verweisen können, dass die USA ein Rechtsstaat sind, in dem unschuldige Menschen nicht verurteilt werden. Sörings Klagebedürfnis wäre auf null geschrumpft, der EGMR hätte seinen Antrag postwendend abgelehnt. Von 1987 bis zur Verkündung des für ihn positiven Urteils am 7. Juli 1989 unterwarf er sich somit seiner eigenen »Omertà«, der Schweigepflicht der Mafia. Das Aussprechen der Wahrheit hätte ihn sein Leben kosten können. Nur solange der Europäische Gerichtshof glaubte, dass Söring unweigerlich hingerichtet werden würde, bestand Bereitschaft, sich mit seinem Fall zu befassen.
Das Urteil des EGMR in diesem Fall ging in die Rechtsgeschichte ein: Seitdem dürfen Mitgliedsstaaten Verdächtige nicht mehr in Länder ausliefern, in denen ihnen Menschenrechtsverletzungen drohen. Immer wieder wird der Präzedenzfall »Soering v. United Kingdom« zitiert, zuletzt von dem Australier Julian Assange, dem Gründer von WikiLeaks, der ebenfalls von England in die Vereinigten Staaten ausgeliefert werden soll. Das EGMR-Urteil ersparte Söring am Ende zwar die Todesstrafe, nicht aber die Auslieferung in die USA. Die Vereinigten Staaten mussten sich in dem Verfahren verpflichten, die Todesstrafe nicht zu beantragen.
Nach der Auslieferung wurde Jens Söring wegen Doppelmords zu zweimal lebenslanger Haft verurteilt. Sein falsches Geständnis hatte er mittlerweile widerrufen. Dass er mit dem grausamen Verbrechen nichts zu tun hat, daran hält er bis heute fest. Und tatsächlich lässt sich inzwischen wissenschaftlich belegen, dass Sörings Geständnis falsch war – dass er kein Doppelmörder im Sinne der Anklage ist. Während seines Abschlussplädoyers 1990 verwies der Staatsanwalt sechsundzwanzigmal darauf, dass die Blutgruppe von Jens Söring am Tatort gefunden wurde. Neunzehn Jahre später wurden genau diese Blutproben vom forensischen Labor Virginias auf DNA untersucht. Das genetische Profil war ein anderes, Söring sei »als Quelle ausgeschlossen«, so der Laborbericht. Dieser Befund untermauert, dass Sörings Geständnis falsch ist. Denn im Verhör behauptete er, er habe am Tatort geblutet. Es war jedoch nachweislich ein anderer Mann, der dort geblutet hat. Genützt hat ihm das nicht, die »21 Day Rule« Virginias verhinderte ein nachträgliches Vorbringen dieser entlastenden Beweise.
Am 17. Dezember 2019 kam Jens Söring auf Bewährung frei – und war in dem Moment, als er das erfuhr, nach eigenen Angaben enttäuscht. Denn ihm fehlte die formelle Begnadigung, die seine Unschuld untermauert hätte und auf die er so gehofft hatte. Darauf hatte er drei Jahrzehnte lang hingearbeitet. Nur das habe ihn angetrieben. Das falsche Geständnis erwies sich für Söring letztlich als verhängnisvoller Fehler. Mit der Konsequenz einer bislang nicht revidierten Verurteilung: als Doppelmörder.