Insignien der Reaper - Melanie Galfe - E-Book

Insignien der Reaper E-Book

Melanie Galfe

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Beschreibung

Drei Insignien helfen den Dienern des Todes dabei, ihren täglichen Aufgaben nachzugehen. Kompass, Sense und Buch. Verzweifelt und als letzten Ausweg beschwört der junge Magie-Student Nate Greenwich die Reaper Tanira, um sich eines ihrer Insignien auszuleihen. Doch seine Formel basiert auf falschem Wissen und er begeht einen furchtbaren Fehler, der sowohl sein Können, als auch die Geduld der Reaper auf die Probe stellen wird. Doch um den skrupellosen Obersten Magier Richard Covim aufzuhalten, bleibt Nate nichts anderes übrig, als die Reaper von seiner Mission zu überzeugen. Eine Mission, die Tanira bald vor die Frage stellen wird, ob sie nur durch Zufall an Nate geraten ist oder doch ein Hauch von Schicksal am Werk sein könnte...

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Melanie Galfe

Insignien

Der

Reaper

Roman

© 2024 Melanie Galfe

Website: https://melaniegalfe.de

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: Melanie Galfe, Königsbergerstr. 23, 63796 Kahl am Main, Germany.

Für Michelle. Für Alles.

Triggerwarnung

Kann Spuren von Tod enthalten.

Kapitel 1

Es war 17:30 Uhr und genau 35, nein 36 Sekunden. An ein Stoppschild gelehnt stand ich an der Kreuzung in der Abendsonne und überflog routiniert den Eintrag in meinem Auftragsbuch.

Irina Kukla findet am 15.07.2023 um 17:33:36 durch einen Unfall mit einem Linienbus auf der Dreieichstraße in Frankfurt/Main ihr Ende. Der Bus wird sie anfahren, während sie die Straße überquert und ihr Genick wird bei dem Sturz auf die Straße brechen. Tanira wird sie holen.

Tanira / Ich, klappte das Buch zu und betrachtete für einen Moment die Staubflusen, die sich verflüchtigten und im Gegenlicht des Julitages tanzten, bevor ich mein Arbeitsmittel zurück in eine versteckte Tasche meiner schwarzen Robe schob.

Manche Job-Beschreibung amüsierten mich, auch heruntergebrochen auf die harten Fakten.

Der letzte To-do Punkt meines Arbeitsages kam pünktlich angetrabt, quietschlebendig, aber bereits mit einer Wolke des Unheils um die auffällig gekleidete Gestalt gehüllt. Ich überließ das Stoppschild seinem verkehrsregelnden Dasein und heftete mich an Irinas Fersen wie ein zweiter Schatten.

Aus der Nähe wirkte die junge Frau, als wäre sie einer Hochglanzzeitschrift für aktuelle Modeerscheinungen entsprungen – direkt vom Cover in eine nachmittägliche, deutsche Großstadt.

Interessiert betrachtete ich die winzige Designer-Handtasche, die als Absurdität in Schweinchenrosa in ihrer Armbeuge baumelte und das Gesamtkonzept sicher abrunden sollte, das ansonsten aus Leoparden-Muster-Top und knappem Lederrock bestand. Wie gebannt blickte Irina auf ihr mit Strasssteinen besetztes Smartphone und schnatterte aufgebracht in ihre Kopfhörer. Währenddessen klackerte sie nach einem einzigen, fahrigen Sicherheitsblick über die vielbefahrene Straße.

Eine eher unkluge Mischung – vorsichtig ausgedrückt.

Wobei ich in der Position war über die unmittelbar bevorstehende Zukunft keine Vermutungen aufstellen zu müssen.

»Nein, der Termin steht noch – sag denen ich bin in zehn Minuten da.«

»Das bezweifle ich, Schätzchen«, murmelte ich, als mein unfehlbares Zeitgefühl mir suggerierte: Es ist Showtime.

Nach einem Fingerschnippen erschien eine mittelgroße Sanduhr, Irinas Lebensuhr. Wenig überraschend waren nur noch wenige Körner von dem pinken Sand in der oberen Hälfte übrig. Genau diese von fallendem Zeitsand begleiteten Momente waren es, die den Anfang meines Aufgabengebiets markierten.

Von ihrer angebrochenen letzten Stunde ahnte Irina nichts, stattdessen setzte sie beschwingt einen High-Heel vor den anderen – ohne weiter auf Verkehrsregeln oder – Tod bewahre! – Ampelnutzung zu achten.

Während die letzten Körnchen fielen, wechselte das Geschehen wie gewohnt für mich allein schlagartig in Zeitlupe.

Erwartungsvoll drehte ich mich um und ein türkisfarbener Linienbus folgte seinem altbekannten Weg durch Frankfurt. Der Fahrer blickte eine Sekunde zu lang in den Seitenspiegel – nicht, dass Irina ein warnendes Hupen dank der Kopfhörer und ihres Gespräches überhaupt etwas gebracht hätte. Miss Lederrock traf die volle Wucht der reaktionären Realität um sie herum. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Die üblichen Einzelheiten eines Verkehrsunfalls wiederholten sich spektakulär. Meistens rumpelte es entsetzlich und die Passagiere – verschreckt aus ihrem sonst so entspannend eintönigen Arbeitsweg gerissen – griffen sich entsetzt an die Brust oder krallten sich mit Mühe und Not an Haltestangen fest. Zum ersten Mal seit dem Einstieg hoben einige den Blick von den Handybildschirmen. Fremde Blicke trafen sich, in ihrem kollektiven Gedächtnis wurde eine Erkenntnis geformt. Die meisten realisierten wohl recht zügig, dass sonstige Unfallgeräusche fehlten, wie Metall auf Metall im Regelfall verursachte.

Etwa zwanzig Meter weiter kam der Bus mit elendig quietschenden Bremsen zum Stehen. Hinter der Frontscheibe schlug der Fahrer ziellos auf das Armaturenbrett ein, um die Türen zu öffnen.

Niemand außer mir war Zeuge davon, wie Irinas Sanduhr auf dem Teer zu meinen Füßen zerschellte. Die Uhren barsten immer geräuschlos und danach drehte die Realität die Geschwindigkeit für mich wieder auf normal.

Zufrieden mit meinem makellosen Timing nickte ich und nahm mir wie gewöhnlich eine wohlverdiente Sekunde, um die vorchaotische Szenerie menschlichen Versagens gepaart mit einem vernichtenden Hauch von Schicksal aufzusaugen.

Beim Bersten ihrer Lebensuhr war Irina Kukla gestorben, wie jedes sterbliche Wesen es einmal tat.

Erste Schaulustige schrien, Fassungslosigkeit machte sich wie ein Lauffeuer breit. Fahrgäste sprangen aus dem Bus, ein paar Autos waren stehengeblieben und blockierten den nachfolgenden Verkehr. Unzählige Türen öffneten sich. Plötzlich war die Straße überfüllt von glotzenden Menschen, die in stummem Entsetzen die Münder aufrissen. Eine einzelne Frau traute sich schließlich als erste zum verformten Körper und kniete sich daneben. Irinas Handy lag lädiert einige Meter entfernt, mit einem zerstörten, gequält aufflimmernden Bildschirm.

Ein italienisches Arbeiterlied pfeifend bahnte ich mir einen Weg durch die zögernd näherkommenden Schaulustigen. Es war immer interessant mitanzusehen, wie viele Knochen ein Mensch sich auf einen Schlag brechen konnte. Und in welchen Winkeln die im Nachhinein abstanden… Ich legte den Kopf schief und nickte anerkennend. Den heutigen Jackpot (zumindest bei meinen Aufträgen, für weltweit konnte ich nicht sprechen) hatte Irina geknackt. Schade, dass ich dafür keinen Pokal vergeben konnte.

»Oh mein Gott, ruft einen Rettungswagen!«, schrie eine Dame mit derart schriller Stimme direkt neben mir, dass ich fast zusammenzuckte.

»Nutzlos«, erklärte ich der Dame mit dem beeindruckenden Organ, auch wenn sie mich natürlich nicht hören konnte. »Das kann nicht mal Frankenstein noch zusammenflicken.«

Schreckensbleiche Mitt-Fünfziger fand ich mindestens genauso amüsant wie gebrochene Knochen in hoher Anzahl.

Irinas Körper hatte den ungerechten Kampf gegen die Wucht des Linienbusses in voller Fahrt verloren, daran gab es keinerlei Zweifel. Ihre braunen Augen starrten mit Mascara eingerahmten Blick in den graubewölkten Nachmittagshimmel der Stadt. Ein paar Tropfen Blut schlichen sich aus ihren Mundwinkeln.

Einige Passanten schossen Bilder der frischen Leiche. Manche fanden es offensichtlich erbaulich, sich an einem gemütlichen Abend gemeinsam mit der gesamten Familie Bilder blutüberströmter Körper junger, toter Frauen anzuschauen. Vielleicht kürten sie auch ihre Top 3 der Woche, ähnlich wie ich?

»Beiseite!« Dramatisch fuchtelte ich mit den Armen und kniete mich neben den deformierten Rest der Frau. Meine Präsenz brachte die Umstehenden unmittelbar zum Ausweichen.

Ich war der eisige Hauch, den niemand sich erklären konnte. Ich war die Angst stiller Nächte, wenn die Vorstellung des Unsagbaren näher rückte als an sonnigen Tagen.

Nachdenklich musterte ich Irina für einen Augenblick. Manche hätten es als tragischen Tod betitelt, denn eigentlich war die Frau zu jung zum Sterben, aber das waren kleine Kinder auch. Ich verrichtete ohne Wertung den Lauf der Dinge, die mir als letztes Glied der Kette mitgeteilt wurden. Im Hinblick auf mein Zeitmanagement schob ich diese, immer mal wieder aufkeimenden Gedanken beiseite und ging zum nächsten To-Do-Punkt über. Mit zielgerichteter Genauigkeit zog ich ihre Seele aus ihrem Brustkorb an die Außenwelt.

»Was soll denn das?!«, hörte ich ein Fauchen, bevor ich mich überhaupt wieder aufgerichtet hatte. Ach, so eine also. Ich stellte mich auf Gegenwehr ein.

Meistens erschienen Tote in alter Gestalt, nur in transparenterer, energetischer Variante. Also gelblich leuchtend und halb-durchsichtig. So auch in ihrem Fall. Ein blasser Abklatsch der Toten erschien neben mir.

»Du bist tot«, klärte ich Irinas Seelengestalt detaillos auf. Im Normalfall war ich taktvoller, aber man lernte in meinem Geschäft, die Charaktere der Toten zügig einzuschätzen und seine Handhabung daran anzupassen. Auch heute sollte ich mich nicht irren. Wie ein bockiges Pferd schnaubte Irina.

»Das sehe ich – ich bin die Attraktion des Tages!« Sie fuchtelte wie wild mit den Armen und versuchte, ihren Körper vor den Schaulustigen abzuschirmen. »Hört auf, Fotos von mir zu machen, ihr Widerlinge! Verpisst euch, verdammt nochmal! Haut ab!«

»Beruhig dich, Irina. Ich weiß, das ist alles etwas viel für dich im Moment.«

Ihre Aufmerksamkeit wechselte von den Schaulustigen zu mir und ihre Augen wurden schmal. »Wer bist du überhaupt? Woher weißt du meinen Namen?«

Ein freundlicher Ton würde vielleicht helfen. Ich setze ein halbes Lächeln auf und sagte: »Ich bin Tanira, deine persönliche Sensenfrau—«

»Sensenfrau? Willst du mich vielleicht verarschen? Ich bin erst 23 geworden letzte Woche! Das kann doch wohl nicht dein verdammter Ernst sein, Ta-ni-ra!«

Wie sie meinen Namen aussprach, als wäre er ein Witz brachte mich fast in Rage. Aber dank jahrhundertelanger Übung nur fast.

Etwas Rest-Verständnis für ihre Lage hatte ich noch übrig.

»Hey, ich bin nur das Abhol-Kommando, Beschwerden nimmt das Schicksal an – mehr oder weniger gern.«

Mein Versuch witzig zu sein traf auf taube Ohren. Statt sich zu beruhigen, stampfte mein Opfer wutschnaubend mit dem Fuß auf, was bei Seelengestalten so gar keinen Effekt hatte, außer bescheuert auszusehen. Man sollte meinen, dass Menschen mehr Respekt und ja vielleicht auch ein bisschen Angst vor uns Sensenfrauen und -männern haben sollten, leider war das immer seltener der Fall. Irina passte somit ins Schema. Wenn ich einen Tipp abgeben dürfte, hätte er etwas mit der generellen Entwicklung der Menschheit und in manchen Spezial-Fällen auch mit fehlgeleiteter Erziehung zu tun.

Mit Hinblick auf meinen ersehnten Feierabend tendierte ich bei ihr zügiger als bei anderen Einsätzen zu Trick 17. Bedeutungsschwer beschwor ich meine Sense und ergriff sie aus der üblichen Rauchwolke. Es war ein Wunderwerk an Schönheit, glattes, nur leicht gewölbtes, schwarzes Holz, blank polierter Griff, in den meine Hände perfekt Halt fanden. Das silberne, an manchen Stellen leicht rostige Sensenblatt, das durch Zeit und Raum schneiden konnte und mir die Fähigkeit verlieh, Portale zu erschaffen, glänzte in der Sonne. Mit undurchdringlicher Miene richtete ich das Sensenblatt auf Irina, was ihr wie erhofft den Wind aus den Segeln nahm. Sie musterte die eindrucksvolle Klinge argwöhnisch und sie stellte es ein, ihren Körper zu bewachen wie ein trotteliger Wachhund. Parallel dazu kam ein Rettungswagen an und blockierte die Kreuzung.

»Hör mal, Irina: deine Zeit ist gekommen. Ich bin hier, um dir den Weg zu weisen, ob dir das nun in deinen Tagesplan passt oder nicht. Du kannst dein Schicksal nicht ändern, niemand kann das. Es ist alles so passiert, wie es geschrieben steht und dein letzter Satz stand in meinem Auftragsbuch. Es tut mir leid, aber für Tote wie dich gibt kein Zurück mehr.«

Sie starrte mich mit leerem Blick an, versuchte zu verstehen und entschloss sich abermals für den Weg der Empörung. »Aber ich hab den Durchbruch doch noch nicht mal geschafft! Allein nächste Woche habe ich drei wichtige Termine! Mein Agent meint, wenn ich auch nur einen dieser Jobs bekomme, dann—«

»Irina«, unterbrach ich sie mit Nachdruck in der Stimme. Ich musste mich stark zusammenreißen, ihren Namen nicht ebenso zu dehnen, wie sie es gerade mit meinem getan hatte, obwohl es sich angeboten hätte. »Du hattest deine dir zugewiesene Zeit, die jetzt rum ist. Das ist sicher alles sehr plötzlich, aber auch Diskussionen ändern daran nichts. Man feilscht nicht mit dem Tod und auch nicht mit seinen Handlangern. Niemand von uns kann die Zeit zurückdrehen und Fehler ungeschehen machen. Vor allem nicht Fehler, die einen Bus und ein mehrfach gebrochenes Genick beinhalten.«

Ihr Blick huschte von der Sense zu ihrem Leichnam, dann wieder zurück zu mir. Derweil schien sie nach einer Lösung zu suchen – doch es gab nur eine, das war zumindest mir deutlich klar.

Ihr wohl scheinbar weniger.

Hundeblicke bei Seelengestalten waren eher die Seltenheit. »Kannst du nicht mal eine Ausnahme machen? Für mich?«

Jedes Mal einen Dollar, einen Euro, ein Pfund, einen Schweizer Franken, sobald ich das Wort »Ausnahme« hörte, und ich könnte mir für meinen nicht angedachten Ruhestand ein ansehnliches Haus in den Hamptons leisten. Nicht, dass ich mich dort niederlassen wollen würde – lieber wäre ich in der Nähe des Broadways in New York, dort hätte ich immerhin kontinuierlich Unterhaltung statt sonnengebräunte, sich gegen das Alter mit Botox wehrende, auf Dauer wenig unterhaltsame Promis.

»Bin ich vor einen Bus gelaufen oder du?« Mein Sensenblatt richtete sich auf das, was von ihrem Körper übriggeblieben war. »Ohne dir auf die Füße treten zu wollen: dieser Körper ist Matsch.«

Irinas Seele verzog das Gesicht, als hätte ich sie mit meinem Hinweis auf ihr Fehlverhalten zutiefst beleidigt. »Was soll ich dann deiner Meinung nach jetzt bitte machen?«, fragte sie pampig.

Die ansonsten arbeitslosen Rettungssanitäterinnen bedeckten die Leiche mit glänzender Goldfolie. Spätestens das bedeutete unmissverständlich in jedem Land der Welt: keine Chance mehr, hier noch etwas zu retten. Zwei Polizeibeamte sprachen mit dem aufgelösten Busfahrer, der zusammengesackt auf dem Gehweg kauerte. Ein Beamter legte ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Wie jede Person, die vom Schicksal zum Akteur gemacht wurde, würde der Mann wohl an seiner Rolle an meinem Auftrag zu knabbern haben.

»Wie allen anderen auch empfehle ich dir weiterzugehen. Dem Lauf der Dinge folgen. Sehen, was danach passiert. Such dir gerne eine passende Floskel aus, die dir am besten gefällt. Aber jetzt…«

Als ich mit meiner Sense ausholte, erschien das Tor zu Irinas Jenseits neben mir, wie ein Riss in Zeit und Raum. Es blieb ungesehen von der Menschenmenge, die von der Polizei inzwischen mit Nachdruck zum Gehen aufgefordert wurde. Irina wandte ihren entrüsteten Blick allerdings nicht von mir ab, als würde ihre zur Schau gestellte Vehemenz etwas an der Gesamtsituation ändern. In solchen Momenten wünschte ich mir die herrlich markerschütternde – und vor allem zum Stillschweigen einschüchternde – Gestalt meines Meisters. Man musste zugeben, dass die leeren Augenhöhlen seines in Schatten gehüllten Schädels schon beeindruckend waren.

»Geh weiter und finde Frieden oder bleib hier und weine ewig deinem vergeudeten Leben nach. Ist sicher super so als Geist verloren in einer Stadt der Lebenden ohne Aussicht auf Hilfestellung, um weiterzugehen. Klar: du kannst es bestimmt irgendwann auch allein schaffen dein Jenseits zu finden – allerdings weiß ich aus sicherer Quelle, dass der Outcome dabei nicht gerade rosig ist. Das würde übrigens auch jeder andere Reaper sagen, falls dich das überhaupt interessiert.«

Ihr Leben hinter sich zu lassen, forderte die Seelen. Es war eine für manche schier unüberwindbare Hürde, sich auch noch vom letzten Bisschen weltlicher Existenz zu verabschieden. Natürlich zögerten sie. Natürlich versuchten sie daran festzuhalten – das Unbekannte hinter der Pforte war ein Risiko, das die wenigsten mit offenen Armen empfingen.

Irina überlegte lange, ob es die Sache tatsächlich wert war.

»Ach scheiß drauf«, lenkte sie dann ein. Ohne mich weiter zu beachten, näherte sie sich der Pforte, deren Licht zärtlich nach ihr griff, sie willkommen hieß und sie einhüllte, bis ihre Gestalt verschwamm und sich in der Ewigkeit auflöste.

Seit Jahrhunderten trieb ich mich während meiner Freizeit nicht in der Zentrale oder in den Zwischen-Dimensionen wie der Unterwelt herum, mich zog es in die Welt der Sterblichen. Genauer: in Theater, Kinosäle, Wohnzimmer oder auf öffentliche Plätze. Ich konnte nicht anders. Die Geschichten, die die Menschen an diesen Orten erzählten und als Zuschauer aus zweiter Hand erlebten, zogen mich an, als wäre ich eine Motte und sie das Licht.

Bisher war ich zum Glück noch nicht in die Verlegenheit gekommen, dieses womöglich ungewöhnliche Verhalten vor meinesgleichen rechtfertigen zu müssen – wahrscheinlich würde mir dafür auch keine Erklärung einfallen.

Warum schaut eine Reaper auch dem Leben zu? Was faszinierte mich so sehr an Dramen, Tragödien und manchmal auch mittelmäßig umgesetzten Drehbüchern?

Alltägliches Leben, wie Menschen existierten, welcher Schmerz sie zerbrechen ließ, wie sie sich über Kleinigkeiten wie Blumen freuten und gleichzeitig am Abgrund existierten, war der beste Film, den ich erleben konnte. Nur wieso genau war mir selbst unerklärlich.

Diese Leidenschaft, wenn man es denn so nennen wollte, äußerte sich unter anderem darin, dass ich herumlungerte, Gespräche belauschte und Tragödien genüsslich aus nächster Nähe miterlebte. An anderen Tagen schlich ich mich in Theateraufführungen, stand bei stark geschminkten Schauspielern mit auf der Bühne oder beobachtete gespannt die Reaktionen des Publikums auf Dramen, Tragödien oder Historien.

Während seiner Blütezeit hatte ich besonders das elisabethanische Theater geliebt. Seit einigen Dekaden waren aber auch zusätzlich neumodischere Medien hinzugekommen. Die Erfindung von Film und Fernsehen verfolgte ich gemeinsam mit den Menschen mit begieriger Neugier. Trotzdem konnte nichts den Stellenwert des Theaters einnehmen. All die Tragik und die Kurzlebigkeit des menschlichen Seins, vereint in einigen Akten, Monologen und wenigen, durchdachten Sätzen, gepaart mit virtuosen Schauspielkünsten und aufopfernden Darstellungen.

Reaper waren unsterblich. Es verstand sich von selbst, dass ich nach einigen Jahrhunderten eine Kennerin und sicher auch scharfe Kritikerin der Künste wurde. Manchmal saß ich im Schneidersitz bei einer Vorführung von Hamlet oder Romeo und Julia und sprach simultan den originalen Text mit. Natürlich tadelte ich die Schauspieler lautstark, wenn sie von der Norm abwichen und zu viel Selbst-Interpretation wagten.

Das war meine Form von Unterhaltung, obwohl das sicher keiner meiner Zunftmitglieder nachvollziehen konnte, würden sie mich jemals dabei beobachten. Nicht, dass ich Wert auf ihre Meinung gelegt hätte.

Ein Arbeitstag blieb mir dabei besonders im Gedächtnis, wenn es um meine Leidenschaft fürs Theater ging. Rein zufällig war ich an diesem wunderschönen Theater an der Themse vorbeigekommen, um meinen nächsten Kandidaten (Ertrinken im Fluss, 16:15:25) einzusammeln.

Der Ort war mir nicht fremd, ich war Stammgast im Globe und wanderte oft durch die hölzernen Gänge, während Shakespeares Stücke vor begeistert tobenden Massen vorgeführt wurden, deren Inhalt und Ausdruckskraft auf fast gespenstische Art den Puls der Zeit einfingen.

Besonders gern hatte ich mich auf den höheren Rängen aufgehalten, auf einer der Brüstungen gesessen, die Beine in der Luft baumeln lassen und die über die Bühne tobenden Schauspieltruppen verträumt beobachtet. Ab und an hatte ich mir die Freiheit erlaubt, mich selbst als Teil der Geschichte hineinzudenken. Als wäre ich Lady Macbeth, die viel mehr als ihr Ehemann in Ehrgeiz und Machtgier die Handlung vorantrieb und doch am Ende leer ausging und sich selbst ein Ende setzte. Ja, das wäre eine Rolle, die mir gefallen hätte. Tiefgründig, abgründig und sicherlich herausfordernd im Spiel.

An jenem schicksalhaften Tag wurde nicht eine Aufführung von Macbeth über die Aushänge an den Türen des Theaters angepriesen. In dem Theater würde für eine lange Zeit gar nichts mehr aufgeführt werden.

Das ausgebrochene Feuer setzte allem ein jähes Ende.

Woher auch immer diese Gefühlsregung gekommen war, ich hatte einige Sekunden lang das lodernde Globe Theater betrachtet und etwas wie Bedauern empfunden. So viele Menschen hatten panisch versucht, die sich durch das Holz fressenden, hungrigen Flammen zu bekämpfen und das Gebäude oder zumindest Teile davon zu retten. Doch es war, als würde man mit einem Besenstiel gegen einen feuerspeienden Drachen kämpfen, der seinen kostbaren Schatz mit Raffgier und Blutdurst bewachte. Die Verzweiflung in den Mienen der Menschen war schwer zu vergessen.

Zwar wollte ich während meiner heutigen Freizeit nicht das wiederaufgebaute Globe besuchen, war aber trotzdem in London, um einer gepriesenen Aufführung von Romeo und Julia in Neuauflage im Palace Theater beizuwohnen. Eines der Plakate war mir bei einem Auftrag letzte Woche aufgefallen (tragisches Schienenunglück mit einem Bauarbeiter und der Central Line). Wie es der Zufall wollte, spielte mir meine Freizeit perfekt in die Karten.

Nachdem ich mein Buch in der Zentrale abgelegt hatte, wo es wieder mit neuen Aufträgen gefüllt wurde, nahm ich in der Eingangshalle ein Portal und ließ mich vom Vortex, unserem Transport-Wirbel zwischen den Dimensionen, unmittelbar vor dem Theater wieder ausgespuckt.

Gerade wollte mich unter die hineinströmende Menschenmenge vor dem hell erleuchteten Gebäude mischen, um die allgemeine Stimmung auf mich wirken zu lassen, als ich jäh stoppte.

Zuerst war es ein vehementes Ziehen in meinen Eingeweiden, als hätte jemand einen Angelhaken in meinem Bauchnabel versenkt und würde langsam, aber stetig die Leine einholen. Das an sich war noch nicht unbedingt ungewöhnlich, manchmal versuchte Tod auf ähnliche Weise uns Nachrichten zukommen zu lassen – deshalb verharrte ich und wartete darauf, dass wie gewohnt seine Stimme in meinem Kopf einsetzte.

Dass es nicht mein Meister höchstpersönlich war, stellte ich schnell fest, als der Effekt ausblieb. Ich hörte zwar eine entfernte Stimme wie ein Säuseln im Wind, das immer kräftiger wurde, aber Tod säuselte nicht – er drückte sich klar und äußerst deutlich aus. Bei ihm gab es keinen doppelten Boden oder vage Hinweise.

Stirnrunzelnd blickte ich an mir hinab, meine Robe wehte im Wind, als wäre ich ein zerfledderter Schatten, der sich auf den Platz vor dem Theater verirrt hatte. Da war nichts Sichtbares, was an mir zerrte. Es war keine göttliche Intervention, die dringend mit mir kommunizieren wollte und auch kein Dämon oder Engel. Es war etwas komplett anderes.

Zwei Sekunden später wurde ich brutal aus meiner Dimension gerissen und alles verschwamm in Dunkelheit um mich herum.

KAPITEL 2

Im Schneidersitz saß er auf dem mäßig beleuchteten Dachboden, vor sich eine kupferne Schale, in der die Reste verschiedener Gegenstände mit beißendem Gestank vor sich hin kokelten. Dahinter, auf eine Freifläche zwischen Gerümpel längst vergessener Möbelstücke und eingestaubter Kisten, war ein Pentagramm in den von schlierigem Staub bedeckten Boden gezeichnet. Der Kreis im Inneren hatte einen Durchmesser von etwa zwei Metern, was alles an Platz war, was der junge Magielehrling dem Dachboden und dessen immenser Befüllung hatte abringen können. Etliche, halb heruntergebrannte Kerzen beleuchteten die Szenerie mit flackerndem Schein und ihr Rauch vermischte sich mit beißendem Gestank, der von den kokelnden Zutaten aufstieg.

Konzentriert rezitierte er, ohne abzulesen, die letzten Silben der Beschwörungsformel, was das uralte Buch nutzlos erschienen ließ, das er gerade in der zitternden rechten Hand hielt. Statt auf die krakeligen Zeilen waren seine Augen fest auf das Pentagramm gerichtet.

Die sich nahende Gefahr brannte wie Feuer in jeder seiner Zellen, so sehr waren seine Kräfte in Alarmbereitschaft. Für einen Rückzieher war es längst zu spät, das war ihm klar. Genau genommen eine Minute zu spät, denn so lang dauerte das Aufsagen der Beschwörungsformel eines Sensenmannes. Einmal angefangen würde es den eigenen Tod bedeuten, mittendrin einfach abzubrechen. Das war Nathaniel Greenwich bewusst, trotzdem blieben ihm die letzten Silben fast in der Kehle stecken, bevor sie in der staubigen, Geräusche schluckenden Atmosphäre des Dachbodens verklingen konnten. Als alles gesagt worden war, wartete er die drei vorhergesagten, elendigen Sekunden bis zum Eintreffen seines beschworenen Wesens mit angehaltenem Atem.

Gerade als er seine Formel in wachsender Todesangst zum tausendsten Mal erneut durchlesen wollte, geschah etwas. In dem mit Knochen-Kreide gezeichnetem Pentagramm materialisierte sich eine Gestalt. Sie erschien derart plötzlich, dass sie einfach da war, nachdem er einmal geblinzelt hatte. Vor Schreck ließ er das wertvolle Notizbuch in seinen Schoß fallen, bevor er aufsprang, weil er es auf dem Boden nicht mehr aushielt vor Euphorie. Das Buch purzelte in den Staub vor die Schale.

Es hat funktioniert! Ein halb erschrockener, halb erfreuter Laut entfuhr ihm jäh. Da war es! Das Wesen, das er zu sich in diese Dimension beordert hatte!

Mit der Faust gegen den offenen Mund gepresst, starrte er zu dem Sensenmann rüber. Atemlose Sekunden wartete er ab, doch das Schattenwesen lag vollkommen regungslos da. Unangenehm verdreht, fast wie ein Mensch, der vom Dach eines Hochhauses gesprungen und hart auf dem Gehweg aufgeschlagen war. Vorsichtig beugte sich Nate nach vorn, war aber nicht gewillt, seinen sicheren Standort unüberlegt zu verlassen. Gerade so konnte er das Gesicht im Schatten erkennen… Er erstarrte.

Was zur…?

So hatte er sich einen Sensenmann definitiv nicht vorgestellt.

In seinem Kopf kollidierten sofort Halbwissen und Weltbilder – oder eher Bilder der Magiegilde – mit der unbestreitbaren Realität, während er sich nun doch entgegen seiner Vorsicht nach vorn wagte und seine Errungenschaft mit verständnisloser Fassungslosigkeit begutachtete.

Ein… Mädchen?

Statt eines Sensenmanns mit Totenschädel und blanken Knochen, wie er ihn erwartet hatte, präsentierte sich im Staub zu seinen Füßen eine durchaus lebendig wirkende junge Frau. Ihr Gesicht war teilweise bedeckt von kupferfarbenen Locken, deren einzelne Strähnen zu kunstvollen Zöpfen geflochten waren. Die Kapuze ihres langen Mantels, der sich wie eine schwarze Pfütze aus Stoff um ihre Gestalt geschlungen hatte, tauchte ihr Antlitz in lebendig wirkenden Schatten.

Obwohl sie gerade ohnmächtig schien, ging eine Gefahr von ihrer Präsenz aus, äußerte sich wie ein unangenehmes Prickeln auf seiner Haut und er fröstelte. Es war, als würde sie die Atmosphäre des Dachbodens elektrisch aufladen und ihn damit auch davon abhalten, ihr nahe zu kommen.

Als seine Sinne ihm diese Wahrnehmung übermittelten, stolperte er zurück und raufte sich die Haare. Trotz der Warnsignale und egal ob Sensenmänner… oder -frauen: er hatte es geschafft. Ein gewinnendes Lächeln stahl sich zurück auf sein glühendes Gesicht, als ihm die Bedeutung dieses Augenblicks für die Geschichte der Magie bewusstwurde. Zwar würde leider niemand außer ihm selbst je davon erfahren, aber nichtsdestotrotz war dies ein historischer Moment. Dort vorn, nur drei Meter entfernt, lag der reglose Beweis für sein Können im Staub!

Als dieser Beweis sich jedoch mit einem trockenen Schnaufen plötzlich bewegte, nahm der junge Magier sofort die Abwehrhaltung ein, die ihm beim Dämonologie-Unterricht eingebläut worden war. Seine Stele reckte er ungefähr auf Brusthöhe nach vorn, ein Abwehrspruch bereits auf den Lippen.

»Was in Todes Namen—«

Unvorbereitet ob ihres Anblicks sah er sich plötzlich der Sensenfrau gegenüberstehen, die sich gerade im Pentagramm aufrichtete.

Staub wirbelte innerhalb des Pentagramms auf wie feiner Nebel. Mit übermenschlich schnellen Bewegungen sortierte sie ihre langen Haare aus dem Gesicht und streifte die Kapuze ab, um ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen.

Der Anblick ihrer Augen traf ihn unvorbereitet. Ohne zu blinzeln, begutachtete die Sensenfrau den Dachboden. Dabei registrierte sie das aufgemalte Pentagramm und die mit Knochenkreide gezeichneten Runen. Allein ihr Kopf bewegte sich dabei, als wäre sie eine Katze auf der Jagd, die ihre Beute in der Nähe wägte. Als sie Sekunden später eins und eins zusammenzählte, verdüsterte sich ihre Umgebung. Keine der Kerzen flackerten, nur innerhalb des Pentagramms wurde es merklich dunkler um ihre Gestalt. Ihr Körper umwaberten neblige Schatten.

»Das ist doch jetzt bitte nicht wahr, oder?«

Mit einem Ruck ihres Kopfes fixierte sie ihren Beschwörer.

Nates Kehle schnürte sich zu. Das widerliche Gefühl der Eiseskälte intensivierte sich und steigerte sich zu einem Trommelwirbel aus Herzrasen in seiner Brust.

Die Iris ihrer Augen war milchig und hell wie ein Vollmond, dabei war ihr Ausdruck voller Unendlichkeit wie ein nächtlicher Sternenhimmel, sodass man sich unweigerlich in ihrem Gesicht verlor. Trotz der Todesangst vergaß er kurzerhand seinen eingeübten Text, den er genau für diese Stelle seines minutiös durchdachten Plans vorgesehen hatte.

»Ä-ähm«, kam es substanzlos heraus.

Sofort fiel ihm Theofilius Kensington ein, der drei Jahre zuvor wegen nicht angemeldeter Experimente mit einem Feuer-Dämon gestorben war. Er war das jüngste Beschwörungs-Todesopfer und eine Art stätig erwähntes abschreckendes Beispiel in der Akademie der magischen Künste Londons. Nates Name sollte definitiv nicht auf folgen, nur weil er einen dämlichen Konzentrationsfehler beging.

»Verrätst du mir wer zur Hölle du bist?« Ihre Stimme war melodiös und erinnerte ihn an ein lang vergessenes Kinderlied, an das er sich jetzt erst wieder mit neu erwachendem Herzrasen erinnerte. Der Effekt war so intensiv, dass er kurz den Kopf schütteln musste, um das Gefühl zu vertreiben.

Die Sensenfrau betrachtete ihn derweil stoisch. Fieberhaft grub er im Chaos seiner Gedanken nach der nächsten Beschwörung, die er sich wie ein Mantra jeden Tag aufs Neue in Gedanken vorgebetet hatte, aber statt Worte fand er nur gähnende Leere, die ihn in einer nicht geahnten Einfallslosigkeit verhöhnte.

Weil sie keine Antwort bekam, schnipste sie und eine Sense erschien, die so groß war, dass sie fast mit dem Dachbalken über ihr kollidierte. Ungelenk zog sie sich am Griff hoch. Das geschärfte Sensenblatt schimmerte beängstigend im warmen Lichtschein der Kerzen. Nate hatte keinen Zweifel daran, dass die Sensenfrau genau wusste, wie sie das Utensil einzusetzen hatte.

Allein der Gedanke an den Anteil der Schutzzauber in seiner Beschwörung, die ihr eventuelle Anschläge auf sein Leben verbauten, beruhigte ihn. Dafür hatte er gesorgt. Mit Doppelt- und Dreifachboden. Vorausgesetzt er hatte sich nicht verhaspelt. Und die Runen richtig aufgemalt, keine Lücken mit der Spezialkreide hinterlassen… die Liste der möglichen Verfehlungen war plötzlich länger als es ihm lieb war.

Trotz des kurzlebigen Anflugs von Selbstsicherheit wurde ihm eiskalt, als das Wesen mit dem Sensenblatt den Kreis um sich herum zu prüfen begann. Ein furchtbares Kratzen ertönte, als es über den Boden schabte – jedes Mal, wenn die Klinge die Begrenzung der Kreide berührte, sprühten grellblaue Funken auf und erhellten ihr wie aus dunklem Stein gemeißeltes Gesicht. Unzufriedenheit verzerrte es zu einer grotesken Maske.

Als sie ihre eingehende Prüfung fast beendet hatte und ihm gerade den Rücken zukehrte, fand er endlich seine Stimme wieder.

»Bemüh dich nicht, du wirst keine Lücke finden. Meine Beschwörungsformel war auch wasserdicht – keinen Grund, da als nächstes nach einem Schlupfloch zu suchen. Du kommst hier nicht weg.«

Sie drehte sich blitzschnell um. Ihre glimmenden Augen sprachen Bände davon, dass sie ihm am liebsten in winzige Magier-Stücke bis zur Unkenntlichkeit zerfetzen würde. Schließlich reckte sie das Kinn.

»Ach ja? Und was willst du von mir?« Sie klang erstaunlich gefasst, obwohl sie es schaffte, eine Frage wie eine Morddrohung wirken zu lassen.

Nate atmete tief durch. »Deine Hilfe.«

»Hilfe? Von einer Reaper?«, höhnte sie und schüttelte den Kopf. »Wie hast du es überhaupt geschafft, mich zu rufen? Sag mir das erstmal, bevor ich dich auslache.«

»Einer… was?«, fragte er perplex über die Bezeichnung, die sie gerade benutzt hatte.

»Reaper. R-E-A-P-E-R. Eigenname. Aber mir ist bewusst, dass ihr Menschen uns ja lieber als Sensenmänner bezeichnet. Auf den Gedanken, dass es auch Sensenfrauen geben könnte, kommt ihr Einfallspinsel immer nur nach eurem Ableben.« Abschätzig musterte sie ihn von Kopf bis Fuß, was unangenehme Schauer über die entsprechenden Stellen jagte. Es half auch nicht, dass ihre Aura ihn zusätzlich verunsicherte.

Es sollte verboten sein, so faszinierend auszusehen und dennoch Menschen um die Ecke zu bringen, dachte er missmutig. Kurz wünschte er sich doch die Variante mit Schädel und Kutte, auf die er sich mental vorbereitet hatte. Das würde ihn weniger ablenken.

»Also schön, wenn du dieses Fiasko hier allen Ernstes durchziehen willst, bist du entweder ziemlich dumm oder vielleicht sollte ich es eher lebensmüde nennen. Verrätst du mir, was von beiden Kategorien du bist, Magier?«, sprach die Reaper weiter.

»Nichts davon.« Er straffte die Schultern in einem Versuch Haltung anzunehmen.

Ihr hohles Lachen verspottete ihn jäh, sie legte dafür sogar den Kopf in den Nacken. Mit beginnendem Unmut setzte er gerade dazu an, ihr dieses Verhalten zu verbieten, als sie schlagartig wieder ruhig wurde. Mit schiefgelegtem Kopf, die Arme locker auf den Griff der Sense gestützt, verhöhnte sie ihn aus der Distanz.

»Nein, du bist offensichtlich einfach nur wahnsinnig.« Sie stieß ihre Sense abwechselnd aus der linken in die rechte Hand, als wäre sie ein riesiges Pendel. »Gut, du hattest deinen Spaß und es war sicher für einen von uns sehr unterhaltsam. Ich hab Besseres zu tun, als mich mit einer halben Portion von Magier rumzuschlagen. Na los, lass mich wieder gehen. Ich kann dir nicht helfen, egal wobei.«

»Bist du dann fertig?«, fragte er säuerlich. »Ich habe dich hierher gerufen, um mir eines deiner Insignien auszuleihen. Deshalb befehle ich dir, mir deinen Kompass für die Dauer meiner Mission zur Verfügung zu stellen.« Froh, die Worte einwandfrei über die Lippen bekommen zu haben, ergänzte er nach einer kurzen Pause, als er ihren Blick bemerkte: »Ich muss ihn wirklich nur ausleihen, ich habe nicht vor, ihn zu behalten. Ehrlich.«

Sie blinzelte. »Meinen Kompass?«

»Ja, deinen Kompass. Du hast ihn doch bei dir, oder?«

Reglos starrte sie ihn an. So lange, dass er fast befürchtete, sie wäre in eine Art Schockstarre verfallen und seine Nervosität in seinen Fingerspitzen kribbelte. »Also, wenn du ihn mir dann jetzt gibst, kannst du eigentlich wieder gehen. Ehrlich, du musst nicht bleiben. Gib ihn mir einfach.«

»Was für einen Kompass? Wovon sprichst du?«, entgegnete sie, plötzlich aalglatt, ihr Gesicht eine affektierte Maske der Scheinheiligkeit.

»Spar dir die Spielchen, du stehst unter meiner Beschwörung. Wenn du lügst, merke ich das. Eines deiner beiden Insignien ist ein Kompass, das andere ist eine Sense. Ich brauche aber nur deinen Kompass, wie bereits erwähnt.«

In ihm sträubte sich alles dagegen, seine Anweisungen derart wiederholen zu müssen. Diese Angelegenheit dauerte schon jetzt länger, als ihm recht war.

Ihre freie Hand ballte sich langsam zu einer Faust. »Das ist unmöglich! Kein Sterblicher—«

»Doch, ich. Offensichtlich.« Erleichterung beflügelte ihn und nicht zuletzt seine Selbstsicherheit. Auf sein triumphierendes Lächeln reagierte sie allerdings mit haltloser Wut.

»Woher?! Dieses Wissen ist nicht zugänglich für euch, kein Lebender hat je davon erfahren können!«

»Was, wenn einem Reaper in der langen Geschichte der Menschheit mal ein Fehler unterlaufen ist? Nur ein Gespräch lang? Wäre das so unwahrscheinlich?«

Ein gewinnendes Grinsen konnte er nicht unterdrücken, auch wenn er damit die Adjektive unterstrich, mit denen sie ihn bedacht hatte.

»Reaper machen nicht einfach so Fehler!«, knurrte sie mit einem wahnsinnigen Funkeln in den bleichen Augen. »Tod macht niemals Fehler und wenn wir uns Fehltritte erlaubt hätten, würde er sofort davon erfahren und alles richtigstellen, bevor Trottel wie du auf solche Ideen wie das hier kommen. Was auch immer das ist. Glaub mir: kein Lebender darf dieses Wissen besitzen, Tod würde das niemals zulassen. Deine Behauptung ist unmöglich. Außer du bist ein lebender Toter.«

Gewinnend hielt er das lederne Notizbuch in die Höhe, damit sie es sehen konnte und wedelte damit, als wäre es ein Fächer. »Deine Loyalität in allen Ehren, wirklich – allerdings habe ich einen schriftlichen Beweis dafür, dass ihr mit den Insignien Tote aufspürt und die Pforte ins Jenseits herbeiruft. Also muss ich dir an der Stelle widersprechen. Fehler passieren offensichtlich auch den allerbesten, zugegeben: unter gewissen unglücklichen Umständen vielleicht, aber sie passieren eben.«

»Deine Worte sind haltlos, wenn du sie nicht beweisen kannst«, betonte sie kalt und schenkte dem Buch keine Aufmerksamkeit.

Kurz kam sie Nate vor wie ein in die Enge getriebener Hund. Den Stiel ihrer Sense hielt sie mit fester Hand umklammert. Ein Schwung nur und er wäre tot. Hätte, ja hätte er sie nicht komplett unter Kontrolle und in seiner Hand.

Ein seltsam schauriges Gefühl der Macht elektrisierte ihn, als seine Fähigkeiten sich ihrer neuen Rolle bewusst wurden. Er leckte sich über die trockenen Lippen und unterdrückte den Impuls, ihr sofort klarzumachen, welchen Spielraum ihm die Beschwörungen ermöglichten, damit sie ihm zu Willen war.

»Ich bin dir keine Erklärungen schuldig, Reaper. Ich habe dich beschworen und du musst dich meine Forderungen beugen, weil ich dein Meister bin. Also befehle ich dir hiermit erneut, mir den Kompass zu überreichen. Das ist das letzte Mal, dass ich frage. Vielleicht passt dir das nicht, aber wenn du es nicht freiwillig tun willst, dann kann und werde ich dich dazu zwingen. Sag dann aber nicht, ich hätte dich nicht vorgewarnt.«

Sie spie eine Verwünschung auf einer ihm unbekannten Sprache aus, was Nate als deutliches Nein wertete.

Dann eben Plan B. Die nächsten Worte waren wohlgewählt. Es war ein schwieriger Spruch, der ihn am meisten Vorbereitungszeit gekostet hatte. Die lateinische Formel war verworren, kompliziert und voller Tücken – allerdings nur für ihn selbst. Ein einziges Wort an der falschen Stelle und er würde womöglich sein eigenes Leben am Besitz des Kompasses festmachen. Während er die auswendig gelernte Formel rezitierte und dabei eine Hand mit der glimmenden Stele langsam hob, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen.

»STOPP! Warte, verdammt nochmal! HÖR AUF! Du machst einen riesigen Fehler, du—«

Als er sie ignorierte, jaulte sie auf und fiel polternd auf die Knie, die Sense blieb neben ihr stehen, als wäre sie auf den Dielen festgewachsen. Mit ihren Fäusten hämmerte die Reaper auf den Boden, weil sie nicht wagte, die Barriere des Pentagramms zu berühren. Das Geräusch und ihre immer verzweifelter klingenden Rufe brachten ihn nicht aus dem Konzept, worauf er stolz war.

Sobald seine Litanei endete, wurde sie unangenehm ruhig. Mit bebender Brust blickte sie ihn mit Mordlust im Blick von unten an, als würde sie ihn auf der Stelle zu Asche verwandeln wollen, die sich dann direkt mit dem Staub des Dachbodens vermischen könnte. Diesmal war er jedoch auf diese Taktik vorbereitet und gab sich Mühe, standhaft zu bleiben. Zehn Sekunden jedenfalls, dann gab er auf.

Er kam langsam auf das Pentagramm zu und streckte fordernd die Hand aus.

»Hör mal, es ist wirklich nichts Persönliches, ich hab einfach keine andere Wahl—«

»Spar es dir!«, fauchte sie. Ihre Stimme war schneidend und verfehlte ihre Wirkung nicht. Als hätte sich ein eiskaltes Messer in seine Brust gerammt. Jede Erhabenheit war aus ihrer Haltung gewichen. Statt Spott war da nur noch ehrliches Entsetzen, das ihm plötzlich klarmachte, dass etwas gerade vollkommen aus dem Ruder gelaufen sein musste.

Die Reaper schüttelte den Kopf und ihre Bestürzung sprang auf ihn über. »Was hast du getan?«, fragte sie ihn mit hohler Stimme. »Hast du eine Ahnung, was du angerichtet hast?«

»Ähm, ich – was ist denn?«, fragte er lahm.

»Deine ach-so-tolle Formel ist zwar echt süß und auf erstaunlich meisterhaftem Niveau durchdacht, aber du hast eine klitzekleine Kleinigkeit vergessen, du Vollidiot von einem Magier.« Sie hielt bebend inne und sammelte ihre Wut für jedes weitere Wort. »Deine Sprüche rauszuhauen ist sicherlich ein strahlender Beweis für dein Können und deine Kumpels werden super stolz auf dich sein, wenn du ihnen später im Pub lang und breit davon erzählst, aber du hättest mit mir sprechen sollen, bevor du so übereifrig mit deinen Möchtegern-Zaubertricks loslegst!«

Sein Magen trudelte unangekündigt Richtung Erdgeschoss und seine Hände wurden schwitzig, als er realisierte, dass die Sensenfrau ihn nicht anlog.

In Windeseile ging er die Worte durch, immer wieder. Er übersetzte hin und her, konjugierte und achtete auf die Reihenfolge. Dann zählte er die benötigten Utensilien auf. Schuh eines Toten, gestohlene Münze, verbranntes Nachtschattengewächs… Er fand nichts. Trotzdem – auch seine Fähigkeiten ließ ihn spüren, dass etwas hier nicht stimmte.

»Nein, ich habe keinen Fehler gemacht. Du bluffst.«

Ihr Gesichtsausdruck sagte etwas anderes, trotzdem streckte er die zitternde Hand erneut aus. Die leere Handfläche nach oben bedeutete er ihr, den Kompass reinzulegen. Ein letzter, verzweifelter Versuch, seinen eigenen Instinkten zu widersprechen. »Also wenn du dann so nett wärst.«

»Oh.« Sie verzog ihr schaurig schönes Gesicht zu einem gewinnenden, aber bitteren Lächeln voller Kälte. Das war keine Freude, das war absolute Wut verpackt in etwas Alltägliches, weil sie ihm rein gar nichts antun konnte. »Wie gern ich das doch würde, dummer kleiner Magier. Würde es nicht gegen alle Gesetze des Schicksals verstoßen, würde ich dich sofort mit meiner Sense, meiner Insignie, um deinen Kopf erleichtern.

Danach würde ich dich ausnahmsweise höchstpersönlich nach unten in die Hölle bringen, wo dich sicherlich ein paar Dämonen erwarten werden. Das Privileg hättest du dir redlich verdient. Oh ja, ich weiß, was die mit euresgleichen anstellen, wenn ihr da unten auftaucht. Aber auf das Spektakel müssen wir beide noch warten, bis ich aus deinen Beschwörungen wieder rauskomme – und glaube mir: das war ein ernst gemeintes Versprechen. Hiermit starte ich die Raterunde, was wo schiefgelaufen sein könnte. Na, kommst du vielleicht selbst drauf – Magier?«

Sein Magen war ein einziger, fester Knoten, ihre Kunstpause versetzte ihn in haltlose Panik. Er starrte sie sprachlos an, sie reckte arrogant das Kinn und in ihren Augen glühten alle Feuer der Hölle, die sie ihm soeben angedroht hatte.

»Na schön, hier die Auflösung für Vollidioten: dir scheint entgangen zu sein, dass meine verdammte Existenz an diesem Kompass hängt. Sobald ich auch nur daran denken sollte, ihn aus der Hand zu geben, zerfällt er sofort zu einem Haufen unnützen Staub zu deinen heiligen Füßen und ich mit ihm. Also Glückwunsch an dich, du Möchtegern-Meistermagier – du bekommst eine Eins mit Fleiß-Sternchen. Deine Sprüche zwingen mich, bei dir zu bleiben, bis deine Aufgabe erledigt ist. Wir zwei sind dann wohl Teampartner.«

Tanira

Dieser Volltrottel, dieses dumme Stück Mensch, dieser inkompetente Taschenspieler-Zauberkünstler!

In mir brodelte es. War das etwa das, was Menschen Wut nannten? Oder vielleicht sogar Hass? Egal, was es war, Grund dafür war dieser verschrobene Junge mit den zu langen Haaren in seiner lächerlichen nachtblauen, bodenlangen Zeremonien-Robe, dem viel zu ernsten Gesicht und seiner offen zur Schau getragenen Wichtigtuerei.

Ja, ich konnte ihn nur hassen.

Diese halbgare Portion passte allerdings zugegeben auf den ersten Blick nicht ins übliche Magier-Schema.

Oh ja, ich kannte diese Gestalten mit ihren heißgeliebten spitz zulaufenden Schuhen (zumindest hatten sie die früher gern getragen), ihren goldenen Spiegel-Ringen, mit denen sie miteinander kommunizierten, dem Geschwätz in toten Sprachen. Dämonen nutzten sie für praktische Spionagemöglichkeiten, zur Verteidigung ihrer Interessen oder sogar, um zu morden. Alles, um dem eigenen Ansehen innerhalb ihrer Gilde Herr zu werden. Dann gab es noch nicht weiter nennenswerte, hanebüchene Zaubertricks, die ihrer Meinung nach nur »begabte« Menschen überhaupt erlernen konnten. Faselten etwas von Genetik und hielten sich selbst deshalb für besser als die Anderen, normalen Menschen, die mir aktuell weniger auf den Zeiger gingen.

Wie sehr ich mir wünschte, der Abklatsch eines Magiers vor mir hätte einen Fehler begangen und dadurch ein Schlupfloch ermöglicht. Dieses Exemplar, an das ich geraten war, schien meiner Einschätzung nach ein besonders schwerwiegender Fall von jugendlichem Einfallspinsel zu sein. Leider.

Nach meiner knallharten Darlegung der Fakten, verpuffte jede Selbstsicherheit des menschlichen Ärgernisses. Mit zunehmender Verzweiflung erhoffte er sich Hilfe aus dem Buch, das er zuvor überheblich herumgeschwenkt hatte. Doch jedes wirre Blättern half nichts.

Kein lebender Mensch auf diesem Planeten hatte Kenntnis über meine drei – nicht zwei, wie er fälschlicherweise annahm – Insignien, den Kompass explizit oder die Beschwörung von Reapern. Wenn ich als Teil der Maschinerie die Wahrheit dahinter schon nicht kannte, dann erst recht nicht die halbe Portion eines Magiers mit einem ausgedachten Namen. Tod hätte ein solches Szenario unterbunden, davon war ich felsenfest überzeugt. Kein allwissendes Wesen hätte diese Informationen frei zugänglich in irgendwelchen Büchern weiter existieren lassen.

Vor Angstschweiß feuchte und sowieso viel zu langen braunen Haare, klebten an der bleichen Magierstirn und man konnte mit etwas Fantasie beobachten, wie der frühzeitige Herzinfarkt bedächtigen Schrittes näher kam.

Man durfte ja noch hoffen.

»Nein, nein, nein – du lügst! Das kann nicht sein, ich habe das doch mit—« Er stockte abrupt, bevor er aus Versehen etwas Persönliches preisgab. Seine auffällig unterschiedlich farbigen Augen huschten vom Buch zu mir und dann wieder zurück. Das rechte war dunkelgrün, das linke braun. Diese Heterochromie verlieh ihm auf jeden Fall ein interessanteres Gesicht, denn ansonsten war es akkurat und fast ekelerregend symmetrisch. Er hatte entfernte Ähnlichkeiten mit einem Schauspieler, den ich einmal in einer Serie gesehen hatte, den ich allerdings nie hatte fertig ansehen können, weil das Ende meiner Freizeit mir einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Es war… asketisch. Ja, das war das Wort, das ich suchte.

»Ja, tu ich das? Was du nicht sagst.«

Mit einem Schnipsen ließ ich meine Sense, meine weniger erwünschte Insignie, wieder verschwinden – was mir missfiel. Sein Spruch war durchaus so konzipiert gewesen, dass ich ihm kein einziges, schweißgetränktes Haar krümmen konnte. Bis seine Aufgabe abgeschlossen war, hatte ich keine andere Wahl, als ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Niemand sagte, dass ich dabei Spaß empfinden musste – zum Glück. Angst wegen meiner neuen Ketten empfand ich nicht, dazu war die Bedrohung viel zu subtil, wohl aber regte sich genereller Unwillen gegen meinen neuen »Meister« Nathaniel Greenwich. In Gedanken sprach ich ihn immer wieder aus, markierte ihn als den Ursprung meines neu entflammten Zorns.

Was für ein bescheuerter ausgedachter Name. Vor allem der Familienname. Greenwich. Fast hätte ich ihn laut ausgesprochen, ihn auf meiner Zunge geschmeckt, um den Jungen aus der Reserve zu locken, aber ich war zu gespannt darauf, wohin dieses Fiasko hier noch laufen würde, wenn er am Steuer stand, also ließ ich es vorerst bleiben und ergötzte mich stattdessen an seiner Fassungslosigkeit.

»D-du…«, stotterte er. Rote, unschöne Flecken waren auf seinen ansonsten fahlen Wangen erschienen.

»Na, jetzt geschnallt? Hat ja gedauert. Ich muss bei dir bleiben, mein reizender, junger, noch lebendiger Freund. Unsere gemeinsame Zeit wird sicher unvergesslich. Nein, ganz ehrlich. Wenn deine ominöse Aufgabe dann irgendwann – und das ist hoffentlich bald – vorbei ist, kann ich vielleicht ein paar meiner Dämonen-Kumpels holen, die dir auf die Art meine Dankbarkeit übermitteln. Was heißt vielleicht? Entschuldige bitte, ich meinte natürlich ganz sicher – das ist ein Versprechen meinerseits. Oh nein, ist dir etwa nicht gut?«

Nathaniel suchte mit wedelnden Armen an einem Balken nach Halt und klammerte sich daran fest, als wäre er ein Rettungsring. Sicher bereute er gerade sämtliche Entscheidungen, die ihn bis hierhin geführt hatten. Solche Reaktionen kannte ich von meinen Kunden.

»D-das… Oh Gott…«, stotterte er. »Das kann nicht wahr sein.«

»Tja, selbst schuld würde ich sagen.« Schulterzuckend deutete nach unten. Die weiße Knochenkreide auf dem staubigen Boden hinderte mich daran, aus dem Pentagramm zu treten. Freiheitsentzug war neu für mich. Und wie ich beschloss, gefiel mir dieser Umstand ganz und gar nicht. »Wie wär’s, kleiner Magier – lässt du mich raus? Vielleicht erklärst du mir dann auch mal, warum zur Hölle du dir unrechtmäßig meinen Kompass ausleihen wolltest.«

»Das ist bestimmt keine so gute Idee, ich, ähm—«

Offensichtlich schwand nicht nur kurzzeitig das Blut aus seinen Wangen, sondern auch sämtliche Sprachkenntnis aus seinem Gehirn.

So verzwickt und unschön diese Situation auch war – immerhin konnte ich jemanden nach Herzenslust auslachen, während ich mir sehnlichst wünschte er wäre tot.

Menschen zu triezen war sonst nicht meine Art, aber ich war gewillt, es an diesem Freiwilligen zu üben, während ich mir eine Fluchtstrategie zurechtlegte. Plötzlich kreativ werden zu müssen, missfiel mir, doch ich musste meine Chancen abklopfen, wie ich aus meiner Lage entfliehen konnte. »Mit zwanzig ist man doch noch nicht mit der Ausbildung fertig, oder? In welchem Lehrjahr bist du gerade?«

Sofort wechselte er von panisch zu argwöhnisch.

Das war nicht überraschend. Magier waren äußerst knausrig mit persönlichen Informationen – je mehr ein Dämon oder Schattenwesen von ihnen wusste, desto gefährdender waren sie für ihre Beschwörer. Gewitzte Dämonen konnten durch das gezielte Streuen von Informationen in feindlichen Lagern gewaltigen Schaden anrichten und das mit Freude und teilweise großem Geschick. Unter anderem deshalb hatte sich die Magiegilde wohl auch zu einem verschworenen, verschwiegenen Haufen angeführt von alten Männern entwickelt.

»Ich wüsste nicht, warum das relevant sein sollte. Was interessiert es dich?«

Oh, kratzbürstig. Zeit für einen Taktik-Wechsel. Ein bezauberndes Lächeln brachte ihn kurz ins Wanken. Seiner Haltung nach überlegte er, ob es nicht besser wäre, sich lieber auf der Stelle umzubringen, als mit mir gemeinsame Sache machen zu müssen.

»Ach mein Süßer, ich denke, du hast heute etwas sehr Großes geleistet. Ganz ohne Quatsch! Du bist der erste seit knapp zweihundert Jahren, der es sich zutraut, Reaper zu beschwören. Einerseits ist das eine Glanzleistung, andererseits hast du deine zweite Formel ganz schön in den Sand gesetzt. Immerhin die Hälfte hast du somit zufriedenstellend erledigt. Glückwunsch jedenfalls! Die Gewerkschaft deiner Gilde ist dir bestimmt zu Dank verpflichtet. Obwohl ich mit diesem Wissen deiner Gesundheit wegen vielleicht nicht hausieren gehen würde.«

Mein Sarkasmus erntete mir ein verärgertes Stirnrunzeln.

Irgendetwas an seinem ernsten Gesicht und vor allem seine prägnanten, ungleichen Augen kamen mir für den Bruchteil einer Sekunde entfernt bekannt vor, wahrscheinlich war es seine Ähnlichkeit mit einem Filmstar. Ich war so wütend, dass ich den Gedanken sofort beiseiteschob.

Statt weiter zu brodeln wie ein Vulkan, zwang ich mich zur Ruhe. Es machte die Gesamtsituation auch nicht besser, wenn ich mir ständig ausmalte, auf welch grausame Art und Weise er spontan zu Tode kommen könnte. Umsetzen konnte ich diese Pläne dank seiner Sprüche sowieso nicht. Abgesehen davon, dass ich damit dem heiligen Verlauf beträchtlichen Schaden zufügen würde.

»Weißt du, ich habe sowieso keine Wahl als dir zu helfen. Deine Sprüche binden jetzt statt dem Kompass mich an dich. Du weißt also sehr genau, dass ich dir kein Haar krümmen kann. Lass mich dir kurz demonstrieren, dass du sicher bist.«

Nach einem Schnipser erschien seine Lebensuhr, befüllt mit moosgrünem Sand in meiner Hand. Auf dem Messingschild im Sockel aus dunklem Holz stand sein wahrer Name.

Ich hätte nicht vermutet, dass er noch bleicher werden konnte. Ein kurzer, prüfender Blick reichte mir. »Keine Panik, du hast noch etwas Zeit.« Er zuckte zurück, als die Uhr wieder verschwand. Dann schnalzte ich unwirsch mit der Zunge. »Nicht, dass mich das direkt freuen würde.«

»Ä-ähm…« Jetzt strich er sich fahrig durch die Haare, eine Geste, die ich schon oft bei Menschen beobachtet hatte. Stresssymptom.

Genervt verdrehte ich die Augen und wies auf den Boden. »Meine Güte ich werde dich nicht töten können und dürfen, also lass mich bitte endlich aus diesem verdammten Pentagramm raus! Es ist nicht so, als hätte ich Platzangst, aber hängst du echt gerne die ganze Nacht auf staubigen Dachböden herum? Oder ist den glorreicher Plan mich hier einfach stehen zu lassen, bis die Sache vorbei ist? Bringst du mir dann zumindest was zum Lesen, oder soll ich vielleicht ganz laut rufen, bis die beiden anderen Menschen unten mitbekommen, dass ich hier oben eingesperrt bin?«

»Ist ja schon gut. Warte kurz…« Misstrauisch kam er näher, pustete dabei etliche der Kerzen aus und wischte schließlich die bindenden Runen ungelenken beiseite, wobei er mich nicht aus den Augen ließ. »Sie könnten dich sowieso nicht hören, ich hab vorgesorgt. Sonst hätte sie dein Hämmern von vorhin auch schon alarmiert.«

Unwirsch schnalzte ich mit der Zunge. »War’s das jetzt? Bekomm ich irgendwelche Schläge, wenn ich rauszukomme?« Zumindest optisch waren alle Barrieren beseitigt worden.

»Es sollte jetzt gehen«, meinte er mürrisch. »Und du bist sicher, dass du mir den Kompass—«

»Glaub mir, er wäre zerstört, sobald ich ihn aus der Hand gebe. Von einem Haufen Rest-Energie einer Reaper hast du vermutlich auch nichts. Nicht einmal eine großartige Geschichte zu erzählen.«

»Ich mein ja nur…« Wachsam wich er vor mir zurück, als ich Anstalten machte, aus meinem Gefängnis herauszutreten.

Vorsichtig setzte ich einen nackten Fuß aus dem ehemaligen Pentagramm und wir beide hielten kollektiv inne. Ich in Erwartung weiterer Schläge, er wahrscheinlich eher aus Angst vor meiner unmittelbaren Rache.

Noch ein Punkt, der mich bei dieser ungewöhnlichen Situation zur Weißglut brachte: dieser Kerl hatte es geschafft, mich eiskalt zu erwischen. Mit Magiern kannte ich mich schlichtweg nicht über Grundwissen hinweg aus. Mein Spezialgebiet waren das Sterben und der Tod, nicht allgemeine Zauberkunst oder Dämonenkunde.

Mit Wut im Bauch über diese gravierenden Wissenslücken, musterte ich den jungen Mann, der mittlerweile rückwärts bis zu dem überladenen Tisch mit Utensilien zurückgewichen war. Er rang mit den Händen und glotzte mich an. Keine Spur mehr von Überheblichkeit.

Die hatte ihm sowieso nicht gestanden.

»Eigentlich würde es nicht schaden, mir deinen Namen zu verraten – immerhin werden wir wohl einige Zeit miteinander verbringen«, ergriff ich scheinheilig den Gesprächsfaden.

»Ich hoffe ja, dass diese… Sache nicht allzu lange dauern wird.« Mit flatternden Fingern sortierte er seine Siebensachen, wobei er sich nicht gerade geschickt anstellte. Einiges landete auf dem staubigen Boden. Allen voran ein lädiert wirkender, schwarzer Lederschuh, dessen Sinn sich mir nicht ganz erschloss. »Außerdem weiß ich, dass du meinen richtigen Namen sowieso schon kennst – ihr Sensenmänner seid anders als normale Schattenwesen. Ohne Namen könntest du die Lebensuhren nicht heraufbeschwören. Ergo – du könntest Menschen auch nicht umbringen.«

Was bitte war das für ein Buch voller sensibler Informationen? Wo hatte ausgerechnet ein stinknormaler Student wie er etwas Derartiges in die Finger bekommen? Meister seines Faches waren offensichtlich nicht zu dem Imstande, was er hier einfach so auf einem Dachboden vollbrachte.

Menschen, die aus dem Nichts auftauchten und Reaper beschworen. Das war ein schlechtes Omen.

»Korrekt, ich kenne deinen wahren Namen tatsächlich. Aber ich glaube, du bevorzugst aus mir wirklich unerfindlichen Gründen, Nathaniel Greenwich. Ist Greenwich nicht ein Ortsteil von New York und London?«

Als ich seinen falschen Namen aussprach, beobachtete ich mit Genugtuung, wie er fest die Zähne aufeinanderbiss. Vermutlich befürchtete er, dass ich seinen wahren Namen jemand anderem verraten könnte. Einem Dämonenkumpel zum Beispiel. Hätte ich doch nur einen, dachte ich bedauernd. Drohungen in diese Richtung wären leider alle nur ein Bluff.

»Nate«, korrigierte er reflexartig. »Nur mein Meister nennt mich Nathaniel.«

»Ok – Nate. Du siehst ziemlich besorgt aus – wie kann ich dir helfen, Nate?«

Mit zerknirschter Miene schulterte er eine Ledertasche, in der die Beschwörungs-Utensilien mittlerweile untergebracht und feinsäuberlich einsortiert waren. Inklusive des Buches, das zurecht meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Es klapperte, als er die Tasche zurechtrückte und er zögerte.

»Naja. Ich wohne bei meinem Meister, er würde skeptisch werden, wenn ich die nächste Zeit eine junge… Frau bei mir habe.«

Er, ein Lehrling, der noch grün hinter den Ohren war, hatte mich in diese Dimension gezerrt und war fest von seinem Erfolg ausgegangen. Meine körperliche Anwesenheit brachte Probleme mit sich. Welch Ironie. Ich grinste.

»Nettes Kompliment, danke. Schon eine kreative Idee, welche Lüge du ihm auftischen möchtest, sollte er mich bemerken?«

»Lass dir was einfallen«, schnappte er unwirsch. »Du bist sichtbar, es ist also dein Job, dass mein Meister dich nicht sieht.«

Er wähnte sich im Oberwasser – einer Einbildung, der jeder Magier gegenüber beschworenen Wesenheiten zum Opfer fiel, unter der Annahme, das Machtgefüge zu seinen Gunsten verschoben zu haben. Ich gönnte ihm noch eine einzige Sekunde, um dieses köstliche Gefühl auszuleben, das er für eine lange Zeit nicht mehr empfinden würde.

Nate

Es wurde schlagartig tiefschwarze Nacht auf dem Dachboden.

Ehe er auch nur blinzeln konnte, schnellte die Reaper vor wie eine zubeißende Schlange und packte ihn an der Kehle. Der Länge nach knallte er mit dem Rücken gegen einen breiten Dachbalken, ein stechender Schmerz fuhr seine Wirbelsäule nach oben. Obwohl er nichts davon sehen konnte, spürte er ihre Hände.

Verzweifelt krallte er sich in ihre Arme, bekam aber nur einen Fetzen ihres Umhangs zu fassen.

Unbarmherzig presste sie ihn mit einer Kraft gegen das ächzende Holz, die er ihrer Körpergröße gar nicht zugetraut hätte. Die Dunkelheit erhellte sich. Ihr Gesicht war nur Zentimeter entfernt, ihr Umgang hüllte ihre Gestalten ein wie eine Wolke aus Schatten. Ihre hellen Augen füllten plötzlich sein komplettes Sichtfeld aus wie zwei riesige, ihn verschlingenden Monde.

Sein Körper war unfähig zu reagieren, eine Schockstarre lähmte all seine Gedanken. Nate fühlte sich plötzlich wie fremdgesteuert.

»Pass mal auf, Freundchen«, grollte sie, während sie den Kopf bedrohlich schief legte und die Zähne fletschte. »Du meinst, du bist ein ganz Schlauer, weil du eine lächerliche, blaue Robe zur Schau trägst, wie ein Pfau, und dich im Stillen schon Meister der Magie nennst. Weil du dir ausmalst, die Welt zu retten mit deinen klugen Sprüchen und Beschwörungen. Das ist es doch, was dich antreibt, oder? Niemand beschwört eine Reaper ohne solche Hintergedanken.«

Verzweifelt röchelte Nate nach Luft und versuchte vergeblich, dem schraubstockartigen Griff ihrer Klauen zu entkommen. Als ihre Lippen sich quälend langsam seiner rechten Wange näherte, sodass er schon fürchtete, sie würde ihm mit den plötzlich spitz zulaufenden Zähnen das Fleisch von den Knochen ziehen, war ihr Atem eiskalt und hinterließ dennoch brennende Spuren auf seiner Haut.

»Ich bin seit hunderten von Jahren im Geschäft und hab schon mehr Leute sterben sehen, als du jemals in deinem mickrigen Leben überhaupt auf der Straße begegnen wirst. Es wäre also nur in deinem Sinne, wenn dein lächerlicher Magier-Name nicht auf meine ganz persönliche Liste hinzugefügt wird. Deshalb wirst du mir sofort alles von deiner gottlosen Aufgabe berichten, damit ich so schnell wie möglich wieder in meine Dimension verschwinden kann. Hast du mich verstanden?«

Winzige Eiszapfen jagten in seine Haut, dort wo ihre Hände seinen Hals umschlangen. Zuerst war es ertragbar, doch immer heftigere Wellen aus Schmerz folgten dem Gefühl, bis er gequält ächzte. Ihre Augen waren allerdings weitaus schlimmer als ihre körperliche Übermacht – es war, als würde Nate in ein nächtliches Nebelfeld blicken. Je länger er hinschaute, desto mehr verlor er sich selbst darin. Als würde sie aufsaugen was ihn als Mensch ausmachte.

Panisch versuchte er sich auf eine der Locken zu fokussieren, die ihr gerade in die Stirn fiel.

»Keine Spielchen. Ich schwöre bei Tod, ich kann einen Weg finden, dich umzubringen. Also nächster Versuch: ob du mich verstanden hast, habe ich gefragt!«

Inzwischen konnte er nur noch ein ächzendes Geräusch von sich geben. Seine anfängliche Selbstsicherheit zerschmetterte sie mit dieser Aktion gekonnt am Boden, was ihn mehr störte als der Schmerz in seinem Rücken.

»Also?«, fragte sie genüsslich und lächelte. Ihre Lippen, die ihren Todeshauch über sein Gesicht verbreiteten, waren nur Zentimeter von seinen entfernt, während die Ränder seines Sichtfeldes langsam verschwammen und seine Kehle pochende Wellen aus Schmerz in seinen ganzen Körper schickte.

Wie war das möglich? Wie konnte sie ihn angreifen?

»Ja! Verstanden!«, quetschte er hervor, bevor es zu spät war und schlug ihre Hände von seiner Kehle, als sie den Druck endlich verringerte. Mit einem fiesen Grinsen wich sie zurück. Die Dunkelheit verschwand schlagartig.

»Gutes Gespräch«, meinte sie mit geölter Stimme.

Nach Gleichgewicht suchend, hielt Nate sich am Dachbalken fest. Alles fühlte sich taub an und er war sich sicher, ihr Atem hatte die Hälfte seines Gesichts weggebrannt. Verstört betastete er die Haut, aber sie war zu seiner Überraschung vollkommen unversehrt.

Von wegen Oberwasser, von wegen Können.

Frustriert stieß er einen unschönen Fluch aus. Der Schmerz in seiner Kehle klang dumpf pochend ab, das Brennen in seinem Rücken hingegen verschwand urplötzlich.

Bis er sich genug gesammelt hatte, um wieder zu sprechen, vergingen ein paar Momente.

»Ich denke dein Standpunkt ist mir jetzt klar.« Er versuchte krampfhaft das, was von seinem Ego noch übrig war, zusammenzukratzen.

»Das freut mich«, entgegnete sie aalglatt.

Mit den Händen in die Hüften gestemmt hatte sie sich an ein altes Sofa gelehnt, ein grimmiges Gesicht zur Schau tragend.

Ihr Anblick war definitiv zum Fürchten. Schon ein flüchtiger Blick genügte und es war klar, dass sie kein Mensch war. Sie in ihrer weltlichen Form diesem Haus zu verstecken war absolut sinnlos. Nate wusste, dass selbst sein Meister nicht komplett auf den Kopf gefallen war.

Mit zitternden Fingern klaubte er seine Umhängetasche vom Boden und entschloss sich, seine Stele vorerst in seiner Hand zu behalten. Seine nächsten Worte wählte er besonders umsichtig.

»Hör mal, mir gefällt das alles doch auch nicht – es bringt überhaupt nichts, mich anzugreifen. Ich kann es nicht ändern. Wir sitzen im selben Boot, ob uns das gefällt oder nicht. Also können wir uns bitte darauf einigen, dass wir uns irgendwie zusammenreißen und an einem Strang ziehen? Glaub mir, wir haben größere Probleme, als uns gegenseitig anzufeinden.«

Die Reaper blähte ihre Nasenflügel, was Grund genug war für Nate aus Reflex in Deckung zu gehen. Allein ein Übermaß an Selbstbeherrschung hielt ihn davon ab.

»Damit das klar ist und hör mir bloß genau zu, weil ich das nicht wiederholen werde: ich bin kein Dämon oder 08/15 Schattenwesen. Du wirst mich ab sofort mit dem Respekt behandeln, der mir gebührt. Gnade dir Tod, wenn du mich herumkommandieren willst, als wäre ich deine Dienerin.«

»Netter Spruch«, meinte Nate schleppend. Er wusste nicht exakt, was genau er von einer Sensenfrau erwartet hatte, aber sicherlich etwas anderes.

»Und was den Rest angeht, werde ich versuchen, mir nicht die ganze Zeit zu wünschen, dich zur Hölle schicken zu können. Mehr kann ich nicht versprechen. Zufrieden?«

Sie tat fast so, als hätte er sie gerufen, nur um ihr den Tag zu verderben.

»Meinst du ernsthaft, ich hätte keinen triftigen Grund, einen Sensenmann zu beschwören? Das ist nichts persönlich gegen dich, auch wenn du das vielleicht anders siehst.«

»Vielleicht würde ich es besser verstehen, wenn du mir endlich erklären würdest, wieso ein halbwegs intelligenter Mensch auf die Idee kommen könnte, eine Reaper zu rufen. Los: erleuchte mich.«

Herausfordernd starrten sie sich einige Sekunden lang an, bis er schließlich tief Luft holte und den Kopf schüttelte. »Das ist schwer zu erklären. Lass uns erstmal vom Dachboden runter.«

»Fein.« Sie raffte ihre Robe. Der schwere Stoff war unpassend altertümlich. Ganz im Gegensatz dazu, was in den vielen Stofflagen steckte. Sie sah aus, als wäre sie allerhöchstens so alt wie er selbst. Wie eine Studentin in einer Verkleidung auf dem Weg zum Karneval. Wobei – dafür wirkte sie zu real und gefestigt. Sie umgab mehr Realität als viele Menschen, die ihm im Alltag begegneten. Ein Schauer breitete sich bei dieser Erkenntnis auf seinem ganzen Körper aus. Er ging voraus zur schmalen Treppe, die nach unten auf den Gang in den dritten Stock führte und wieder beschlich ihn das bedrohliche Gefühl, verfolgt zu werden.

»Wie heißt du eigentlich? Ich habe keinen Sensenmann explizit beschwören können…«

»Tanira«, sagte sie kalt und ohne weitere Ergänzung.

»Also gut, Tanira. Mein Meister und seine Haushälterin sind im Haus, ich würde ihnen ungern über den Weg laufen, solange ich für dieses kleine… Problem noch keine Lösung parat habe. Also wäre es klug, wenn wir es hinbekommen könnten, unbemerkt in mein Zimmer zu kommen.«

»Ich würde es zwar als großes Problem bezeichnen, aber wie du meinst.«

All die Pläne, die er monatelang in mühevoller Kleinarbeit ausgefeilt hatte, die ganzen Formeln, die er aus Schnipseln zusammengefügt, überarbeitet und wieder verworfen hatte, bis er endlich das Gefühl hatte, auf der sicheren Seite zu sein – all diese Vorarbeit steckte ihm in den Knochen und warfen ihm gehässig vor, dass er es vermasselt hatte. Allein die Büchertürme in seinem Zimmer waren stille Zeugen seiner verzweifelten Bemühungen.