Interaktion und Kommunikation im Autismus-Spektrum - Ulrike Funke - E-Book

Interaktion und Kommunikation im Autismus-Spektrum E-Book

Ulrike Funke

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Beschreibung

Eine lebendige Interaktion bildet die Grundlage für Kommunikation und Sprachanbahnung. Der ganzheitliche Therapieansatz Komm!ASS® nutzt gezielte Impulse und Regulationshilfen zur Verbesserung der (Körper-)Wahrnehmung von Menschen im Autismus-Spektrum. Beim freudvollen, berührenden gemeinsamen Spiel finden vielfältige Modalitätenwechsel statt. Dabei können bedeutungstragende Informationen leichter fokussiert und auf Neuerungen kann flexibel reagiert werden. In der umfassend überarbeiteten Neuauflage wurde der ressourcenorientierte Blick vertieft und um neue Erkenntnisse besonders zu Regulation und Stimming sowie zum Erleben und Verstehen von Emotionen erweitert. Der Befundbogen im Anhang wurde ebenfalls überarbeitet und steht auch als Online-Zusatzmaterial zur Verfügung.

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Die Autorin

Ulrike Funke schloss ihre Ausbildung zur Logopädin 1996 in Heidelberg mit dem Staatsexamen ab und eröffnete zwei Jahre später ihre eigene logopädische Praxis. Ihre Schwerpunkte liegen in der Interaktions- und Sprachanbahnung bei Menschen aus dem Autismus-Spektrum und bei Kindern mit tiefgreifenden Entwicklungsbeeinträchtigungen sowie der Mund- und Esstherapie bei Säuglingen und Kleinkindern. Mithilfe verschiedener Fortbildungen zum Thema Autismus und durch Einbezug weiterer Konzepte zur Kommunikations- sowie Wahrnehmungsförderung entwickelte sie das Therapiekonzept Komm!ASS®. Seit 2014 lehrt sie dies im deutschsprachigen Raum regelmäßig in Fortbildungen und Vorträgen. Das wichtigste Ziel ihrer Arbeit ist das Verstehen der anderen Wahrnehmung sowie der anderen Wahrnehmungsverarbeitung und darauf aufbauend das Ermöglichen eines lebendigen und freudvollen kommunikativen Austausches zwischen Menschen mit und ohne Autismus. 2017 gründete sie ein Autismuszentrum Nahe Heidelberg, welches sie mehrere Jahre leitete. Heute begleitet sie Kinder und ihre Familien in ihrer logopädischen Praxis und gibt ihr Wissen und ihre Erfahrungen an Fachkräfte, Angehörige und Interessierte weiter.

Ulrike Funke

Interaktion und Kommunikation im Autismus-Spektrum

Mit Komm!ASS® Sprache entdecken

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2024

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-043583-4

 

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-043584-1

epub:     ISBN 978-3-17-043585-8

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Herzlichen Dank!

1         Einführung

1.1       Was ist Wahrnehmung?

1.2       Jede Wahrnehmung ist einzigartig

1.3       Eine ganz besondere Wahrnehmung

1.4       Diagnose Autismus-Spektrum

2         Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung

2.1       Das vestibuläre Wahrnehmungssystem

2.1.1      Mögliche Auffälligkeiten des vestibulären Wahrnehmungssystems

2.1.2      Hilfen und Übungen zur Verbesserung der vestibulären Wahrnehmung

2.2       Das propriozeptive Wahrnehmungssystem

2.2.1      Mögliche Auffälligkeiten des propriozeptiven Wahrnehmungssystems in Bezug auf Arme, Beine und Kopf

2.2.2      Hilfen und Übungen zur Verbesserung der propriozeptiven Wahrnehmung

2.2.3      Mögliche Auffälligkeiten des propriozeptiven Wahrnehmungssystems in Bezug auf die inneren Organe (viszerale Wahrnehmung)

2.2.4      Hilfen und Übungen zur Verbesserung der viszeralen Wahrnehmung

2.3       Das taktile Wahrnehmungssystem

2.3.1      Mögliche Auffälligkeiten des taktilen Wahrnehmungssystems

2.3.2      Hilfen und Übungen zur Verbesserung der taktilen Wahrnehmung

2.4       Das gustatorische Wahrnehmungssystem

2.4.1      Mögliche Auffälligkeiten des gustatorischen Wahrnehmungssystems

2.4.2      Hilfen und Übungen zur Verbesserung der gustatorischen Wahrnehmung

2.5       Das olfaktorische Wahrnehmungssystem

2.5.1      Mögliche Auffälligkeiten des olfaktorischen Wahrnehmungssystems

2.5.2      Hilfen und Übungen zur Verbesserung der olfaktorischen Wahrnehmung

2.6       Das visuelle Wahrnehmungssystem

2.6.1      Mögliche Auffälligkeiten des visuellen Wahrnehmungssystems

2.6.2      Hilfen und Übungen zur Verbesserung der visuellen Wahrnehmung

2.7       Das auditive Wahrnehmungssystem

2.7.1      Mögliche Auffälligkeiten des auditiven Wahrnehmungssystems

2.7.2      Hilfen und Übungen zur Verbesserung der auditiven Wahrnehmung

2.8       Exkurs: Eine andere Wahrnehmung im Mund, Gesicht und Halsbereich

2.8.1      Nahrungsaufnahme

2.8.2      Mundhygiene

2.8.3      Stimmgebung

2.8.4      Artikulation und Mimik

3         Stimming

3.1       Umgang mit Stimming

3.2       Begleitung bei Overload und Meltdown

4         Fragmentierte versus multimodale Impulsverarbeitung

4.1       Monowahrnehmung

4.2       Polywahrnehmung

4.3       Zentrale Kohärenz und exekutive Funktionen

5         Soziale Kompetenzen

5.1       Erste Fokussierungen und erster Blickkontakt

5.2.1      Mimischer Austausch

5.2.2      Erstes Turn-Taking und einfache (sprachliche) Imitationen

5.2.3      Gemeinsame Aufmerksamkeit, gemeinsame Freude

5.2.4      Triangulationen

5.2.5      Selbstbewusstsein

5.3       Aufbauende soziale Interaktionen

5.3.1      Imitation und (Modell-)Lernen

5.3.2      Symbolspiel

5.3.3      Theory of Mind

5.3.4      Selbstwirksamkeit

5.4       Sprachentwicklung

5.4.1      Zeigegesten und Gesten

5.4.2      Spracherwerb

6         Die Therapiebausteine der Komm!ASS®-Therapie

6.1       Spezifisch-sensorischer Input

6.1.1      Auswahl der Impulse

6.1.2      Intensität und Dauer der Impulsgebung

6.1.3      Dynamische und hochfrequente Impulsgebung

6.1.4      Bewertung der erfolgten Impulsgebung

6.1.5      Unpassende bzw. nicht entsprechende Impulsgebung

6.2       Impulskopplung

6.2.1      Überforderung durch intensive Impulsgebung?

6.2.2      Impulswahrnehmung auf Angebote erweitern, die wohltuend sind

6.2.3      Impulswahrnehmung auf Angebote erweitern, die nicht im Fokus stehen oder Unbehagen auslösen

6.3       Variationen

6.3.1      Variationen im Therapieablauf

6.3.2      Variationen schützen vor Überforderung

6.3.3      Variationen ermöglichen neue Schritte

6.3.4      Variationen ermöglichen die Übertragung in den Alltag

7         Das gemeinsame Spiel entdecken

7.1       Anleitung zum gemeinsamen Spiel

7.1.1      Einstieg in das gemeinsame Spiel

7.1.2      Weiterer Verlauf beim gemeinsamen Spiel

7.2       Frühe Interaktion ermöglichen

7.2.1      Gemeinsame Aufmerksamkeit ermöglichen, gemeinsame Freude erleben

7.2.2      Blickkontakt und mimischen Austausch ermöglichen

7.2.3      Turn-Taking und einfache Imitationen ermöglichen

7.2.4      Selbstbewusstsein stärken

7.2.5      Wechsel der Aufmerksamkeit und Triangulationen ermöglichen

7.3       Aufbauende soziale Interaktion ermöglichen

7.3.1      Imitationen und (Modell-)Lernen ermöglichen

7.3.2      Symbolspiel erleben

7.3.3      Andere mit ihren Bedürfnissen wahrnehmen

7.3.4      Theory of Mind ermöglichen

7.3.5      Selbstwirksamkeit erleben

7.4       Weitere Zielsetzungen

7.4.1      Neue Impulse zulassen, neue Dinge erleben

7.4.2      Warten lernen

7.4.3      Motorische Fähigkeiten stärken

7.5       Anbahnung von (Zeige-)Gesten

7.5.1      Gesten

7.5.2      Zeigegesten

8         Gebärden

8.1       Auswahl der Gebärdensysteme

8.2       Auswahl des Gebärdenwortschatzes

8.3       Hilfen für die Einführung von Gebärden

8.4       Gebärden erleichtern den Einstieg in die gesprochene Sprache

9         Sprache und Sprachanbahnung

9.1       Hilfen für den Einstieg und die Festigung von Laut- und Sprachimitation

9.2       Auswahl der Laute und Worte

9.3       Stimmmodulationen

9.4       Visuelle, taktile und propriozeptive Hilfen zur Lautbildung

9.5       Sprache, Sprechen und Handeln zeitgleich

9.6       Mit Sprache weitere Handlungen erlernen

10      Emotionen und Empathie

10.1       Haben Autisten Gefühle?

10.2       Die eigenen Emotionen verstehen

10.3       Empathie verstehen lernen

11      Die ersten Stunden – Therapieeinstieg

11.1     Struktureller Ablauf einer Therapiestunde

11.2     Inhaltlicher Ablauf einer Therapiestunde

11.3     Die erste Stunde

11.3.1    Erstkontakt mit dem Kind

11.3.2    Anamnese

11.3.3    Aufklärung der Eltern

11.4     Dokumentation der (ersten) Stunde/n

11.5     Therapieplanung

12      Entwicklungsverläufe

12.1     Neue Fähigkeiten zu Lasten von bereits Gelerntem

12.2     Neue Fähigkeiten führen zu neuen Belastungen

12.3     Bildung des Selbstbewusstseins und der Selbstwirksamkeit

12.3.1    Aktive Abwehr

12.3.2    Aktives gemeinsames Spiel

12.3.3    Bedürfnisbefriedigung – das eigene Wohl steht im Fokus

12.3.4    Provokation

12.3.5    Schauspiel

12.3.6    Explorations- und Entdeckerphase

12.3.7    Besondere Konfliktsituationen bei der Identitätsentwicklung

12.4     Therapiedauer

13      Ergänzungen für Therapeutinnen

13.1     Die ersten Stunden für Therapeutinnen

13.2     Multi-Tasking für Therapeutinnen

13.3     Rituale

13.4     Emotionale Therapiearbeit

13.5     Belastende Therapiearbeit

Nachwort

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Anhang

Befundbogen

1           Eine andere Wahrnehmung?

2           Die Wahrnehmungssysteme

3           Multimodale Impulsverarbeitung

4           Interaktion und Kommunikation

Zusatzmaterial zum Download

Vorwort

Eine Herzensangelegenheit für mich, die Begleitung von Menschen aus dem Autismus-Spektrum.

Ich freue mich sehr, dass ich die Gelegenheit bekommen habe, das folgende Buch zum Therapiekonzept Komm!ASS® überarbeiten zu dürfen. In den letzten Jahren hat sich nicht nur das Verständnis in Bezug auf das Autismus-Spektrum verändert, sondern es hat sich auch ein achtsameres Bewusstsein für sprachliche Formulierungen entwickelt u. a. bei der Klassifizierung von Krankheiten, der Beschreibung der Besonderheiten besonders in Hinblick auf Diversität. Ich bin dankbar, dass ich auch den Buchtitel an diese Veränderungen angleichen durfte. Bei den Beschreibungen habe ich so oft wie möglich auf Begriffe wie Störung verzichtet und zudem die Stärken und die Ressourcen nochmals mehr in den Fokus gerückt. Auch der Begriff des »Führens«, der in der Erstausgabe noch im Untertitel zu finden war, wurde ersetzt. »Gemeinsames Spiel ermöglichen« mithilfe von achtsamem Lenken der Aufmerksamkeit auf wohltuende und regulierende Impulse entspricht dem/meinem aktuellen Verständnis deutlich besser. Dabei ist das Lenken nicht als Teil einer Anpassungsleistung zu verstehen, sondern soll vielmehr Sicherheit bieten und positives Erleben ermöglichen. Auch einige Fallberichte wurden angepasst und ausgetauscht, auch hier zeigt sich ein veränderter Blickwinkel, aber vielmehr auch das Wissen, welche Hilfen zu Beginn wirklich zielführend sind und welche erst zu einem späteren Zeitpunkt an Bedeutung gewinnen.

Der Blick auf die besondere Wahrnehmung der Menschen mit Autismus ist weiterhin mein wichtigster Fokus. Ich bin bemüht, dieses Wissen auch in den nächsten Jahren stetig zu erweitern. Ich wünsche mir, dass es besser möglich wird, die Wahrnehmung und die weitere Verarbeitung so zu verändern, dass Lernverhalten und insbesondere die Interaktion leichter fallen. Vor allem wünsche ich mir, dass die Belastungen der autistischen Menschen im Alltag verringert und die positiven Impulse gestärkt werden können.

»Komm! Wir machen das«

Das »Komm« in Komm!ASS® steht einerseits für Kommunikation, andererseits aber auch für »Komm her!«, »Komm mit!« oder »Komm, wir machen das zusammen!« Das Kind darf Unterstützung und Bestärkung erfahren sowie Interaktion als eine Bereicherung erleben.

Seit 2014 gebe ich mein Wissen im deutschsprachigen Raum regelmäßig in Fortbildungen und Vorträgen an Kolleginnen und Interessierte weiter, an alle, die mit Menschen mit Autismus leben oder arbeiten. Jede Diskussion, Anregung und auch Kritik waren immer wieder Anstoß, differenzierter hinzuschauen und somit das Konzept weiterzuentwickeln.

Zielgruppe

Komm!ASS® wurde für Menschen mit Autismus entwickelt, aber auch weitere Personengruppen profitieren davon:

•  Menschen mit Syndromen, bei denen ebenfalls eine andere Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung vorliegt (z. B. Down-Syndrom, Fetales-Alkohol-Syndrom, ADS/ADHS).

•  Menschen, welche eine funktionelle Behinderung eines Sinnesbereichs aufweisen, benötigen multimodale Therapiekonzepte, um die anderen Systeme optimal nutzen und verknüpfen zu können: Personen mit schwergradigen Hör- oder Sehbeeinträchtigungen, körperlichen Behinderungen u. ä.

•  Menschen mit eingeschränkter Konzentrationsspanne

•  Menschen mit Regulationsschwierigkeiten

•  Menschen mit Mutismus und weiteren isolierten Interaktionsschwierigkeiten zeigen mithilfe dieser Therapie ein gestärktes Selbstbewusstsein sowie in Stresssituationen flexiblere Reaktionen. So kann es gelingen, folgend ihre kommunikativen Fähigkeiten besonders im Alltag zu erweitern.

Mein Wunsch, Kindern und Eltern zu helfen und diese Erkenntnisse weiterzutragen, ist der Motor für meine tägliche Arbeit. Mit jeder Begegnung lerne ich das Spektrum Autismus besser zu verstehen.

Autismus verstehen

Autismus verstehen, heißt erkennen, dass das beobachtbare Verhalten der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen eine notwendige und logische Reaktion ihrer anderen Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung ist.

Ich möchte Sie einladen, sich auf diese Sichtweise und auf neue Unterstützungsmöglichkeiten sowie ein intensives Miteinander mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum einzulassen.

Noch einige Anmerkungen vorab:

Menschen, die mit Personen aus dem Autismus-Spektrum arbeiten oder leben, sollen mit diesem Buch Erklärungen und Hilfen bekommen, um die Betroffenen besser verstehen und unterstützen zu können.

Komm!ASS® erleben

Dieses Buch kann jedoch nur einen Teil dieser Überzeugungen und der praktischen Arbeit von Komm!ASS® vermitteln. Falls Sie Komm!ASS® erleben möchten, darf ich Sie einladen, eine Fortbildung zu besuchen oder persönlich mit mir Kontakt aufzunehmen. Erläuterungen in Präsenz in direktem Kontakt und bewegte Bilder können keine noch so ausführliche Erläuterung ersetzen.

Ich spreche vorwiegend von dem Kind mit Autismus oder dem autistischen Kind. Der Komm!ASS®-Ansatz ist jedoch gleichermaßen für erwachsene Menschen im Autismus-Spektrum geeignet. Bei den Übungen und Hilfen ist das sozial-emotionale Entwicklungsalter maßgebend; zusätzlich die sensorischen und motorischen Fähigkeiten, die Kognition und die Regulationsfähigkeiten.

Den Befundbogen im Anhang gibt es auch zum Download. Den Link dazu finden Sie im Anhang.

Aufgrund der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch die weibliche Form verwendet, diese bezieht sich immer zugleich auf weibliche, männliche und diverse Geschlechteridentitäten.

Hirschberg, Frühjahr 2024

Ulrike Funke

Herzlichen Dank!

Viele Menschen haben mich auf meinem Weg begleitet und haben deshalb großen Anteil an diesem Konzept und all dem, was sich daraus entwickeln durfte.

Einige haben mich (beruflich) in den letzten Jahren besonders inspiriert und unterstützt:

Yvonne, Julia, Silke, Johanna, Södje, Anke, Christine, Frank, Pia, Constanze… all meine Kolleginnen in der Praxis und im fachlichen Austausch. Sie unterstützen mich bei der aktiven Arbeit und ermöglichen mir Zeit für Fortbildungen und Studien. Die Absprachen zwischen den Therapien und den Lehrveranstaltungen motivieren mich immer wieder weiterzudenken und Dinge nochmals zu überarbeiten. Sie sind verantwortlich für neue Ideen, aber auch weitere Recherchen. Sie sind immer für mich da, wir diskutieren und reflektieren. Dank ihnen gelingt es mir, das Spektrum Autismus immer besser zu verstehen. Einen besonderen Dank an Anke für das mehrmalige Probelesen der überarbeiten Ausgabe und über die vielen kleinen Ergänzungen und Anmerkungen. Ich bin sehr dankbar für all diese Unterstützungen!

Danke an den Kohlhammer Verlag für die Möglichkeit, dieses Buch zu veröffentlichen und für die Unterstützung durch meine Lektorinnen. Danke auch an all die Leserinnen für die Rückmeldungen zur 1. Auflage dieses Buches. Es ist für mich heute noch immer unglaublich, wie viele Bücher verkauft und gelesen werden und wie viele Menschen ich so erreichen darf.

Herzlichen Dank auch an alle Menschen mit Autismus und ihre Angehörigen, für das Vertrauen, sich auf uns und unsere Arbeit einzulassen. Wir können gemeinsam das Abenteuer Interaktion erleben und zusammen neue Wege gehen. Die Bereitstellung von Fotos und Videomaterialien für Vorträge, Fortbildungen, Veröffentlichungen und zu Forschungszwecken sind unersetzlich. Danke für die unzähligen Erlebnisse und Geschichten!

Ganz besonderen Dank, immer und immer wieder von Herzen, an meinen Mann Peter, der mich mit seiner ruhigen Art immer wieder erdet, unterstützt und motiviert und der stets an mich glaubt. Du erlaubst es mir, so viele Tage im Jahr unterwegs zu sein und andere für diese Arbeit und diese Sichtweise zu begeistern. Im gleichen Atemzug danke an Ronny, auch du bestärkst mich immer wieder, wie wichtig diese Arbeit ist.

1          Einführung

1.1        Was ist Wahrnehmung?

Wahrnehmung und die folgende Wahrnehmungsverarbeitung sind ein aktiver, selektiver und konstruktiver Prozess. Die Informationen in Bezug auf den eigenen Körper und der umgebenden Umwelt müssen identifiziert, weitergeleitet, koordiniert und im Gehirn mit bereits gespeicherten Informationen verknüpft werden.

Dabei erfolgt die Aufnahme der Impulse über die Rezeptoren des spezifischen Sinnesorganes. Diese Informationen werden an das Gehirn weitergeleitet und in den jeweiligen Zentren der Großhirnrinde abgespeichert. Das Wahrgenommene wird dann mit bereits erworbenem Wissen verglichen, daraufhin erfolgt die Auswahl sowie Bewertung der Impulse und ggf. die Koordination und Verknüpfung in verschiedenen Gehirnarealen. Das folgende beobachtbare Verhalten ist somit auch eine Folge der Wahrnehmung und deren Verarbeitung.

1.2        Jede Wahrnehmung ist einzigartig

Wahrnehmung ist individuell

Der Prozess der Wahrnehmungsverarbeitung ist bei jedem Menschen einzigartig und individuell. Wahrnehmung ist eine subjektive Sicht auf die Wirklichkeit und jede Person nimmt ihre Wirklichkeit anders und somit ganz besonders wahr.

So können z. B. Berührungen, welche von einer Person bevorzugt werden, bei einer anderen Person Schmerzen auslösen. Bestimmte Musikstücke oder Geräusche werden von manchen Menschen als angenehm empfunden, für einige sind sie unangenehm oder nicht auszuhalten.

Wahrnehmung ist variabel

Die Wahrnehmung kann zudem variieren, je nach Tagesform, Gesundheitsstand, Stressbelastung und dem allgemeinen (Wohl-)Befinden. Bilder, welche an manchen Tagen faszinieren, wirken in anderen Situationen beängstigend. Musik, deren Rhythmus gestern als positiv anregend empfunden wurde, hört und fühlt sich am nächsten Tag vielleicht unangenehm an. Viele verschiedene Faktoren wirken sich auf den Prozess und das Ergebnis der Informationsaufnahme, der Bearbeitung und Bewertung von Impulsen aus.

Gut zu wissen: Migräne – eine kurzzeitig veränderte Wahrnehmung

Einige der Autismus-Symptome ähneln denen einer akuten Migräneattacke: Ein erhöhtes Druckgefühl im Kopf, eine Überempfindlichkeit des vestibulären, des visuellen oder auditiven Systems, eine erhöhte gustatorische und olfaktorische Sensibilität sowie weitere Symptome sorgen dafür, dass einige Informationen aus der Umgebung kaum, andere besonders intensiv wahrgenommen werden.

Die Betroffenen möchten sich am liebsten in einen dunklen Raum zurückziehen, jede Aufgabe, jeder Austausch wird, wenn möglich, vermieden. Die stark belastenden unterschiedlichen Symptome vergehen im Laufe eines oder mehrerer Tage mit ausreichender Erholungszeit. Medikamente können die Schmerzen und weitere begleitende Symptome der Migräne lindern. Bald reagiert der Körper wieder wie gewohnt auf die unterschiedlichen Impulse, anstehende Aufgaben können bewältigt werden und auch Wohlbefinden und Freude sind wieder erlebbar.

Erfahrungen prägen die Wahrnehmung

Auch die eigenen Erfahrungen, Erlebnisse und Lernprozesse verändern die persönliche Wahrnehmung. Sie haben Einfluss darauf, ob und wie eine Information wahrgenommen wird und welche Reaktionen diese auslöst. Essen, was in jungen Jahren als wohlschmeckend eingestuft wurde, wird im Erwachsenenalter nur noch ungern gegessen, Aktivitäten, die einst Freude bereiteten, lösen nun vielleicht Angst aus. Besonders der Prozess der Selektion und welche Informationen als bedeutungstragend eingestuft werden, beeinflusst die weitere Handlung oder die folgenden Reaktionen.

1.3        Eine ganz besondere Wahrnehmung

»[Autistische Menschen] nehmen nicht nur viel mehr Reize bewusst wahr als nichtautistische Menschen, sondern reagieren auch anders, weil in ihrem Gehirn ein anderes Modell der Welt entsteht, auf das sie dann mit einem anderen, für die Umgebung unerwarteten Verhalten reagieren.[…] Sie werden mein Verhalten nicht einordnen können und als komisch oder gar abartig empfinden. Dass es innerhalb meines Systems ein korrektes Verhalten ist, spielt keine Rolle mehr« (Vero, 2014, S. 21 f.).

Ein Leben in Extremen

Die Wahrnehmung und damit die Aufnahme und Verarbeitung von Sinnesinformationen ist bei Menschen mit Autismus besonders. Im Vergleich zu den Empfindungen von neurotypischen Menschen werden viele Informationen entweder kaum wahr- oder aufgenommen (Hyposensibilität) oder besonders intensiv gespürt (Hypersensibilität). Abstufungen zwischen den beiden gegensätzlichen Intensitäten sind kaum zu beobachten, so dass entweder eine Unterstimulation oder eine Überstimulation des zentralen Nervensystems vorliegt. Für die Betroffenen bedeutet dies ein Leben in Extremen.

Ob in einer bestimmten Situation eine Hypo- oder Hypersensibilität für einen bestimmten Wahrnehmungsbereich vorliegt, lässt sich zum Teil schwer erkennen. Ist das gezeigte Verhalten eine Vermeidung eines Impulses oder ist es die intensive Suche nach dem gegensätzlichen Impuls? So kann das bei einer Überforderung gezeigte feste Schlagen auf die Ohren anzeigen, dass eine bestimmte auditive Information ausgeblendet werden soll, zugleich kann diese Handlung aber auch einer Suche nach einem starken Druck auf das Ohr und das Trommelfell zugeordnet werden. Die Beobachtung ähnlicher Situationen und der Vergleich, bei welchem Impuls, mit welcher Intensität eine Reaktion erfolgt, erfordert eine differenzierte Betrachtungs- und Vorgehensweise.

»Bereits seit längerem weiß man, dass Menschen mit autistischen Störungen in allen Sinnessystemen empfindlicher reagieren können oder Wahrnehmungen anders empfinden können als nicht autistische Menschen. […] Es fanden sich statistisch hochsignifikante Unterschiede: Die autistischen Kinder hatten im Durchschnitt eine mehr als doppelt so hohe Überempfindlichkeit. Es traten aber auch doppelt so häufig Unterempfindlichkeiten gegenüber Schmerzen auf« (Jansen & Streit, 2015, S. 221 f.).

Scheinbar widersprüchliche Wahrnehmungsbesonderheiten

Durch die kaum vorhandenen Abstufungen in der Bewertung und somit einem häufigen Erleben von Extremen kann es sein, dass eine leicht veränderte Information (evtl. eine Variation der Frequenz) eine völlig gegensätzliche Reaktion auslöst. Für Außenstehende erscheint dies oft widersprüchlich oder willkürlich. Erst mithilfe genauer Beobachtung und einem Verstehen der individuellen Wahrnehmungsbesonderheiten werden passende Hilfen möglich.

Gut zu wissen: Ähnliche Informationen können zu »scheinbar« gegensätzlichen Reaktionen führen

Ein Beispiel: Im Mundbereich kann der vordere Teil der Zunge eine Hyposensibilität gegenüber sanften Berührungsimpulsen aufweisen. Andererseits wird dort eine starke Druckinformation gesucht, infolgedessen wird das Essen regelrecht in den Mund gestopft. Im hinteren Zungenbereich werden jegliche Impulse als unangenehm wahrgenommen und bereits beim Gebrauch der Zahnbürste auf den mittleren oder hinteren Molaren wird der Würgereiz ausgelöst.

Auch auf den gesamten Körper bezogen zeigen sich diese scheinbar widersprüchlichen Reaktionen. Es kann sein, dass Betroffene auf sanfte Berührungen sehr empfindlich reagieren und sie als schmerzhaft wahrnehmen. Andererseits genießen sie starke Impulse, wie eine Massage mit einem Ball oder das feste Ausstreichen der Haut mithilfe der Fingerknöchel.

Auch beim Hören ist es möglich, dass bereits bei einer geringen Lautstärke eine bestimmte Sprechstimmlage, wie eine besonders hohe Frauenstimme, als unangenehm oder sogar schmerzhaft empfunden wird. Ein tiefer, aber doch deutlich lauterer Ton wird hingegen positiv bewertet, wie z. B. das Brummen eines Motors.

Verstehen und begegnen

Bei der Arbeit mit neurodiversen Menschen aus dem Spektrum ist erlebbar, wie anders die Wahrnehmung ist, im Gegensatz zur Wahrnehmung neurotypischer Menschen. Trotzdem ist ein gegenseitiges Verstehen möglich. Es gilt, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu finden und mithilfe dieses Wissens und einer intensiven Beobachtung das gezeigte Verhalten besser nachzuvollziehen und das Angebot darauf abzustimmen: Impulse, die keine oder negative Reaktionen auslösen, sollten vermieden werden. Vor allem aber sollten Impulse und Materialien ausgewählt werden, die eine positive Antwort erkennen lassen, um freudvolle Begegnungen sowie lebendiges Miteinander in Therapie und Alltag zu ermöglichen und um eine tragfähige Beziehung aufzubauen.

1.4        Diagnose Autismus-Spektrum

»Autismus ist eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung. Häufig bezeichnet man Autismus bzw. Autismus-Spektrum-Störungen auch als Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoires auswirken« (Autismus Deutschland e. V., 2018, Absatz 1).

Autismus im ICD-11

Das Wissen, dass Autismus ursächlich eine andere Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung zugrunde liegt, hat sich erst in den letzten Jahren verbreitet und findet in der neueren Fachliteratur zunehmend Beachtung. Im ICD-11 ist Autismus unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zusammengefasst. Das Autismus-Spektrum ist laut ICD-11 gekennzeichnet durch anhaltende Defizite, die die Fähigkeit betreffen, wechselseitig soziale Interaktionen und soziale Kommunikation anzustoßen und aufrechtzuerhalten. Kennzeichnend sind auch verschiedene einschränkende, sich wiederholende und unflexible Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten. Diese sind für das Alter und den soziokulturellen Kontext der Person eindeutig untypisch oder exzessiv.1

Eine Einteilung innerhalb des Spektrums erfolgt in Bezug auf die unterschiedlichen Bereiche wie intellektuelle Entwicklung oder funktioneller Sprache, durch eine Bewertung von Schweregraden (leicht, mittelschwer, schwer, ausgeprägt, vorläufig). Die Schwierigkeiten der sozialen Fähigkeiten, als ein zentrales Merkmal im Autismus, werden dabei stets als gegeben vorausgesetzt.

Zu den Besonderheiten in der Wahrnehmung gehören eine Über- bzw. Unterempfindlichkeit »[…] gegenüber Geräuschen, Lichtverhältnissen, Temperaturen, Schmerzen, Textilien, Körperberührungen oder Geschmacksstoffen.« (Theunissen, 2016, S. 21).

Neue Betrachtungen verändern die Therapie(-ziele)

Die Erkenntnis, dass eine andere Wahrnehmung Ausgangspunkt und auch Symptom im Autismus-Spektrum ist, sollte jedoch nicht nur in der Diagnostik und in der Beschreibung Beachtung finden, sondern insbesondere Auswirkungen auf die Bereiche Therapie, Begleitung und Alltagsgestaltung von Menschen mit Autismus haben.

»In vielen Einrichtungen für autistische Menschen setzen Therapien weiterhin beim Verhalten autistischer Menschen an. Das Verhalten ändern zu wollen, egal, wie störend es sein mag, macht aber keinen Sinn, denn es ist das richtige Verhalten auf eine andere Wahrnehmung. Wenn ein autistischer Mensch besser in der Gemeinschaft und damit auch im (Arbeits-)Leben zurechtkommen möchte, dann müssen er und seine Umgebung genau das verstehen und dann versuchen, an seinem Modell der Welt, sprich an seiner Wahrnehmung, zu arbeiten« (Theunissen, 2016, S. 113).

Wahrnehmung als Ausgangspunkt

Komm!ASS® stellt einen Therapieansatz dar, der das Erkennen und Verstehen der neurodiversen Wahrnehmung, der spezifischen Wahrnehmungsbesonderheiten und der daraus resultierenden Verhaltensweisen als Ausgangspunkt für jegliche Intervention versteht.

Eine nicht-defizitäre, sondern eine ressourcenorientierte Sichtweise beachtet und wahrt die Individualität, verbessert Unterstützungsmöglichkeiten sowie die Lebensqualität.

Im Folgenden wird zunächst isoliert auf die einzelnen Wahrnehmungsbereiche eingegangen. Im weiteren Verlauf werden die Schwierigkeiten sowie Möglichkeiten in Bezug auf vielfältige und multimodale Wahrnehmungsverarbeitung erläutert. Mit dem Ziel die Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung positiv zu beeinflussen, um die Belastungen im Alltag zu mindern und um wechselseitige Interaktion und Kommunikation zu ermöglichen.

1     Eigene Übersetzung aus dem Englischen der Definition von »Autism spectrum disorder« nach ICD-11 (Word Health Organization, 2018). Die WHO ist nicht verantwortlich für den Inhalt oder die Richtigkeit dieser Übersetzung. Im Falle von Unstimmigkeiten zwischen der englischen Fassung und der Übersetzung ist die englische Originalfassung die verbindliche und authentische Fassung.

2          Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung

Die Informations- oder Impulsaufnahme erfolgt über die Sinne. Es wird unterschieden zwischen den Sinnen und Sinnessystemen, welche Impulse in Bezug auf den eigenen Körper bieten, (Körper- oder Nahsinne), sowie denen, die Informationen über die Umwelt vermitteln (Fernsinne). Bei genauerer Betrachtung gibt es hier zum Teil Überschneidungen. So kann z. B. eine visuelle Information etwas über die Beschaffenheit oder die Form eines Gegenstandes aussagen und zugleich einen besonderen Stimulus für die Betrachtende bieten. So ist der Blick auf einen sich drehenden Kreisel, je nach Intensität, eher ein Impuls in Bezug für die vestibuläre Wahrnehmung als eine Information über den Kreisel. Um Kinder im Autismus-Spektrum zu verstehen, ist es wichtig, darauf zu achten, welche Information welche Reaktion auslöst und auf welchem Wahrnehmungssystem diese Reaktion begründet ist.

Die Betrachtung der physiologischen Entwicklung der Sinnessysteme beim Neugeborenen oder Säugling kann helfen einige Besonderheiten besser zu verstehen. Zu Beginn der kindlichen Entwicklung erfolgen die ersten Differenzierungen zumeist vom Groben ins Feine, also von besonders starken Kontrasten und am Körper gut spürbaren Impulsen zu differenzierten und sich erst im weiteren Verlauf entwickelnden nochmals differenzierteren Systemen.

Die folgenden Bereiche betreffen die Nahsinne, sie verarbeiten meist intensive, eindeutige und gut spürbare Informationen. Sie werden bereits früh in der embryonalen Entwicklung angelegt und haben auch in den ersten Wochen und Monaten der Kindesentwicklung eine wichtige Bedeutung für die gesamte Entwicklung:

•  das propriozeptive Wahrnehmungssystem mit dem viszeralen Wahrnehmungssystem

•  das vestibuläre Wahrnehmungssystem

Die folgenden Systeme sind bereits deutlich spezifischer und differenzierter, sie sind bald weitere wichtige Informationsträger:

•  das taktile Wahrnehmungssystem mit dem thermischen Wahrnehmungssystem

•  das gustatorische Wahrnehmungssystem

Grundlage Körpersinne

Ein gut ausgebildetes Gefühl für den eigenen Körper und somit integrierte sowie aufeinander abgestimmte Wahrnehmungsbereiche bilden die Grundlage für eine gute Gesamtentwicklung des Kindes.

Vom »Ich« zum »Du«

Wenn das Kind sich mithilfe der Körpersinne selbst spüren kann, wenn es sich sicher fühlt, es »satt und warm« versorgt ist, wird es offen für einen Austausch mit dem Gegenüber. Wenn dieser Kontakt mit dem Erleben weiterer wohltuender Impulse gekoppelt ist, wird sich daraus Beziehung entwickeln.

Mithilfe der Fernsinne werden bald auch Informationen der umgebenden Umwelt verarbeitet. Hier erfolgt die Informationsaufnahme zumeist ohne einen direkten Körperkontakt mit dem wahrgenommenen Gegenstand bzw. der Information. Die Verarbeitung der Fernsinne ist eine wichtige Voraussetzung für komplexe, höhere Leistungen:

•  das olfaktorische Wahrnehmungssystem

•  das visuelle Wahrnehmungssystem

•  das auditive Wahrnehmungssystem

Fernsinne erweitern das Wissen

Die Fernsinne verhelfen zu einem Bild von der Umgebung, von Abläufen im Umfeld und auch von dem, was ggf. als Nächstes passieren könnte. Auf die Überschneidungen, dass ein »Fernsinn« zum Teil auch einen körperlichen Stimulus bietet, wie bei der engen Verbindung des vestibulären und des visuellen Wahrnehmungssystems, wird im Weiteren gesondert hingewiesen.

Gut zu wissen: Die Begriffe Haptik und haptische Wahrnehmung in der sensorischen Integration

Die haptische Wahrnehmung bezeichnet das aktiv tastende oder begreifende Erkunden der Umwelt. Dies umfasst Informationen aus dem propriozeptiven wie auch dem taktilen Wahrnehmungssystem und bezieht somit auch viszerale sowie thermische Impulse mit ein.

Die passive Aufnahme mechanischer sowie thermischer Informationen wird dem gegenüber oft als taktile Wahrnehmung bezeichnet und beschreibt das Erleben eines Druckes von außen oder auch einer Berührung von einer anderen Person. Teilweise wird bei dieser Einteilung die propriozeptive der taktilen Wahrnehmung zugeordnet.

Im vorliegenden Buch bezieht sich der Begriff taktile wie auch propriozeptive Wahrnehmung sowohl auf das aktive Erkunden als auch auf das passive Erleben von Impulsen. Die beiden Systeme werden zwar isoliert beschrieben, aber es gilt zu beachten, dass die Übergänge fließend sind.

Die tiefgreifenden Besonderheiten der Wahrnehmung sowie der weiteren Verarbeitung der verschiedenen Sinnessysteme werden als sensorische Integrationsstörungen bezeichnet. Im Folgenden werden die jeweiligen Wahrnehmungssysteme sowie die Auffälligkeiten von Menschen im Autismus-Spektrum beschrieben, anschließend werden mögliche Hilfen aufgeführt.

Jeder Mensch ist besonders

Jedoch sind nicht alle »Auffälligkeiten« (besonders isoliert gesehen) auch behandlungsbedürftig. Eine Vielzahl von Verhaltensweisen sind einfach nur »anders« und entsprechend sollte den Kindern hier mit Toleranz und Verständnis begegnet werden. Ob ein neurodiverser Mensch z. B. zur Beruhigung dem Schleudern der Wäschetrommel zuschaut oder ob die neurotypische Person den Wellengang am Meer oder einen Sonnengang betrachtet, macht kaum einen Unterschied. Aber bereits hier wäre ein besseres Verständnis für die jeweiligen Besonderheiten und Interessen hilfreich, um Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen weitere spannende Angebote zu präsentieren, bei denen ihre »Sicht der Welt« Beachtung findet.

2.1        Das vestibuläre Wahrnehmungssystem

Bei der vestibulären Wahrnehmung erfolgt die Aufnahme der Informationen über die Gleichgewichts- und Gravitationsrezeptoren. Das vestibuläre System sitzt im Innenohr und ermöglicht es, Gleichgewicht und Körperhaltung zu wahren. Eine isolierte Betrachtung eines einzelnen Wahrnehmungssystems ist vor allem bei vestibulären Impulsen unzureichend, da das Zusammenspiel mit den anderen Bereichen hier besonders vielfältig ist.

»Probleme mit dem Gleichgewichtssinn wirken sich [nämlich] auf sämtliche andere Funktionen aus« (Goddard Blythe, 2005, S. 103).

»Lange bevor das Gehirn visuelle und auditive Reize verarbeitet, nimmt es Gleichgewichtsreize wahr und reagiert darauf. Diese vestibuläre Aktivität ist einer der Bausteine, auf den später die Entwicklung des Sehens und Hörens aufbauen kann« (Ayres, 2016, S. 89).

2.1.1     Mögliche Auffälligkeiten des vestibulären Wahrnehmungssystems

Folgendes Verhalten ist bei vorwiegender Hyposensibilität zu beobachten – zumeist verbunden mit einer intensiven Impulssuche:

•  Häufiges selbststimulierendes Wiegen und Schaukeln des Oberkörpers

•  Schaukeln/»Kippeln« mit dem Stuhl

•  Das Kind liebt es hochgenommen oder hochgeworfen zu werden – häufiges Einfordern von »Engelchen flieg« oder »Reitspielen«.

•  Trampolin, Schaukel oder Karussell werden intensiv genutzt; ein Aufhören ist kaum möglich.

Auch nächtlicher Bewegungsdrang

•  Ständiger Bewegungsdrang der Kinder

•  Plötzliches Aufstehen, häufiges Wechseln in den Zehenspitzengang, Drehen um die eigene Achse oder schnelle (Wechsel-)Bewegungen des gesamten Körpers

•  Verharren mit dem Kopf nach unten oder starkes Hin- und Herschlagen des Kopfes

Wichtig: Intensive visuelle Impulse können auch eine Anregung für das vestibuläre System sein, wie das längere und nahe Betrachten eines Kreisels oder von Lichtspielen mit starken Kontrasten!

Passivität ist keine »Faulheit«

Folgendes Verhalten ist bei vorwiegender Hypersensibilität zu beobachten, zumeist verbunden mit einer Impulsvermeidung:

•  Schon geringe vestibuläre Impulse lösen Unbehagen oder Panik aus.

•  Kaum Lageveränderungen: Wenn das Kind eine Position eingenommen hat, verharrt es darin über einen längeren Zeitraum. Schon als Säugling reagieren die Kinder mit Schreien oder sich Versteifen, wenn sie hochgenommen werden oder wenn sie auf dem Arm leicht geschaukelt werden.

•  Bewegungsunmut: Bewegungen werden vermieden oder nur langsam ausgeführt. Die Kinder kommen spät oder nicht in Bewegung, kaum Robben und Krabbeln, spätes Laufen.

•  Bewegungsangebote wie Trampolin, Schaukel oder Rutsche werden abgelehnt.

Wichtig: Visuelle Impulse können auch zu einer Übererregung des vestibulären Systems führen, u. a. beobachtbar bei Übelkeit und Erbrechen beim Autofahren oder auch beim Fernsehen!

Abb. 2.1:    Beim Schaukeln zielgerichtete Aufgaben bewältigen können

2.1.2     Hilfen und Übungen zur Verbesserung der vestibulären Wahrnehmung

Positiv wahrnehmbare vestibuläre Impulse anbieten:

•  Schaukeln in verschiedenen Grundpositionen und in verschiedene Richtungen: sitzend, stehend oder auf dem Bauch bzw. Rücken liegend; vorwärts, rückwärts und seitlich, mit teilweise schnellem Anhalten oder Richtungsänderungen; bäuchlings auf einem Pezziball vor- und zurückrollen

Balanceübungen

•  Balancieren auf Bänken und Wackelbrett; Sitzen auf dem Wackelkissen

•  Drehen in der Affenschaukel bzw. auf dem Drehstuhl oder »Kreisel« spielen, um die eigene Achse drehen; Rollübungen auf der Matte oder seitlich, einen Hang herunterrollen; Purzelbaum

•  Springen auf dem Trampolin, wippen, rutschen und hüpfen

2.2        Das propriozeptive Wahrnehmungssystem

Den eigenen Körper spüren

Mithilfe der Propriozeptoren werden Informationen aus dem Körperinneren aufgenommen. Das propriozeptive System liefert Mitteilungen über Muskeln, Sehnen und Gelenke. So kann gespürt werden, wo sich der Körper im Raum befindet, welche Haltung oder Lage er einnimmt, welche Bewegungen möglich sind und in welchem Spannungszustand sich Muskeln und Sehnen befinden, ob der Körper sich bewegt und wenn ja, in welche Richtung. Dies geschieht mithilfe von Stellungssinn, Bewegungssinn, Kraftsinn und Spannungssinn, so wird es möglich, zu gehen, zu greifen und etwas anzuheben, stets mit der richtigen Kraftdosierung ohne dabei zu fest aufzustampfen, ohne etwas zu zerdrücken oder wieder fallen zu lassen. Mithilfe von Zug und Druck bekommt das Gehirn u. a. Informationen über die Stellung des Körpers, ohne dass es einer zusätzlichen visuellen Kontrolle bedarf.

Die Propriozeptoren übertragen auch Impulse in Bezug auf die viszerale Wahrnehmung. Es werden Informationen der inneren Organe aufgenommen und übermittelt, wie Hunger- oder Sättigungsgefühl oder ein möglicher Druck auf Darm oder Blase.

Häufig wird das propriozeptive Wahrnehmungssystem auch dem taktilen Wahrnehmungssystem zugeordnet (Kap. 2.3). Mit der taktilen Wahrnehmung wird jedoch mehr das Wahrnehmen über die Haut wie ein sanftes Streicheln oder ein Streichen über Oberflächen verbunden. Die propriozeptive Wahrnehmung umfasst hingegen starke Druck- und Zugimpulse für Faszien, Muskeln, Knochen und Gelenke und wird deshalb gesondert aufgeführt.

Besonderheiten vom Körpertonus

Bedingt durch das Erleben in Extremen nehmen Menschen mit Autismus auch die Informationen über das propriozeptive Wahrnehmungssystem zumeist in besonderer Intensität wahr oder suchen diese. Infolgedessen weisen einzelne Körperregionen einen zu geringen Muskeltonus (Hypotonus), andere einen zu starken Muskeltonus (Hypertonus) auf. Auch ein stetiger Wechsel zwischen diesen beiden Spannungszuständen ist möglich, ein eutoner Muskeltonus ist jedoch kaum zu beobachten.

»Ohne hinzuschauen wissen Sie genau, wo Ihr Körper den Stuhl oder Boden berührt und wie Ihre Füße stehen. Ich kann das nicht. Meine Körperwahrnehmung ist dafür zu gering. […] Ich muss schauen, um zu wissen, ob und wie ich sitze, wo meine Füße sind und was die Arme machen.

In der Schule habe ich nach dem Melden oft vergessen den Arm wieder herunter zu nehmen, weil ich so mit der Antwort (und den vielen anderen Reizen) beschäftigt war. Ich habe ihn einfach vergessen« (Vero, 2014, S. 99).

»Ich habe erst verstanden, wieso die Leute immer behaupten, ich würde beim Abschied verkehrt herum winken, als ich mich eines Tages in einem großen Spiegel sah. Da begriff ich, dass ich mir beim Winken selbst auf Wiedersehen sagte!« (Higashida, 2018, S. 51).

Im Folgenden wird das propriozeptive Wahrnehmungssystem unterteilt in die Bereiche »Extremitäten«, wie Arme und Beine, »den Kopf« sowie die »viszerale Wahrnehmung«, das Spüren der inneren Organe. Damit werden die Zielsetzungen besser erkennbar und die Angebote können differenzierter erfolgen.

2.2.1     Mögliche Auffälligkeiten des propriozeptiven Wahrnehmungssystems in Bezug auf Arme, Beine und Kopf

Boxen und Treten um den eigenen Körper zu spüren

Folgendes Verhalten ist bei vorwiegender Hyposensibilität zu beobachten – zumeist verbunden mit einer intensiven Impulssuche:

•  Schlagen und Boxen gegen Gegenstände oder Personen

•  Wedeln mit den Händen und Armen

•  Häufiges in die Hände klatschen

•  Verschieben oder Hochheben von Möbeln oder schweren Gegenständen

•  Hineinstecken der Finger in Vertiefungen oder Drücken von Tasten und Schaltern

•  Kaum differenzierte Fingerbewegungen, z. B. fehlender Pinzettengriff

•  Steck-, Stapel- und Drehspiele werden nicht gespielt, Spielmaterial wird eher als Wurfmaterial genutzt.

•  Kein »Handgeben«, sondern Abklatschen

•  Werfen oder Fangen erscheinen ungelenk und werden mit viel Druck ausgeübt.

•  Treten, Aufstampfen, sich auf die Knie fallen lassen

•  Hüpfen oder Herunterspringen von Erhöhungen zum Stauchen und Spüren der Beine

•  Zähneknirschen oder -klappern, Beißen in die eigene Hand oder in einen Gegenstand

•  Druck mit dem Kinn gegen einen Widerstand, Schläge gegen den Kiefer (bieten auch Informationen im Bereich der Schultern und des Nackens).

•  Den Kopf längere Zeit nach unten hängen lassen – hier führt der erhöhte »Blutdruck« zu dem gewünschten Impuls.

•  Ruckartiges Werfen des Kopfes nach hinten, Purzelbäume oder »Head-Bangen«

•  Schläge mit der Faust gegen den Kehlkopf

•  Auch intensive auditive Impulse können eine Anregung für das propriozeptive System sein, wie das Bevorzugen von sehr lauten Geräuschen und die Durchführung dieser nahe am Trommelfell!

Passivität als Schutz

Folgendes Verhalten ist bei vorwiegender Hypersensibilität zu beobachten – zumeist verbunden mit der Impulsvermeidung:

•  Schon kaum spürbare, tiefenstimulierende Impulse können Unbehagen oder Schmerz auslösen.

•  Deutlicher Bewegungsunmut, Bewegungen werden nur minimal oder verlangsamt ausgeführt, Kinder kommen spät oder nicht in Bewegung, kaum Robben und Krabbeln, spätes Laufen

•  Kein Heben oder Schieben von schweren Gegenständen, kein (ausdauerndes) Festhalten

•  Einzelne Körperteile werden nicht in Bewegung gebracht; der gesamte Körper geht in Aktion oder führt diese an, ein isoliertes Ausstrecken der Hände oder Arme ist nicht möglich.

Abb. 2.2:    Den eigenen Körper spüren

2.2.2     Hilfen und Übungen zur Verbesserung der propriozeptiven Wahrnehmung

Positiv wahrnehmbare Druck-, Zug- und Vibrationsimpulse anbieten für Sehnen, Muskeln und Gelenke:

Keine Angst vor Berührungen

•  Stimulierungen der Füße und Fußsohlen, der Beine bis hin zum Becken. Gemeinsames Laufen und Hüpfen, feste Massagen, Druckimpulse, Abklopfen oder Abrollen

•  Stimulierungen der Finger, Handflächen, Ellenbogen und Oberarme sowie der Schulter. Schieben von schweren Kisten, Werfen von schweren Bällen oder Boxen gegen einen Boxsack. Hängen an Stangen, Heben von schweren Gegenständen. Händische Mobilisation durch die Therapeutin, wie »Aufziehen« der Gelenke, Abklatschspiele, Bewegungsspiele wie »Engelchen flieg«.

•  Abrollen mit einem Pezziball, einer Faszienrolle.

•  Einrollen oder Ablegen in/unter einem Teppich oder einer Matte, mit zusätzlichen Gewichts- oder Klopfimpulsen.

•  Gebärden, ausgeführt mit ausladenden Bewegungen oder intensiven Kontaktpunkten (Kap. 8)

Vielfältige Bewegungsangebote anbieten

•  Vielfältige Bewegungs- und Sportangebote schaffen: Klettern, Hampelmann, Tanzen, Boxen, Trampolin u. ä.; auf dem Spielplatz, im Turnraum, in der Natur oder auf dem Weg dorthin.

•  Hilfen beim Arbeiten am Tisch anbieten, wie einen Stuhl mit Armlehnen oder Unterstützung und Begrenzungen für die Beine und Füße, Gewichtsdecke, Gewichtskissen oder zusätzliche Massagen der Extremitäten.

•  Alltagsabläufe verändern, damit der eigene Körper mehr in den Fokus rückt: Intensivieren der Spürinformation beim An- und Ausziehen der Jacke, der Schuhe oder beim Händewaschen (hier durch festes Reiben und Kneten der Hände).

•  Vielfältige Spürinformationen auch für den Kindergarten oder die Schule empfehlen: wie Druckmassagen, festes »Trampeln« mit den Füßen auf den Boden oder Gewichtsdecken auf dem Schoß.

Vielfältige Impulse beim Schwimmen

•  Schwimmen und Wasserspiele: Wasser bietet unterschiedliche und ganz besondere Impulse für Sehnen, Muskeln und Gelenke, zudem verändert es durch den Auftrieb das Eigengewicht des Körpers.

    »Neben der veränderten Atmung werden Herz-Kreislauf angeregt, die Haut vielfältig stimuliert (Temperatur, Streicheln, Druck), und bei der kleinsten Bewegung entstehen vestibuläre, propriozeptive und kinästhetische Reize« (Cherek, o. J., S. 4.).

Fallbeispiel: Florian, 7 Jahre, im Autismus-Spektrum

Nonverbal, situatives Sprachverständnis vorhanden, vermeidet Interaktion, bisher vorwiegend Verhaltenstherapie

Florian ist von Anfang an von den unterschiedlichen Spielmaterialien in meinem Therapieraum begeistert. Egal, ob Steckspiel oder Kugelbahn, er erfasst schnell die jeweiligen Funktionen und kann sie zielsicher durchführen. Es zeigt sich jedoch, dass er alle Spiele alleine spielen möchte. Sobald ich versuche, diese in Form eines gemeinsamen Spiels anzubieten, versucht er, sich meinen Interaktionsangeboten zu entziehen. Auch als ich ihm eine Kratzmassage mit einer Bürste an seinem Arm anbiete oder das Eis hervorhole, entzieht er sich dem Angebot und dreht sich von mir weg. Weitere Spielangebote, wie ein Sound-Puzzle und eine Trommel, möchte er ebenfalls nicht annehmen. Seine Anspannung steigt stetig. Deshalb verspreche ich ihm, dass wir nun noch einmal die Seifenblasen fliegen lassen und dass wir dann die heutige Stunde beenden.

Bevor wir starten, möchte ich Florian noch einmal im Sitzsack neu positionieren. Ich umfasse mit beiden Händen fest seinen Oberkörper und setze ihn mit viel Schwung kräftig in die Unterlage. Florian hält inne. Ich registriere seine kurzzeitig veränderte Körperhaltung. Noch einmal umfasse ich ihn und wiederhole die Impulsgebung – jetzt schaut er deutlich erstaunt auf. Ein erstes Mal sucht er meinen Blick. Eine dritte Runde folgt und es ist ein kurzes Lachen zu hören. Ich verändere mein Angebot: Ich nehme seine Füße und biete über seine gestreckten Beine einen festen Druckimpuls in Richtung Becken. Dabei wird sein Becken noch fester in den Sitzsack gedrückt. Erneut zeigt Florian Blickkontakt, dieses Mal über mehrere Sekunden. Als nächstes Angebot nehme ich die vorher abgewehrte Bürste und streiche damit fest über Florians Handfläche. Dieses Mal kann er die Stimulation annehmen, interessiert schaut er erst auf die Bürste und dann zu mir. Florian nimmt einige weitere Massagen und propriozeptive Impulse für seinen gesamten Körper freudig an und zeigt dabei eine lebendige Interaktion. Als sein Blick nicht mehr ganz so interessiert ist, andere Gegenstände seine Aufmerksamkeit vermehrt bündeln, beende ich die Stunde. Ich bin mir sicher, dass ich in der folgenden Woche an diese wohltuenden Impulse gut anknüpfen kann.

2.2.3     Mögliche Auffälligkeiten des propriozeptiven Wahrnehmungssystems in Bezug auf die inneren Organe (viszerale Wahrnehmung)

Folgendes Verhalten ist bei vorwiegender Hyposensibilität zu beobachten – zumeist verbunden mit einer intensiven Impulssuche:

•  Anrempeln oder Fallenlassen auf den Boden, gegen Zimmerwände und Begrenzungen

•  Andrücken und besonders festes Umarmen von Personen

•  Verdrehen des gesamten Oberkörpers, starke Mitbewegungen des Oberkörpers beim Gehen

Eine volle Blase oder ein voller Darm um den Körper zu spüren

•  Spätes oder kaum wahrnehmbares Sättigungsgefühl

•  Häufiges Hüpfen oder Herunterspringen von Erhöhungen um u. a. den gesamten Oberkörper sowie Becken- und Bauchraum besser zu spüren

•  Verspätete oder ausbleibende Sauberkeit, Darm und Blase werden selten/spät entleert, häufig sind Einläufe notwendig, wiederkehrende Blasenentzündungen

•  Emotionen werden kaum gespürt (Kap. 10)

Einfrieren des Oberkörpers

Folgendes Verhalten ist bei vorwiegender Hypersensibilität zu beachten, zumeist verbunden mit einer Impulsvermeidung:

•  Auch kaum spürbare, den Oberkörper betreffende Impulse können Unbehagen oder Schmerz auslösen. Kinder klagen z. B. häufig über Bauchschmerzen.

•  Essen und Trinken nur in geringen Mengen

•  Deutlicher Bewegungsunmut: Bewegungen werden nur minimal oder verlangsamt ausgeführt.

•  Jegliche Dreh- oder Streckbewegungen werden vermieden → Bewegungen wie ein »Roboter« oder »Einfrieren des Oberkörpers«.

•  Das Anheben oder Bewegen von schweren Gegenständen wird vermieden.

•  Teilweise besonders frühe Sauberkeit, Druck auf Darm und Blase werden intensiv gespürt, evtl. besonders häufiger Toilettengang

•  Emotionen werden intensiv gespürt und führen zur Überforderung (Kap. 10)

Gut zu wissen: Hilfen zur Sauberkeitserziehung

Auch die Sauberkeitserziehung zeigt sich bei Kindern mit Autismus oft deutlich verzögert. Unter anderem bedingt durch die Besonderheiten der viszeralen Körperwahrnehmung wird auch der Druck von Darm und Blase »anders« gespürt. So kann es sein, dass dieser Druck als angenehm empfunden wird und die Kinder deshalb den Toilettengang vermeiden. Im Gegensatz dazu ist es auch möglich, dass der Druck nicht oder zu spät wahrgenommen wird und die Windelversorgung deshalb bestehen bleibt.