Intrigen an der Loire - Catherine Duval - E-Book
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Intrigen an der Loire E-Book

Catherine Duval

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Beschreibung

Das rauschende Kostümfest auf Schloss Chenonceau findet ein jähes Ende, als ein Toter entdeckt wird. Baron Philippe, der sein Dasein als Privatdetektiv eigentlich aufgegeben hatte, zieht es erneut in die Ermittlungen an der Seite von Commissaire Charlotte Maigret. Rache, Eifersucht oder Habgier? Die möglichen Motive sind so unterschiedlich wie die beiden Ermittler. Welche Geheimnisse verbergen sich auf Chenonceau, dem Schloss, das einst Frankreichs schwarze Königin Katharina von Medici bewohnte?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Catherine Duval

Intrigen an der Loire

Ein Fall für Baron Philippe

Impressum

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Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Château de Chenonceau; Viacheslav Lopatin / Shutterstock.com

ISBN 978-3-7349-3214-4

Widmung

A mes amours

Zitat

»Es ist grausam, menschlich zu handeln

und menschlich, grausam zu sein.

Katharina von Medici (1519–1589)

Karte

Kapitel 1

Es war einer dieser Abende, an denen der Sommer alle seine Versprechen einzulösen schien: Leichtigkeit, Lebensgenuss und Leidenschaft.

Am Himmel gingen Variationen von Blau ineinander über und verabschiedeten den Tag. Die Sonne hatte sich in einen orangeroten Streifen am Horizont aufgelöst. Einzelne Sterne funkelten auf und spiegelten sich im Wasser des Cher. Am Ufer flüsterten Pappeln, und die Klänge der Geigen wehten aus der Schlossgalerie herüber.

Chenonceau, das Schloss der Damen, spannte seine Bögen mit majestätischer Geste über den Fluss. Das schiefergedeckte Dach über dem hellen Tuffstein war vor dem Nachthimmel kaum auszumachen. Dennoch leuchtete das Château: Alle Fenster waren weit geöffnet, sowohl die Sprossenfenster im Hauptgebäude als auch die bodentiefen Rundbogenfenster in der Galerie. Unzählige Kerzen sorgten für Lebendigkeit und Wärme.

Lebendigkeit bestimmte auch die Atmosphäre rund um das Schloss. Auf dem Wasser trieben flache Kähne. Blumengirlanden in den Nationalfarben Blau, Weiß und Rot schmückten ihren Rumpf. Darinnen saßen Nymphen mit Blütenkränzen und wallenden Gewändern. Auch Neptune und Nixen grüßten die Festgäste oben in den Gärten. Mal hell erleuchtet durch das Licht, das aus den Fenstern drang, mal nur Schemen vor dem dunklen Fluss.

Eifrige Bedienstete in Kniehosen und gepuderten Perücken entzündeten Fackeln, die überall auf dem Schlossgelände verteilt waren. In ihrem Schein blühten die Festtagsgewänder der Gäste zwischen den strengen Buchsbaumreihen des Diana-Gartens auf. Rot, blau und silbern. Elegante Kleider und Anzüge, Damen in weit ausladenden Ballkleidern, ihre Begleiter in Samtgehröcken und gerüschten Hemden.

Sogar Ludwig XVI. und seine Gattin Marie-Antoinette standen auf dem kleinen Platz neben der Tour des ­Marques, dem ehemaligen Bergfried des Châteaus, und nickten freundlich nach rechts und links. Der schlanke weiße Hals der Königin ließ nicht erahnen, dass er in Wahrheit Jahrhunderte vorher auf dem Schafott durchtrennt worden war. Diese kostümierte Marie-Antoinette lächelte noch fröhlich hinter ihrem Fächer hervor. Und den Zauber des Abends würde hoffentlich keine Revolution verderben.

Auf der langen Allee, die zwischen den hohen Platanen direkt auf das Schlossgebäude zuführte, tanzten zwischen den Gästen als Satyrn verkleidete Männer mit zierlichen Nymphen. In den beiden Kanälen rechts und links des Kieswegs planschten weitere Nixen, die Brüste mit Muschelschalen, den Körper vom Nabel abwärts mit schimmernden Schuppen bedeckt.

Wohin Baron Philippe du Pléssis auch blickte, bot sich ihm ein Bild von Pracht und Überfluss. Hätte er nicht gewusst, dass er sich auf einer Kostümparty im 21. Jahrhundert befand, er hätte sich glatt ins große Zeitalter des Barock zurückversetzt gefühlt. Die Feste, die die Könige Frankreichs im Loiretal gefeiert hatten, konnten kaum rauschender gewesen sein.

Das Schloss und die Gärten standen in derselben Großzügigkeit da wie schon Hunderte von Jahren vorher. Alles, was das historische Bild hätte stören können, war in den Tagen vor dem Fest sorgsam entfernt worden. Die Wegweiser, die normalerweise die Touristenströme leiteten. Die Mülleimer, die tagsüber vom Sandwichpapier und den Plastikflaschen der zahlreichen Touristen überquollen. Selbst die Lautsprecher, die die klassische Musik aus der Galerie in die weitläufigen Gartenanlagen übertrugen, waren gut hinter üppigen Blumengebinden versteckt. Man mochte von dem Projekt »France de Cœur – Cœur de France« halten, was man wollte. Dieses Fest, das die glanzvolle Epoche der Renaissance aufleben ließ, in der das Loiretal zusammen mit Paris das kulturelle und politische Zentrum Frankreichs gewesen war, war den Gastgebern wirklich gelungen. Das Herz Frankreichs. Nicht umsonst hieß die Region auch heute noch »Centre«.

Philippe war nach Feiern zumute. Das historische Kostüm, das er sich extra hatte anfertigen lassen, fühlte sich großartig an. Er hatte sich für himmelblaue Seide entschieden. Sein braunes Haar hatte er mit Pomade nach hinten gekämmt, da er nicht unter einer Perücke schwitzen wollte. Dafür war sein Gesicht blass gepudert und die Wangen mit Rouge geschminkt. Der Tod seines Onkels, des Duc de Cotignac, lag nun schon einige Wochen zurück. Er hatte den ersten Schock verdaut, wenn er die schrecklichen Ereignisse auch sicherlich nie ganz vergessen würde. Sie hatten auf jeden Fall entscheidenden Einfluss auf sein Leben genommen. Sein Onkel hatte ihn mit dem Erbe des Châteaus de Cotignac zu einem Schlossherrn gemacht. Und er hatte sich dafür entschieden, das Erbe anzutreten, trotz der Querelen mit seinem Halbbruder Constant und seinem Vater. Der Beginn eines neuen Lebensabschnitts also – wenn das kein Grund zum Feiern war!

Constant hatte seit dem Tod von Onkel Jean-Baptiste den Verdacht, dass Philippe ihn beim Erbe betrogen hatte. Er glaubte, Philippe habe einen Teil des wertvollen Nachlasses des Ducs vor der Verteilung heimlich beiseitegeschafft – vielleicht sogar den Schatz der Templer, den Onkel Jean-Baptiste gesucht hatte. Dass nicht er, der Erstgeborene, sondern Philippe, Sohn der zweiten Ehefrau des Vaters, der Nachfolger des Duc de Cotignac geworden war, würde er wohl niemals verwinden.

»Champagner, Monsieur?«

Die Stimme gehörte einer hübschen jungen Frau, die plötzlich neben ihm stand.

»Sie haben erraten, was mir zu meinem Glück noch fehlt, Mademoiselle.«

Philippe lächelte die Nymphe an, die ihm ein Silberta­blett entgegenhielt. Ihre langen braunen Locken flossen über Schultern und Rücken, ihren Kopf schmückte ein Kranz aus duftenden Blumen. Der zarte Seidenstoff ihres Gewands umspielte die nackten Füße. Er nahm sich eine der Kristallschalen, in denen es golden perlte.

»Auf Ihr Wohl, Mademoiselle. Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass die Farbe Ihrer Augen an die Loire in einer sternenklaren Sommernacht erinnert?«

Er bekam keine Antwort, denn in diesem Moment hob aus den Lautsprechern in voller Lautstärke Händels Feuer­werksmusik an. Die Nymphe zog ihren Kopf ein und huschte davon. Sofort war sie in der Menschenmenge verschwunden. Während er ihr nachsah, zischten mehrere Raketen in den tintendunklen Junihimmel. Mit lautem Knall zerbarsten sie passend zu den Höhepunkten der Musik und stieben in glitzerndem Sternenregen zur Erde. Die Feiernden blickten wie gebannt nach oben. Rot, golden und silbern prasselte es herab. Immer höher stiegen die Raketen, immer üppiger wurden die Sterne und glitzernden Blumen, die sie in den Himmel zeichneten. Vor dem Schlosseingang drehten sich hell leuchtende Kreiselfontänen. Der Feuerwerksmeister hatte ganze Arbeit geleistet, wie die Ahs und Ohs des Publikums zeigten.

Ein zufriedenes Lächeln hatte Philippes Gesicht eingenommen. Der Champagner prickelte kühl in seiner Kehle. Die musikalischen Salven aus den Lautsprechern steigerten sich weiter. Es war ein einziger Rausch der Sinne.

Daher dauerte es eine Weile, bis er die Störung wahrnahm. In das Juchzen der Geigen mengte sich eine helle Stimme wie ein Fremdkörper. Es klang wie ein Jammern, das überhaupt nicht mit dem Rhythmus der Musik und der Raketen harmonierte. Es kam vom Wassergraben, der zwischen dem Vorplatz des Schlosses und dem Hauptgebäude lag. Philippe sah, wie die Menschen, die von dort aus dem Feuerwerk zugesehen hatten, sich über die Brüstung der Brücke beugten. Und sofort wieder zurückwichen. Eine Frau schrie laut auf und verbarg ihren Kopf an der Schulter ihres Begleiters. Es entstand Unruhe unter den Gästen. Mehr Schreie wurden laut. Man deutete nach unten. Dann schob sich die Menge Richtung Allee. Philippe wollte wissen, was los war. Gegen den Strom der Menschen, die von der Schlossbrücke wegstrebten, bahnte er sich einen Weg nach vorne, bis er die Brüstung erreicht hatte.

Dann sah er den Grund für den Aufruhr: Unten schaukelte einer der geschmückten flachen Kähne im Fluss. Ein Ruder baumelte noch in seiner Halterung. Das andere trieb mehrere Meter entfernt in der Strömung davon. Nymphen waren keine mehr an Bord. Mitten im Kahn aber lag der Wassergott Neptun. Sein Unterleib war mit einem Schilfrock bedeckt. Auf dem muskulösen Oberkörper lagen lange graue Haarsträhnen, mit grünen Algen durchzogen. Der ganze Leib war grün geschminkt, auch das Gesicht. Die roten Lippen und das Weiß der Augäpfel stachen da­raus hervor und ließen ihn grotesk aussehen, fast wie einen Frosch. Ungläubig starrte er in das Feuerwerksspektakel über ihm. Philippe war, als ob Neptun sich noch bewegte, aber es waren nur die rötlichen und bläulichen Reflexionen der Feuerwerkskörper, die über den Leib zuckten. Neptun war tot. Hingerichtet mit seinem eigenen Dreizack.

Kapitel 2

»Natürlich Sie! Das hätte ich mir ja denken können, dass Sie sich dieses Event nicht entgehen lassen. Ich hätte Sie in Ihrem Aufzug beinahe nicht erkannt.«

Die Kommissarin bedachte Philippe mit einem spöttischen Lächeln.

»Madame la Commissaire, enchanté.«

Philippe machte einen Kratzfuß, der durch sein Kostüm besonders elegant wirkte, und hauchte Charlotte Maigret einen formvollendeten Kuss auf den Handrücken.

»Das gesamte Who’s who der Touraine ist hier. Da konnte ich schlicht und einfach nicht Nein sagen. Allerdings hatte ich mir das Ganze anders vorgestellt, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben. Zu schade, dass das rauschende Fest ein so abruptes Ende gefunden hat.«

»Mir bleibt auch nichts erspart. Monsieur du Pléssis futtert Häppchen und schlürft Champagner, und prompt findet er eine Leiche im Wasser. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Wieder ein Auftrag für Ihre Detektei? Oder sind Sie diesmal nur Zeuge?«

Charlotte Maigret stand mit dem Rücken zur prächtigen Renaissance-Fassade des Schlosses. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem unordentlichen Knoten auf den Kopf genestelt. Sie trug eine Lederjacke. Ihre Röhrenjeans endeten in Cowboystiefeln. Unverhohlen musterte Philippe sie von oben bis unten.

»Nein, nein, den Job als Privatdetektiv habe ich an den Nagel gehängt. Ich bin Gast hier, wie unschwer zu erkennen ist. Der Dresscode war 17. Jahrhundert, Blau-Weiß-Rot. Da ist Ihre Interpretation doch eher, sagen wir mal, eigenwillig, Madame. Sie sehen aus, als seien Sie gerade im Wilden Westen von Ihrem Pferd gestiegen. Nichtsdestoweniger – ich bin, abgesehen von den grauenvollen Umständen, wirklich erfreut, Sie hier zu sehen.«

»Also Zeuge. Wurde auch dieses Mal etwas gestohlen oder sind noch alle Bilder im Schloss?«, fragte Charlotte und nickte über ihre rechte Schulter.

»Wirklich witzig, Madame. Aber wir sind hier ja nicht in Cotignac.«

»Zum Glück. Für einen kurzen Moment habe ich befürchtet, dass wir wieder gemeinsam ermitteln müssen, Monsieur du Pléssis. Eine Vorstellung, die wohl keinen von uns beiden erfreuen dürfte.«

Philippe merkte, wie sich ein Nackenhaar nach dem anderen aufstellte. Die Erinnerung an die Mordfälle auf dem Schloss seines Onkels, des Duc de Cotignac, in denen er Seite an Seite mit Maigret hatte ermitteln müssen, ließ ihn schaudern. Nicht nur wegen der beiden Mordopfer. Diese Polizistin gehörte zu der Sorte von Menschen, die ihm innerhalb von wenigen Sekunden auf den Nerven herumtrampeln konnten.

»Der Champagner schmeckt?« Maigret sah Philippe mit hochgezogenen Augenbrauen und spitzen Lippen an. »Lassen Sie sich beim Genuss nicht stören.« Zu ihrem Assistenten gewandt sagte sie: »Komm, Alexandre. Dann wollen wir mal sehen, was uns die Loire Schönes angespült hat.«

»Cher, Madame. Wir sind hier am Cher, linker Zufluss der Loire«, rief Philippe ihr nach.

Aber Charlotte Maigret hörte ihn nicht mehr. Sie stieg bereits die Tuffsteinstufen, die aus der Mauer ragten, zum Wasser hinab. Philippe folgte ihr kurzerhand.

Unten auf der schmalen Kaimauer standen zwei Gendarmen aus Montrichard. Im Kahn, der inzwischen an Land gezogen worden war, kauerte ein älterer Herr neben der Leiche. Auch er trug ein Kostüm, einen beigen Samtgehrock und ein Rüschenhemd mit einem großen Plastron auf der Brust, dazu Kniehosen, Seidenstrümpfe und Schnallenschuhe.

»Madame la Commissaire?«, sagte der eine Gendarme. »Mein Name ist Dubois und das ist mein Kollege Servant. Wir waren die Ersten am Tatort, während die Kollegen die Festgesellschaft evakuiert haben.«

Charlotte Maigret nickte ihnen zu. Dann wandte sie sich an den Herrn neben der Leiche. »Und Sie sind?«

Der Weißhaarige richtete sich auf und hielt beide Hände vor seine Brust, als wollte er etwas abwehren. Sie steckten in Einweghandschuhen. Die Fingerspitzen der linken Hand waren ein wenig blutig.

»Gustave Delerme, Madame. Ich bin Hausarzt in Mont­richard. Ich war vor Ort, habe beim Fest mitgeholfen. Die Gendarmerie hat mich gebeten …«

»In der Rechtsmedizin war niemand zu erreichen, Madame la Commissaire. Da dachten wir, wir bitten DocteurDelerme, das Opfer zu untersuchen«, beeilte sich Dubois zu sagen.

Charlotte Maigret runzelte die Stirn. Man konnte ihr ansehen, dass sie unzufrieden mit der Situation war. Trotzdem wandte sie sich in einem einigermaßen freundlichen Tonfall an den Arzt.

»Können Sie schon etwas zur Todesursache sagen? Todeszeitpunkt und so weiter? Das Übliche eben.« Und an ihren Assistenten gewandt, der ein Tablet unter dem Arm hatte, kommandierte sie: »Alexandre, schreiben Sie mit!«

»Also, ich würde sagen, der Tod ist erst kürzlich, vor circa einer Stunde eingetreten. In etwa. Oder vielleicht vor eineinhalb Stunden. Oder zwei. Es könnte auch erst eine halbe Stunde her sein, wer weiß, oder …«

Philippe konnte der Kommissarin ansehen, dass sie sich zwingen musste, ruhig zu bleiben.

DocteurDelermes Augenbrauen standen buschig nach allen Seiten ab, was ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Uhu verlieh, fand Philippe. Sie passten zu dem etwas zerstreut wirkenden Arzt.

»Todesursache?«

»Nun, allem Anschein nach wurde der Mann erstochen.«

»Ach, wirklich?«, höhnte die Polizistin. Doch der Arzt schien es nicht zu bemerken. Die Anstrengung war dem alten Mann ins Gesicht geschrieben. Philippe tat er leid. Als Hausarzt im beschaulichen Montrichard war er es sicher nicht gewohnt, eine Leiche an einem Tatort zu untersuchen. Und dann kam auch noch Maigret mit ihrer uncharmanten Art.

»Angesichts der Massivität der Zinken wurde vermutlich die Lunge durchbohrt. Oder eher zerfetzt. Vielleicht auch die Aorta. Die Waffe muss mit immenser Wucht in den Körper gestoßen worden sein. Sehen Sie, der junge Mann ist sehr muskulös. Es ist gar nicht so einfach, einen derart trainierten Oberkörper zu durchstoßen.«

»Sixpack. Der Täter hatte also sehr viel Kraft. Ein Mann«, mutmaßte Maigret. »Weiß man schon etwas über die Identität des Toten? Kennen Sie ihn vielleicht, Docteur?«

»François Ravaux. Er ist Gärtner hier auf der Schlossanlage von Chenonceau.«

Philippe zuckte bei dem Namen zusammen. François Ravaux. Das war nicht nur der Gärtner von Chenonceau. Es war der Mann, mit dem er vor einigen Tagen telefoniert hatte. Philippe spielte mit dem Gedanken, den Schlosspark von Cotignac originalgetreu herrichten zu lassen. Und dieser Gärtner war ihm als der beste weit und breit genannt worden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Kommissarin seine Nummer in Ravaux’ Handy finden würde. Stand er dann wieder unter Verdacht? Er kannte das schon vom letzten Fall. Vor ein paar Monaten, als im Schloss seines Onkels die deutsche Kunstsachverständige Julia Berger ermordet worden war, war er der Letzte gewesen, mit dem das Opfer vor seinem Tod telefoniert hatte. Es war Philippes erste Begegnung mit der raubeinigen Kommissarin gewesen. Alter Adel traf auf Arbeiterkind und Tochter eines Gelbwestenaktivisten. Peng.

»Alexandre! Haben Sie das alles mitgeschrieben? Machen Sie schon mal ein paar Fotos mit Ihrem Gerät. Keine Ahnung, wo die Leute von der Spurensicherung bleiben.«

Der junge Assistent nickte und begann sofort mit dem Fotografieren.

»Gärtner. Als Neptun verkleidet. Warum, um Himmels willen?«, schimpfte Maigret.

»Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, das hier ist ein Kostümfest im Stil des 17. Jahrhunderts. Und wie es damals schon üblich war, helfen alle mit, die im Schloss arbeiten. Auch MonsieurRavaux.«

Bei Philippes ersten Worten war Maigret herumgefahren.

»Sie schon wieder! Das hier ist ein Tatort. Ich kann mich nicht erinnern, Sie dazugebeten zu haben. Und schon gar nicht so!«

Die Kommissarin deutete auf die Champagnerschale, die Philippe noch immer in der linken Hand hielt. In diesem Moment blitzte oben auf der Brücke eine Kamera auf. Er erkannte sofort, wer dort stand. Es war Hélène Simon von der Ouest France, die ihm jetzt kurz zunickte.

»Na bravo. Die Presse. Das wird ja immer besser. Alexandre, machen Sie der Dame klar, dass sie gar nicht erst daran denken soll, dieses Foto zu veröffentlichen. Ein toter Gärtner, der von seinem Arbeitgeber in ein lächerliches Kostüm gezwungen wurde. Und daneben ein Adeliger mit Champagner. Ich sehe schon die Bildunterschrift: ›Ausbeutung im 21. Jahrhundert‹.«

Alexandre verschwand nach oben und diskutierte mit Hélène.

Charlotte Maigret konnte ihre Rage kaum verbergen, als sie sich an die beiden Polizisten wandte und auf Philippe deutete. »Gendarmes, sorgen Sie dafür, dass dieser Herr hier verschwindet.«

Sie entfernte sich ein paar Schritte und telefonierte, während einer der Gendarmen entschuldigend die Hände hob und auf Philippe zuging. Dieser ärgerte sich. Im Mordfall von Cotignac hatte er Maigret am Ende das Leben gerettet. Und bei seinem anschließenden Besuch im Krankenhaus hatten sie sich ein wenig angenähert. Aber heute benahm sie sich, als hätte sie das alles vergessen.

Als Philippe die Treppe schon zur Hälfte hinaufgestiegen war, hörte er die zaghafte Stimme des Arztes, der umständlich seinen Abschied vorbereitete.

»Madame, ich wäre dann so weit fertig. Also vorerst. Mit meiner Arbeit. Alles andere wird die Obduktion ergeben. Also, ich meine, alles, was ich hier nicht untersuchen konnte, werden die Kollegen in Tours bei der Obduktion erkennen. Die haben da ja alle erforderlichen Geräte. Und natürlich das Labor. Um genauer zu untersuchen. Und mein vorläufiges Ergebnis zu überprüfen. Hier ist meine Karte, falls Sie noch Fragen haben sollten.«

Im Gegensatz zum Tonfall der Kommissarin klang die Stimme von DocteurDelerme angenehm ruhig und zurückhaltend. Philippe gefiel der Mann mit dem schlohweißen Haar und den gutmütigen braunen Augen unter den Eulenbrauen. Er hatte eine sportliche Figur und mochte sicherlich schon Mitte sechzig sein. Obwohl er wesentlich jünger wirkte. Er lächelte Charlotte Maigret zu. Doch diese erwiderte nüchtern: »Ich habe gerade erfahren, dass die Rechtsmedizin in Tours ausfällt. Einer der Ärzte hat Urlaub, der andere ist Vater geworden. Fünf Wochen zu früh. Ich ordne daher an, dass Sie die Obduktion übernehmen, DocteurDelerme.«

»In meiner Praxis? Aber …«

»Wir haben keine Wahl. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Kapitel 3

Colette Chavier trug ein weißes Taftkleid mit Reifrock. Ihr pechschwarzes Haar hatte sie kunstvoll aufgetürmt. Eine gedrehte Locke endete in ihrem Dekolleté. Unter ihrem rechten Auge klebte ein Schönheitsfleck. Genauso wie auf ihrem Busen, der aus dem engen Korsett nach oben quoll. Im Rhythmus ihrer Atemzüge bewegte sich die Korkenzieherlocke auf ihrer Büste auf und ab.

»Madame Chavier!«, dehnte Philippe die Anrede und vollführte einen Kratzfuß. »Entzückend. Sie sehen aus wie eine Hofdame des 17. Jahrhunderts. Die Anstrengungen, die Sie die Inszenierung dieses bezaubernden Abends gekostet haben muss, ist Ihnen nicht anzusehen.«

»Monsieur du Pléssis, wie schön, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben«, erwiderte Colette charmant und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

»Commissariat de Tours. Charlotte Maigret.«

Die Kommissarin hatte sich einen Weg an Philippe vorbei und auf Colette Chavier zu gebahnt. Sie hielt ihr ihren Ausweis unter die Nase. Ihr Assistent Alexandre stand immer noch bei den Leuten von der Presse, die ihn prompt filmten und fotografierten, anstatt wie von ihm angeordnet zu verschwinden. Erst dank einiger herbeigerufener Gendarmen verließen sie zögerlich das Gelände. Hélène Simon bedeutete Philippe mit einer Geste, dass sie telefonieren sollten. Er winkte ihr kurz zu.

»Denken Sie erst gar nicht daran, mit der Presse zu sprechen, Monsieur du Pléssis«, zischte die Kommissarin.

»Worüber denn? Nichts liegt mir ferner, Madame Maigret. Schließlich weiß ich nicht mehr als Sie. Ich bin nur ein harmloser Gast auf dieser Party.« Philippe machte erneut einen Kratzfuß, nun vor Maigret.

Sie lächelte spöttisch. »Hat die Revolution solchen altertümlichen Adelssitten nicht den Garaus gemacht? Harmloser Gast also. Der zufälligerweise die Gastgeberin und Eventmanagerin des Schlosses kennt. Wer sagt mir, dass Sie nicht auch Neptun persönlich kannten?«

»Kannte ich nicht.« Wieder verbeugte sich Philippe und dachte: Nicht persönlich, jedenfalls. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause. »Meine Damen, ich darf mich verabschieden?« Er wandte sich zum Gehen.

»Halt! So leicht kommen Sie mir nicht davon, Philippe. Ich habe noch ein paar Fragen an Sie.« Charlotte ­Maigret stellte sich ihm in den Weg. »Zum Beispiel, woher Sie Madame Chavier kennen.«

»Philippe du Pléssis, Baron de Beaumarchais und Duc de Cotignac ist mein persönlicher Gast, Frau Kommissarin.« Colette Chaviers Lächeln gab eine Reihe tadellos weißer Zähne frei. »Und er ist heute zum ersten Mal hier. Dass wir uns kennen, wäre also zu viel gesagt. Sicherlich wäre heute Abend die Gelegenheit gewesen, sich näher kennenzulernen. Aber jetzt ist alles anders. Dank des Toten im Kahn. Meine Güte, ich darf gar nicht daran denken, wie viele Tausend Euro wir in den Sand gesetzt haben. Sie haben ja keine Ahnung, was ein solches Event an Kosten verschlingt.« Colette Chavier entfaltete mit einem Ratsch ihren Fächer und fächelte sich Luft zu. Die Locke in ihrem Dekolleté rollte hin und her.

»Ihr persönlicher Gast. Was soll das heißen? Sind die anderen Leute hier nicht Ihre persönlichen Gäste?«

»Natürlich. Das Publikum heute Abend ist handverlesen. Im Grunde kennt hier jeder jeden. Kontakte knüpfen, networken, neue Geschäfte einfädeln. Ein bisschen Business-Geplänkel hier und Smalltalk da.«

»Schon klar. Geldadel und alter Adel unter sich. Und dazwischen ein toter Angestellter. Im Grunde hat sich seit Jahrhunderten nichts verändert«, sagte Maigret.

»Vive la Révolution! Wenn ich mir diese ironische Bemerkung erlauben darf«, warf Philippe grinsend ein. Er zog nun seinerseits einen Fächer aus der dicken Manschette seines Ärmels und fächelte sich damit kühle Luft zu.

»Dürfen Sie nicht. Und stecken Sie diesen albernen Fächer weg, Monsieur du Pléssis. Überhaupt, dieser ganze Aufzug. Seidenstrümpfe, Kniehose und ein Samtgehrock. Damit könnten Sie in jedem Schlosspark hier in der Gegend einen Job als Pfau bekommen.«

»Der Dresscode, Madame Maigret. Wie vorhin schon erwähnt. Aber Sie haben recht. Halten wir uns nicht länger mit Äußerlichkeiten auf. Ich hab’s mir anders überlegt. Ich bleibe noch ein wenig und unterstütze Sie, Charlotte. Madame Chavier, was können Sie uns über den Toten sagen?«

»Ich stelle hier die Fragen, Philippe. Und außerdem: Die Personalien habe ich schon. François Ravaux, dreiunddreißig Jahre alt, Chef der Gärtnerei. Ledig. Seit wann arbeitete MonsieurRavaux schon hier, Madame Chavier?«

»Oh, schon seit zwei Jahren. Er hat seine Ausbildung in Fontainebleau gemacht und danach im Garten des Königs gearbeitet.«

»Im Garten des Königs?«, hakte Maigret nach.

»Der Jardin du Roi. Die renommierteste Gartenschule Frankreichs. Der Garten des Königs aller Könige. In Versailles.«

Maigret verdrehte die Augen. »Ich glaube, unser Präsident hat recht, wenn er sagt, dass die Franzosen im Grunde noch gerne einen König hätten. Aber schön und gut. Vor zwei Jahren also kam Ravaux aus Versailles hierher. Worin bestand seine Aufgabe?«

Madame Chavier nahm die Locke aus ihrem Dekolleté und warf sie in den Nacken. »François war Chef der Gärtnerei. Dort werden Blumen für die Dekoration des Schlosses und Gemüse für die Restaurants angepflanzt. Wir haben drei Restaurants auf dem Gelände. Da braucht man schon eine Menge an frischen Lebensmitteln. François hat seine Sache sehr gut gemacht. Ein Jammer, was geschehen ist. So schnell werden wir keinen würdigen Ersatz für ihn finden.«

»War er beliebt?«

»Oh ja, das darf man sagen. François hatte für jeden ein Lächeln auf den Lippen und war zu allen freundlich. Er ruhte in sich selbst. Beneidenswert. Aber vermutlich sind Dahlien und Karotten angenehmere Kollegen als smarte Anwälte und Betriebswirte in Designeranzügen.« Chavier lachte künstlich.

»Feinde?«

»Nicht, dass ich wüsste. François war, wie schon gesagt, sehr beliebt.«

Maigrets Assistent Alexandre hatte sich zu ihnen gesellt und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Philippe fiel auf, dass er näher als nötig an die Kommissarin herangerückt war. Diese wandte sich wieder an Colette Chavier: »Gut, Madame Chavier. Ich danke Ihnen für die Informationen. Hier haben Sie meine Karte, sollte Ihnen noch etwas einfallen. Ansonsten halten Sie sich bitte in den nächsten Tagen bereit, falls wir weitere Fragen haben. Madame, Monsieur, ich empfehle mich.« Charlotte Maigret vollführte nun ihrerseits einen übertriebenen Kratzfuß und stiefelte mit Alexandre die Allee entlang Richtung Parkplatz, ohne sich noch einmal umzudrehen.

»Ist diese Dame immer so spröde?«, wollte Colette Chavier von Philippe wissen.

»Sie kann nicht anders«, bemerkte Philippe achselzuckend.

»Schreckliches Benehmen.«

»Durchaus. Aber ich habe mich schon so daran gewöhnt, dass ich es vermissen würde, wenn es anders wäre. Diese besondere Art von Charme ist selten.«

»Was halten Sie davon, wenn wir einmal nach dem restlichen Champagner sehen? Wäre schade, wenn der gute Tropfen verkommt. Und nach der Aufregung könnte ich einen Schluck vertragen, Monsieurle Baron.«

»Nichts lieber als das, Madame.«

Philippe bot Colette Chavier seinen Arm an und die beiden schritten wie aus der Zeit gefallen zu der Bar im Diana-Garten.

Kapitel 4

Philippe fuhr durch die sommerliche Landschaft. Die Möwen kreisten über dem Gold der Sandbänke, die Loire schimmerte wie hellblaue Seide und in der Flussmitte schob sich eines der traditionellen Plattboote gemächlich flussaufwärts. Er schmetterte »C’est si bon« aus vollem Hals mit. Radio Nostalgie spielte gerade den Schlager. Nicht die ursprüngliche Version von Yves Montand, sondern die von Dean Martin, eine Mischung aus Englisch und Französisch und herrlich entspannt. So wie er. Die Erinnerungen an den gestrigen Abend waren zwar noch lebendig, aber der Tote von Chenonceau war eindeutig Charlotte Maigrets Job. Philippe musste sich dringend um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Er war auf dem Rückweg aus Cotignac, wo er die Renovierungsarbeiten überwacht hatte. Der ehemalige Pferdestall und der Taubenschlag des Châteaus sollten zu kleinen, aber feinen Ferienappartements umgebaut werden. Damit hoffte Philippe, Geld für den Unterhalt von Cotignac einzunehmen.

Er pendelte nun schon seit zwei Wochen ständig zwischen seiner Stadtwohnung in der Rue Colbert in Tours und seinem geerbten Schloss hin und her. Es war viel Aufwand, aber der ließ sich nicht vermeiden. Der alte Familiensitz schrie aus jeder Ecke »Renovier mich«, auch wenn Cotignac trotz seines baulichen Zustands noch eine gehörige Portion Anmut ausstrahlte. Darüber hinaus bot das Renaissanceschloss weitere Vorzüge: die leckere Küche der alten Haushälterin Madeleine und den Wein der Caves de la Rose, die auf dem Schlossgelände lagen. Samt Winzerin Florence und ihren schiefergrauen Augen. Stadtleben und Landleben – das Pendeln bot ihm das Beste aus beiden Welten.

Er hatte einen Termin mit der DRAC gehabt. Die französische Behörde für Denkmalschutz machte ihm mit ihren Auflagen das Leben schwer und wachte genauestens über den Umbau. Schließlich handelte es sich bei Cotignac nicht um ein normales Wohnhaus, sondern um ein Stück Kulturgut. Die neueste Forderung: Die Dächer mussten originalgetreu mit Schiefer gedeckt und die Dachrinnen und Fallrohre für das Ableiten des Regenwassers optisch angepasst werden. Eine zusätzliche fünfstellige Summe, die nicht eingeplant gewesen war. So ging es ständig. Wenn ein Mitarbeiter der DRAC auftauchte, war Philippe anschließend um etliche Euro leichter. Nachdem er mit einem Beamten der DRAC diskutiert hatte, hatte er sich bei Florence ein paar Kisten Wein besorgt, was wesentlich erfreulicher gewesen war.

Jetzt befand er sich auf dem Weg zu Tante Aude, die etwas Wichtiges mit ihm klären wollte. Philippe hatte keine Ahnung, worum es ging, aber er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er mochte seine Tante. Meistens. Wenn sie ihn zu sich kommandierte, lag sie ihm allerdings in der Regel mit Informationen über potenzielle Ehepartnerinnen für ihn in den Ohren oder gab ihm Anweisungen, was er als neuer Duc de Cotignac zu tun und zu lassen hatte. Da war ihm sein Leben in Tours viel lieber. Er freute sich schon darauf, am Nachmittag den Wein abzuliefern und einen schönen Café bei seinem Freund Daniel im »Café du Roi« zu einzunehmen. Oder einen Rosé. Oder beides.

Mit Schwung fuhr er auf den großen Vorplatz des Manoirs und parkte ein. Ein Blick in den Rückspiegel versicherte ihm, dass sein dunkles Haar tadellos lag. Die leichte Sonnenbräune, die ihm seine Landaufenthalte beschert hatten, stand ihm gut. Er sah in seinem hellen Leinenanzug aus wie der junge Alain Delon nach einem Kurzurlaub im Süden. Philippe schlug die Wagentür zu, als es in seinem Rücken krächzte: »Halt, junger Mann! Keinen Schritt weiter! Und Hände hoch!«

Ein Klicken verriet ihm, dass jemand gerade ein Gewehr durchgeladen hatte. Langsam hob er die Arme.

»Und jetzt umdrehen! Was suchen Sie hier? Ich habe keinen Handwerker bestellt.«

Philippe gehorchte. Und blickte in den Lauf einer Schrotflinte. Vor ihm auf dem Vorplatz des Herrenhauses stand niemand anders als Tante Aude, in einer weißen Rüschenbluse und einem dunkelblauen Rock. Ihre Füße steckten in riesigen Gummistiefeln. Im Dekolleté der zierlichen alten Dame blitzte ihre dreireihige Perlenkette. Sie hatte ihr linkes Auge zusammengekniffen und zielte durchs Visier noch immer auf Philippe. Ihr Oberkörper schwankte bedenklich vor und zurück.

»Tante Aude! Ich bin es doch, Philippe! Nimm das Gewehr runter. Bitte!«

Philippe machte vorsichtig ein paar Schritte auf sie zu. Es war später Vormittag und Tante Aude hatte sicher ihr übliches zweites Frühstück hinter sich: eine Flasche Champagner. Angesichts dieser Tatsache stellte der Gewehrlauf durchaus eine Bedrohung dar. Auch wenn sie Philippe jetzt endlich erkannte.

»Philippe! Wieso zum Kuckuck steigst du aus einem Lieferwagen? Wo ist deine DS?«, entgegnete Tante Aude resolut. Die Flinte hatte sie noch immer im Anschlag.

»Aber Tata, ich habe Wein für Daniels Café besorgt. In seinen Lieferwagen passt einfach mehr hinein als in meinen Citroën«, sagte Philippe entschuldigend und ging mit offenen Armen auf seine Tante zu.

Während er ihr zur Begrüßung Küsschen gab, drückte er den Lauf des Gewehrs von sich weg in Richtung Park. Etwas milder gestimmt meckerte sie:

»Na gut, komm rein. Aber seit der Sache mit Jean-Baptiste traue ich keinem weißen Lieferwagen mehr über den Weg.«

Sie nahmen den Dienstboteneingang, durch den Tante Aude nach draußen gekommen war. Im Salon angekommen ließ sich die alte Dame in ihren Sessel vor dem Kamin sinken. Die Schrotflinte lehnte Tante Aude in greifbarer Nähe an die Wand. »Sicherheitshalber«, sagte sie achselzuckend, »Jacques ist nicht da. Besucht seine Schwester in Amboise. Und bevor du dich setzt: Zeit für den Apéritif. Du nimmst auch einen.«

»Ich habe aber gar keine Zeit, Tata!«, erwiderte Philippe mit einem skeptischen Blick auf die Waffe. Tante Audes Angestellter Jacques war ihm lieber, wenn es um ihren Schutz ging.

»Papperlapapp. Setz dich. Deine Cafébesuche in Tours können warten.«

Tante Aude nickte zum Beistelltisch neben dem Kamin, auf dem sich nicht nur zahlreiche Familienfotos in Silberrahmen drängten, sondern genauso viele Flaschen. Da die Aufforderung nicht wie eine Frage, sondern wie ein Befehl geklungen hatte, schenkte Philippe etwas Scotch in zwei Kristalltumbler und reichte seiner Tante einen davon. Sie prosteten sich zu. Kühl und würzig floss der Whisky durch seine Kehle, doch sein Magen rebellierte. Philippe hatte heute außer einem Croissant noch nichts gegessen.

»Nun setz dich doch endlich!«, nörgelte Aude noch einmal.

Philippe setzte sich auf die Kante des zweiten Kaminsessels. »Was gibt es zu besprechen, Tante Aude?«, fragte er gerade, als sein Telefon klingelte.

Es war eine unterdrückte Nummer.

»Entschuldige bitte«, sagte Philippe und ging ran. Vielleicht könnte er den Anruf als Vorwand nutzen, sich so schnell wie möglich wieder zu verabschieden.

»Hallo? Philippe du Pléssis?«, meldete sich eine raue Frauenstimme. »Colette Chavier am Apparat. Ich wollte gestern nicht darüber sprechen. Aber ich habe einen Auftrag für Ihre Agence des Affaires Délicates«, fuhr sie fort, ohne die Antwort abzuwarten.

Auch das noch, dachte Philippe, ausgerechnet hier bei Tante Aude.

Seine Tante wollte nicht, dass er sich als Privatermittler betätigte. Das schickte sich nicht für den zwölften Duc de Cotignac.

»Madame Chavier, wie überaus angenehm! Aber ich muss Sie leider enttäuschen. Wissen Sie, die AAD werde ich aufgeben. Und den Mordfall von gestern Abend überlasse ich liebend gerne CommissaireMaigret«, wehrte Philippe ab. Tante Aude lauschte aufmerksam. Nach diesen Worten nickte sie. Er hatte tatsächlich vorgehabt, seine Aktivitäten als Privatdetektiv einzustellen. Es hatte ihn eine Zeitlang amüsiert, untreue Ehemänner zu beschatten. Lukrativ war es nicht, aber das musste es gar nicht sein. Die Arbeit als juristischer Berater des OCBC in Paris hatte er nach ein paar Jahren aufgegeben. Zwar beschäftigte er sich liebend gerne mit Kunst und Kultur, aber meistens war die Arbeit für die französische Polizeibehörde, die sich um den Schutz bedeutender Kulturgüter kümmerte, trockene Büroarbeit gewesen.

Dafür war er nicht geschaffen. Daher hatte er die Idee mit der AAD gehabt. Diese Tätigkeit gestaltete sich wesentlich abwechslungsreicher. Seit Juliettes Tod allerdings war alles anders. Die Terroristen, die im 11. Arrondissement ausgerechnet in der Bar wahllos auf die Gäste geschossen hatten, in der er mit seiner großen Liebe verabredet gewesen war, hatten alles beendet. Den Rausch seines glücklichen Lebens in Paris.

Seitdem wollte er dem Tod nicht mehr so nahe kommen wie damals. Er wollte sich nicht mit den Abgründen der menschlichen Seele befassen. Man lebte nur einmal. Das hatte er nach schmerzlichen Wochen und Monaten der Therapie erkannt. Es war richtig gewesen, Paris zu verlassen und in die Touraine zurückzukehren.

Aber ruhiger war es dort für ihn nicht geworden. Der verzwickte Fall von Cotignac hatte ihn wieder ins Ermitteln gebracht. Dass dabei zwei Morde geschehen waren, hatte sein Trauma um Juliettes gewaltsamen Tod aufflammen lassen. Colette Chavier fuhr fort: »Ich weiß. Ich habe Sie gegoogelt. Es geht auch gar nicht um den Mordfall. Es geht um eine Sache, für die Sie, wie mir scheint, die richtige Expertise haben. Mit Ihren Beziehungen zum OCBC.«

Tante Aude fixierte Philippe. Sie hatte den Zeigefinger der rechten Hand erhoben und gestikulierte damit ein eindeutiges Nein.

»Hören Sie, Madame, meine Beziehungen zu den Kunsthistorikern der Polizei im Office de lutte contre le trafic des biens culturels möchte ich nicht überstrapazieren. Außerdem …«

»Ich zahle großzügig. Kommen Sie heute um 13 Uhr zum Apéritif ins ›Petit coin‹. Dann erkläre ich Ihnen mehr. Und wir können unser reizendes Gespräch von gestern Abend fortsetzen.«

Philippe wollte widersprechen. Ihr sagen, dass er kein Interesse an einem Auftrag hatte. Dass er gedachte, in Zukunft ein Leben als Privatier zu führen. Und sich um den Umbau in Cotignac zu kümmern. Aber die Dame hatte bereits aufgelegt.

»Ärger?«, fragte Tante Aude. Sie hatte den Whisky ausgetrunken, der ihre Zunge schwer machte.

»Ein Auftrag. Aber das werde ich der Anruferin ausreden. Ich soll mich um 13 Uhr mit ihr treffen. Am besten, ich fahre gleich los und bringe es hinter mich.« Er stand auf.

»Du bist jetzt der Duc de Cotignac. Du kannst nicht mehr dieser lächerlichen Tätigkeit als Privatdetektiv nachgehen. Lass die Anruferin warten. Setz dich wieder hin, Philippe! Ich brauche deine Hilfe!«

Tante Aude erhob sich, streifte ihren Rock glatt und ging mit konzentrierten Schritten auf ein Vertiko zu. Sie drehte den Schlüssel und zog vorsichtig die Tür auf. Da­rinnen befand sich ein Sammelsurium aus Vasen verschiedener Größen. Aude nahm eine davon heraus und blickte sie zärtlich an.

»Das ist Louis.«

»Das ist eine Vase, Tante Aude.« Philippe fragte sich, ob die alte Dame langsam in Richtung Demenz abdriftete.

Sie schüttelte den Kopf.

»Louis und ich, wir haben uns etwas versprochen.«

»Wer ist Louis?«

»Louis de Villepin. Mein Geliebter. Er ist vor zwei Wochen gestorben.«

Philippe sah seine Tante ungläubig an. »Mein Geliebter«, hatte sie gesagt. Mit der unbeirrbaren Selbstverständlichkeit, die für sie typisch war. Sie streichelte das Gefäß behutsam und drückte ihm schließlich einen Kuss auf. Dann drehte sie sich zu Philippe um.

»Ich habe ihm versprochen zu verhindern, dass seine Asche in der Familiengruft der de Villepins landet. Um mein Versprechen zu halten, brauche ich deine Hilfe.«

Asche. Tante Aude hielt keine Vase in der Hand. Es war eine Urne. Er schaute die anderen Gefäße an, die im Vertiko standen. Es waren sicher mehr als zehn. Philippe wurde heiß. Das sollte doch wohl nicht bedeuten, dass …

»Tante Aude! Das ist illegal!«

Doch statt Betroffenheit zu zeigen, zuckte Tante Aude mit den Achseln. Ihre blauen Augen blitzten.

»Papperlapapp. So denkt nur ein Jurist. Das Leben schreibt seine eigenen Gesetze. Und die Liebe erst recht. Das wirst du auch noch begreifen, wenn du einmal so alt bist wie ich. Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen.«

»Und wer um Himmels willen ist das?« Philippe zeigte fassungslos auf eine weitere Vase im offenen Vertiko.

»Das ist dein Onkel Arthur. Und Arthur und Louis nebeneinander, das geht nun wirklich nicht.«

Philippe starrte auf die vollen Regalbretter. Waren das alles Urnen? Für einen Moment herrschte Stille. Tante Aude schien seine Gedanken gelesen zu haben. Denn die alte Dame sagte entschuldigend: »Nun ja, ich habe schon mehr als sieben Jahrzehnte gelebt. Und dass ich kein Mauerblümchen war, ist doch kein Geheimnis.«

Kapitel 5

Alles an Colette Chavier war heute schwarz. Neben den ohnehin dunklen Haaren und Augen trug sie schwarze Kleidung. Und alles an Colette Chavier