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Cally O'Neal kämpft gegen die Posleen - und gegen sich selbst
Vierzig Jahre nach der Invasion verstecken sich in den Trümmern der zerstörten Städte immer noch Posleen-Einheiten und warten darauf, zurückzuschlagen. Und dann ist da noch eine andere außerirdische Spezies, die mysteriösen Darhel, deren Pläne im Dunkeln liegen. Diesen Plänen auf die Spur zu kommen, ist die Aufgabe von Cally O’Neal, Tochter des legendären Commanders Michael O’Neal. Vor Jahren offiziell für tot erklärt, ist sie nun Mitglied einer Gruppe von Untergrundkämpfern – und muss begreifen, dass ihr Krieg gerade erst beginnt.
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Seitenzahl: 685
JOHN RINGO: INVASION
Bd. 1: Der Aufmarsch Bd. 2: Der Angriff Bd. 3: Der Gegenschlag Bd. 4: Die Rettung Bd. 5: Heldentaten Bd. 6: Callys Krieg
JOHN RINGO: DIE NANOKRIEGE
Bd. 1: Der Zusammenbruch Bd. 2: Der Anschlag
»Also, wie laufen denn deine Pläne für die Menschen, Tir?«
Der Darhel Ghin saß da in einer Haltung, die er den Menschen abgeschaut hatte: die Beine abgeknickt und ein Fuß über dem Knie des anderen Beins. Sein Gesicht war ausdruckslos, die Ohren unbewegt; seinem Gesichtsausdruck war nicht abzulesen, was er möglicherweise mit dieser seltsamen Wahl seiner Haltung bezweckte. Sein Haar hatte den metallischen Glanz von altem Silber mit ein paar schwarzen Fäden darin. Die Augen mit den geschlitzten Pupillen waren von tiefem Smaragdgrün mit einem leichten Muster violetter Äderchen rings um das Weiß und wirkten in dem schmalen fuchsähnlichen Gesicht völlig ausdruckslos. Das Gesicht hätte elfenhaft aussehen können, wenn es nicht so massiv real gewirkt hätte. Für den Augenblick waren die rasiermesserscharfen Zähne zwischen seinen noch geschlossenen Lippen verborgen. Kurz gesagt, er machte den Eindruck eines typischen Darhel, praktisch in jeder Hinsicht. Doch genau dieses Typische hatte schon mehr als einen nichts argwöhnenden Rivalen dazu veranlasst, ihn auf das Ärgste zu unterschätzen. Zumindest in seiner Jugend.
»Nun ja, Euer Ghin.« Er sah direkt in den wandgroßen Bildschirm. Im Hintergrund konnte man die Indowy-Leibdiener seines Vorgesetzten arbeiten sehen. Ein Mensch hätte sie vielleicht mit kleinen, grünen Teddybären verglichen, der Tir nahm sie praktisch überhaupt nicht zur Kenntnis, für ihn war ihre allgegenwärtige Dienstleistung ein selbstverständlicher Bestandteil seiner Bequemlichkeit. »Die planetarische Rückgewinnung unserer bislang von Posleen besetzten Interessen mit größtem Profitpotenzial verläuft planmäßig. Unfallsbedingte Verluste an menschlichen Kolonisten liegen innerhalb der Zehnprozentgrenze vom Optimum. Verlust menschlicher Kolonieschiffe liegt im Optimum plus oder minus zwei Prozent. Das Verschleierungsprogramm für Verluste läuft planmäßig. Monatliche Ertragsraten bewegen sich bei sieben Prozent plus oder minus eins Komma fünf Prozent mit einer Verlässlichkeit von fünfundneunzig Prozent«, rezitierte er. Seine Ohren spitzten durch sein metallisches Silberhaar, was bei dieser Rasse ungewöhnlich, aber akzeptabel war, seine Haltung war aufrecht in der Position starken Vertrauens. Der alte Narr musste doch sicherlich allmählich bemerken, dass er anfing nachzulassen.
»Die Menschen sind … etwas zahlreicher und weniger dankbar, als es Ihrer Vorhersage zu Beginn des Programms während des Posleen-Kriegs entspricht.«
»Sämtliche Pläne müssen als Teil des Prozesses angepasst werden, wir haben schon früher über Sinn und Zweck der Managementaufgabe diskutiert, Euer Ghin.« Wie er das nur immer machte? Dieses obsolete Fossil hatte die lästige Angewohnheit, genau die Frage zu stellen, die bei jedem beliebigen Operationsplan die unbequemsten Aspekte zutage förderte. Aber die Kontrolle des Tir über die eigene Körpersprache hatte sich im Laufe der Jahre deutlich verbessert, und so spitzte er nur ein Ohr in einer Geste, die zwischen höflicher Herablassung und sorgfältiger Aufmerksamkeit schwankte.
»Bei allem Respekt, Euer Ghin, die Erträge sind gestiegen, und die Eventualpläne zur Lenkung der Menschen funktionieren innerhalb akzeptabler Parameter recht gut.« Es juckte ihn links an der Schnauze, unmittelbar unter dem Ansatz seiner Barthaare. Mit einiger Mühe vermied er es, die Barthaare zucken zu lassen. Oder die Augen zusammenzukneifen. Schwächer werdendes Licht hatte den Effekt, die Schlitzpupillen deutlich runder werden zu lassen, und dann fiel es noch stärker auf, wenn man die Augen zusammenkniff, als das bei einem Wesen mit runden Pupillen der Fall gewesen wäre.
»Ihre Parameter vernachlässigen die jüngsten Hinweise auf aktiven menschlichen Widerstand.« Was er an dem älteren Darhel Lord wirklich bewunderte, war, wie sehr er seinen Ausdruck und seine Gesten im Griff hatte. Die Menschen hatten für diese Art der Selbstkontrolle einen seltsam passenden Ausdruck: Pokergesicht. Sie benutzten den Ausdruck, um ein Spiel zu beschreiben. Eine der wenigen persönlichen Interaktionen, auf die er sich mit Menschen einließ, war ein gelegentlicher Abend, an dem sie dieses Pokerspiel spielten, das der Mensch Worth und einige seiner Untergebenen ihm beigebracht hatten. Der Kontakt war unangenehm, aber man konnte bei diesem Spiel tatsächlich Geld gewinnen, und das tat er regelmäßig, und der Tir fand das so faszinierend, dass es die Nachteile überwog.
»Weil bereits Pläne in der Umsetzung begriffen sind, um diese kleine Einzelheit wieder in Einklang mit optimalen Managementumständen zu bringen.« Wie konnte dieses alte Fleisch gewordene Hindernis das wissen? War es möglich, dass seine eigene Kommunikation sich als weniger sicher erwies, als er das geglaubt hatte? Er würde das untersuchen müssen.
»Ich stelle auch fest, dass unfallbedingte Verluste an menschlichen Kolonisten äußerst selektiv wirken.« Er hatte das Wort »selektiv« leicht betont. Unmöglich festzustellen, ob das schwaches Lob oder Kritik bedeutete.
»Ja. Das ermöglicht es uns, unsere Erträge von den verbliebenen Kolonisten zu optimieren.« Er musste sich Mühe geben, seine Freude darüber nicht sichtbar werden zu lassen, weil diese Errungenschaft eher einen persönlichen Ausdruck der Befriedigung mit der eigenen Leistung erforderte. Sein Vorgesetzter ließ sich wie üblich in keiner Weise anmerken, dass er beeindruckt war.
»Es ist gut zu wissen, dass deine Leistung wie gewöhnlich höchsten Maßstäben gerecht wird, Tir.« Das Aufblitzen von Reihen rasiermesserscharfer, spitzer Zähne, die ganz kurz sichtbar wurden und damit einen menschlichen Ausdruck kopierten, das Grinsen, löste beinahe ein leichtes Schaudern aus. Aber in Wirklichkeit bemühte sich der alte Narr bloß, gute Miene dazu zu machen, dass die Jagd ihm im Nacken saß. Das Alter fing an, seiner Lebenskraft zuzusetzen, und würde ihm bald den Verstand und zu guter Letzt das Leben nehmen.
Diesmal schaffte der Tir es nicht ganz, seine Freude und Genugtuung zu verbergen.
Der Inhaber seiner Lieblingsbar in Chicago hatte einen alten, noch aus der Vorkriegszeit stammenden Bartresen, der mitten im Raum stand, umgebaut und die Insel in der Mitte, bestehend aus Gläsern, Barkeeper und Getränken, durch einen riesigen Holotank ersetzt. Rauchen war – was für eine Bar ungewöhnlich war – streng verboten, weil der emporziehende Rauch sich gewöhnlich störend auf die Bilddarstellung auswirkte. Das Surround-Sound-System war praktisch perfekt, und die Kellner und Kellnerinnen, die die Getränke von einer traditionellen Bar lieferten, die nachträglich neben der Küche eingebaut worden war, achteten besonders darauf, die Bestellungen der Gäste möglichst leise entgegenzunehmen, um das Spiel nicht zu stören. Diese Bar roch daher nicht nach dem üblichen abgestandenen Rauch, sondern nach einer Mischung aus Bier, Pommes, Hamburger und dem Zitronenöl, mit dem die Angestellten den Tresen ständig auf Hochglanz polierten. Er kam selten her, weil ein Mann in seinem Gewerbe darauf achten musste, keine auffälligen Verhaltensmuster zu entwickeln. Trotzdem war dies die von ihm bevorzugte Wasserstelle, weshalb er vermutlich öfter herkam, als er das eigentlich sollte.
Charles Worth war ein großer Anhänger des Hockey-Sports. Dabei ging es ihm jedoch nicht so sehr um die Gewalttätigkeiten, die man dabei manchmal erleben konnte; schließlich war Gewalt in seinem Beruf ein alter Hut. Was ihm am Hockey viel mehr gefiel, war das Tempo, der Wettkampf und die Spielkunst. Hockey war ein rechtes Männerspiel, das merkte man auch an der echten Musik, die man dazu spielte, nicht etwa die schrillen Töne irgendwelcher albernen Bands. Cheerleader gab es auch keine, aber er betrachtete sich als Frauenkenner und hatte seine Frauen ohnehin lieber in Griffweite. Worth zog das Ursprüngliche, das Echte, das Ungewöhnliche vor, immer vorausgesetzt, dass sie auch schön war. Die Blondine zu seiner Linken war ihm aufgefallen. Er konnte eine Wasserstoffblondine auf eine Meile weit entdecken und achtete sehr darauf, sich nie, na ja, fast nie mit Künstlichem zu begnügen. Die hier war ganz eindeutig eine echte Blondine. Selbst ein guter Friseur hatte immer noch Mühe, beim Färben all die Lichter natürlicher Haarfarbe zu erzeugen – er wusste das sehr wohl, er musste ja schließlich häufig genug selbst sein Aussehen verändern. Und was sonst an ihr sehenswert war, schien ihm ebenfalls echt, soweit er das feststellen konnte, solange ihre Kleider die Sicht behinderten.
Ihr Anblick reichte fast aus, um ihn von dem Spiel abzulenken, obwohl Zürich gerade dabei war, Montreal eine echte Abreibung zu verpassen. Als Toronto-Fan gab es kaum etwas, was ihm mehr Spaß machte als dabei zuzusehen, wie Montreal die Hucke voll bekam.
Sie hatte die zu ihrer Haarfarbe passende sahnig helle Haut, und ihre Augen waren von warmem Braun – genau genommen eine seltsame Kombination. Entweder trug sie überhaupt kein Make-up, oder sie beherrschte die Kunst des Make-ups besser, als er das jemals an einer Frau gesehen hatte. Sie bemerkte, dass er sie beobachtete, und lächelte, wobei ihre Lippen sich ein wenig öffneten.
Die Lady hatte ausgezeichneten Geschmack. Die Bluse war aus echter Seide und makellos geschneidert; die obersten beiden Knöpfe standen offen, sodass man die Andeutung ihres Dekolletees sehen konnte. Sattes Dunkelgrün kleidete sie perfekt. Er spürte, wie ihm warm wurde, als sie ihr Glas nahm, um die Bar herumkam, sich neben ihn setzte und dabei, während sie sich auf den Barhocker schob, in den Tank blickte
»Sie haben sich einen guten Platz ausgesucht. Von hier aus sieht man die Bank von Zürich besser. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
»Mit dem größten Vergnügen.« Er deutete auf ihr beinahe leeres Glas. »Guinness?« Eindeutig Natur, ihre Haut. Und der Duft ihres Parfüms tat beinahe weh.
Sie lächelte und nickte abwesend, ohne dabei den Blick vom Tank zu wenden.
Er winkte einem Kellner und wies auf ihr Glas. Gleich darauf kam ein frisches Guinness. Er drückte dem Kellner sofort das Geld für den Drink und ein reichliches Trinkgeld in die Hand und ließ dem Jungen damit keine Gelegenheit, sich näher mit der Frau zu befassen, von der Worth hoffte, dass sie ihn nach Hause begleiten würde.
»Danke.« Sie trank einen Schluck aus dem frischen Glas und leckte sich den Schaum von der Oberlippe.
»Dann sind Sie also ein großer Fan von Zürich?«, fragte er.
»Nee. Toronto.« Sie grinste. »Na ja, und wer auch immer eben gegen Montreal spielt.«
Wieder dieses Gefühl in der Magengrube. Dasselbe Team wie das meine. Zu bequem? Oder macht mich bloß die Warnung aus dem Büro des Tir so paranoid?
Die Sendung wurde für ein Commercial unterbrochen. Es gab Dinge, an denen auch die modernste Technik nichts ändern konnte. Zwei kleine Schwarzweiß-Holos in einer Ecke des Tanks zeigten einen Mann um die sechzig mit einem Stock und eine ein wenig ältere Frau im Rollstuhl. Im Hauptteil des Tanks sah man dasselbe Paar voll in Farbe und in Bewegung, gesund und fit und aussehend wie zwanzig in gut geschnittenem Battle Dress, jeder mit einem nagelneuen Gravkarabiner in der Hand wie sie Hand in Hand durch ein wogendes Weizenfeld gingen.
»Sind Sie’s leid, alt zu sein?«, fragte eine kühle, aber doch irgendwie freundlich wirkende Frauenstimme. »Langweiliger Job und keine Romantik mehr in der Beziehung? Die Epetar-Gruppe sucht menschliche Kolonisten mit Schwung für eine multirassische Weltenrückge-winnungsexpedition. Alter und Gesundheitszustand sind kein Problem. Standardvertrag …«
»Die mit ihrer verdammten Verjüngung.« Einer der Gäste warf eine Salzbrezel durch die Holoprojektion.
»Hi, ich bin Sarah Johnson.« Die Blondine hatte sich Worth zugewandt und streckte ihm die Hand hin. Ihr Händedruck war warm und fest.
»Jude Harris. Freut mich, einen Fan von Toronto kennen zu lernen.« Er lächelte und ließ ihre Hand los, obwohl er sie gern länger gehalten hätte.
»Oh? Also, dann muss ich sagen, haben Sie einen ausgezeichneten Geschmack für Teams. Was machen Sie beruflich?«, fragte sie.
»Ich bin das, was man einen Troubleshooter nennt. Im Grunde genommen bin ich viel auf Reisen und kümmere mich um alle möglichen Probleme für große Firmen, die gut bezahlen«, sagte er.
»Klingt nach einem interessanten Job. Troubleshooter, wie? Schießt der Trouble manchmal auch zurück?« Sie grinste.
»Nicht, wenn ich meinen Job richtig erledige.« Er grinste ebenfalls. »Und was machen Sie, Sarah?«
»Ich bin Anwaltssekretärin.« Sie verzog das Gesicht. »Nicht gerade aufregend, aber man kann mit dem Geld seine Rechnungen bezahlen. Sie reisen viel, sagen Sie? Muss ’ne feine Sache sein, wenn man so rumkommt.« Sie blickte zu ihm auf und nahm einen weiteren Schluck von ihrem Stout.
»Na ja, ein Hotel nach dem anderen eben. Hey, das Spiel geht weiter.« Sein Blick fiel auf die gepflegte Hand, die ihr Glas hielt. »Hübsche Nägel für eine Sekretärin.«
»Was?« Sie blickte auf ihre makellos manikürte Hand, als müsse sie überlegen, was er meinte. »Oh, Sie meinen von wegen tippen. Heutzutage tippt man kaum mehr. Die meisten wollen bloß, dass man eine klare Aussprache hat. Und dann muss man alles Mögliche organisieren und dabei die Einzelheiten nicht aus dem Auge lassen. Solches Zeug.«
»Trotzdem, ein wenig tippen ist doch sicher noch?« Er griff nach ihrer Hand, sah ihr in die Augen, hielt die Hand fest und küsste ihre Finger.
»Na ja, ein wenig schon.« Sie lächelte. »Man muss den Trick raushaben, die Tasten so zu treffen, dass die Nägel in den Zwischenräumen sind.« Sie zog ihm die Hand weg und deutete in den Tank. »Haben Sie das gesehen? Shinsecki hat gerade Schmidt den Ellbogen ins Gesicht gesetzt! Herrgott, sehen Sie sich seine Nase an, du liebe Güte, das gibt Zoff.« Sie hielt sich beide Hände vor den Mund, und ihre Augen weiteten sich, als sie das Blut auf dem Eis sah.
»Yeah, sieht so aus, als ob er ihm die Nase gebrochen hätte. Das wird wehtun«, sagte er. Sie sahen beide dem Handgemenge zu, während die anderen Spieler wie Haie um die beiden Kampfhähne kreisten und die Schiedsrichter versuchten, die beiden zu trennen, wobei einer, vermutlich unabsichtlich, ebenfalls einen Ellbogen ins Gesicht bekam.
»Mein Gott, was man nicht alles für ein bisschen Aufregung tut, wie?« Sie schauderte und nahm einen Schluck.
»Keine Ahnung«, meinte Worth mit einem Achselzucken und wandte sich ihr zu. »Mir macht das Spiel Spaß, aber eigentlich sehe ich mehr wegen der Strategie und der taktischen Finessen zu. Die Prügeleien, na ja, das ist wohl ein Teil der dunkleren Seite des menschlichen Wesens, die in uns allen steckt.«
»Glauben Sie?« Sie blickte zu ihm auf und nahm einen weiteren Schluck. »Ich denke, das ist eben Männersache, diese Aggressivität, meine ich …« Ihr Gesicht rötete sich ein wenig und sie nahm schnell einen weiteren Schluck. »Ich denke, jede Frau hat ein bisschen etwas Unterwürfiges in sich. Ich meine, ich möchte keineswegs, dass mich so ein Kerl an den Haaren herumzerrt oder dass ich den Rest meines Lebens damit verbringe, ihm die Socken und die Unterhosen zu waschen, aber ich denke, die meisten Frauen ziehen doch Typen vor, die, na ja, Sie wissen schon, die Dinge irgendwie in die Hand nehmen. Und ich denke, dass Männer eben so sind.« Sie zuckte die Achseln. »Wie gesagt, Männersache eben.«
»Das ist sehr … sehr gut beobachtet.« Er musterte sie eindringlich, sah ihr in die Augen. »Ich wette, Sie können gut mit Menschen umgehen.« Es war nicht zu übersehen, wie ihr Puls am Hals schneller ging. Sie leckte sich über die Lippen und war seltsam reglos, als hätte sie die Spannung, die sich zwischen ihnen aufbaute, zum Erstarren gebracht. Er beugte sich über sie, küsste sie lange und hingebungsvoll und ließ sie erst los, als ihm bewusst wurde, dass seine Hand sich in ihrem Nackenhaar festgekrallt hatte, seine Jeans plötzlich spannten und sie sich immer noch an einem sehr öffentlichen Ort befanden. Für die Spiele, die er vorzog, war die Öffentlichkeit ganz und gar nicht der richtige Ort. Außerdem ging jetzt eine Warnlampe an. Sie könnte ein sehr hübscher Köder sein. Wie auch immer, falls er etwas dazu zu sagen hatte, würde er großen Spaß daran haben, sich da Klarheit zu verschaffen.
Im Tank hatte das Spiel wieder begonnen, nachdem die Schiedsrichter schließlich Schmidt und Shinsecki getrennt und Shinsecki auf die Strafbank geschickt hatten. Zürich hatte sich offensichtlich vorgenommen, auf dem Eis Rache zu nehmen. Montreal war jetzt mit sechs Toren im Rückstand, und es sah so aus, als würden sie sich nicht mehr fangen.
Er bemerkte, dass ihr Glas fast leer war, und bestellte ihr nach. Den Rest des Spiels verbrachte er damit, unter der Bar ihren Oberschenkel zu streicheln. Als Montreal mit neun im Rückstand war, begann das Spiel ihn zu langweilen, doch dafür kam in ihm Interesse an etwas persönlicheren Freuden auf.
»Eine Frage.« Er beugte sich zu ihr hinüber und atmete ihr ins Ohr. »Sie haben gesagt, Sie mögen es, wenn ein Mann die Dinge in die Hand nimmt? Ich werde jetzt vorne hinausgehen. Folgen Sie mir nicht. Zwischen den Toiletten gibt es einen Hinterausgang. Dort steht, dass beim Öffnen der Tür ein Alarm losgeht, aber das stimmt nicht. Wenn Ihnen das ernst war, was Sie gesagt haben, dann warten Sie fünf Minuten. Verlassen Sie die Bar und gehen Sie hinten hinaus. Ich werde dort warten. Wollen Sie, dass ich die Dinge in die Hand nehme?«
Sie nickte eifrig. »Yeah, ich denke, das würde mir gefallen.«
»Okay, dann wollen wir’s so halten.« Er verließ die Bar, ohne sich umzusehen, in der Hoffnung, dass sie genügend beschwipst sein würde, seiner Aufforderung nachzukommen. Ja, er war scharf auf sie, aber er hatte nicht bis zum heutigen Tage überlebt, indem er sich dabei sehen ließ, wie er Bars mit seinen Opfern verließ. Die Nachtluft duftete würzig, als er an zwei anderen Bars vorbei zum Parkplatz ging, und dieser würzige Duft überlagerte die schwachen Anflüge von abgestandenem Urin, Erbrochenem und Sex, die stets in den Straßen mit populären Etablissements des Nachtlebens in der Luft hängen. Bei ihm setzte jetzt der Adrenalinstoß ein, und er fragte sich, wie er das immer tat, ob er den Haken richtig gesetzt hatte und die Angelschnur richtig einzog. Würde sie kommen oder nicht?
Das Timing war perfekt. Er hatte gerade seinen Wagen an den Randstein am Hinterausgang der Bar bugsiert, wo ihn auf der einen Seite die Bar und auf der anderen der große Abfallcontainer vor neugierigen Blicken schützte, als sie durch die kleine Hintertür herauskam. Ein weiteres Plus für ihn – die Beleuchtung hier hinten war ausgebrannt, und er konnte die Blondine nur im schwachen Schein seiner eigenen Scheinwerfer sehen, als sie leicht ins Torkeln kam. Vielleicht war sie auf lockeren Kies getreten? Er öffnete die Tür auf der Beifahrerseite.
Übervorsichtig ließ sie sich auf den Beifahrersitz seines niedrigen Detroit Raver sinken, während er so tat, als würde er nach einem Musikwürfel suchen. Seine Nervenenden prickelten in der Mischung aus Triumph und Vorfreude, die ihm einen eisigen Schauder über den Rücken jagte, als sich die Tür seines Wagens klickend hinter ihr schloss. Der Beat von Blue Öyster Cult’s »Godzilla« dröhnte durch das Fahrzeug, als er sich in den nächtlichen Verkehr von Chicago einreihte.
Worth löste die Blondine lange genug von seinem Hals, um vom Aufzug zu seinem Apartment im Loft eines alten Lagerschuppens zu gelangen. Er stieß die Tür auf und blieb einen Augenblick lang stehen, um ihr Gelegenheit zu geben, die ganze Wirkung in sich aufzunehmen. Beträchtliche Brocken seines durchaus großzügigen Gehalts hatte er dafür aufwenden müssen, um das Zimmer in dem von ihm geschätzten Stil der Siebzigerjahre auszugestalten. Worth’ Stolz war, dass er es geschafft hatte, sämtliche nötigen Möbelstücke in schwarzem Leder, Glas und Chrom zu besorgen, die einen beeindruckenden Kontrast zu dem blütenweißen Shag-Teppichboden bildeten, den er speziell hatte anfertigen lassen. Drei Wände waren in Eichenlaminat vertäfelt – echte Eiche war selbst ihm zu teuer. Die vierte bedeckten schwarze Samtvorhänge, die von der Decke bis zum Boden reichten. Die frei stehende Bar parallel zu einer der vertäfelten Wände hatte eine schwarze Marmorplatte sowie Schubladen und Regale ebenfalls aus Eichenlaminat, was exakt zu den Wänden passte.
Farblich darauf abgestimmte rote Lava-Lampen – Originale, nicht etwa Reproduktionen – beleuchteten den Raum und erzeugten die gewünschten Farbtöne. Deckenspots hoben die Dalí- und Escher-Drucke an den Wänden hervor. Fichtennadelduft mischte sich in die schwachen Spuren von abgestandenem Schweiß, Sex, Rost und Leder, konnten sie aber nicht ganz überdecken.
Sie blieb einen Augenblick lang stehen und sah sich im Raum um. Dann schenkte sie ihm ein blendend perfektes Lächeln und vergrub das Gesicht an seinem Hals, schmiegte sich an ihn. Herrgott, die musste wirklich heiß sein …
»Einen Drink? Ich nehme einen Martini.« Er grinste ein leider nur vermeintlich wissendes Grinsen und knödelte: »Natürlich geschüttelt, nicht gerührt.« Er trat an die Bar und nahm diverse Flaschen von dem Glasregal dahinter.
»Warum nicht?« Sie lachte, ließ ihre Handtasche auf die Couch fallen.
Er schenkte ihr ein und reichte ihr das Glas. »Cheers.«
Sie nahm einen Schluck, stellte das Glas dann auf dem Beistelltisch aus Chrom und Glas ab, schmiegte sich an ihn und ließ ihre Hände an seiner Brust emporwandern. Er schlang die Arme um sie und küsste sie aufs Kinn, um gleich darauf an ihrem Ohr zu knabbern. Als er spürte, wie ihre Knie ein wenig nachgaben, verlagerte er sein Gewicht, um sie zu stützen. Während ihre Hüften, so schien es zumindest, unbewusst gegen die seinen drängten, spürte er, wie ihm zwischen den Beinen heiß wurde. Er vergrub das Gesicht in ihrem Haar und atmete den sauberen, frischen Duft ein, der sich in ihren Körpergeruch mischte.
Seine Finger zitterten leicht, als er ihre Seidenbluse aufknöpfte, vorsichtig, zärtlich, jeden Augenblick dieser Ouvertüre genießend, die in so viel Lärm und Wut enden würde. Ganz sanft, jetzt das Vertrauen aufbauen, das sie bereitwillig in die Falle lockte – die reinste und köstlichste Probe seiner Kunst. Seine Hände glitten unter ihre Bluse, strichen an ihrer Wirbelsäule entlang und dann über die weiche, perfekte Haut ihres Rückens. Er rieb sein Kinn an dem ihren, war froh, dass er sich am Nachmittag rasiert hatte, und nahm dann ihren Mund, tauchte tief in die feuchte Wärme ein. Herrgott, in dieser Frau konnte er ertrinken.
Ihre schlanken Finger mit den wunderschönen Nägeln spielten mit dem Haar in seinem Nacken, und er spürte, wie sein Atem schneller ging, spürte die Ungeduld in sich aufsteigen und wusste doch zugleich, dass er sich zurückhalten und sie zum nächsten Schritt locken musste. Er fuhr mit einem Finger ganz leicht an ihrer Wirbelsäule empor, ehe er ihr mit beiden Händen unter den Po griff und sie hart zu sich heranzog. Ein Schaudern überlief sie.
»Und wo ist jetzt dein Zimmer?« Sie drückte das Gesicht an seinen Hals und biss ihn dann leicht in die Schulter.
Er ließ die Hand wieder an ihrem Rücken emporgleiten, griff in ihr Haar, zog ihren Kopf sanft zurück, knabberte an ihrer Nasenspitze und schüttelte den Kopf.
»Nicht doch. Schlafzimmer ist langweilig. Komm her.« Er griff nach ihrer Hand und führte sie zu der Wand mit dem Samtvorhang, drückte seitlich einen Schalter und grinste, als die Vorhänge sich auseinander schoben und den Blick auf vier in die Wand eingelassene Stahlringe und einen knapp zehn Zentimeter breiten Sitz freigaben, den man offenbar verstellen konnte.
»Sobald du das einmal versucht hast, wirst du es nie wieder in einem Bett tun wollen. Es ist unglaublich.« Du wirst dann gar nichts mehr wollen, weil es dich dann nämlich nicht mehr gibt, aber das ist nicht mein Problem, dachte er.
»Du wirst mir doch nicht wehtun, oder?« Ihre Augen musterten ihn nervös.
»Aber ganz bestimmt nicht. Hand aufs Herz.« Er hielt ihr Gesicht mit beiden Händen, und seine Augen bohrten sich in die ihren. »Das würde mir doch gar keinen Spaß machen. Mir tut’s doch nur gut, wenn’s dir gut tut.«
Sie fiel gegen ihn, als ihre Knie ihr offenbar den Dienst versagten, und ließ sich von ihm wieder auf den Sitz schieben.
»Uups. Das klappt besser ohne Jeans.« Er zog ein paar schwarze Seidentücher aus einer Tasche unten an der Wand und blickte zu ihr auf, kniete nieder, um ihr beim Ausziehen ihrer Jeans und ihres Höschens zu helfen, und küsste sie dabei auf Hüfte und Schenkel.
Nachdem sie beides weggetreten hatte, strich er über die seidige Länge eines ihrer Beine, während er sie an die Ringe band. Hübsche Beine. Eigentlich alles hübsch. Wirklich schade drum. Er knöpfte seine Jeans auf und legte die Hände links und rechts neben ihren Kopf.
»Du weißt doch, dass du jetzt hilflos bist?«, schnurrte er.
Sie nickte und stöhnte leise, als er sie nahm. Es dauerte nicht lange. Sie riss verblüfft die Augen auf, als er sich von ihr löste und die Hosen wieder hochzog.
»Sind … sind wir fertig?« Sie verdrehte ihre Handgelenke und zuckte zusammen, weil das Tuch so fest gebunden war. »Kannst du mich jetzt losbinden? Diese Dinger hier schneiden einem ja fast in die Haut.«
»Oh, wir sind noch nicht fertig, Süße, das war erst der erste Akt. Wer hat dich geschickt?« Er ging zur Bar hinüber und nahm einen Schluck von seinem Martini.
»Was? Niemand … ist das so eine Art Rollenspiel? Die mag ich eigentlich nicht …«
»Ja, richtig.« Er grinste schief. »Also, wie heißt du, Süße?« Er ging zu der Wand zurück und brüllte ihr ins Ohr. »Wer. Hat. Dich. Geschickt!«
»Au!« Sie zerrte an den Ringen. »Das macht keinen Spaß, ich will jetzt nach Hause. Bind mich los, verdammt!«
»Tut mir Leid, Süße.« Er trat an die Wand und schnippte einen Schalter. »Der zweite Akt ist gewissermaßen eine Art Galavorstellung. So, du wirst mir jetzt sagen, wer dich geschickt hat und wie du wirklich heißt, sonst wird nämlich der zweite Akt mir großen Spaß machen und dir überhaupt keinen … es sei denn, du magst so was.« Seine Stimme klang seltsam hohl. »Wer hat dich geschickt?«
»Ich heiße … ich heiße Sarah Eileen Johnson«, stammelte sie, und ihre Augen waren jetzt fast doppelt so groß wie vorher, »und ich bin Anwaltssekretärin bei Sinclair and Burke’s. Niemand hat mich geschickt, das schwöre ich. Äh … bitte, lass mich jetzt gehen. Wenn du mich jetzt gehen lässt, verspreche ich, dass ich es niemandem sagen werde und alles ist gut, bitte … bitte, lass mich gehen!« Ihre Augen gingen jetzt schnell auf und zu, wahrscheinlich, weil ihr bewusst war, wie verändert ihre Stimme klang.
»Geht leider nicht, Süße.« Er ging wieder zur Bar und nahm einen weiteren Schluck. »Das wäre gefährlich für mich. Ich halte wirklich sehr viel von Selbsterhaltung. Du offenbar nicht. Oh, vielleicht ist’s dir aufgefallen, wie seltsam unsere Stimmen jetzt klingen? Das ist ein kleiner Nebeneffekt der elektronischen Dämpfung. Knebeln und Verhör passt nicht zusammen. Also schrei ruhig, so laut du willst. Aber andererseits nehme ich an, dass du schon einmal ein ähnliches System gehört hast. Wer, sagtest du, hat dich geschickt?«
»Niemand! Herrgott, tut mir schrecklich Leid, Mister, ich weiß nicht, für wen Sie mich halten, aber ich bin wirklich bloß eine Sekretärin und weiß nicht, was Sie wollen! Bitte, bitte, tun Sie mir nicht weh …«
»Okay, Süße, so wie’s aussieht, machen wir’s dann eben auf die harte Tour. Groovy.« Er ging zu dem Beistelltischchen und griff nach dem Telefon. »Sam? Kannst du raufkommen? Ich glaube, ich brauche vielleicht doch einen Profi … yeah, du hast die … leidenschaftslose Art drauf. Okay. Na ja, ich kann ja schon mal anfangen …, aber sicher werde ich dir was übrig lassen.«
Er ging zur Bar hinüber und zog eine der Schubladen auf »Hm. Mal sehen: Bullenpeitsche, neunschwänzige Katze, Baseballschläger, Viehpiekser …« Er blickte zu ihr auf, schob eine Augenbraue hoch. »Was ziehst du vor?« Er schnitt eine Grimasse. »Oh, eines darf ich nicht vergessen, weißt du. Beim letzten Mal – also, du glaubst gar nicht, wie viel Mühe es gekostet hat, das alles wieder aus meinen Teppichen rauszubringen.« Er ging zum Kleiderschrank, holte eine Plastikmatte heraus und rollte sie unter ihren Füßen aus. »Weißt du, dass man mit dem Zeug, mit dem man Fleisch zart macht, Blutflecken wegbekommt? Okay, na ja, bist ja ein Mädchen, also weißt du das wahrscheinlich.«
»Ogottogottogott. Rette mich und ich tu nie wieder so etwas. Du lieber Gott … bitte, Mister, ich bin nicht diejenige, die Sie suchen, bitte, tun sie mir nicht weh.«
»Mhm. Ich liebe Leder.« Er ging zur Bar zurück, zog die Bullenpeitsche heraus und fragte wieder: »Wer hat dich geschickt, Süße?«
»Ich bin Sekretärin!«
Der ferne Klang ihrer gedämpften Schreie floss wie Nektar in Worth’ Ohren. Man konnte noch so abgebrüht sein, den Geschmack für so etwas verlor man nie … Irgendwann sah er das rote Blinken und knöpfte seine Jeans wieder zu, ehe er die Tür öffnete.
Ein untersetzter Mann mit beginnender Glatze und einer Pizzaschachtel unter dem Arm zwängte sich durch die Tür und verriegelte sie hinter sich. Er stellte die Schachtel auf die Bar, klappte sie auf und sah zu der Frau hinüber, die schlaff in den Ringen hing.
»Verdammt, Worth, du hast mir wirklich nicht viel übrig gelassen. Aber wenigstens hat sie noch Zähne. Mann, bestimmt zehn Minuten stehe ich draußen und hab geklingelt!«
»Die meisten hat sie noch. Weißt du, wenn das System eingeschaltet ist, höre ich nichts.«
Sam ging in die Küche und kam mit drei Dosen Bier zurück. »Willst du eins?«
»Nee. Behalte sie ruhig, Mann.«
Der Kleinere zuckte die Achseln, biss von seiner Pizza ab, trug ein Bier zur Wand mit den Ringen hinüber, wo bereits ein Satz saubere Skalpelle für ihn bereitlag.
»Wenigstens warst du so schlau, die Skalpelle mir zu überlassen. Anscheinend bist du bei der hier besonders argwöhnisch.«
»Vielleicht werde ich bloß auf meine alten Tage vorsichtig.« Worth zuckte die Achseln und mixte sich einen frischen Martini.
»Du machst deine Sache gar nicht schlecht.« Der Untersetzte feixte, schüttete der Blondine mehr als die Hälfte des Inhalts der Bierdose über den Kopf und nickte dann, als sie prustete. »Für Sie ist das natürlich eine schlechte Nachricht. Lady, ich muss Ihnen leider sagen, dass der Part meines Amateurfreunds jetzt vorbei ist. Also, Worth ist wirklich ein talentierter Amateur und in seinem Job ist er spitze, aber er ist nicht ich. Sie sollten sich wirklich eine Menge Schmerzen ersparen und meine Fragen jetzt beantworten und nicht erst später.« Er hob ein kleines Skalpell auf und musterte es mit klinischem Interesse. »Ihren Namen, bitte. Ihren vollen Namen.«
»Sarah Eileen Johnson«, hauchte sie kaum hörbar.
Er blickte zu Worth auf, der den Kopf schüttelte und ihm eine kleine Handtasche reichte. Er zog ihren Inhalt heraus und sah ihn sich an.
»Führerschein, zwei Kreditkarten, eine Geschäftskarte von Sinclair and Burke’s – Anwälte, ein paar Quittungen, diverse Geschäftskarten, ein wenig Bargeld, ein Scheckbuch, Make-up, Kleingeld … nichts davon neu. Gute Dokumente. Sehr professionell.« Er seufzte, legte das Skalpell weg, ging zu dem Schrank unter der Bar und zog eine kleine Tasche heraus. Dieser entnahm er eine Nadel und ein kleines Fläschchen. »Ich benutze vorher immer gern Natriumpentathol, aber ich bin natürlich auch ein wenig altmodisch.«
Er injizierte ihr das Präparat fachmännisch, legte die Spritze dann neben die Skalpelle und sah auf die Uhr. »Okay, wie heißen Sie?«
»Sarah … Eileen Johnson. Warum tun Sie mir das an?«
»Mhm … interessant.« Er zog eine kleine Taschenlampe aus der Tasche und leuchtete ihr in die Augen. »Wollen Sie mir erklären, wieso Sie gegen Natriumpentathol immun sind?«
»Ich … ich habe es ihm doch schon gesagt«, stammelte sie. »Ich bin Anwaltssekretärin. Ich habe mit vertraulichen Akten zu tun. Man … man muss behandelt sein und braucht eine ärztliche Bestätigung dafür, sonst stellen einen die nicht ein.«
»Tatsächlich?« Er holte ein weiteres Fläschchen und eine frische Spritze heraus. »Dann probieren wir die nächste.«
Fünf Fläschchen später sah er sie feixend an. »Ziemlich gründliche Schutzmaßnahmen für eine Sekretärin.«
»Die … die Versicherungsgesellschaften … die … sind paranoid. Ich … ich … bitte, tun Sie mir nicht mehr weh. Ich bin doch bloß Sekretärin!« Ihre Stimme klang jetzt verzweifelt. »Ich weiß gar nichts!«
»Ich denke, als Nächstes nehmen wir die Backenzähne. Wer sind Sie?«
»Wer soll ich denn sein?« Sie schrie und bettelte. »Sie brauchen’s doch bloß zu sagen, wer ich sein soll! Bitte, bitte …?«
»Also, wer sind Sie?«, fragte er, nachdem er eine Weile abgewartet hatte, bis sie schließlich verstummt war.
»Eine Sekretärin! Bloß eine Sekretärin …« Sie verstummte schluchzend.
Zwei Stunden später streifte er die Gummihandschuhe ab, die er an einem Punkt des Verhörs gebraucht hatte, und blickte zu Worth auf.
»Es hat wirklich keinen Sinn mehr. Sie erzählt uns ständig etwas anderes und nichts davon ist sehr erfinderisch.« Er ging in die Küche hinüber und kam mit einem Papierteller zurück. »Es wird immer schwieriger, sie wiederzubeleben.« Er zuckte die Achseln. »Wir könnten die ganze Nacht durchmachen, aber ich sehe da eigentlich keinen Sinn.« Er legte ein Stück von der kalten Pizza auf den Papierteller, trug ihn zur Mikrowelle und kam dann in den Raum zurück, wo Worth finster auf die schlaffe, halb tote Masse aus Blut und verklebtem blondem Haar starrte. »Nach meiner professionellen Ansicht, mein Freund, ist das«, er deutete mit seiner Pizza auf sie, »eine Sekretärin.«
»Verdammt. Die hätte das ganze Wochenende reichen müssen. Ich schätze, am besten ist, du schneidest sie jetzt ab und wir werden uns darüber klar, wie wir sie loswerden.«
»Es ist Freitag.« Worth holte eine Flasche Verdünner heraus und begann mit der mühsamen Prozedur, seine Peitschen vom Blut zu säubern. »Der Typ, der die Verbrennungsanlage an der Oak Street betreibt, kann jede Menge GalTech-Drogen verkaufen. Für zweihundert Schuss Provigil-C macht der einen Spaziergang um den Häuserblock herum.« Er warf ein feuchtes, blutiges Papiertuch in einen Abfallsack und griff sich das nächste; aus dem Augenwinkel sah er zu, wie Sam ihr Opfer abschnitt und die Frau auf die Matte sackte.
Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er registrieren, dass sie in seltsam koordinierter Weise auf der Matte landete, ehe sie wieder in die Höhe schoss und ihre linke Fußspitze den Folterer schräg unter dem Kinn traf. Der Mann brach zusammen wie eine Marionette, deren Fäden man plötzlich durchgeschnitten hat, und das rote Schemen zuckte von seinem Freund zurück und landete ihm gegenüber. Sie hielt gerade lange genug inne, um sich um die eigene Achse zu drehen und einen Sidekick in seinem Solarplexus zu landen. Der Tritt hatte genügend Schwung, um ihn gegen die Tür des Kleiderschranks zu schleudern, und sein Kopf krachte massiv dagegen, ehe er zu Boden sackte, wo er keuchte: »Wer … wer sind Sie?«
Das Letzte, was Charles Worth sah, war der Mündungsblitz aus der Waffe seines verblichenen Kollegen, die sein Opfer in beiden Händen hielt.
»Jemand, der beim Töten von Leuten kein Plauderstündchen hält.« Sie ging zu der Leiche hinüber, legte den Kopf etwas zur Seite und spuckte dann bedächtig darauf. »Ich heiße Cally O’Neal, und das ist dafür, dass du versucht hast, mich umzubringen, als ich acht war.«
Die Tür flog auf, und drei schwer bewaffnete Männer in schwarzen Körperpanzern stürmten herein.
»Du bist spät dran, Grandpa«, erklärte sie kühl.
»Der Verkehr war schrecklich.« Der Teamführer zog die Maske herunter, fuhr sich mit der Hand durch das flammend rote Haar und schob sich dann ein Stück Red Man in den Mund. Er war mittelgroß, mit einem breiten, wuchtig gebauten Körper und langen Armen, die ihn wie einen Gorilla aussehen ließen. Er sah aus wie zwanzig, aber etwas an seinen Bewegungen und seinem Blick vermittelten den Eindruck von Alter und Erfahrung.
»Drei Stunden?«, fragte Cally ungläubig und wand sich, immer noch nackt, als müsse sie einen überdehnten Muskel in die richtige Lage bringen. Dann betrachtete sie das, was von ihren Fingernägeln übrig geblieben war. »Ich kann nur hoffen, dass es eine Massenkarambolage war. Schließlich sollte ich der Köder sein, nicht diejenige, die den Abzug drückt, verdammt!«
»Hi, Cally«, sagte Tommy Sunday, zog seine Skimaske herunter und verzog dabei das Gesicht. »Ein anstrengender Tag im Büro, was?« Die Nummer zwei war ein hünenhafter Mann mit breiten Schultern und mächtigen Muskelpaketen, und mit leuchtend grünen Augen in einem Gesicht, das ebenso gut einem Filmstar hätte gehören können.
»Yeah, eklige Akten«, erwiderte sie. »Also, was ist?«
»Störsender«, sagte Tommy und zuckte die Achseln. »Irgend so ein Ding. Die haben uns ziemlich rumgejagt; wir sind durch halb Chicago gezogen und haben dich gesucht. Vermutlich ein Filter. Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat. Schön, dass du allein klargekommen bist.«
»Wie geht’s Wendy?« Sie ging auf die andere Seite der Bar und hob ihre Jeans auf.
»Sie ist wieder schwanger.«
»Tut ihr beiden eigentlich gar nichts anderes?« Sie schlüpfte mit mechanisch wirkenden Bewegungen in ihre Jeans und schüttelte den Kopf.
»Ich sehe sie bloß alle paar Monate, die Antwort lautet also ›Nein‹.«
Das vierte Mitglied des Teams überprüfte den Raum nach irgendwelchen Bedrohungen und machte das wie im Lehrbuch, ehe er neben die ihm am nächsten liegende Leiche trat und sie mit dem Fuß anstupste.
»Ist er das wirklich?«, fragte er.
»Keine Ahnung«, meinte Cally mit einem Achselzucken. »Wirf mir’ne Sonde rüber.« Sie fing das Gerät geschickt auf, kniete neben der Leiche nieder und drückte die Nadel an der mehr oder weniger intakten Seite in die Schläfe des Toten. Sie blickte auf das Display und nickte dann. »Gehirn-DNA ist immer verlässlich. Er ist es.«
»Säuberungsteam in Gang eins«, grinste Tommy und trat zur Seite, als sich mehrere lautlose Gestalten in Weiß an ihm vorbeischoben und sofort damit anfingen, alles makellos zu säubern. Er zog seine schwarze Jacke und das weiße Unterhemd, das er darunter trug, aus und hielt sie ihr hin. Sein Blick erfasste sie und blieb an dem Blut hängen, das immer noch auf den weißen Teppich tropfte. »Alles in Ordnung bei dir?«
»Schmerz ist Schwäche, die den Körper verlässt.« Sie nahm das Hemd und zog es sich über den Kopf. »Nichts, was man mit einem kurzen Besuch auf der Platte nicht kurieren könnte.«
»Könntest du den Piepser aus seinem Wagen holen? Beifahrersitz, an der Tür«, bat sie Tommy und wartete, während die Reinigungscrew die erste Leiche zur Tür hinaustrug, und folgte ihnen dann nach draußen. »Danke. Wir sehen uns dann im Van.«
»Die Abschlussbesprechung über den hier wird … interessant sein.« Er zog seine Jacke wieder an und folgte ihr nach draußen.
O’Neal bemerkte, wie das Mitglied seines Teams wie erstarrt dastand und die Überreste von Gehirnmasse und Blut betrachtete, wo gerade noch Worth’ Leiche gelegen hatte.
»Hast du ein Problem, Jay?« Er spuckte bewusst auf die zweite Leiche und nicht auf den Boden, um dem Säuberungstrupp nicht noch mehr Arbeit zu machen.
»Sie hat ihm buchstäblich das Gehirn rausgeblasen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie sie den zweiten Typen erledigt hat, nachdem die Gott weiß was mit ihr angestellt haben. Und dabei zeigt sie weniger Reaktion als andere Leute über einen eingewachsenen Nagel.«
Der Ältere hob die Hand, um das Reinigungsteam davon abzuhalten, die zweite Leiche aufzuheben. Er untersuchte sie kurz, registrierte die Verfärbung im Kinnbereich und verwahrte eine Gehirnprobe in einem Lagerwürfel.
»Sieht wie ein ziemlich sauberer Treffer aus. Ob es ein Fußtritt oder ein Schlag war, ist nicht zu erkennen.« Mike O’Neal senior ließ den Reinigungstrupp weitermachen und ging quer durchs Zimmer zu der Stelle, wo die zurückgelassenen hochhackigen Schuhe und die Handtasche lagen. »Cally ist kreativ«, sagte er. »Auf kreative Art gewalttätig.«
»Schade, dass wir nicht vorher hier sein konnten.« Der jüngere Agent schüttelte den Kopf und blickte wieder auf die Reste am Boden, »aber bei einem Typen, der uns schon dreimal durch die Lappen gegangen ist, indem er einfach seine Bewacher niedergebrannt hat … da war das nicht zu vermeiden.«
»Okay, mal sehen, was wir haben«, meinte O’Neal mit finsterer Miene, suchte den Raum schnell nach Wanzen ab und reichte dem Cyberpunk dann ein Lesegerät sowie ein paar Würfel. »Deine Spezialität, Jay. Wahrscheinlich nichts, was wir brauchen können, aber man kann ja nie wissen.« Er ging in den Flur hinaus und auf die Treppe zu, sodass der andere ihm wohl oder übel folgen musste. Ganz gleich, wie lang das jetzt zurückliegt, aber Treppen steigen, ohne dabei außer Puste zu kommen, macht immer wieder Spaß.
»Sie wird ganz schön sauer sein«, meinte Tommy und folgte ihm die Treppe hinunter.
»Ist schon gut«, erwiderte Papa O’Neal. »Ich kenne ihre Schwächen.«
Cally betrat ihr wohltuend kühles Apartment und blieb stehen, schüttelte den Kopf; buchstäblich jeder Zentimeter der Wohnung war mit Blumen oder Pralinenschachteln bedeckt. Da waren Irisse und Rosen und Chrysanthemen und Gänseblümchen … und alle möglichen anderen Blumen, deren Namen sie nicht einmal kannte. Sie stieg aus ihren Schuhen, hob eine der Pralinenschachteln auf und gab einen überraschten Laut von sich, als sie das Etikett sah. Schokolade – »sehr teure« Schokolade, konnte man sagen.
»Mich kann man weder bestechen noch fertig machen«, murmelte sie, holte eine der Pralinen heraus und steckte sie sich in den Mund. »Normalerweise.« Ihre Augen wurden schmal, und sie schob die Praline im Mund herum, musterte die Blumen mit gerunzelter Stirn. Dann nahm sie die nächste Praline und runzelte erneut die Stirn. »Meistens.«
Sie ging Pralinen mampfend durchs Zimmer, ließ ihre Füße von dem weichen Teppich liebkosen und genoss das Gefühl ungebrochener Zehen, stapfte dann in die Küche und holte sich aus dem Krug im Kühlschrank eine Margarita. Als sie ins Schlafzimmer zurückging, stopfte sie sich die nächste Praline in den Mund, verdrehte die Augen, als sie nach Erdbeeren schmeckte, blieb am Bildschirm stehen, wählte einen Würfel aus und schaltete ihn auf Tori Amos.
»Musik zum Einschlafen«, murmelte sie halblaut.
In ihrem Zimmer wanderte die frisch gereinigte Abendtasche in die oberste Schublade einer Kommode, wo etwa ein Dutzend weiterer lagen. Die Geldbörse ohne Geld kam in die mit Daumenabdruck zu schließende und mit einer Falle versehene Schublade ganz unten, ebenfalls zu einem Dutzend weiterer. Sarah Johnson aus Chicago war nicht verbrannt worden – also, die Identität jedenfalls nicht – und könnte noch einmal nützlich sein.
Das neue T-Shirt und die sehr gründlich gereinigten Jeans wanderten auf Bügel im Kleiderschrank. Die Unterwäsche, ebenfalls neu, kam in den Wäschekorb. Sie trat vor den bis zum Boden reichenden Dreifachspiegel und betrachtete sich vorn und hinten. Keine Narben, keine Spuren, aber die gibt es nie. Sie beugte sich vor und musterte ihre Augen, die wieder ihre eigenen waren. Kornblumenblau. Dann legte sie die Zähne frei und betrachtete sie von allen Seiten – perfekt, wie gewöhnlich. Nicht das geringste Anzeichen, dass etwas beschädigt worden war.
Cally ging ins Badezimmer und stellte das Glas neben das Becken, holte sich einen sauberen Waschlappen aus dem Schrank, stapfte zum Bett zurück und stellte das Glas auf den Nachttisch.
Hoffentlich reichte das wenigstens für ein paar Tage Freizeit.
Mit dem Touch-Pad neben dem Bett reduzierte sie die Lautstärke auf leise Hintergrundmusik und schaltete das Gerät dann auf Random Play. Anschließend schaltete sie mit dem Touch-Pad aktive Gegenmaßnahmen ein, rollte sich dann zur Seite und nahm das Kissen auf eine Art und Weise in die Arme, die seltsam an ein Kind mit einem Plüschtier erinnerte, und sank dann in den Schlaf.
Tibet. Vor dem Krieg wäre sie in jeder Menschenmenge durch ihre Größe aufgefallen. Nach dem Krieg, wo überall, wo es noch Menschen gab, Amerikaner waren, fiel sie mit ihrem mausbraunen, kurz gestutzten Haar und dem roten Anorak überhaupt nicht auf. Und jetzt, im Haus, in einem abgedunkelten Schlafzimmer. Der ehemalige Parteifunktionär hatte die ursprüngliche Eroberung durch die Posleen um zwei Wochen beschleunigt und damit für sich zwanzig Jahre geborgter Zeit gewonnen. Eines seiner Kinder quietschte vor Vergnügen in einem anderen Zimmer über die Serie, die gerade im TV lief. Die Würgeschlinge arbeitete völlig geräuschlos.
Irland. Ein amerikanischer Funktionär auf Urlaub. Wie es schien, hörte der Tourismus nie auf. Keine Zeugen, aber er ist ganz in Schwarz, ein Spieler? Sein Halswirbel bricht mit einem leichten Knacken, ohne Mühe, und er rollte beim Fallen, und es ist weiß und sollte doch nicht weiß sein, warum war er hier? Herrgott, nein. Nein.
Das Licht ist rot und riecht nach Weihrauch und Büchern. Er bastelt in dem Zufluchtsort herum. Ein ereignisloser Tag. Father, sind Sie bereit, meine Beichte zu hören? Dort, ja, durch die Tür. Was? Draußen. Schnee fällt. Die Türen versperrt. Kann nicht rein. Immer das Gleiche. Kann nicht wieder rein.
Florida. Mit Delfinen schwimmen. Mom ist bei mir. Sie ist stolz auf mich. Und das Wasser ist kühl und die Sonne heiß. Der alberne Herman. Heute Abend gibt’s Key Lime Pie und vor dem Zubettgehen nimmt Dad mich in die Arme.
Sie wachte mit einem Lächeln im Gesicht auf, schaltete abwesend die Gegenmaßnahmen ab und griff nach dem Waschlappen, um sich das Gesicht abzutrocknen. In dreißig Jahren bin ich kein einziges Mal allein aufgewacht, ohne dass mein Gesicht triefend nass war. Aber Gott sei Dank schlafe ich wie ein Baby. Ich lebe gerne in einer Stadt am Strand. Sie setzte sich auf, stapfte zur Ankleide hinüber und öffnete mit einem Daumenabdruck die unterste Schublade. »So, wer möchte ich heute sein? Nicht Sarah. Mal sehen, hier am Ort, Spaß, ohne Hirn, aber kein Tunichtgut … Pamela. Ja, das sollte gehen. Sonnenbräune, perfekte Nägel. Eine Maniküre, eine Pediküre, gründliches Shopping am Nachmittag und dann am Abend ausgehen.« Sie betrachtete ihr Bild im Spiegel. »Genau, was dir der Arzt verschrieben hat, Pamela.«
Sie legte die rosa Handtasche auf die Kommode, schloss die Schublade, griff sich einen winzigen BH und dazu passende Höschen in silbergrauer Spitze. Sie duschte, wusch sich das Haar, färbte die Wurzeln ein wenig nach und dergleichen, da Pamela ja schließlich keine echte Blondine ist. Eine Flasche mit grauer Lotion benutzte sie bedächtig, spülte nach und überprüfte dann das Resultat. Wie immer: keine Flecken, keine Streifen und absolut keine Bräunungsspuren.
Sie ging zum Kleiderschrank zurück, stand einen Augenblick davor, fand in ihre Rolle. »Pamela. Smart, locker. Mag Rosa und Grau.« Sie legte eine rosa Bluse mit einem V-Ausschnitt, graue Schuhe und eine Rupfenstrandtasche aufs Bett und holte flache braune Riemchensandalen aus einem der Fächer in der Wand ihres Kleiderschranks. »Uhr? Ja, braunes Armband, analog.« Sie legte sie zu der Strandtasche.
Als sie dann angekleidet war, machte sie sich auf die Suche nach Frühstück. Pamela bedeutete Grapefruit, aber zuerst warf sie einen verweisenden Blick auf Sarahs Schuhe im Wohnzimmer und brachte sie dorthin, wo sie hingehörten.
Nach dem Frühstück fuhr sie zur Mall. Bis jetzt gab es in New Charleston erst eine, aber sie war ständig überfüllt. Ehemalige Urbies, die sich allmählich wieder an das Leben an der Oberfläche gewöhnten, gingen gern hin, weil die Mall sie auf wohlige Weise an Zuhause erinnerte, und selbst die Teenager von Charleston fanden die Klimatisierung angenehm. Low Country Nails and Spa war in der untersten Etage, ganz am Ende, und sie ging mit einem strahlenden Lächeln hinein und auf die lockige Brünette zu, die hinter der Theke mit irgendetwas beschäftigt war.
»Jeannie?«
»Pamela!« Die junge Frau begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln. »Wo hast du dich denn versteckt gehalten? Mädchen, das ist ja Wochen her!«
»Ich habe meine Mom und meine Schwester in der Kairo Urb besucht. Mann, bin ich froh, wieder Tageslicht zu sehen! Hast du gerade Zeit? Meine Hände und meine Füße müssen hergerichtet werden, und dann sehne ich mich nach einer deiner Gurkenmasken.«
»Wie in aller Welt hast du es geschafft, in einer Urb so braun zu bleiben?« Jeannie kam hinter der Theke hervor und komplimentierte sie zu einem kleinen Tischchen, auf dem ihr Werkzeug lag. »Ich wette, du warst jeden zweiten Tag auf der Sonnenliege.«
»Ja, so ungefähr. Was meinst du, passt dieses Wassermelonenrosa zu meiner Haut oder sollte ich ein kräftigeres Rosé nehmen?«
»Mhm. Mal sehen …« Sie hielt zwei Flaschen Nagellack an Callys Hände. »Ich denke, das Wassermelonenrosa sollte passen. Wohl in verspielter Stimmung?«
»In der Stimmung, ernsthaft Spaß zu haben.« Cally grinste verschmitzt. »In der Urb bin ich mir vorgekommen wie lebendig begraben.«
»Das geht allen so«, meinte Jeannie leise. »Liebes, du hast viel zu viel Stress und du isst nicht genug.« Sie hob einen von Callys Fingern an, wo sie gerade einen Nagel zugestutzt hatte. »Schau dir diese Ränder an. Aber mich überrascht das nicht. Familie bedeutet immer Stress, und unter der Erde gibt es nach wie vor kein besonders gutes Essen. Jedenfalls nicht so gut, wie du es hier draußen kriegen kannst.«
»Das darfst du laut sagen. In den Cafeterias kriegt man keinen Krabbeneintopf wie hier.«
»Seafood ist in Ordnung, aber du musst frisches Gemüse und Salat essen, sonst alterst du vorzeitig. Und eine Menge Wasser trinken. Augenblick, bitte.« Sie verschwand hinter einer Trennwand und kam gleich wieder mit zwei Gläsern und einem Krug Eiswasser zurück. »Hier. Destilliert und re-mineralisiert. Das beste Wasser auf dieser Seite der Blue Ridge.«
Sieben Stunden später legte Cally zwei neue Outfits und ein Paar Schuhe in den Schrank, richtete sich das Haar, legte sich ein Süßwasserperlenhalsband um und zog los, auf der Suche nach etwas Ordentlichem zu essen, anständiger Musik und was immer der Abend ihr sonst noch bringen mochte. Das ist das Schöne an Städten am Strand. Selbst nach dem Postie-Krieg ist immer etwas los, zum Beispiel an der Pappas Street in der Nähe vom El Cid.
Seltsamerweise hatte die Zitadelle im Krieg nur wenige Schäden abbekommen. Charleston war völlig evakuiert worden, also hatte es aus der Sicht der Posleen nichts zu essen gegeben. Viele historische Gebäude waren ebenso wie die Battery völlig intakt geblieben, ebenso auch die jahrhundertealte Militärschule. Niemand wusste, was die Posties eigentlich in diesen weißen, mit Zinnen verzierten Gebäuden gesehen hatten – nur dass sie den Campus fast überhaupt nicht geplündert hatten und er praktisch intakt zurückerobert worden war. Vor kurzem hatte man dort den fünfunddreißigsten Jahrestag der Wiedereröffnung als Universität und Ausbildungsakademie für künftige Offiziere von Fleet Strike gefeiert. In der Nachkriegswelt garantierte einem der Abschluss dort zwar nicht, dass man einen Offiziersposten bekam, öffnete einem aber viele Türen und wurde von jungen Männern als eine Art Fahrkarte aus der beengten Welt der Urbs gesehen.
Wo es junge Männer gab, gab es Bars und Musik und niemanden, den sie töten musste. Normalerweise. Insgesamt betrachtet also genau der richtige Ort, um sich zu amüsieren.
Auf Old Tommy’s Pub konnte man sich immer verlassen, man bekam dort sowohl die flüssigen wie die musikalischen Importe aus Irland frisch vom Schiff. Irische Musik mit ihrer unbezähmbaren Fähigkeit, auch aus einem harten Los das Beste zu machen, erlebte gerade so etwas wie eine Wiedergeburt. Balladen und Märsche, die die Heldentaten von GKA-Rittern im Kampf gegen zentauroide Monster verherrlichten, waren vielleicht nicht im strengen Sinne traditionell, aber die modernen Minnesänger Irlands hatten ihren kulturellen Wert in einer Post-Posleen-Welt erkannt und erfüllten diese Aufgabe auf brillante Weise. Ein Bodhran, die traditionelle irische Ziegenfelltrommel, passte nicht nur auf die kleine Bühne eines Pubs, sondern lieferte auch einen überraschend guten Hintergrund für die grellen Klänge einer schon etwas angejahrten Stratocaster. Nun ja, zumindest in ein paar Stunden würde sie schrill klingen. Im Augenblick befanden sich die Instrumente noch in ihren Koffern, und die paar Typen, die da in der Ecke saßen und einen Happen zu sich nahmen, waren vermutlich die Musiker. Kadetten waren es jedenfalls nicht, ihrem Haarschnitt nach zu schließen.
Cally zog sich einen Barhocker heran und bestellte sich ein Killians und einen Meeresfrüchtesalat und verbrachte dann die nächste Stunde damit, mit dem Barkeeper zu flirten und darauf zu warten, dass die Band zu spielen begann. Kadetten tröpfelten den ganzen Abend über herein. Die meisten von ihnen sahen zu jung aus, um sich zu rasieren und waren für sie auf das Strengste off-limits, so sehr sie sich auch bemühten, einen Blick von ihr aufzufangen, aber einer von ihnen wirkte ein wenig älter als die Übrigen und bewegte sich so, als habe er bereits gedient, obwohl die Abzeichen an seiner weißen Sommeruniform auf einen Junior deuteten – mit einem ausgesprochen knackigen Hintern. Der kam infrage.
Sie suchte seinen Blick, hob ihr Glas und zeigte ihm ein freundliches Lächeln. Er erstarrte eine Sekunde lang und sah sich dann über die Schulter um, als wäre er nicht sicher, ob ihr Blick auch wirklich ihm galt; dann entschuldigte er sich bei seinen Kumpels und brachte seine Flasche Budweiser herüber, während seine Freunde sich alle Mühe gaben, beim Abschließen der Wetten auf seine Chancen nicht zu auffällig zu werden.
»Äh … hi. Ich darf mich doch zu Ihnen setzen?« Er stellte sein Bier vor dem leeren Hocker neben ihr auf die Bartheke.
»Das wäre schön.«
»Ich heiße Mark.« Er musterte ihr praktisch noch volles Bierglas mit einem Ausdruck, der an Verzweiflung grenzte, und meinte dann: »Äh … kommen Sie oft hierher?« Und dann setzte er sich hin und verwünschte sich zweifellos im Stillen, dass er etwas so Banales und wenig Brillantes gesagt hatte.
»Nicht oft genug, sonst wäre ich dir sicher schon begegnet.« Sie lächelte freundlich und hielt ihm die Hand hin. »Ich heiße Pamela. Schon lange in der Zitadelle?«
»Siehst du die Streifen hier? Die sagen, dass ich ein Junior bin.« Er registrierte, dass sie ihn duzte. Sofort ging er darauf ein und grinste locker, und fühlte sich jetzt sichtlich auf festerem Boden. »Im ersten Jahr hat man gar keine, im zweiten einen und Seniors sind diese Typen da, die im Blazer herumlaufen. Aber ich bin bereits im zweiten Jahr. Vorher gedient.« Dabei vergrößerte sich sein Brustumfang ein wenig, vermutlich unbewusst.
»Oh? Wo hast du denn gedient?«
»Afrika. Dort gibt es nicht genug Menschen, um auf Dauer die Posleen zu verdrängen, und die Posties kommen ja schon mit gewissen Fähigkeiten auf die Welt, die Menschen erst lernen müssen. Deshalb hat Fleet Strike dort Einheiten im Einsatz, die nach dem Zufallsprinzip durchs Land ziehen und versuchen, die kleinen Gruppen von Wilden zu verjagen, ehe daraus große Banden werden.«
»War das anstrengend? Selbst Wilde sind so groß«, sie stützte den Ellbogen auf die Bar, lehnte sich ein wenig vor und sah ihn aus geweiteten Augen an. »Ich habe sie natürlich nur im Holotank gesehen. Du musst wirklich sehr tapfer sein, dich für so etwas freiwillig zu melden. Hast du einen von diesen, wie sagt man da, gepanzerten Anzügen getragen?«
»Das hätte ich gerne.« Er schüttelte den Kopf. »Die Typen sind wirklich der harte Kern, und sie nehmen nur die Besten. Wir hatten nicht viele davon in Afrika. Die meisten von ihnen sind draußen auf den neuen Planeten und verjagen die Posties, um Platz für Kolonisten zu schaffen.« Er grinste schwach. »Manchmal nehmen die GKA einen neuen Absolventen der Akademie mit wirklich guter Beurteilung, also habe ich immerhin noch eine Chance.« Sein Blick wanderte gelegentlich zu ihrer Brust, aber insgesamt mühte er sich wacker, sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren. »Und was ist mit dir, was machst du?«
»Nichts, was auch nur annähernd so interessant ist wie Posleen zu töten.« Sie grinste und hob ihre perfekt gestylte Hand. »Ich bin Maniküre. Nägel und Sympathie, das ist mein Job.«
»Und Klatsch?«
»Na ja, ein ganz kleines bisschen vielleicht.« Sie lachte ihn an und rümpfte dabei ganz leicht die Nase.
»Dann … äh … bist du in Charleston aufgewachsen? Früher konnte man das ja wohl nach dem Akzent bestimmen, aber …«
»Nein, ich bin der Kairo Urb aufgewachsen. Aber ich mag die Sonne«, sie deutete auf ihre gebräunten Arme und zuckte die Achseln, »und den Strand liebe ich, deshalb bin ich hier.«
»Ah, ein echtes Strandhäschen. Davon gibt’s heutzutage nicht mehr viele.« Seine Hand fühlte sich weich an, als er nach der ihren griff. »Einfach ein ganz altmodisches Mädchen, wie?«
»Na ja, ein wenig schon«, gab sie zu, drückte dabei seine Hand und leckte sich über die Lippen. »Oh, hey, das Lied hier mag ich.«
Er hörte sich mit ihr stumm »The Holy Ground« bis zum Ende an und winkte dann dem Barkeeper nach einem frischen Bier.
»Dann magst du also irische Musik?«, fragte er.
»Ja, das meiste jedenfalls. Noch mehr mag ich den Tanzmix von vor dem Krieg. Ich habe kein Sitzfleisch, weißt du?« Sie zog ein Päckchen Marlboro aus der Handtasche und war dabei, sich eine anzuzünden, hielt aber inne, als sie ihn zusammenzucken sah. »Oh, tut mir Leid. Stört dich der Rauch?« Eine dicke Wolke Tabakrauch hing in der Bar, und deshalb sah sie ihn mit hochgeschobenen Augenbrauen an.
»Nur, dass du dir so etwas antust. Meine Oma ist letzte Woche gestorben. Lungenkrebs. Während des Kriegs und auch danach hat sie das Rauchen eingeschränkt, weil der Tabak damals knapp war, aber das hat wohl nicht gereicht.« Er runzelte die Stirn. »Tut mir Leid, aber … das ist noch gar nicht so lange her.«
»Na ja, Sucht bildend sind sie ja nicht mehr, aber es tut mir wirklich Leid, wenn ich dich damit an etwas so Trauriges erinnert habe.« Sie schob das Päckchen wieder in die Handtasche zurück und legte eine weiche Hand auf seinen Arm. »Weißt du, was du brauchst? Du musst dich davon ablenken. Ein Stückchen weiter unten an der Straße ist eine Kneipe, die heißt Decos.« Sie wies auf die Bühne. »Wenn du ein Tief hast, verträgst du dieses Zeug nicht. Du musst es aus dir heraustanzen. Das tue ich immer, wenn mich etwas bedrückt. Verschwinden wir hier.«
»Yeah.« Er gab sich einen kleinen Ruck und nickte seinen Freunden zu, als sie das Lokal verließen.
Zwei Stunden später saß sie hinter ihm auf seinem Motorrad, und eine dünne Schweißschicht trocknete in der salzigen Luft auf ihrer Haut, während sie zu einem der hauptsächlich von Touristen vom Festland benutzten Hotels fuhren. Als er auf den Parkplatz einbog und anhielt, ließ sie seine Hüften los und kletterte langsam aus dem Sattel, als wolle sie sich nicht von der Wärme trennen, die er ausstrahlte.
»Für deine Uniformen muss das ja schlimm sein«, sagte sie und deutete dabei auf das Motorrad.
»Na ja, schon. Außer an den Wochenenden habe ich es ja meistens in der Garage. Aber stimmt schon, ich brauche ständig neue Uniformen.« Er seufzte. »Ich sag das wirklich ungern, aber würde es dir etwas ausmachen hier zu warten, bis ich uns ein Zimmer besorgt habe? Ich weiß nicht, ob die vielleicht Zicken machen, wenn du dabei bist.«
Das ist denen schnurzegal, aber ich will nicht zugeben, dass ich das weiß. »Oh, überhaupt nicht. Es ist warm, und wir haben Mondschein. Ich werde einfach den Abend und die frische Luft genießen, bis du zurückkommst.«