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Vertrauen ist gut ...
Tausend Jahre lang haben die außerirdischen Darhel das Schicksal der Menschheit kontrolliert. Nachdem die Menschen ihr Joch in einem blutigen Krieg abgeworfen hatten, herrscht jetzt ein brüchiger Frieden. Erstmals verrichtet Tirdal, ein Darhel, seinen Dienst zusammen mit menschlichen Elite-Soldaten. Die Situation eskaliert, als die Einheit ein wertvolles Artefakt findet, das die Menschen korrumpiert. Tirdal versucht alles, um es in Sicherheit zu bringen, doch er hat einen entscheidenden Nachteil: Er kann nicht töten …
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Seitenzahl: 608
Für Robert A. Heinlein – in der Hoffnung, damit die Schuld abtragen zu können.
Der Raum, in dem sich das Fernaufklärungsteam versammelte, war ebenso karg und auf Zweckmäßigkeit abgestimmt wie das Team selbst. Wände, Boden und Decke bestanden aus schmucklosem, mattgrauem Plastahl, und es gab weder Schränke noch Tische oder irgendwelche sonstigen Gegenstände, die auf menschliche Existenz hindeuteten; in den beiden gegenüberliegenden Wänden befand sich je eine Tür aus massivem Plastahl wie im Sicherheitstrakt einer Bank. Das alles diente der Sicherheit, schließlich konnten Energiepacks ebenso wie Munitionsbehälter beschädigt werden, und Unfälle waren nicht ausgeschlossen. Unfälle mit Energiepacks hatten, gelinde gesagt, katastrophale Folgen.
Ebenso war selbstverständlich niemand daran interessiert, dass den Soldaten Unfälle widerfuhren. Aber besser ein FAT verlieren als einen ganzen Stützpunkt. Zumindest dachte der Rest des Stützpunkts so.
Ferret war der Erste im Raum, er trug eine gedrungen wirkende Punch-Gun. Vier andere folgten ihm mit Gravkarabinern und diversen persönlichen Waffen, die offiziell nicht erlaubt waren, aber nur wenige hatten den Mut, den Angehörigen eines FAT das Recht auf diese Waffen abzusprechen. Überwiegend waren es Pulser, es gab aber auch noch einen Granatwerfer und ein paar großkalibrige Pistolen. Dagger kam als Letzter herein, eine spezielle Scharfschützenversion eines Gauss-Karabiners hing lässig in seiner Hand.
Ein lockeres Wortgeplänkel begleitete sie, und Ferret machte sich über Thor lustig, weil der sich mit Dagger in einem Wettschießen angelegt hatte. »Hey, hast wohl vor, dich für die Olympiade zu bewerben?« Er lachte laut, als Thor zusammenzuckte.
Thors Konto war um fünfhundert Credits leichter geworden. Dabei war er sich hundertprozentig sicher gewesen, dass er mit normalen Waffen besser schoss als Dagger. Der Karabiner des Scharfschützen war schließlich schrecklich teuer und eine Maßanfertigung, die stundenlang abgestimmt werden musste, bis man richtig damit umgehen konnte. Er würde sich wahrscheinlich tagelang über das Ergebnis ihres Wettschießens ärgern und musste zu allem Überfluss noch damit rechnen, bis in alle Ewigkeit damit aufgezogen zu werden.
Dagger hatte wie vereinbart einen standardmäßigen Gravkarabiner dazu benutzt, auf fünfhundert Distanz zehn Schuss, so schnell er den Abzug betätigen konnte, ins Schwarze zu jagen, und dann zehn weitere auf tausend Meter Distanz – und das fast genauso schnell. Auf die Tausender-Distanz war ein Schuss danebengegangen – also in den nächsten Ring. Wie es aussah, hatte er sich kaum Zeit zum Zielen genommen, hatte bereits in dem Augenblick, in dem er den letzten Schuss abgegeben hatte, kehrtgemacht und seine Position verlassen, noch ehe das Ergebnis auf dem Bildschirm angezeigt worden war. Seine Gesichtszüge waren unbewegt geblieben, bis er von dem einen Schuss gehört hatte, der danebengegangen war, und dann hatte er angewidert den Mund verzogen. Der Mann schoss geradezu übermenschlich genau. Man sah das auch an seinen Bewegungen; sie waren schnell, aber fließend, ohne jeden Ruck. Bei Scharfschützen kam es ebenso darauf an, den Feind zu beschleichen wie exakt zu treffen, und es gab kaum einen Menschen, der sich darauf besser verstand als er.
Thor zuckte erneut zusammen, als die anderen wieder zu lachen anfingen. Schließlich kam Gun Doll ihm zu Hilfe und tönte: »Okay, jetzt wird’s allmählich langweilig.« Daraufhin wechselten sie das Thema.
Dagger äußerte sich immer noch nicht, als Ferret einen Schalter antippte und Tische und Sitze aus dem Boden wuchsen. Sie waren von sterilem Grau, wie alles andere im Raum. Gun Doll lehnte sich mit ihrer schlaksigen Gestalt gegen die Wand und betätigte mit dem Ellbogen einen Schalter – immer noch die klobige Sturmkanone in beiden Händen –, worauf von allen Seiten dröhnende Musik auf sie einpeitschte. Es war eine der ätzenden Tanzmelodien, die sie mochte, aber immerhin nicht so laut, dass Beschwerden gekommen wären. An den Wänden flackerten Hologramme mit Einsatzbildern. Eines davon zeigte eine erschütternde Schneise der Zerstörung: zerdrückte Hover-Panzer, ebensolche Raketenhaubitzen, zur Unkenntlichkeit verunstaltete Kampfbots. Es fing links bei einer Landekapsel an und endete auf der rechten Seite in der überlebensgroß wirkenden Gestalt eines wie aus Stein gemeißelten Unteroffiziersdienstgrads mit dem schwarzen Barett eines FAT-Kommando. Die Karikatur hielt einen schweren Gravkarabiner mit beiden Händen, trug einen automatischen Granatwerfer auf der einen Schulter und einen leichten Mörser auf der anderen; der Kampfharnisch war über und über mit Messern und Äxten aller Art behängt, und aus einer Brusttasche lugte ein Teddybär. Darunter stand »Entschuldigung, ich bin bloß auf der Durchreise«. Ein anderes Hologramm zeigte einen auf schreckliche Weise gescheiterten Einsatz mit zertrümmerten Panzeranzügen, die über die gesamte Landschaft verteilt waren, abgestürzten Shuttles, einem Hagel von Artilleriegeschossen, die den Schlamm aufspritzen ließen, und überall herumwimmelnden kleinen Killerbots. In der Mitte konnte man einen Typen mit Majorsstreifen sehen, der an ein Ferndistanz-Komm tippte. In der Sprechblase stand »Ich mag es, wenn ein Plan richtig klappt«. So betrachtet war der gebotene Kunstgenuss recht zahm, zumal wenn man ihn mit Stücken verglich, die in den Netzen herumgeisterten und sich über die Abkürzung FAT lustig machten … »Fast Alle Tot« oder manchmal auch nicht gerade authentisch »Fettarschtunten«. Die Leute sagten das allerdings nicht zu FAT-Mitgliedern, wenn sie ihnen in einer Kneipe begegneten, es sei denn, sie waren sehr gute Freunde. Aber Aufklärungstätigkeit mitten in feindlichem Territorium setzte ohnehin ein ziemliches Maß an Masochismus voraus, deshalb waren die FATs einigen Kummer gewöhnt. Und außerdem konnten sie nicht nur einstecken, sondern auch ganz gut austeilen. Letzteres sogar meistens mit Zuschlag.
Die munteren Reden verloren etwas an Schwung, als sie anfingen, ihre Waffen vor sich auszubreiten und zur Reinigung auseinander zu nehmen. Das Team starrte vor Schlamm, Schweiß, Dreck und allen möglichen zerfetzten Vegetationsresten; die Waffen waren lediglich vom Gebrauch schmutzig. Ein guter Soldat pflegte seine Waffen, schließlich hing sein Leben davon ab. In Anbetracht von Piraten, wilden Posleen, die als Überbleibsel des Krieges, der die Menschheit fast ausgelöscht hatte, immer noch zugange waren, und der neuen Bedrohung durch die Kleckse mussten diese Soldaten jederzeit mit einem neuen Einsatz rechnen. Also pflegten sie ihre Waffen, weil sie den Unterschied zwischen dem Überleben und einem eiskalten E-Mail an ihre überlebenden Angehörigen darstellten.
Die Halterungen der Waffen waren mit einer chamäleonartigen Oberfläche beschichtet, die Farben und Muster von allem annahm, was sich in ihrer Umgebung befand; kaum dass sie auf dem Tisch lagen, veränderten sie sich und wurden fast unsichtbar. Ferret fluchte und meinte: »Die Oberfläche bleibt praktisch ewig aktiv, selbst wenn der Saft nicht mehr zum Schießen ausreicht.« Er drückte einen Schalter, um ein neutrales Grau aufzurufen.
Gorilla, einer der Technikspezialisten, wandte ein: »Nein, ewig hält die zwar nicht, aber doch eine ganze Weile. Die Oberfläche ist klein, und um sich hier anzupassen, braucht sich nicht viel zu verändern. Aber ich würd’s nicht auf den Versuch ankommen lassen, einen Tarnanzug so lange zu verlassen. Andererseits ist der natürlich wesentlich leichter zu entdecken.«
»Bring doch deiner Oma bei, wie man den Posleen in den Hintern kriecht«, erwiderte Ferret. »›Der erfahrene Kundschafter verlässt sich auf Täuschung und sein Geschick, aber nicht auf technisches Gerät.‹« Er zuckte die Achseln und wandte sich wieder seinen Waffen zu.
Die geschickten Finger der Soldaten hantierten mit den Waffenteilen ohne jede Mühe, ebenso wie sie das auch bei völliger Dunkelheit getan hätten. Die in stumpfer Farbe beschichteten Läufe mit den Gravbeschleunigern wurden in die Tischmitte geschoben, die Empfänger dem Rand zugewandt, wie es allgemein üblich war. In dem von diesen beiden Komponenten gebildeten Rahmen wurden die kleineren Teile wie Abzugsmechanismen und Visiere aufgereiht, wie ihre Besitzer sich das in vielen Jahren angewöhnt hatten. Die Punch-Guns waren von ziemlich schlichter Konstruktion: eine Energieeinheit, die sich herausziehen ließ und die man besser sehr ernst nahm, sowie der Rahmen. Jeder Soldat und jede Soldatin hatte eine ganz persönliche Art, die Teile auszulegen, aber alle waren das Produkt derselben Grundausbildung. Dagger saß allein an einem Tisch, und seine Art, mit seinem Scharfschützenkarabiner umzugehen, erinnerte fast an eine Liebkosung. So war Dagger: immer Mitglied des Teams und doch immer allein.
Thor klappte den Verschluss seines Gravkarabiners auf, starrte hinein und ließ dabei seinen leuchtenden Lichtball über den Tisch wandern, um die Waffe von der Seelenachse aus zu beleuchten. Dabei stieg ihm der beißende Geruch von verbranntem Metall in die Nase, und er stieß eine Verwünschung über das, was er sah, aus. Das Hauptproblem mit den Waffen war, dass sie Ausschussmunition benutzt hatten. Der Hersteller empfahl als Munition abgereichertes Uran, das mit einem Hexengebräu auf Karbonbasis beschichtet und einem winzigen Tröpfchen Antimaterie geladen war. Dieses Antimaterietröpfchen wurde durch geringfügige Energiezufuhr angeregt, während der Rest der Antriebsenergie von der Antimaterieauflösung geliefert wurde. Aber die Republik Islendia verfügte nicht über die Fabrikationsanlagen für die Herstellung so hochwertiger Munition, und deshalb wurden die Gravkarabiner extern mit Energie versorgt; als Munition stand überwiegend nur abgereichertes Uran mit Graphitbeschichtung zur Verfügung.
Das Problem war, dass sich der Kohlenstoff und anschließend auch das Uran in Anbetracht der unglaublich hohen Geschwindigkeiten lösten und auf Verschluss und Lauf des Karabiners eine Substanz ablagerten, die sich kaum von einer Uran-Karbon-Legierung unterschied. Und etwa ebenso mühsam zu entfernen war …
Thor holte eine Kapsel Mineralwasser aus seiner »Notration« aus dem Rucksack und hielt in seiner Arbeit inne. »Verdammter Mist!«, murmelte er, als seine Hand dabei auf etwas Hartes stieß, das sich keineswegs wie eine Trinkkapsel anfühlte. Er packte den Gegenstand und zog ihn heraus. Es handelte sich um einen Stein, etwa fünf Kilo schwer. Einfach ein Steinbrocken.
»Ihr Drecksäcke«, schimpfte er. Das war nichts Neues. Jedes Mal, wenn sie von einem Einsatz oder einer Geländeübung zurückkamen, stopfte ihm irgend so ein Schwachkopf einen Felsbrocken in den Rucksack. Inzwischen lagen bestimmt schon vierzig von den verdammten Dingern in seiner Kammer herum. Niemand wusste, weshalb er sie aufbewahrte. Er übrigens auch nicht, bloß dass es eben Andenken waren, irgendwie. Er hatte sogar einen von der Erde.
Alle lachten, bloß Dagger nicht, doch selbst der grinste. »Wieder einmal ein Felsbrocken für deine Sammlung, Thor«, meinte Gorilla.
»Ist schon recht. Felsbrocken, Stücke von Kernbohrungen von den Pionieren, irgendetwas ist es immer. Über kurz oder lang werde ich mal verknackt, weil ich ein Stück heiligen rumakianischen Granit schmuggle oder irgendsolches Zeug. Aber dann sorg ich dafür, dass ihr für den Zoll aufkommt.«
»Das würdest du wohl auch müssen«, sagte Ferret. »Deine Knete hätte dann ja Dagger.« Darüber lachten sie alle, selbst Dagger.
Und dann ging die Hänselei wegen des Wettschießens wieder von vorne los.
»›Hi, ich heiße Thor und treff nicht mal ein Scheunentor. ‹«
»›Dagger, du solltest mich jetzt erschießen, ehe ich noch mal versuche, dich zu schlagen.‹«
»›Ich Thor, ich denken, ich gerade schießen.‹«
Dagger sagte nichts. Das brauchte er auch nicht. Thor sagte ebenfalls nichts und hoffte, dass sie das Thema wechselten, ehe es langweilig wurde.
Ferret setzte noch eine Bemerkung hinzu und hielt dann den Mund: »Gegen die Kleckse solltest du besser treffen als gegen Dagger.« Und damit wechselte das Gespräch zu ihrem möglichen nächsten Einsatz über. Dass es gegen die Kleckse gehen würde, stand außer Frage. Im Augenblick gab es sonst keine ernsthaften Bedrohungen, jedenfalls keine, die die besonderen Fähigkeiten von FATs erforderten. Die Frage war nur, ob es ein Stoßtruppunternehmen, ein Aufklärungseinsatz, ein verlustreicher Entführungsversuch oder irgendein neuer blödsinniger Plan der Schwachköpfe im Strategiestab sein würde.
Die so genannten Kleckse, die Tslek, waren erst in letzter Zeit als Feinde des lockeren Planetenbundes, den die Islendianische Konföderation darstellte, auf den Plan getreten. Es handelte sich um dunkle weiche Kreaturen ohne feste Form, die sich mittels Pseudopoden bewegten und diese auch als Werkzeuge benutzten. Bis jetzt gab es noch kaum Menschen, die einen Tslek aus der Nähe gesehen hatten – zumindest keine, die nachher darüber berichtet hatten. Einige weit entfernte Kolonien waren verloren gegangen, ihre Verwaltungszentren in glühende Gaswolken verwandelt worden, wie es hieß von kinetischen Waffen, allerdings solchen mit mehr Energie, als man sie einfach nur aus dem All abstürzenden Felsbrocken zuschrieb. Derartige Waffensysteme waren ähnlich wie Atom- und Antimateriewaffen bei den zivilisierten Rassen, insbesondere bei den Menschen, streng verboten. Die Schockwirkung dieser Überfälle hatte sich bei den ersten Berichten durch den Weltraum verbreitet, und das Oberkommando hatte sofort Aufklärungs- und Spezialeinheiten ausgesandt, um nähere Kenntnisse über das Wesen dieser neuen Bedrohung zu erfahren. Einige davon waren zurückgekehrt.
Die Tslek bewohnten eine nicht näher bekannte Zahl von Planetensystemen in den Randbereichen der von Menschen erforschten galaktischen Region. Bis jetzt hatten die Menschen erst einen Planeten gefunden, der von »zivilen« Klecksen bewohnt wurde, oder zumindest einem einigermaßen nennenswerten Anteil an Zivilisten, weil es doch recht schwierig war, den Unterschied zwischen militärischen und zivilen Klecksen festzustellen. Der Kommandeur des menschlichen Einsatzkommandos hatte als Vergeltungsmaßnahme eine Anzahl kinetischer Schläge abgesetzt und sich dann zurückgezogen. Im Augenblick herrschte eine Situation, die man in der Geschichte als »Sitzkrieg« bezeichnet hatte, also einer kriegerischen Auseinandersetzung, bei der die beiden Krieg führenden Parteien sich nur abtasteten. Aber in einem unechten Krieg konnte man genauso sterben wie in einem echten. Die Front war undefiniert und in ständigem Wandel begriffen, aber doch sehr real.
Bis jetzt waren die Kleckse im Vorteil; die Grenzen in jener Richtung waren mit Millionen toter Kolonisten festgehämmert worden. Falls es dazu kam – oder genauer gesagt, wenn ein Vorstoß der Kleckse eine der dichter besiedelten Welten erreichte –, würden die Verluste an Zivilisten gewaltig sein: in der Größenordnung von Milliarden.
Es gab Hinweise, die auf den Erkenntnissen von Aufklärungsschiffen beruhten, wonach die Kleckse einen Angriff mit einer großen Flotte auf die Kernwelten planten. Die Menschen hatten sich mehr oder weniger damit abgefunden, die damit verbundenen Verluste hinzunehmen. Normalerweise ließ man eine Gruppe angreifen und schlug dann mit leichten Verbänden von hinten zu, um die Nachschublinien der Angreifer abzuschneiden. Die Frage war nur, wo der Angriff erfolgen würde. Die Erde und die Kernwelten würden sich damit vielleicht abfinden, aber die Republik Islendia legte keinen Wert darauf, das Einfallstor für den Feind zu bieten.
Die Kleckse hatten dem Anschein nach dieselben Bedürfnisse wie Menschen: Wasserstoff zum Auftanken ihrer Schiffe, Ersatzteile, Sauerstoff, Wasser und frische Lebensmittel. Sie benutzten auch dieselben Antriebssysteme wie Menschen, den Energie sparenden »Talantrieb«, bei dem sich die interstellaren Raumschiffe auf ihren Reisen von Sternsystem zu Sternsystem der als Transitlinien bezeichneten »Täler« zwischen den Sternen bedienten, sowie den »Tunnelantrieb«, den die Menschen und ihre Verbündeten ursprünglich bei den feindlichen Posleen kennen gelernt hatten, die sich unter gewaltigem Energieaufwand mit Überlichtgeschwindigkeit »Tunnels« durch jede Weltraumregion bohren konnten. Das machte es notwendig, von Zeit zu Zeit Wasserstoff für ihre Talantriebe und Antimaterie für ihre Tunnelaggregate zu »tanken« und bei der Gelegenheit auch andere Verbrauchsgüter aufzunehmen. Einen Teil davon konnten Versorgungsschiffe nachliefern, der Rest, besonders Treibstoff, wurde zweckmäßigerweise und unter wesentlich geringerem Kostenaufwand unterwegs aufgenommen. Es machte immer noch mehr Sinn, Schiffe mit Nahrungsmitteln zu versorgen als »selbst welche anzubauen«; Pflanzen beanspruchten Platz, den man besser für Munition und Antrieb einsetzte, und waren darüber hinaus auch bei weitem nicht so gut zur Luftreinigung geeignet wie »mechanische« Recyclingsysteme.
Aus all diesen Gründen würden die Kleckse einen vorgeschobenen Stützpunkt zwischen ihrer Heimatregion und ihrem Ziel benötigen. Dieser Stützpunkt würde bestimmte Erfordernisse erfüllen müssen: er benötigte mehr als eine brauchbare Transitlinie, einen dem Jupiter ähnlichen Planeten als Treibstoffquelle und aller Wahrscheinlichkeit nach einen terraähnlichen Planeten für den Ackerbau.
Nicht, dass die Kleckse unbedingt einen Planeten der Erdklasse brauchten, aber die Wahrscheinlichkeit war immerhin so groß, dass es sich lohnte, darauf zu wetten. Ein solcher Planet erlaubte nicht nur den Anbau und die Verarbeitung nahrungswichtiger Bodenfrüchte, ohne dass es dazu besonderer Kuppeln bedurfte, sondern ein solcher Planet ermöglichte es auch den Truppen, sich unter erträglichen Umweltbedingungen auszuruhen. Darüber hinaus stellte die Biosphäre eine bemerkenswert gute Tarnung gegenüber Ausspähversuchen aus dem Weltraum dar; sie lieferte Atmosphäre, um Partikel abzulenken, und andere Lebensformen, zwischen denen man sich verstecken konnte.
Dumm waren die Kleckse allem Anschein nach nicht; wie es schien, benutzten sie im Allgemeinen dieselben Logiksysteme wie Menschen. Das bedeutete, dass sie diese Bedürfnisse ebenso gut erkannten wie die Menschen und auch erraten konnten, dass die Menschen dies wissen würden. Demzufolge waren sie aller Wahrscheinlichkeit nach auf irgendwelche menschlichen Aufklärungseinsätze vorbereitet.
Also würden diese Einsätze äußerst unangenehm, brutal und von kurzer Dauer sein. Das war dem Team bewusst, und deshalb gaben sich seine Mitglieder alle Mühe, diese Erkenntnis durch Witzeleien zu verdrängen. Jeder Einsatz konnte ihr letzter sein, und die neuesten Erkenntnisse waren für ihr Überleben nicht gerade viel versprechend. In letzter Zeit waren einige Teams einfach verschwunden. Niemand wusste, wo sie geblieben waren oder was passiert war; Genaueres darüber zu erfahren war für ihren Einsatz nicht wichtig – sie erhielten einfach die knappe Mitteilung, dass Team Soundso »vermisst, vermutlich gefallen« war.
Während das Team noch über die vermissten Kameraden sprach, tauchte der Teamkommandant auf, eine durchaus vertraute Gestalt, da er ja täglich mit ihnen zusammenarbeitete. Das Reglement verzichtete ausdrücklich auf Ehrenbezeigungen, falls nicht ein Offizier zugegen war. Soweit es die Disziplin erforderte, hielten sie sich hinreichend genau an die Vorschriften, waren dafür aber locker genug, um echte Kameradschaft aufkommen zu lassen. Was das Team dennoch dazu veranlasste, Haltung anzunehmen und zu verstummen, war die fremdartige Kreatur, die den Raum in Begleitung des Captain betrat. Ein Anblick, wie er sich menschlichen Augen so gut wie nie bot: ein Darhel. In Uniform.
Die Gruppe sträubte instinktiv die Federn. Obwohl der erste Kontakt mit den Darhel jetzt beinahe tausend Jahre zurücklag, waren diese immer noch alles andere als populär. Früher einmal hatten sie über die Menschen geherrscht, als wären diese Sklaven. Und auch heute noch ging ihnen der Ruf voraus, alles andere als vertrauenswürdig und ehrlich zu sein. Die wenigen Menschen, die mit ihnen zu tun hatten, hatten die Erfahrung gemacht, dass sie einfach nicht zu packen waren, wie Sand, und dazu gemein und bösartig wie Klapperschlangen; es schien ihnen einfach den größten Spaß zu machen, nicht nur Geld zu verdienen, sondern die Leute dabei auch schamlos übers Ohr zu hauen. Kein Mitglied des Teams hatte bislang unmittelbar mit Darhel zu tun gehabt, aber die entsprechenden Geschichten kannten sie alle.
Als die Darhel die Menschen vor den Posleen gewarnt hatten – gefräßigen interstellaren Geschöpfen, die ganze Planeten leer fraßen so wie ein Heuschreckenschwarm, der über einem Kornfeld niedergeht –, hatten sie den Menschen ihre Technologie und ihre Waffen zur Verfügung gestellt und dafür die strategische Erfahrung der Menschheit eingetauscht. Freilich hatten sie jene Technologie so rationiert, dass es zwar gelungen war, den Vormarsch der Posleen zu stoppen, zugleich aber bei den unzureichend ausgerüsteten menschlichen Streitkräften entsetzliche Verluste aufgetreten waren. Die Darhel hatten stets darauf beharrt, dass dies unvermeidlich gewesen sei, einfach eine Folge logistischer Unzulänglichkeiten, aber niemand konnte übersehen, dass am Ende beinahe achtzig Prozent der menschlichen Rasse vernichtet war. Und die überlebenden zwanzig Prozent waren fast hundert Jahre lang als Söldner und Kanonenfutter eingesetzt worden, während diejenigen Menschen, die man »aus Sicherheitsgründen für die Dauer des Krieges evakuiert« hatte, am Ende als verstreute Flüchtlinge in fremden Gesellschaftsformen assimiliert worden waren und dabei die Beziehung zur eigenen Rasse fast völlig verloren hatten. Natürlich hatten die Darhel der Menschheit großzügigerweise dabei geholfen, die Erde wieder aufzubauen und neu zu besiedeln, zu einem »vernünftigem Preis« freilich, einem Preis, den die Darhel festgesetzt hatten. Die Erinnerung daran war nicht gerade dazu angetan, Vertrauen zu erwecken. Und eigentlich hatten sie ihre technischen Errungenschaften gar nicht mit den Menschen geteilt, denn der größte Teil dessen, was schließlich in menschlichen Besitz übergegangen war, war den wenigen intakt gebliebenen Überresten des Kriegs ganz einfach nachgebaut worden.
Am Ende hatte sich dieses Vorgehen freilich als schlimmer Fehler seitens der Darhel erwiesen. Sie hätten die Menschheit entweder sich selbst überlassen oder fair zu ihr sein müssen. Als sich herausstellte, dass sie keines von beidem getan hatten, war die Reaktion der Menschen … nun ja, eben menschlich gewesen. Einige Darhel hatten die sporadischen Vernichtungsprogramme überlebt, die die überlebenden Staaten praktiziert hatten. Einige …
Dieser Darhel hier war blass und hatte durchsichtige Haut und seine Pupillen waren wie die einer Katze. Die meisten Darhel hatten eine grüne oder purpurfarbene Iris, bei diesem hier war die Iris seiner Augen purpurfarben mit einem schmalen türkisfarbenen Rand. Sein Gesicht war ein typisches Darhelgesicht, schmal und irgendwie an einen Fuchs erinnernd; sein Haar ähnelte dem der Menschen, schwarz mit einem leichten Silberton und nicht etwa von metallischem Gold, wie man es seltener auch zu sehen bekam. »Gold« und »Silber« in Bezug auf Darhel-Haar bedeutete genau das, was diese Worte bezeichneten; das Haar war nicht blond. Darhel hatten spitze Ohren, die bei Belastung häufig zuckten, und Zähne wie Haie. Sie lächelten nicht sehr oft. Im Gesamteindruck erinnerten sie stark an die klassischen Elfen aus den Legenden der Menschheit. Dieser Darhel hatte seine Ohren unter Kontrolle und praktizierte ein Begrüßungslächeln, bei dem die Lippen geschlossen blieben. Dem Ausdruck seiner Augen nach konnte das Lächeln alles bedeuten … oder nichts.
Um alles noch schlimmer zu machen, trug der Alien die Rangstreifen eines Gunnery Sergeant. Die Frage war, ob er sich die Streifen auf politischem Wege oder auf die harte Tour verdient hatte. Beim Einsatz im Feld? Bei all der Verblüffung blieb beinahe unbemerkt, dass er über seiner linken Brusttasche auch das Abzeichen eines Sensat trug.
Nach Jahrtausenden der Bemühung fingen die Menschen endlich an, echte Fortschritte in außersinnlicher Wahrnehmung zu machen. Insbesondere das Militär hatte seit einiger Zeit damit angefangen, für eine Vielzahl von Zwecken Sensats einzusetzen. Sehr wenige konnten tatsächlich »Gedanken lesen«, aber viele waren fähig, selbst auf größere Distanz Emotionen zu fühlen. Und einige wenige waren imstande, auf vage Art die Zukunft vorauszuahnen.
Kein Wunder, dass man ihnen mit starken Vorurteilen begegnete. Obwohl nur wenige Sensats Gedanken fühlen, geschweige denn entziffern konnten, fürchtete sie doch jeder wegen der potenziellen Fähigkeit, in höchst private Tiefen seines Bewusstseins einzudringen. Jedes vernunftbegabte Wesen, das die Menschheit bis zur Stunde kennen gelernt hatte, hegte Gedanken, die es nicht ans Licht des Tages dringen lassen wollte. Deshalb waren die meisten nicht gerade erbaut davon, einen Sensat in unmittelbarer Umgebung zu wissen. Dabei konnten die meisten Sensats nur mit einiger Mühe Emotionen fühlen und darüber hinaus gelegentlich sehr starke und deutlich fokussierte Gedanken. Beispielsweise das letzte Bild eines Sterbenden. Dies alles machte die Leute nicht gerade glücklich.
Einige von ihnen fanden sich in den Fernaufklärungsteams. Gewöhnlich waren das Empathen, die beispielsweise einen Hinterhalt dadurch entdecken konnten, dass sie die »Auflauer«-Emotionen der Angreifer erspähten. Die Kleckse waren von den Sensats wahrnehmbar. Offenbar benutzten die Tslek außersinnliche Wahrnehmung als normales Kommunikationsmittel – das schloss man daraus, dass die Sensats einen Klecks auf mehrere Kilometer Distanz entdecken konnten.
»Hereinspaziert, Leute. Ich hoffe, es war eine gute Übung?«, begrüßte sie der Captain. Ein automatisches, wenn auch halbherziges Gemurmel war zu hören, während das Team ihn ignorierte und fortfuhr, den Darhel anzustarren.
Der Captain war auf eine derartige Reaktion vorbereitet und sagte, um keine Zeit zu vergeuden: »Ich möchte Ihnen Tirdal San Rintai vorstellen.« Der Darhel nickte bei der Vorstellung und wartete geduldig. »Tirdal ist ein beschränkter Empath, ein Klasse Zwei, und hat einen Qualifikationskurs für FAT-Sensat mit dem Nebenzweig Sanitäter abgeschlossen. Er wird Sie beim nächsten Einsatz begleiten.«
Kurzes Gemurmel und kaum hörbare Bemerkungen, bis Dagger schließlich sagte: »Nehmen Sie’s nicht übel, Sir, Tirdal«, dabei nickte er dem Darhel kaum wahrnehmbar zu, »aber wir sind jetzt schon lange Zeit ein Team und gut aufeinander eingestimmt. Wir brauchen zu Beginn eines Einsatzes keine Fremden, und das ohne Vorbereitung und Trainingszeit. Das führt eher zu Pannen, als dass es hilfreich wäre.«
Der Captain fixierte Dagger. »So, das denken Sie also, wie? Sie wissen also, um was es bei dem Einsatz geht, ja?« Ehe Dagger auch nur den Kopf schütteln konnte, fuhr er fort und setzte sich damit über alle weiteren Einwände hinweg, die vermutlich kommen würden. »Also, kommen wir zu den Fakten: Wir haben einen Einsatzbefehl für ein Stoßtruppunternehmen auf einen möglichen Klecks-Planeten zur Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse sowie möglicherweise von Artefakten und Gefangenen. Das einzige Team, das je von einem solchen Einsatz zurückgekehrt ist, hatte einen Sensat mit. Also nehmen wir auch einen Sensat mit. Punktum. Tirdal ist verfügbar, ist ausgebildet und hat Sensat-Qualifikation der Ebene Vier. Er geht mit. Sind Sie damit einverstanden, Sergeant?« Er starrte dabei Dagger unverwandt an, und sein Blick ließ keinen Zweifel daran, dass ihm Daggers Einwände bei jedem neuen Einsatz allmählich auf die Nerven gingen. Der Mann konnte schießen wie kein anderer und vermutlich einen Leoparden beschleichen, aber seine Einstellung zu Vorgesetzten ließ so manches zu wünschen übrig.
Dagger starrte den Captain ebenso unverwandt an und sagte dann mit fester Stimme: »Verstanden, Sir. Tirdal, willkommen im Team.«
Jetzt kam endlich Bewegung in Tirdal, und er trat vor und streckte die Hand aus. »Ich grüße Sie, Dagger. Ich bin sicher, wir können zusammenarbeiten.« Seine Stimme klang sonor und tief, und seine Hand packte fest zu, als Dagger sie nahm. Und dann drückte er fester zu, ein Griff, als müsste er Knochen zerquetschen, begleitet von einem violett-gelben Leuchten in seinen Augen, von dem Dagger den Eindruck hatte, als würde es sich in sein Gehirn bohren.
Dagger drückte ebenfalls mit aller Kraft zu. Er war nicht nur ein Scharfschütze mit den Meisterschaftsmedaillen mehrerer Planeten, sondern auch einer der Stärksten in einem Team sehr starker Männer. Aber dem Griff des Darhel war er nicht gewachsen. Sekunden später spürte er, wie der Darhel anfing zu drücken, es fühlte sich an, als wäre seine Hand in eine mechanische Presse geraten. Nach kurzem Kampf ließ sein Gesicht das Aufflackern von Schmerz erkennen, und der Darhel, wieder mit einem angedeuteten Lächeln, reduzierte den Druck.
Dagger ließ sich seine Überraschung äußerlich nicht anmerken, murmelte nur »Yeah, kein Problem« und gab sich alle Mühe, die Hand nicht in Reaktion auf den Schmerz zu schütteln, noch ganz im Bann der beunruhigenden Präsenz und der Kraft Tirdals.
»Ich freue mich darauf, mit euch zusammenzuarbeiten«, sagte Tirdal und nickte, ohne dass seine Augen mit ihren senkrechten Pupillen das Gesicht des Scharfschützen losließen.
Die anderen schüttelten ihm nun ebenfalls die Hand und stellten sich vor. Tirdal nickte jedem von ihnen nacheinander zu, sagte aber sonst kaum etwas.
Die Einsatzbesprechung lieferte keine weltbewegenden Überraschungen. Es gab ein ziemlich unscharfes Video von einer Sonde mit wissenschaftlichen Daten über Geologie, Meteorologie, Botanik und Zoologie. Die Bilder waren verschwommen, weil die Sonde nicht viel größer als ein Basketball gewirkt hatte; sie war mit der Geschwindigkeit eines Meteors vorbeigezischt und hatte anschließend die Daten abgeladen. Etwas Größeres, Auffälligeres hätte verraten, dass jemand sich für das System interessierte.
Eine Liste des für den Einsatz benötigten Geräts wurde aufgestellt, einiges davon zwingend erforderlich, anderes wahlfrei. Dann noch eine Liste mit verbotenen Gegenständen. Auch dabei gab es keine Überraschungen: nichts, woraus man die Koordinaten eines bewohnten Planeten entnehmen konnte, kein technisches Gerät ohne Selbstzerstörungsmechanismus und keine persönlichen Gegenstände mit Hinweisen auf Kultur oder Sprache und dergleichen. Die Situation war für das Team einigermaßen langweilig, eben Routine. Feindliche Verbände: unbekannt. Freundliche Verbände: keine. Schweres Gerät in Warteposition: nichts. Sie wurden sofort benötigt und hatten nur ein Minimum an Zeit für die Vorbereitung. Zeit für ordentliche Einsatzübungen gab es nie, aber immer genug Zeit, um ein oder zwei Teams über die Klinge springen zu lassen. Sie würden mindestens zwei Tage Zeit bekommen, um sich an ihr neues Mitglied zu gewöhnen. Auf seine Art war das Militär großzügig. Tag eins war heute: großes Palaver. Tag zwei würde eine Feldübung sein.
»Der Planet ist ganz erdähnlich«, erklärte der Teamkommandant, der den Spitznamen Bell Toll trug. »Das Klima ist gemäßigt. Ich will ja nicht überoptimistisch klingen, aber im Vergleich zu unseren üblichen Einsätzen sieht es wirklich nach einem Spaziergang im Park aus.«
»Wie werden wir abgesetzt?«, fragte Gun Doll.
Einer von den Weicheiern vom Nachrichtendienst gab darauf Antwort. »Ein Tarnkappenforschungsschiff hat einen offenen Tunnel zu dem System gefunden. Das schien höchst unwahrscheinlich, aber er war da. Sie haben festgestellt, dass das System mehrere dem Jupiter ähnliche sowie diesen einen Qualitätsplaneten enthält. Sie haben Sensor-Bots abgesetzt, um die übliche Überprüfung durchzuführen und dabei schwache Energieemissionen sowie Hyperspuren entdeckt. Die Bots haben eine Überprüfung der Biosphäre vorgenommen und die Emissionen lokalisiert.«
»Unsere Aufgabe besteht darin, uns dort abzusetzen«, fuhr Bell Toll fort, »uns in das Zielgebiet zu begeben und festzustellen, hoffentlich ohne dabei entdeckt zu werden, ob es im Zielgebiet eine Basis der Kleckse gibt oder nicht. Etwas gibt es dort, das könnten Kleckse sein, ebenso gut aber auch freie menschliche Kolonisten oder Piraten. Oder sogar eine andere unbekannte Rasse. Das müssen wir herausfinden. Und dazu werden wir unseren Sensat brauchen.«
»Tirdal, bitte aufpassen«, sagte er, worauf Tirdal aufrechte Haltung annahm. »Tirdal ist schon eine ganze Weile als Nachrichtenanalyst und Verhörspezialist im Dienst. Den FAT-Kurs hat er erst kürzlich absolviert, aber in Anbetracht seiner langen Erfahrung wird er nach mir und Shiva der Dritte in der Kommandokette sein. Rühren, Tirdal.«
»Klasse Zwei, für diejenigen von euch, die sämtliche Ausbildungsvorträge verschlafen haben, bedeutet, dass er Emotionen und Denkprozesse entdecken, aber nicht verlässlich exakte Gedankensymbole aufnehmen kann. Niveau Vier bedeutet, dass er innerhalb eines variablen, aber undefinierten Bereichs wahrnehmen kann, der größer als Niveau Drei ist. Tirdal wird eines unserer Frühwarnsysteme sein und verhindern, dass wir mitten in ein Rudel Kleckse hineinmarschieren. Außerdem müssen wir, wenn er irgendwelche Spuren aus der Ferne aufnehmen kann, möglicherweise vielleicht nicht ganz so weit hineingehen. Ich bin sicher, dass Sie alle zu schätzen wissen, welche Vorteile uns das bringt.« Das taten sie. So todesmutig sich auch alle gaben – alles, was das Einsatzrisiko verringerte, war doch höchst erwünscht. Jeder von ihnen sah sich erneut den Darhel an, der in seiner nagelneuen Uniform so kühl wie ein Oort-Planet aussah. Meist waren es neugierige Blicke, einige waren auch recht kühl. Aber das schien Tirdal nichts auszumachen.
»So, gibt es noch irgendwelche Fragen, die ich nicht angesprochen habe oder die Sie in Ihren Unterlagen vermissen?« Die gab es nicht. Alle Fragen, die das Team stellen wollte, gehörten der inoffiziellen Verbotsliste an. »Warum machen wir diesen Scheiß?« »Rechnet man tatsächlich damit, dass wir den Einsatz überleben?« »Ist jetzt ein guter Zeitpunkt, um um Versetzung zu bitten?« Alles Fragen, die den meisten von ihnen jetzt durch den Kopf gingen, zumindest seit dem zweiten Einsatz, aber die nie ausgesprochen werden konnten. Sie waren FAT und waren nicht so weit gekommen, indem sie kniffen.
»Dann sollten Sie am besten erledigen, was noch zu erledigen ist, und sich um Ihr Gerät kümmern. Start morgen früh um Null Sieben Hundert. Erster Einsatzbefehl am Donnerstag um Null Neun Hundert. Wir werden vermutlich irgendwann zwischen Siebzehn Hundert und Neunzehn Hundert abheben. Das wäre dann alles. Tirdal, kommen Sie mit«, schloss er und wies mit dem Finger auf ihn. Er durfte den Darhel jetzt unter gar keinen Umständen alleine lassen. Das Team war immer noch dabei, sich vom letzten Übungseinsatz zu erholen, und durfte daher nicht der Belastung eines neuen Mitglieds ausgesetzt werden, das zugleich ein Sensat und ein Alien war. Er konnte ihr Gemecker bereits hören.
Trotz seiner kürzeren Beine schritt der Darhel ohne Mühe neben dem Captain durch den Duraplast-Flur und spürte die widerstrebenden Gedanken des Menschen. Unter dem emotionalen Tumult spürte er Ordnung und Selbstsicherheit. Sensats mussten – noch mehr als das bei regulären Soldaten der Fall war – wissen, dass ihre Vorgesetzten bereit waren, sich jedem Thema zu stellen, das der Einsatz mit sich brachte. Tirdal spürte die Frage, die sich aufbaute, noch ehe Bell Toll den Mund aufmachte. »Also, was meinen Sie, Tirdal?«
»Was die Situation angeht, Captain? Oder das Team? Oder die Vorbereitungen?«
»Im Augenblick interessiert mich das Team.«
»Ich glaube nicht, dass die mich sonderlich mögen«, sagte Tirdal langsam. Er sagte alles, was er sagte, langsam. Aber er war nicht etwa wortkarg oder bemüht, seine Stimme tief und ausdruckslos klingen zu lassen, Darhel sprachen eben so. Der einzige Ausdruck, den er sich gestattete, war ein kurzes Schnippen seines rechten Ohrs.
Die Bilder zu beiden Seiten des Flurs waren förmlicher, Strichzeichnungen und Holos von Schlachten und Örtlichkeiten. Bell Toll machte den Eindruck, als würde er die Bilder studieren, aber zweifellos hatte er sie schon Tausende Male gesehen.
»Mag sein, dass die Sie nicht mögen«, sagte der Captain und runzelte dabei die Stirn. »Noch nicht. Aber kleine Teams brauchen Vertrauen und Teamwork. Da Sie neu sind und nicht gemeinsam mit dem Team an Übungen teilgenommen haben, oder übrigens auch an Einsätzen, wird man Ihnen natürlich zunächst distanziert begegnen. Das ist eben so, wenn man neu in ein Team kommt. Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Tun Sie Ihren Job, dann werden alle vergessen, dass …«
»Dass ich ein charakterloser Darhel bin?«, fiel Tirdal ihm mit einem leichten Ohrenzucken ins Wort.
»Wenn Sie den Standpunkt einnehmen, werden Sie es tatsächlich schwer haben«, sagte der Captain, blieb stehen und fixierte den Darhel. »Und Diskriminierung lasse ich nicht zu.«
»Yes, Sir«, stimmte Tirdal zu und spürte die kraftvolle Ehrlichkeit in den Worten des Offiziers. Ein Wunder – der Teamkommandant akzeptierte ihn offenbar vorurteilslos: einfach als einen »Neuen« im Team, nicht als einen Darhel und nicht als einen bösen Dämon. Trotzdem hielt der Captain ihn im Augenblick vom Team getrennt. Teilweise war Tirdal das durchaus recht, weil in ihren Gedanken weniger Spannung herrschte, wenn er nicht bei ihnen war, aber für ein gutes Zeichen hielt er es nicht. Sie würden lernen müssen, sich in seiner Gegenwart nicht unbehaglich zu fühlen, sonst würden sie nicht als Team funktionieren.
»Aber Sie müssen respektieren, dass das Team eine Einheit bildet, und müssen daran arbeiten, sich das Vertrauen Ihrer Kameraden zu erwerben«, sagte Bell Toll, als ob er der Sensat wäre. »Wenn Sie versuchen, sich mit den erfahrenen Mitgliedern anzulegen, werden die es Ihnen schwer machen, glauben Sie mir das. Sie sind der Neue im Team, lernen Sie, wie man die Karten ausspielt.«
»Yes, Sir, darauf bin ich vorbereitet.«
»Gut. Die – wir – werden Ihnen den Respekt entgegenbringen, der Ihrem Rang zukommt. Aber bei Ihnen liegt es, uns allen zu beweisen, dass Sie würdig sind, hier zu sein, nicht etwa bei uns.«
»Yes, Sir«, sagte Tirdal, als sie vor dem Büro des Captains angelangt waren.
»Sie werden sicherlich auch ein paar Vorbereitungen treffen müssen«, sagte Bell Toll, blieb vor seiner Tür stehen und drehte sich um. »Einsatzbefehl für die Übung ist um Null Neun Hundert. Im selben Besprechungsraum.«
Tirdal zuckte erneut mit dem Ohr und ging dann weg, als Bell Toll die Tür hinter sich schloss.
Der Sergeant, der das Team leitete, war inzwischen in den Besprechungsraum zurückgekehrt. Er war früher gekommen als die anderen und auch früher wieder weggegangen, um sich um ein paar Details zu kümmern, und bis jetzt hatte keiner Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen. Shiva, wie man ihn nannte, traf mitten in einer hitzigen Diskussion über den Darhel ein. Die war ziemlich heftig, und er hatte sich noch nicht ganz hingesetzt, als Thor ihn auch schon ansprach.
»Die haben uns einen gottverdammten Darhel-Sensat reingesetzt, Sarge«, beklagte er sich, ohne Shiva auch nur grüßend zuzunicken.
»Weiß ich, ich war doch dabei«, sagte Shiva. Er war ruhig. Shiva war immer ruhig. In Anbetracht ihrer Einsätze und seiner Leute war das eine gute Eigenschaft, und er hatte es ihr zuzuschreiben, dass er es so lange und bis zu seiner Rangstufe geschafft hatte.
»Gut. Und was wirst du unternehmen?«, fragte Thor.
»Nichts«, erwiderte Shiva. »Ich wüsste nicht, was ich tun könnte, und er ist der einzige Sensat, den wir haben. Tut mir Leid, Thor, du wirst dich wohl an ihn gewöhnen müssen.«
»Ich schätze, die haben dem Knirps den Quali-Kurs erlassen«, warf Gorilla ein. »Sensats machen sie’s immer ein wenig leichter.« Seine Stimme war tief; sie klang wie ein Reibeisen und passte gut zu seiner hünenhaften Gestalt.
»Ja, meinst du?«, fragte Shiva und drehte sich zu ihm herum.
»Mhm, oder täusche ich mich?«
»Na ja«, meinte Shiva gedehnt, und dabei zog ein amüsiertes Lächeln über sein Gesicht, während er sich auf dem Stuhl zurechtsetzte. »So wie es aussieht, hat er ein Spitzenergebnis hingelegt. Nicht ›ausnehmend gut‹, sondern ›Spitze‹. Ich habe Roy angerufen, und er sagte mir, die Ausbilder waren echt beeindruckt. Dabei hat keiner von denen etwas für Darhel übrig. Also nichts von wegen Begünstigung.«
»Das ist wahrscheinlich genauso, wie die es mit uns Mädels machen«, meinte Gun Doll. »Von uns sind immer noch so wenige hier, dass wir auffallen. Jeder nimmt an, dass Frauen, Krabben, Aliens und Zivilspezialisten eine Sonderbehandlung kriegen.« Sie sah zu Dagger hinüber, der ihr gnadenlos zugesetzt hatte, als sie zu dem Team gestoßen war, ehe er schließlich widerstrebend hatte zugeben müssen, dass sie sich auf ihr Handwerk verstand. »Stimmt’s, Dagger?«
Dagger legte ein Werkzeug aus seinem Putzzeug beiseite. Er fummelte ständig an seiner Waffe herum und hatte deshalb Spezialwerkzeug mit. Wahrscheinlich war er gar nicht befugt, Änderungen an der Waffe vorzunehmen, aber er schoss so gut, dass keiner sich traute, etwas dagegen zu sagen. Er legte eine Sonde auf den Tisch und zuckte andeutungsweise die Achseln.
»Ich werde so mit ihm umgehen wie mit allen anderen. Wenn er seinen Job gut macht, habe ich kein Problem. Wenn Shiva sagt, dass er den Kurs spitzenmäßig geschafft hat, dann gehe ich davon aus, dass er mithalten, das Maul halten und uns unterstützen kann.« Er klappte den Empfänger seines Gauss-Karabiners zu, schaltete den Mechanismus ein, drückte auf den Knopf und lauschte auf das Knacken des Zündschalters. »Wenn er Mist baut, bedeutet das zusätzliche Arbeit für mich. Und dann haben wir ein Problem.«
Gun Doll, Gorilla und Shiva starrten einander an, keiner sah Dagger an. Dagger achtete gar nicht auf sie. Zumindest äußerlich nicht. Das war vermutlich Teil seiner Nummer. Er liebte es, den eiskalten Killer zu spielen. Das empfanden alle als lästig, aber so war Dagger eben.
»Verdammt noch mal, warum musste es ausgerechnet ein Darhel sein? Warum nicht ein menschlicher Sensat?«, murrte Thor.
»Weil wir nicht genug haben«, erwiderte Shiva. Menschliche Sensats waren nicht nur selten, sondern man brauchte sie auch, um GalTech-Gerät herzustellen. Bis jetzt war man nicht dahintergekommen, wie man Gerät dieses hohen Niveaus auf andere Weise herstellen konnte, als es die Indowy taten – mit ›Beten‹. Tatsächlich handelte es sich dabei um ein kompliziertes Ritual aus Meditation und Gedanken, aber es war jedenfalls äußerst intensiv und kompliziert, und diejenigen, die das konnten, standen gewöhnlich nicht zur Verfügung und waren auch nicht gerade davon erbaut, riesige Rucksäcke durch gefährliches Feindgebiet zu schleppen. Das Michia-Mentat, die größte Schule der Sensorischen Künste, war nicht sonderlich kommunikativ, und seit die Republik Islendia sich vor ein paar hundert Jahren von der Solarian Systems Alliance abgespalten hatte, hatte sich das eher noch stärker ausgeprägt. Das hatte eher eine Art »diplomatischer Vermittlungsdienst« zwischen dem Rand und der SSA gespielt, und ein Teil des Vertrags war mit der ausdrücklichen Zielsetzung geschrieben worden, es aus militärischen Belangen herauszuhalten. Das Michia-Mentat hatte die Rebellion ausgesessen und sich ganz nach innen konzentriert, aber es war ein offenes Geheimnis, dass es der Erde und ihren Verbündeten ziemlich schlecht ergangen wäre, wenn das Mentat sich eingeschaltet hätte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du einen Sensat-Test machst, Thor.«
»Könnte schlimmer sein. Schließlich hätten die uns auch einen Indowy-Sensat schicken können, und den hätten wir dann mitschleppen müssen«, meinte Gun Doll.
»Irgendwie kommen wir schon klar«, sagte Dagger und ließ erneut den Zündmechanismus knacken. Das konnte diesmal kein Zufall sein. Alle starrten ihn an.
»Dann wäre ja alles klar«, meinte Shiva, um dem Ganzen ein Ende zu setzen. »Wenn ihr vorhaben solltet, heute Abend noch einen zu trinken oder irgendwie rumzubumsen, solltet ihr euch jetzt um euren Kram kümmern. Wenn ihr mir nicht mit Ausreden kommt, brauche ich nichts zu erklären, und wir sind alle glücklich und zufrieden. Wir starten unmittelbar nach der zweitägigen Übung. Macht also ran.«
Nach Siebzehn Hundert waren alle Vorbereitungen erledigt. Shiva war immer noch mit Verwaltungskram beschäftigt, der ja nie zu Ende ging – die Soldaten mussten schließlich registriert werden: Einsatzdauer, ärztliche Termine und all die anderen Kleinigkeiten des Militärlebens. Bell Toll versuchte zusätzliche Informationen aufzuspüren, ein paar Fakten, die seinen Leuten bei diesem Einsatz Vorteile verschaffen konnten, und formulierte Befehle und bestätigte Einsatzbesprechungen. Diese Mission würde ihre Ausbildungspläne für die Bereitschaftstests völlig über den Haufen werfen, die aber, da dies immer noch kein »erklärter Krieg« war, eingehalten werden mussten. So war das eben beim Militär; zuerst sagten die einem, dass man den Kopf rausstrecken sollte, und anschließend jagten sie einen durch die Scheiße.
Thor ernannte sich selbst zum Streifenführer für ihren Zug durch die Bars und machte dann den anderen Dampf. Als Ersten spürte er Dagger in seiner Kammer auf, aber der wehrte ab. »Danke, aber wenn ich schießen muss, möchte ich so nüchtern wie möglich sein.« Sein Gesichtsausdruck war dabei nicht gerade herablassend, aber Dagger war in der Beziehung schon ein verklemmter Einzelgänger. Vor einem Einsatz wurde er beinahe zum Mönch, und nachher waren Partys auch nicht gerade sein Ding, es hieß freilich, dass er schon ein- oder zweimal drei Biere zu sich genommen hätte. Einmal hatte er sich sogar ein Glas teuren Erd-Whisky geleistet. Dagger war nicht geizig, er war elitär.
Als Nächster war Tirdal an der Reihe, und der wirkte ein wenig durcheinander. Die Beleuchtung in seinem Raum war düster. Sein Schreibtisch war leer, wenn man von einem kleinen kerzenähnlichen Gegenstand, einem Buch und ein paar anderen Kleinigkeiten absah, die Thor von der Tür aus nicht identifizieren konnte. Anscheinend handelte es sich um irgendwelche persönlichen, vielleicht sogar religiösen Gegenstände, und Thor gab sich Mühe, nicht neugierig zu wirken. Das war nicht etwa Höflichkeit, es war ihm eher peinlich. Auf seine Frage, ob er sich ihnen anschließen wolle, antwortete Tirdal: »Sie möchten, dass wir in der Öffentlichkeit als Gruppe erscheinen, dann versucht jeder für sich, Unterhaltung zu finden, und anschließend zurückkehren, um wenig Schlaf zu finden?«
»So könnte man es ausdrücken«, nickte Thor. »Das soll angeblich Spaß machen und einen auflockern.«
Wie es aussah, überlegte Tirdal einen Augenblick lang und erwiderte dann: »Meine Anwesenheit würde für die anderen störend wirken, und ich denke, das wäre für Sie nicht hilfreich. Für mich allein gäbe es nichts zu tun, und wenn ich in der Öffentlichkeit allein bliebe, könnte es Probleme geben. Was das ›Auflockern‹ angeht, so werde ich ganz sicherlich meditieren und mir die jüngsten Ereignisse durch den Kopf gehen lassen. Ich muss auch über zwischenmenschliche Dinge und technische Angelegenheiten nachdenken und sie studieren. Also komme ich wohl besser nicht mit. Aber ich danke Ihnen für die Einladung. Vielleicht wäre dafür ein günstigerer Zeitpunkt, wenn das alles vorbei ist.«
»Na ja«, sagte Thor. »Wenn Sie zwischenmenschliches Verhalten beobachten wollen, wäre das ein guter Zeitpunkt.«
»Das ist mir bewusst, und der Gedanke ist verlockend«, erwiderte Tirdal. »Aber andere Erwägungen haben Vorrang. Ich hoffe, dass Sie sich trotzdem alle bei Ihrem ›Zug durch die Kneipen‹ gut amüsieren.«
»Vielen Dank, dann«, meinte Thor ein wenig verlegen. »Ich hoffe, Ihre Meditation verläuft gut.« Das schien ihm eine passende, höfliche Antwort.
Er klopfte an Ferrets Tür und fand den Specialist mit hinter dem Kopf verschränkten Händen auf seiner Pritsche liegen.
»Zeit, durch die Kneipen zu ziehen«, rief Thor.
»Bin dabei«, sagte Ferret, wälzte sich von der Pritsche und schlüpfte in seine Schiffsstiefel.
»Freut mich zu hören.« Thor war erleichtert. Es gab nichts Einsameres, als allein durch die Kneipen ziehen zu müssen. »Der Sarge schafft es nicht, und den Captain wollen wir nicht dabei haben, Dagger ist wieder ganz der alte Dagger, und Tirdal scheint nicht recht zu begreifen, was das soll.«
»Ist ja vielleicht gar nicht schlecht«, hatte Ferret dazu gemeint. »Die beiden würden ja bloß den Tussis Angst machen, und ’ne Prügelei brauchen wir heute Abend ja auch nicht.«
So kam es, dass Gorilla, Ferret, Thor und Gun Doll Ablenkung suchen gingen, ehe sie hinauszogen, um zwei Monate irgendwo im Weltraum im Schlamm zu verbringen. Sie trafen sich unmittelbar vor dem Tor des Stützpunkts, wo alles geboten wurde, wonach sich ein heimwehkranker junger Soldat sehnen konnte.
Da war ein Laden von »Feelings Inc.«, einer Firma, die in der Nähe eines jeden Stützpunkts auf drei Planeten Platz gemietet hatte, um den Soldaten billigen Tand als »wertvollen Schmuck« für ihre Lieben zu Hause zu verkaufen, wo auch immer dieses »Zuhause« liegen mochte. Die Preise waren nicht eben billig.
Das Klirren und Klingeln einer Videoarkade war zu hören, und durch die Tür konnte man Lichter blitzen sehen. Jede Maschine in der Bude war auf maximalen Schwierigkeitsgrad geschaltet. Man konnte das Gerät um einen saftigen Preis mieten, wobei die Betreiber keine Angst um ihr Geld zu haben brauchten, weil man die ID-Nummern der Soldaten dem Stützpunkt durchgeben konnte, falls die Zahlung zu lange auf sich warten ließ. In dem Fall wurde besagten Soldaten die Gebühr dann vom Sold abgezogen, und ihre Offiziere brachten sie wegen unverantwortlichen Verhaltens und Schädigung des Ansehens der Truppe zur Meldung. Den Pächter interessierte allerdings nur Ersteres.
Eine Ladenfassade, die einmal einen Elektronikanbieter beherbergt hatte, war umgebaut worden, die Leuchtschrift verkündete jetzt »Bambi’s Reizwäsche«. Früher hatte darunter gestanden »Privatvorführung möglich«, bis irgendein Schlaumeier ein Plakat darunter gehängt hatte, auf dem stand »Titten und Blowjobs«, was vermutlich den Tatsachen entsprach: Schließlich hatte die Polizei Bambi’s einige Wochen zuvor geschlossen, weil der Bürgermeister sich Sorgen um die Moral seiner Ortschaft gemacht hatte. Auf einem Planeten wie Islendia wirkte so viel Rücksicht auf alte solarianische »Moral« freilich ein wenig deplatziert und rückständig.
Für den Rest der diversen kleinen Etablissements, die sich alle darum bemühten, Soldaten und Raumfahrer von allem Geld zu befreien, das sie womöglich belasten könnte, traf diese Sorge um die Moral nicht zu. Alle liebten das Militär, solange das Militär nur genügend Geld ausgab. Anschließend hatte man nichts dagegen, wenn sie sich verpissten oder jedenfalls auf den Stützpunkt zurückkehrten und aufhörten zu jammern oder allenfalls eine Gratisnacht im Gefängnis der Stadt verbrachten. Soldaten reinzulegen störte die Moralbegriffe der Stadtväter nicht, solange es dabei nur um Zeit und Geld und nicht um Sex ging. Es sei denn, dass Sex nach einer ausgiebigen Zecherei im »Short Time Saloon« geboten wurde, der einzig echten Bar weit und breit.
Da die vier vom FAT keine heimwehkranken jungen Soldaten waren und darüber hinaus wesentlich abgebrühter und erfahrener, als man bei ihrem reifen Alter von reichlich zwanzig erwarten durfte, zogen sie ohne Interesse an den Soldatenkneipen vorbei.
»Tanzen«, erklärte Gun Doll hartnäckig. Der Grundton ihres Make-ups war Neonblau, und das schloss ihr kurz gestutztes Haar ein. Sie trug ein langes kaftanähnliches Gewand, das ihre Schultern und Hüften kaschieren sollte. Nicht, dass sie unattraktiv gewesen wäre, aber ihre Proportionen waren in Anbetracht ihrer Größe und ihres massiven Skeletts ungewöhnlich. Männern machte das Angst, und die Angst wuchs noch, wenn sie herausbekamen, dass Gun Doll eine FAT war. Das bedrückte die Soldatin, und deshalb versuchte sie, es herunterzuspielen. Andere Dinge betonte sie freilich – der Kaftan war bis zum Nabel geschlitzt.
»Trinken«, sagte Gorilla. Das war ein ständiger Streit zwischen den beiden. Er trug Jacke und Krawatte über seinen Shorts und versuchte trotz seiner stattlichen Größe locker zu wirken. Gorilla trug nie Make-up, weil er fand, dass es in seinem von Falten und Narben durchzogenen Gesicht dumm aussah.
»Trinken und tanzen und ’ne Menge Tussis«, sagte Thor. Thors modische Vorliebe war ungewöhnlich; er trug eine Synthetik-Lederjacke, die seit mindestens zehn Jahren aus der Mode war, und dazu gestreifte, eng anliegende Leggins. Das brachte seine Muskelpakete an den Schenkeln und seine breiten Schultern besonders gut zur Geltung. Hoffte er.
»Trinken und tanzen und keine Tussis«, sagte Gun Doll.
»Ohne mich«, grinste Thor.
Ferret, der Jeans und ein bauchfreies T-Shirt trug, damit man seinen Waschbrettbauch bewundern konnte, dazu wenig Make-up und locker wie immer, fragte: »Dort, wo wir letztes Mal waren, oder was Neues?«
»Wer hat letztes Mal gebumst?«, fragte Gorilla.
»Ich«, erklärte Gun Doll, »aber ich musste mich aufführen wie eine Nutte, damit’s dazu kam. Wie wär’s mit einer nicht ganz so schmierigen Bude?«
»Genau«, nickte Thor, »’ne Kneipe, wo man uns als eiskalte, berechnende Killer und menschliche Sexmaschinen respektiert, die wir ja sind.«
»Also, dann möchte Thor ins Fantasyland.« Ferret grinste und stieß ihn mit dem Ellbogen an.
»Ja, meinetwegen, da ist ein Bus«, sagte Thor und wies darauf. »Schwitzen können wir ja dann, wenn wir die Tussis gefunden haben.«
Sie stiegen gerade noch rechtzeitig ein, um sich am Türgriff festzuklammern, als der Bus auf Flughöhe zehn Meter ging. Der Fahrer warf ihnen einen finsteren Blick zu, weil sie sich nicht an die Vorschriften hielten und es ihm an den Kragen gehen würde, wenn ihnen etwas passierte. Ihrer Kleidung nach stand für ihn außer Zweifel, dass sie zum Militär gehörten. Und die Wurstigkeit, mit der sie in zehn Meter Höhe an der Haltestange hingen, verriet ihm, dass es sich um irgendwelche Kommandos handeln musste, falls er das nicht schon an ihrem kurz gestutzten Haar, den dicken Hälsen und den breiten Schultern gemerkt hätte. Schon starrten die ersten Insassen im Bus sie an, aber das war ihnen gerade recht.
Die finsteren oder amüsierten Blicke waren ihnen gleichgültig. Sie interessierte nur die Aufmerksamkeit anderer junger Leute, vorzugsweise solcher, die attraktiv waren, obwohl »attraktiv« ein recht schwammiger Ausdruck war, wenn Alkohol oder andere Betäubungsmittel, die sie ja suchten, mit im Spiel waren. Und zu erzählen würde es nachher ohnehin eine Menge geben.
Da ihr Beruf strengste Geheimhaltung und Unauffälligkeit verlangte, waren sie bemüht, außer Dienst dafür einen Ausgleich zu schaffen. Sie waren laut und schrill, und wenn sie auch keine Einzelheiten ausplauderten, gab es doch auf dem Stützpunkt genügend Kommandos aller Art, um niemanden im Zweifel darüber zu lassen, dass sie dieser Spezies angehörten. Das und die ungewöhnlich schweren Waffen, die sie an der Hüfte trugen.
Waffen zu besitzen allein verschaffte keine besondere Aufmerksamkeit, wohl aber Geschick im Umgang mit ihnen. Wenn jederzeit ein wilder Posleen die Straße heruntergetrottet kommen konnte und plötzlich angriff, falls ihn der Drang und sein gefräßiger Appetit überkamen, war die Anwesenheit berufsmäßiger Killer durchaus willkommen. Deshalb waren die Soldaten populär, auch wenn sie sich sonst recht arrogant gaben. Keiner der Passagiere beklagte sich über den Lärm, und ein paar suchten ihre Nähe. Islendia mochte modern und zivilisiert sein, aber zugleich war Islendia auch neu und wild. Man hatte es den Posleen um einen hohen Preis abgerungen, und viele über die ganze Landschaft verteilte abgestürzte Landefahrzeuge und Krater deuteten auf den großzügigen Einsatz von Antimateriewaffen, als die menschliche Siedlung schließlich Verstärkung bekommen hatte.
Die Posleen waren fruchtbar; sie legten in kurzen Perioden Eier und waren deshalb zwar besiegt, aber nicht ausgelöscht worden. Sie kamen in zwei Klassen. Die »Normalen« waren nur bedingt vernunftbegabt, gerade schlau genug, um einen Stein zu werfen oder, falls sie darüber verfügten, eine Waffe auf einen zu richten und abzudrücken. »Gottkönige« waren größer, vernunftbegabt und Angst einflößend. Jeder Gottkönig konnte bis zu fünfzig oder sechzig Normale kontrollieren und sie mithilfe einer Hand voll überlegener Normale wie Gliederpuppen herumlaufen lassen. Posleen waren parthenogenetische Fleischfresser, die wie eine Kreuzung zwischen Zentauren, Krokodilen und Ponys aussahen. Herausragendes Merkmal war ihr unersättlicher Appetit. Ihre Feinde und ihre Beute wurden in kürzester Zeit in essbare Happen verwandelt.
Als sie, ausgestattet mit Interstellarantrieb und leistungsfähigen Waffen, in dem Sektor eingetroffen waren, hatten sie sich gleich daran gemacht, jeden erreichbaren Planeten zu entvölkern – so wie Heuschrecken, die über ein Weizenfeld hereinbrechen. Dann waren sie auf die Menschheit gestoßen. Der größte Teil der menschlichen Rasse hatte nicht überlebt, andererseits galt das Gleiche auch für den größten Teil der Posleen-Vorhut. Und wie es in dem alten Spruch von »der unaufhaltsamen Kraft, die auf ein unbewegliches Objekt stößt«, heißt, hatte es eine ganze Menge Nebenwirkungen gegeben. Eine davon waren »gezähmte« Darhel, eine andere waren die Tular-Posleen.
Die Tular-Posleen waren eine vertrauenswürdige, sesshafte Rasse, deren Angehörige nur selten vernunftbegabte Geschöpfe aßen und auch dann nur andere Posleen, und die auf ihren eigenem Planeten blieben. Die Wilden, die auf hundert Planeten zurückgeblieben waren, waren nichts anderes als wilde Tiere, die es auszulöschen galt. Und jeder auf einem solchen Planeten, der nicht selbst eine Waffe trug, hielt sich möglichst dicht an diejenigen, die das taten.
Das war ein Teil des Motivs gewesen, das Islendia und die etwa dreißig Planeten seiner Republik und eine ähnliche Zahl von Kolonien in die Rebellion getrieben hatte. Die Erde hatte die strengen Waffenkontrollen und Umweltstandards wieder in Kraft setzen wollen, an denen man vor der Posleen-Invasion gearbeitet hatte. Die gepeinigten Welten am Rand hatten Zeter und Mordio geschrien. Einen Sumpf nicht trocken legen, weil man damit möglicherweise »das natürliche Gleichgewicht störte«, wenn dieses Gleichgewicht bereits durch die Anwesenheit der Posleen völlig durcheinander gebracht war? Ganz sicher nicht. Und vorzuschlagen, dass jemand um eine Genehmigung für eine KI-gelenkte Auto-Kanone mit Antimateriegranaten eingab, um sich mit besagten Posleen auseinander zu setzen, bloß weil irgendein Bürokrat auf der Erde der Ansicht war, so etwas sei für Zivilisten »unangemessen«, war kein Konzept, mit dem man die Herzen und Köpfe der Randler gewinnen konnte.
Und aus diesem Grund gab es jetzt eine Republik Islendia. Und eine Rumpfgruppe von alten, hoch entwickelten Welten im Hintergrund, auf denen es kochte.
Die Busreise war nicht lang, nur etwa zweihundert Kilometer durch das Licht einer untergehenden Sonne und dann in das überkuppelte Labyrinth der eigentlichen Stadt. Islendia war in Wirklichkeit ein erdähnlicher Mond eines monströsen Gasriesen, vielleicht sogar eines braunen Zwergs, den man Juliana getauft hatte. Juliana war gerade dabei, in volle Phase zu kommen, während Isel, der Stern des Systems, gerade unterging. Der Planet war eine flauschige Mischung von Farben am Horizont, die sich in endlose Weite zu erstrecken schienen. Wenn Juliana in voller Größe am Himmel stand, würde man von grellroten Wirbeln reagierenden Wasserstoffs gepunktete beige und ockerfarbene Bänder sehen. Seine Ringformation und die zahllosen Satelliten machten den Planeten zu einem seltenen Anblick für jene Touristen, die sich die teuren Reisekosten leisten konnten; und die komplizierte Rotation Julianas sowie des Mondes Islendia um Isel führten zu höchst seltsamen Tageszyklen.
Die Soldaten interessierten sich dafür wenig. Nicht nur, dass sie mit diesem orangefarbenen Monstrum am Himmel aufgewachsen waren, sondern auch, weil sie auf anderen Planeten aus ihrer Sicht viel aufregendere Dinge gesehen hatten. Dagger stammte von weit draußen am Rand und hätte den Anblick wahrscheinlich interessant gefunden, wenn er mitgekommen wäre und sich zu einer menschlichen, ästhetischen Schwäche bekannt hätte. Weit gereist, wie sie alle waren, konzentrierte sich ihr ganzes Interesse auf die brodelnden Fleischtöpfe unter ihnen.
Jene Fleischtöpfe waren ein weiterer Anziehungspunkt Islendias für die prüden, aber wohlhabenden Bürger der SSA. Die laschen Gesetze und niedrigen Steuern von Islendia hatten es der relativ armen ehemaligen Kolonie erlaubt, einen gewaltigen Handelsüberschuss gegenüber den dichter besiedelten inneren Welten aufzubauen. Aber die Touristen wurden immer seltener, je engstirniger man auf der Erde und den von ihr abhängigen Welten wurde.
Auf den inneren Welten vollzog sich etwas, worüber nur selten gesprochen wurde, und was die meisten auch nicht hinreichend begriffen. Generation für Generation wurden die Besucher seltener, interessierten sich immer weniger für die »Randler«-Vergnügungen und wurden dabei immer introvertierter und beflissener. Andererseits trug das auch dazu bei, die politischen Spannungen zu mildern.
Der Bus hielt seine Höhe während der ganzen Fahrt, zog zwischen immer höher werdenden Gebäuden dahin, die in verschiedenen Farben beleuchtet waren. Die älteren waren eher schlicht beleuchtet, während die neueren von Farbtafeln und Bildern bedeckt waren, die aus ihnen dreidimensionale Kunstwerke machten, welche sich Dutzende von Metern über die Verkehrsebenen hinaus reckten. Die Werbetafeln ragten sogar über die Gebäude hinaus. Trotz der Kuppeln und des hochmodernen Verteidigungsgitters gab es auf Islendia häufig große Meteore, das lag an der Natur des Juliana-Systems, und eine 25-Mt-Detonation in der Stratosphäre anstatt auf der Planetenoberfläche war immer noch schlecht für die strukturelle Integrität. Deshalb ragte keines der Gebäude über dreißig Stockwerke in den Himmel. Es kam nicht häufig vor, dass Kuppeln zersprangen, aber wenn es dazu kam, konnte die dabei entstehende Schockwelle die Gebäude selbst auseinander reißen. Demzufolge fanden die meisten Aktivitäten im Gebäudeinneren und unter der Erde statt, obwohl es natürlich Komplikationen mit sich brachte, nach unten statt nach oben zu bauen.
Der Fahrer landete den Bus auf einer Plattform vor einem gute zehn Meter hohen Gebäudekomplex. Die vier drängten sich bereits an der Tür, ehe die aufging, und platzten ins Freie, als müssten sie unter feindlichem Beschuss eine Angriffskapsel verlassen, schwärmten aus, strebten auf die breiten anachronistischen Treppen zu, die in den Sektor A-Club hinunterführten, dessen Beleuchtung in schwachem Rot gehalten war, um sich so der Umgebung anzupassen.
Thor traf als Erster ein, ließ seine Ausweiskarte aufblitzen und hielt sie dem Sensor hin. Er verlangsamte seinen Lauf gerade genug, dass die Farbmarkierung kalt gegen seine Hand klatschen konnte – und schon war er drinnen und spähte das Lokal aus. Zum Glück waren sie nüchtern, denn bei den blitzenden Lichtern und den stets die Form verändernden Hologrammen war es recht schwierig, sich zu orientieren und Substanz von Bild zu unterscheiden. Das gehörte mit zum Reiz des Sektor A. Er entschied sich für eine freie Nische ganz außen und erreichte sie in schnellem Lauf, kam einem anderen Mann zuvor, der ihm zwar einen finsteren Blick zuwarf, ihm aber die Eroberung nicht streitig machte. Bei der Nische handelte es sich um eine von mehreren, die hoch an der Wand angeordnet und von unten nur über eine Leiter zu erreichen waren, aber doch niedrig genug, um einen guten Blick auf das Geschehen darunter zu haben. Thor kletterte, gefolgt vom Rest des Teams, die Leiter hinauf.
»Da wären wir!«, rief Ferret, als er hinter Thor eintraf und neben ihm Platz nahm. »Gutes freies Schussfeld.«
»Damit du besser kotzen kannst?«, fragte Gorilla, dessen Ausblick dank seiner Größe noch besser war. Er wandte den Rücken der Wand zu, sodass die anderen nicht an ihm vorbeisehen konnten.
Thor sagte: »Ferret, du passt auf, dass man uns nicht rausschmeißt, wirfst also nicht mit Bier herum, okay? Selbst wenn das großzügig ist, die, die es trifft, sind meistens sauer, und außerdem ist es unordentlich.«
»Bin gleich wieder da!«, tönte Gun Doll vergnügt, schwang sich über das Geländer und ließ sich hinunterfallen. Einer der Sicherheitsleute schrie sie an, als sie in langen Sätzen über die Tanzfläche eilte und sich an einen Mann heranmachte, der für sich allein tanzte. Ihre Handbewegung in Richtung auf den Aufpasser war mindestens so alt wie die raumfahrende Menschheit. Sie packte den Mann am Ellbogen, worauf der, überrascht zuerst, dümmlich grinste und dann mit ihr mit der Menge verschmolz.
»Erster Abschuss, Gun Doll«, sagte Gorilla. »Machen wir uns an die Tussis ran oder trinken wir zuerst einen?«
»Zuerst einen Drink«, sagte Thor. »Auf die Weise tut es nicht so weh, wenn man uns wegen Ferret hier rausschmeißt.«
Das Lokal hatte sich zum Bersten gefüllt, als sie anfingen sich zu langweilen und abzogen. Hier ein Image oder gar eine Beziehung aufzubauen war nicht genügend Zeit. Ihre Bedürfnisse waren unmittelbarer Art und ständige Bewegung die beste Methode, Gesellschaft zu finden. Dass das weder effizient noch kostengünstig war, spielte dabei keine Rolle. Sie zogen von Club zu Club, bis das Glück, die Langeweile oder der Morgen dem ein Ende machten. Wenn er sich ein wenig Zeit zum Nachdenken genommen hätte, hätte jeder von ihnen erklären können, wie unsinnig das war – aber für den Augenblick war Denken nicht angesagt.
Vom Sektor A zogen sie weiter ins Eden, einen Club, in dem es nur UV-Beleuchtung gab. Paare und kleine Gruppen trieben es in fast schwarzen Ecken und Nischen, die für eben diesen Zweck geschaffen waren. Bei dem Gebäude handelte es sich um eine umgebaute Polizeistation aus der Frühzeit der Kolonisierung Islendias, das über zahlreiche Kammern, Spinde und Büros verfügte, von denen man die meisten offen, jedoch einige als verschließbare Kabuffs für ungestörte Zweisamkeit übrig gelassen hatte.
»Hey, seht euch die Kotz-Diplomaten an!«, sagte Ferret ein wenig zu laut. »Die tragen Anzüge!«
Gun Doll machte das Spiel mit. »Schsch, jemanden anstarren ist unhöflich.«
Die Diplomaten stammten vermutlich von irgendwo in der Solarian Systems Alliance. Es war immer wieder amüsant, gesetzte, konservative Würdenträger dabei zu beobachten, wenn sie verblüfft und verlegen bemalten Männer und Frauen dabei zusahen, wie die ihre Triebe ausschwitzten. Sie kamen an und erwarteten Hinterwäldler. Jeder von ihrem Planeten wusste, dass die Republik Islendia von Waffen schwingenden rückständigen Bauern bewohnt war. Aber diese Bauern hatte ein tiefes Verständnis für Sexualität und ein hohes Maß an Hol’s-der-Teufel-Wurstigkeit. Schon morgen konnte ein Meteor einschlagen, der für die Verteidigungsnetze zu groß war, ein wilder Posleen einem das Bein abreißen oder, schlimmer noch, ein Gottkönig mit einem Oolt aus fünfzig der verdammten Biester eine ganze Schule auffressen. Warum also nicht heute essen, trinken und vögeln, sobald die Arbeit getan und die Rechnungen bezahlt waren?