Irrtümer über die deutsche Einheit - Richard Schröder - E-Book

Irrtümer über die deutsche Einheit E-Book

Richard Schröder

4,3

Beschreibung

Auch ein Vierteljahrhundert danach: Die Deutsche Einheit muss in den Köpfen und den Herzen immer noch erst richtig ankommen. Die einen tendieren immer noch und immer wieder zu Nostalgie, die anderen stöhnen unter den Belastungen. Richard Schröder rückt die Dinge zurecht. Erinnerungsgenau und klar analysierend. Ein wichtigen Akteur der deutschen Einheit mit einer brillante Darstellung deutscher Befindlichkeiten.

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Richard Schröder

Irrtümer über die deutsche Einheit

Aktualisierte und erweiterte Ausgabe

Impressum

2. Auflage 2014

Titel der Erstausgabe 2007:

Die wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit

© Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © uukaa / © MASP – Fotolia.com

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80275-1

ISBN (Buch): 978-3-451-06690-0

Inhalt

Vorwort zur 2. Auflage

Einleitung

A. Irrtümer über die DDR

1. »Die DDR hat als antifaschistischer Staat mit den schlechten Traditionen der deutschen Geschichte radikal gebrochen und ihre besten Traditionen fortgeführt.«

2. »Die DDR war kein Unrechtsstaat.«

3. »Die Verhältnisse in der DDR waren gerechter als heute.«

4. »Die DDR war 1989 nicht pleite, denn das Wirtschaftsvermögen der DDR betrug über 1200 Milliarden Ost-Mark.«

5. »Die DDR-Bürger haben den Staat verdient, den sie hatten.«

6. »Die Ostdeutschen haben nie richtig arbeiten gelernt.«

7. »Das Ende des SED-Regimes ist nicht einer Revolution zu verdanken, sondern Gorbatschow.«

8. »Die evangelische Kirche in der DDR hat sich opportunistisch verhalten.«

9. »Die Bundesrepublik hat das SED-Regime stabilisiert und vor einem früheren Zusammenbruch bewahrt.«

10. »Die Bundesrepublik trägt Mitschuld an der Mauer und den Mauer-Toten.«

B. Irrtümer über die Vereinigung

1. »Die Deutschen haben durch Auschwitz das Recht auf einen gemeinsamen Staat verwirkt.«

2. »Es ist ein Skandal, dass es keine ausgearbeiteten Pläne für die deutsche Einheit gab.«

3. »Die Währungsunion kam zu früh.«

4. »Der Umtauschkurs war falsch.«

5. »Die Treuhandanstalt hat die ostdeutsche Wirtschaft ruiniert und das Volksvermögen Westdeutschen zugeschanzt.«

6. »Der Grundsatz ›Rückgabe vor Entschädigung‹ war falsch.«

7. »Die Enteignungen in der Sowjetischen Besatzungszone (1945 –1949) und namentlich die Bodenreform hätten rückgängig gemacht werden müssen.«

8. »Weil die politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Ordnungen der Bundesrepublik übernommen wurden, sind die DDR-Bürger der Möglichkeit beraubt worden, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.«

9. »Der Westen hat den Osten kolonisiert.«»Der Westen ist zur Kolonie des Ostens geworden.«

10. »1990 wurde die Chance vertan, ein neues Deutschland mit einer neuen Verfassung zu gründen, also auch den Westen zu reformieren.«

11. »Die westdeutsche Politikerklasse hat die Oppositionellen aus der DDR mundtot gemacht.«

12. »Die Strafverfolgung der Regierungskriminalität war Siegerjustiz.«

13. »Die SED hätte verboten werden müssen.«

C. Irrtümer über das vereinigte Deutschland

1. »Die deutsche Einheit ist gescheitert.«

2. »Der Osten ist ein Jammertal.«

3. »Der Osten ist ein Milliardengrab. Der Aufbau Ost führt zum Abbau West.«

4. »Es ist ein Skandal, dass die Löhne im Osten immer noch niedriger sind als im Westen.«

5. »Die Renten sind im Osten ungerecht hoch.«

6. »Die Gesellschaft im Osten ist atheistisch.«

7. »Der Osten ist rechtsextrem und ausländerfeindlich. Das bedroht die Demokratie in Deutschland.«

8. »Die Ostdeutschen sind undankbar.«

9. »Der 3. Oktober ist als Nationalfeiertag ungeeignet.«

Anhang: Deutschland vereint, Korea geteilt.Eine vergleichende Betrachtung.

Vorwort zur 2. Auflage

Es ist ein Vierteljahrhundert nach der Herbstrevolution ruhiger geworden um die deutsche Einheit. Das ist einerseits gut so, weil es ein Beweis für gute Normalität ist, wenn nicht ständig über die deutsche Einheit gestritten wird. Es ist deshalb auch ruhiger geworden um die »Irrtümer über die deutsche Einheit«, von denen dieses Buch handelt. Das heißt jedoch nicht, dass sie beim Publikum berichtigt sind. Denn wenn einmal die Sprache auf die aufregenden Jahre der Vereinigung kommt, dann sind sie auch alle wieder im Gespräch, jene Irrtümer. Deshalb hat dieses Buch noch immer seine Berechtigung, vor allem aber für diejenige Generation, die jetzt studiert, aber all das gar nicht selbst erlebt hat. Und bei allem Respekt vor den Zeitzeugen: Was Opa aus der DDR erzählt, stimmt nicht immer. Denn die DDR war eine »Nischengesellschaft«, sprich ein Staat ohne freie Öffentlichkeit. Wir waren damals oft über das, was im eigenen Lande passierte, höchst unzureichend informiert. Jeder kannte nur seine Nische – und auch über die hat er manches Unerfreuliche erst nach dem Ende der DDR erfahren.

Ein Thema aber hat sein Erregungspotential ungeschmälert behalten: die Treuhandanstalt, also die Transformation der DDR-Wirtschaft. Weil es dazu bisher kaum wissenschaftliche Untersuchungen gibt, können sich hier die Emotionen ohne allzu große Rücksicht auf die Tatsachen austoben. Die Treuhand habe die DDR-Wirtschaft ruiniert, heißt es oft in Ost und West. Die einen sagen: durch Dilettantismus, die anderen: aus niederen Motiven, nämlich um die gefürchtete Ost-Konkurrenz platt zu machen. In Wahrheit haben die Ostdeutschen nicht erst nach der Maueröffnung Westwaren begehrt und Ostwaren weithin verachtet sowie Witze ohne Ende über die eigene Wirtschaft erzählt, deren desaströsen Zustand sie der SED zuschrieben, solange die Mauer stand. Ich habe deshalb die Abschnitte über die DDR-Wirtschaft (A4) und über die Treuhandanstalt (B5) kräftig überarbeitet und erweitert.

Von keinem Land aus wurde die deutsche Vereinigung so intensiv beobachtet wie von der Republik Korea (Südkorea) aus, denn Korea ist noch immer geteilt. Die südkoreanische Regierung ist unter dem vorigen Präsidenten Lee Myungbak an die Bundesregierung herangetreten mit der Bitte, eine koreanisch-deutsche Konsultationsgruppe zu Fragen der Wiedervereinigung ins Leben zu rufen. Die Bundesregierung hat mich in diese Konsultationsgruppe berufen. Weil ein Vergleich zwischen der deutschen und der koreanischen Situation noch einmal ein eigentümliches Licht auf die deutsche Einheit wirft, habe ich diesbezügliche Beobachtungen angehängt.

Ansonsten habe ich Zahlenangaben aktualisiert, Bemerkungen eingefügt, ein paar Irrtümer und Ungenauigkeiten, die mir in der 1. Auflage unterlaufen waren, ausgemerzt und die Liste empfohlener Literatur erweitert. Die neueren Zahlen zeigen durchweg: Der Osten holt auf, wenn auch langsamer als erwartet. Ökonomische Unterschiede gibt es zwar weiterhin, aber der Unterschied zwischen den Ost-West-Unterschieden und den Nord-Süd-Unterschieden verringert sich. Das ist ein brauchbarer Maßstab für den Stand der deutschen Vereinigung. Und 2013 ist erstmals der Wanderungssaldo zwischen Ost und West ausgeglichen, das heißt es sind in diesem Jahr so viele gekommen wie gegangen. Damit ist zwar nicht die Abwanderung der letzten Jahrzehnte mit all ihren demographischen Problemen kompensiert, aber doch der Trend gewendet.

Das darf man so verallgemeinern: Wir haben das Schwierigste hinter uns und sind zu verhaltenem Optimismus berechtigt. Aufgaben und Probleme gibt es trotzdem reichlich, es sind aber kaum Einigungsprobleme – und sie sind lösbar, wenn wir sie denn anpacken. Andere Länder beneiden uns, weil sie lieber unsere als ihre eigenen Probleme hätten.

Blankenfelde, Neujahr 2014 Richard Schröder

Einleitung

»Unzufriedenheit mit dem Geschick ist ein ungehöriges Kritisieren der Gaben, die einem zuteilgeworden sind. Wenn der Unzufriedene einen Beutel Geld findet, nörgelt er: ›Aber einen richtigen Schatz habe ich noch nie gefunden.‹« Theophrast (4. Jh. v. Chr.), Charaktere XVII

Wenn mich Journalisten nach dem Stand der deutschen Einheit fragen, ist regelmäßig die erste Frage: »Was ist verkehrt gemacht worden?« und die zweite: »Wann ist die deutsche Einheit vollendet?« Meine erste Antwort auf die zweite Frage: Wenn ihr mit der unsinnigen Fragerei aufhört. Was soll denn das sein: die vollendete Einheit oder die viel gesuchte »inneren Einheit«? Ost und West ein Herz und eine Seele? Nord und Süd sind doch in Deutschland auch nicht ein Herz und eine Seele, SPD und CDU auch nicht. Dieses und jenes Kunstwerk kann vollendet werden, auch ein Bauwerk oder ein Tagewerk, aber doch nicht menschliche Beziehungen, auch nicht kollektive. Denn nur Beendetes kann vollendet sein. Zur ersten Frage könnte auch ich einiges nennen, aber meine Liste ist nicht sehr lang.

Warum wird die deutsche Einheit mit Vorliebe unter »Pleiten, Pech und Pannen« abgehandelt? Sicher spielt dabei eine Rolle, dass gute Nachrichten den Adrenalinspiegel nicht anheben. Nur was aufregt, steigert die Auflagen und die Einschaltquoten. Aber dadurch lassen sich die Leser und Zuschauer nicht unbedingt einreden, dass es ihnen auch persönlich schlecht geht. So belegen denn auch Umfragen regelmäßig eine seltsame Diskrepanz: Befragt, wie sie ihre persönliche Lage seit der deutschen Einheit beurteilen, antworten die meisten Ostdeutschen: »gut« oder »kann nicht klagen«; befragt nach der Lage in Ostdeutschland allgemein, antworten die meisten: »schlecht«. Über ihre eigene Lage werden sie sich ja wohl kaum täuschen. Die Mehrheit ist zufrieden, jeder hält sich aber für eine Ausnahme. Diese Diskrepanz ist keineswegs harmlos. Denn Stimmungen haben Einfluss auf die Spielräume der Politik – nicht nur bei Wahlen –, und sie haben vor allem Einfluss auf die Glaubwürdigkeit der Politiker. Wenn die Lage im Ganzen schlecht ist und meine günstigere Lage nur eine Ausnahme, sind die Politiker offenbar Versager. Ich sehe den Grund für den schlechten Ruf der deutschen Einheit in einer Reihe von Irrtümern über die deutsche Einheit. Um die geht es in diesem Buch.

Von den Behauptungen, die dieses Buch als Irrtümer über die deutsche Einheit behandelt, wird jeder Leser einige für so abwegig halten, dass er eine Entgegnung für überflüssig hält – bloß leider nicht jeder dieselben.

»Politisch wurde bei der Wiedervereinigung alles richtig, wirtschaftlich alles falsch gemacht«, hat Lothar Späth gesagt. Dieser eingängige Spruch wird gern beifällig zitiert, man ist sich einig. Aber wehe, wenn einer nachfragt, was genau falsch gemacht worden ist und was stattdessen das Richtige gewesen wäre. Dann ist nämlich Schluss mit einig.

»Der Umtauschkurs war ein großzügiges Geschenk an die Ostdeutschen.« – »Unsere Sparguthaben wurden gekürzt, obwohl wir weniger auf der hohen Kante hatten als die Westdeutschen.« – »Löhne und Renten sind im Osten zu hoch, deshalb bleibt der selbsttragende Aufschwung aus.« – »Es ist ein Skandal, dass sie nach sechzehn Jahren immer noch niedriger sind als im Westen.«

Ist der Streit erst einmal entbrannt, macht er vor dem Politischen nicht halt. »Politisch alles richtig? Der Osten wurde durch den erzwungenen Elitenwechsel intellektuell enthauptet.« »Ach was, den alten Kadern geht es heute besser als den Oppositionellen.« Und so weiter.

In meiner Liste von Irrtümern über die deutsche Einheit wird aber jeder Leser auch diejenigen Punkte finden, bei denen er protestiert: Das ist kein Irrtum, sondern die Wahrheit; so war es, so ist es tatsächlich!

Der Irrtum und die Lüge sind Parasiten der Wahrheit. Sie wirken nur, wenn sie den Schein der Wahrheit erwecken. Jeder Irrtum sitzt auf einer Teilwahrheit auf und enthält ein Körnchen Wahrheit. Aber halbe Wahrheiten sind eben ganze Lügen, wie man sagt, und vom Irrtum gilt das auch.

Ich behaupte keineswegs, dass im Zuge der deutschen Einheit alles richtig gemacht worden sei. Alles richtig, das kann es bei Prozessen dieses Ausmaßes nie geben. Meine Fehlerliste ist allerdings nicht sehr lang. Die Grundentscheidungen halte ich nach wie vor – nun sage ich nicht: für richtig, sondern: für alternativlos, unter den damaligen Umständen. Ich erinnere an vier Trivialitäten menschlichen Handelns:

1. Wir müssen zumeist mit begrenztem Wissen entscheiden, also mit einer gehörigen Portion Nichtwissen. Die sicherste Diagnose stellt der Pathologe, aber leider immer zu spät. Hinterher ist man schlauer. Hinterher vergisst man aber auch schnell, welche Befürchtungen seinerzeit die Entscheidung beeinflusst haben, vor allem dann, wenn sie nicht eingetreten sind. Uns hat 1990 sehr intensiv die Frage beschäftigt, was denn passieren soll, wenn Gorbatschow gestürzt wird. Das veranlasste zur Eile in Sachen deutsche Einheit. Diejenigen, die damals heftig für die langsamere Gangart votierten, verstummten, als Gorbatschow 1991 tatsächlich gestürzt wurde. Heute ist dieser Gesichtspunkt bei den Kritikern des Einigungsprozesses völlig vergessen. Wir hatten damals auch die Sorge, die DDR könnte ohne die Orientierung an einer schnellen Einigung im Chaos versinken. Wer die Befürchtung für unbegründet hält, muss doch zur Kenntnis nehmen, dass sie damals bestand. Sie war auch nicht unbegründet. Nach der Herbstrevolution und der Maueröffnung war die DDR ein Staat in Auflösung, denn das einzige Reformkonzept, das im Osten breite Zustimmung fand, hieß: deutsche Einheit. Die DDR war ein Staat ohne Nation, eine Gesellschaft in der es kein eigenständiges Zusammengehörigkeitsgefühl der Einwohner gab, weder ein nationales noch ein bürgerschaftliches. Auch für einen »Verfassungspatriotismus« gab es keine Grundlage. Im August 1989 hatte Otto Reinhold von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED erklärt: Ohne den Systemgegensatz hätte die DDR keine Existenzberechtigung. Er wollte sagen: Also muss die DDR sozialistisch bleiben. Aus derselben Voraussetzung zogen die Leipziger Montagsdemonstranten nur die andere Konsequenz: »Wir sind ein Volk.« Das unterschied die DDR von den anderen ehemals sozialistischen Nachbarstaaten. Ungarische Kommunisten waren zuerst Ungarn, dann Kommunisten. In der DDR aber musste das Wort »sozialistisch« das Wort »deutsch« übertönen. Wenn die Lautsprecher abgeschaltet wurden, die uns den Sozialismus predigten, war prompt zu hören: »Deutschland einig Vaterland« (aus der DDR-Hymne, die deshalb seit Honecker nur noch als Melodie ohne Text abgespielt wurde) oder eben: »Wir sind ein Volk«.

2. Den größten Handlungserfolg erzielen wir in Standardsituationen. Wir handeln dann, wie wir in solchen Situationen zu handeln pflegen, aus Erfahrung. Die fehlt uns aber, wenn etwas wirklich Neues, Unerhörtes geschieht. Dies gilt nicht nur für die unerfreulichen oder gar schrecklichen Überraschungen, sondern auch für die erfreulichen. Die Herbstrevolution und die Maueröffnung waren solche unerhörten Begebenheiten, der Zusammenbruch des Sowjetimperiums und der Weg zur deutschen Einheit auch. Da konnte niemand sagen: Tun wir doch das, was wir in solchen Situationen zu tun pflegen. Da musste unter erhöhtem Risiko entschieden werden, auch seitens der Bundesregierung. Das Ausmaß der Unsicherheiten und Unwägbarkeiten nach 1989 ist im Westen zunächst nur von denen erlebt worden, die sich im Osten engagiert haben. Denn die westlichen Lebensverhältnisse waren gar nicht tangiert. Ganz anders im Osten. Hier hat sich jeder in einem Maße umstellen müssen, als wäre er in ein anderes Land gezogen. Fast alle haben den Arbeitsplatz gewechselt, mit Phasen der bis dahin unbekannten Arbeitslosigkeit. Umlernen aber mussten alle, am Arbeitsplatz, in der Politik, in der Verwaltung, im privaten Bereich.

3. Nach jeder Entscheidung kann man davon träumen, wie viel besser alles geworden wäre, wenn man anders entschieden hätte. Solche Träume haben aber einen Haken. Die Folgen unserer tatsächlichen Entscheidungen haben sich eingestellt. Sie stehen hart im Raum. Die Folgen der anderen möglichen Entscheidungen können wir nur ahnen oder konstruieren. Im weichen Element des Möglichen ist viel Raum für das Wunschdenken (bis hin zum Wunderglauben), und dies umso mehr, je weniger genau wir uns an die Umstände von damals erinnern.

4. Wenn es um konkrete Entscheidungen geht, führt die zweiwertige Logik – »richtig oder falsch?« – oft in die Irre. Meistens ist eine gute Entscheidung die für das kleinere Übel. Wer aus guten Gründen A sagt, muss auch dann B sagen, wenn ihm B für sich genommen gar nicht gefällt. Wer behauptet, es habe die eine richtige Entscheidung gegeben, durch die uns die Probleme, die wir bis heute haben, vollständig erspart worden wären, der ist schon dem Wunderglauben verfallen. Die Irrtümer, die ich mir vornehme, werde ich deshalb gar nicht immer widerlegen (»das Gegenteil ist richtig«), aber doch zurechtrücken.

Wenn es um Krankheit und Gesundheit geht, wissen wir sehr wohl, dass wir manchmal erhebliche Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen müssen, um wieder gesund zu werden. In Sachen Politik aber herrscht in Ost und West eine Vollkasko-Mentalität. Im Westen war man bisher gewöhnt, die meisten Probleme durch Zuwachsraten zu lösen. Im Osten war der Staat für alles zuständig. Beides gilt im vereinigten Deutschland so nicht mehr. Das verwirrt.

In Sachen deutsche Einheit ist der Wunderglaube an die Alternativen weit verbreitet. Warum? Weil die deutsche Einheit tatsächlich eine Vielzahl von an sich unerwünschten Folgen mit sich führt. Die würden wir aber leichter hinnehmen und wirksamer bekämpfen, wenn wir davon überzeugt wären, dass es sich um die kleineren Nachteile des größeren Vorteils handelt, wenn wir sie im Lichte des großen Gewinns sehen würden, den uns die deutsche Einheit gebracht hat.

Seit 1990 hat die Auseinandersetzung mit der Nazizeit nicht abgenommen, sie ist sogar intensiver geworden. Das begrüße ich auch deshalb, weil es diejenigen Stimmen im In- und Ausland widerlegt, die 1990 befürchteten: Wenn sich Deutschland vereinigt, droht ein »Viertes Reich«. Wir können sagen: Wir haben diese Lektion gelernt. Die ewig Gestrigen sind eine ernste Herausforderung und eine Gefahr für den Ruf Deutschlands. Sie haben aber keine Chance, die öffentliche Meinung oder gar Deutschlands Politik zu bestimmen. So weit, so gut. Selten aber wird bei dieser Beschäftigung mit dem grauenvollsten Kapitel deutscher Geschichte der Bogen geschlagen zum Jahre 1990. Deutschland in den Grenzen des 3. Oktober 1990 ist das ganze Deutschland. Erstmals in der deutschen Geschichte lebt Deutschland in allseits anerkannten Grenzen, umgeben von befreundeten Staaten, die mit uns in der Europäischen Union und der NATO vereinigt sind. Es ist nicht nur für uns, sondern auch für die gesamteuropäische Stabilität ein Gewinn, dass es keine offene deutsche Frage mehr gibt und auch keine offenen deutschen Rechnungen mit Gegenrechnungen. Aber über etwas so Bedeutendes freuen wir uns nicht. Mir scheint, die einstmals beklagte Unfähigkeit zu trauern haben wir nun ersetzt durch eine Unfähigkeit sich zu freuen. Wir verzichten damit auf eine Quelle der Ermunterung.

Wir führen unsere Einigungsdebatten mit Scheuklappen. Ost und West sind aufeinander fixiert. »Warum sind die Ostdeutschen immer noch so anders als wir?« – als wäre die westliche Normalität auch mental das Maß aller Dinge. »Warum geht es uns immer noch schlechter als dem Westen?«, »Wann endlich liegen die uns nicht mehr auf der Kasse?« Wir führen einen Wettstreit ums Bedauern. Wer hat mehr zu leiden unter der deutschen Einheit, Ost oder West? Nichts scheint begehrter zu sein im vereinigten Deutschland als der Opferstatus. Denn dann hat man Anspruch auf einen Opferbonus. Nur wer klagt, gewinnt. Und so jammern wir uns um die Wette durch die Jahre.

Mit diesen Scheuklappen nehmen wir gar nicht hinreichend wahr, was seit 1989 geschehen ist und bewältigt werden musste. Und deshalb sind auch die Erfolge selten oder nie im Blick. Um die zu bemessen, müssen wir uns klarmachen, dass es bei der deutschen Einheit im Osten nicht um einen, sondern um vier Prozesse ging. Für ein gerechtes Urteil muss man sie unterscheiden, obwohl sie miteinander verschränkt sind.

1. Die Herbstrevolution von 1989. Die unvermeidliche Folge dieser Revolution war ein Elitenwechsel, der in der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März und den ersten freien Kommunalwahlen am 6. Mai sichtbar vollzogen wurde. Dazu mussten sich Leute finden, die ohne Vorübung politische Verantwortung übernahmen. Man hat sie vom Westen aus gern als Laienspieler betitelt und dabei offenbar übersehen, dass Politprofis nicht zu haben waren, denn die bisherigen waren in Sachen Demokratie und Marktwirtschaft auch Laienspieler, aber mit Ressentiments. Dafür gibt es einen äußerst erfreulichen Beleg. Als das Politbüro nach Honeckers Rücktritt auch Glasnost praktizieren wollte, kam es zu der glücklich verunglückten Pressekonferenz, durch die Schabowski unbeabsichtigt die Maueröffnung auslöste. In dem Ausdruck »Laienspieler« schlug sich schon das bis heute anhaltende Unverständnis dafür nieder, dass in der DDR eine Revolution, ein Machtwechsel stattgefunden hat. Jeder Elitenwechsel erzeugt Enttäuschung, Frustration und Ressentiments bei denen, die ihre Stellung oder auch nur ihr Ansehen eingebüßt haben oder auch nur darunter leiden, nicht recht gehabt zu haben. Sie finden sich vor allem in der PDS und sind heute Rentner.

Vom Westen aus wird der Elitenwechsel manchmal mit dem Argument kritisiert: Die Bundesrepublik ist doch auch von ehemaligen Nazis aufgebaut worden. Nach zwölf Jahren gab es aber noch die biographische Erinnerung an Rechtsstaat und Demokratie, nach 40 Jahren nicht mehr. Die DDR-Fachleute waren oft Fachleute für Vergangenes. Eine Revolution, das Ende einer Diktatur, stellt immer das Problem der sogenannten Vergangenheitsbewältigung. Täter und Opfer stehen sich gegenüber.

Und drittens löst jede Revolution unvermeidlich erhebliche Orientierungsprobleme aus. Das Bisherige gilt nicht mehr, die bisherigen Autoritäten sind diskreditiert – was gilt jetzt?

2. Die staatliche Vereinigung. Der Osten übernahm die politischen, sozialen, wirtschaftlichen Ordnungen der Bundesrepublik, während im Westen zunächst alles beim Alten blieb. Er übernahm dabei auch reformbedürftige Elemente und eine Regelungsdichte, die für saturierte Verhältnisse, nicht aber für einen Neubau geeignet war. Trotzdem war es richtig und hilfreich, dass im Osten das Rad nicht neu erfunden wurde. Doch all das war nur das kleinere Stück der deutschen Vereinigung. Denn aus eigener Machtvollkommenheit konnten sich die Deutschen gar nicht vereinigen. Völkerrechtlich war nämlich der Zweite Weltkrieg noch nicht beendet. Die Siegermächte hatten sich die Zuständigkeit für Deutschland als Ganzes vorbehalten, wie am Berlin-Status augenfällig war. Zum Jahreswechsel 1989/90 hatten sich lediglich zwei europäische Regierungschefs für die deutsche Einheit ausgesprochen, nämlich der spanische und der irische. Der italienische Politiker Andreotti hatte gesagt: »Wir lieben Deutschland so sehr, dass wir am liebsten zwei davon haben.« Der französische Staatspräsident Mitterrand stattete der DDR Ende Dezember demonstrativ einen Staatsbesuch ab und schloss mit ihr ein langfristiges Handelsabkommen. Margaret Thatcher berief eine Historiker-Konferenz ein. Die Rede von einem »Vierten Reich« ging um. Von der Sowjetunion war zwar zu erwarten, dass Gorbatschow einer inneren Reform der DDR zustimmen, aber doch nicht, dass er den westlichen Vorposten des Imperiums aufgeben würde, und schon gar nicht, dass er einer Erweiterung der NATO auf Ostdeutschland zustimmen würde. Es war der amerikanische Präsident George Bush sen., der sich noch vor allen anderen entschieden für die deutsche Einheit eingesetzt hat. Von den USA stammte auch die Idee »2 plus 4«, also die Idee, die offenen Fragen im Zusammenhang mit Deutschland statt auf einer Friedenskonferenz mit unübersehbar vielen Teilnehmern – und Forderungen – durch die vier Siegermächte und die beiden deutschen Staaten klären zu lassen. Die USA stellten nur eine Bedingung: Das vereinigte Deutschland muss der EU und der NATO angehören. Davon hat Bush schließlich auch Gorbatschow überzeugt, und zwar mit folgendem Argument: So sei das vereinigte Deutschland eingebunden, und neuerliche Alleingänge seien nicht zu befürchten. Wer 1990 von einem neutralen und pazifistischen Deutschland auf einem »dritten Weg« zwischen Sozialismus und Kapitalismus geträumt hat, hat schlicht vergessen, dass es dafür keine internationale Zustimmung gegeben hätte, schließlich nicht einmal von der Sowjetunion. Die brauchten wir aber, weil die beiden deutschen Staaten bis 1990 eben nicht vollkommen souverän waren. Im Westen haben das wohl viele verdrängt. Sie nannten ihr Land ja auch gern kurz Deutschland. Wir im Osten konnten das nicht verdrängen. Noch im Herbst 1989 war die heikelste Frage, ob diesmal die sowjetischen Panzer in den Kasernen bleiben oder den 17. Juni 1953 wiederholen würden, der für uns, die ihn erlebt haben, das große Trauma war.

3. Die staatliche Vereinigung war nicht so einfach wie seinerzeit der Beitritt des Saarlands zur Bundesrepublik, denn nun war im Osten eine zweifache Transformation nötig: von der Diktatur zur Demokratie und von der zentralistischen Planwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft. Es gibt dafür keine Vorläufer, wohl aber sozusagen Mitläufer, nämlich alle anderen ehemals sozialistischen Länder Europas. Die mussten den Prozess aber ohne eine Vereinigung mit einem prosperierenden westlichen Land absolvieren. Die Schmerzen waren und sind deshalb dort erheblich größer.

4. Die Transformation der DDR-Wirtschaft war aber nicht nur ein organisatorisches Problem, auch wenn das schon groß genug war: Die Betriebe mussten aus der Verflechtung mit dem Staatshaushalt und der politischen Kommandostruktur herausgelöst und in neue Rechtsformen überführt werden und mussten sich selbst um ihre Produkte und ihren Absatz kümmern. Es musste aber außerdem ein technologischer Rückstand von zehn bis zwanzig Jahren aufgeholt werden, wie er am Vergleich von Trabant und Golf augenfällig war. Die DDR-Wirtschaft verlor 1990 schlagartig fast alle ihre Kunden, nämlich die Inlandskunden, weil die DDR-Bürger nur noch Westwaren kaufen wollten. Sie verlor viele Auslandskunden aus dem Osten, weil der sozialistische Wirtschaftsverbund RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) Anfang 1990 in Sofia beschloss, den internen Handel auf Devisen umzustellen. Daraufhin kauften die Ungarn lieber japanische Autos als DDR-Autos. Und sie verlor ihre westdeutschen Kunden, weil die Ostwaren nicht mehr als Billigprodukte (z. B. bei IKEA) zur Verfügung standen, wenn die Löhne im Osten mit Westgeld bezahlt werden mussten. Ohne Übertreibung kann man sagen: Die ostdeutsche Wirtschaft musste neu gegründet werden. Bei einem solchen Transformationsprozess gibt es unvermeidbar Opfer, Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren und ein Jahr suchen müssen, bis sie einen neuen finden. Das halte ich für zumutbar. Es gibt aber auch Menschen, die erfahren müssen, dass sie nicht mehr gebraucht werden. Das ist grundsätzlich nicht zumutbar. Transformationsprozesse treffen ihre Opfer nicht nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten. Es kommt deshalb vor, dass jemand, der aus politischen Gründen auf der Schattenseite stand, sich nun unter freiheitlichen Bedingungen wieder auf der Schattenseite findet. Das darf nicht sein, ist aber nicht immer vermeidbar.

Die Vereinigung fand zwischen zwei sehr ungleichen Partnern statt. Und das konnte gar nicht anders ein. Ein Fünftel kam zu vier Fünfteln. Ein Staat in Auflösung kam zu einem stabilen Staatswesen, das zwar Reformbedarf, aber keinen Revolutionsbedarf hatte. Ein Staat, dem der Staatsbankrott bevorstand, kam zu einem finanziell wohlsituierten. Für vier Fünftel blieb zunächst alles beim Altbewährten, während sich für ein Fünftel alles änderte. Das eine Fünftel hatte jene drei Prozesse zu durchlaufen, die kein Gegenstück im Westen hatten. Diese Asymmetrien sind nicht durch Fehlentscheidungen entstanden, sondern bildeten die Ausgangssituation des Einigungsprozesses.

Und nach welchen Maßstäben können wir Erfolg und Misserfolg des Einigungsprozesses beurteilen? Bitte nicht so provinziell, dass sich Ost und West den Westen in jeder Hinsicht zum Maß aller Dinge wählen. Zwar war die Entscheidung für Demokratie, Rechtsstaat und soziale Marktwirtschaft richtig. Dass diese Grundelemente der westlichen Ordnungen maßgeblich wurden und insofern der Westen das Maß war, ist in Ordnung, ja es musste so sein. Dass auch die westlichen Geschichtsdiskurse und Mentalitäten nun für die Ostdeutschen das Maß aller Dinge werden sollten, das war nicht in Ordnung. 40 Jahre grundverschiedener Lebensverhältnisse können und sollen beide Seiten nicht abschütten wie den Staub von den Schuhen. Wir haben diese 40 Jahre sehr verschieden erlebt, und nicht etwa hat die eine Seite diese Geschichte richtig, die andere aber diese Geschichte falsch erlebt (was auch immer das heißen könnte).

Auf die Frage, was die deutsche Geschichte von der anderer Länder vor allem unterscheide, nannten 1990 die meisten Westdeutschen an erster Stelle die Nazizeit, die meisten Ostdeutschen aber die deutsche Teilung. Beides hat sein Recht. Der Westen hatte sich den Naziverbrechen schonungslos gestellt, während im Osten der Antifaschismusmythos mehr Nebel warf als Klarheit schuf. Die Teilung aber war für die Ostdeutschen schmerzhafter als für die Westdeutschen, weil uns die Mauer nicht nur vom Westen, sondern vor allem von der Freiheit trennte, während sich manche im Westen einredeten, wir im Osten könnten doch eigentlich ganz zufrieden sein. Die intensive Beschäftigung mit der Nazidiktatur hat manche nicht etwa hellsichtig, sondern geradezu blind gemacht für das Diktatorische am SED-Regime. Damit hängt vielleicht auch zusammen, dass die einzige erfolgreiche Revolution der deutschen Geschichte, und zudem eine gewaltlose, heute in Ost und West zur »Wende« degradiert wird. Dabei könnten wir auf sie genauso stolz sein wie die Polen und Tschechen auf ihre. Für Westdeutsche scheint das aber schwierig zu sein, weil es nicht ihre Revolution war.

Im Westen hat es lange gedauert, bis der 8. Mai 1945 nicht mehr nur als der Tag der Kapitulation, sondern auch als ein Tag der Befreiung verstanden wurde. In der DDR war der 8. Mai lange Zeit als Tag der Befreiung sogar staatlicher Feiertag, aber verbunden mit einer Missinterpretation dieser Befreiung: Wir haben mit dem Faschismus radikal gebrochen, die Täter sitzen im Westen, nämlich das Monopolkapital und seine westdeutschen Helfershelfer.

Oder das Jahr 1968. Für Westdeutsche ist es das Jahr der Studentenproteste, auf die viele bis heute sehr stolz sind. Eine Achtundsechzigerbewegung hat es in der DDR nie gegeben, was ich nicht nur als Defizit empfinde. Ich habe die Inbrunst, mit der da das Kapital von Marx studiert oder die Maofibel geschwenkt wurde, nie nachvollziehen können. Für uns war 1968 das Jahr, in dem Panzer den Prager Frühling niederwalzten. Nach 1953 in der DDR und 1956 in Polen und Ungarn war zum vierten Mal der Freiheitswille erstickt worden.

In diesen und ähnlichen Fragen kann der Westen nicht das Maß aller Dinge sein, und deshalb kann ein vernünftiger Maßstab für den Stand der deutschen Einheit auch nicht hei-ßen: Sind die Ostdeutschen schon Westdeutsche geworden oder noch nicht? Es gibt nicht nur Ostmacken, sondern auch einige Westmacken, die ich nicht zur Nachahmung empfehle.

Ich kenne vier Maßstäbe, an denen plausibel bemessen werden kann, wie es mit der deutschen Einheit steht.

Erster Maßstab:

Wie wird der Stand der deutschen Einheit von außen, also von Ausländern beurteilt?

Ein Italiener hat bemerkt, sie sei weiter fortgeschritten als die italienische. Er hat recht. Sie ist auch weiter fortgeschritten als die belgische. Es gibt in Europa hier und da separatistische Bewegungen, im Baskenland, in Nordirland, auf Korsika sogar terroristische, bloß nicht in Deutschland. Die Tschechen und Slowaken und die Völker der Sowjetunion haben die neue Freiheit dazu gebraucht, sich schiedlichfriedlich zu trennen. Jugoslawien ist in einem brutalen Bürgerkrieg zerfallen. Wir haben uns vereinigt. Nicht einmal die PDS fordert die Wiederherstellung der DDR. Sie hat auf ihre Weise eine Vereinigung vollzogen, nämlich mit der WASG zur Partei »Die Linke« – mit der kuriosen Folge, dass zunächst die Mehrzahl ihrer Bundestagsabgeordneten Westdeutsche waren. Also: Der nationale Zusammenhalt ist nach internationalen Maßstäben stabil. Gelegentlich streiten wir uns, aber niemand will ausziehen. Vom Ausland her betrachtet man die deutsche Einigung als eine Erfolgsgeschichte.

Zweiter Maßstab:

Einheit in der deutschen Geschichte

Deutschland ist schon immer durch markante Unterschiede geprägt gewesen und hat gelernt, mit ihnen zu leben. Da ist der uralte Unterschied zwischen dem Niederdeutschen und dem Hochdeutschen. Seit der Reformation ist Deutschland zudem konfessionell gespalten. Aber nach dem furchtbaren Dreißigjährigen Krieg hat es in Deutschland nie wieder konfessionelle Kriege gegeben. Man hat dank des Westfälischen Friedens mit den Unterschieden zu leben gelernt. Die traditionellen Unterschiede in Deutschland sind stärker nordsüdlich als west-östlich ausgerichtet, übrigens auch in den neuen Bundesländern. Mecklenburg und Brandenburg waren auch früher vorrangig agrarisch und dünn besiedelt, Sachsen und Thüringen handwerklich-industriell bestimmt. Deshalb sind auch heute die Verständigungsschwierigkeiten zwischen Ostfriesen und Bayern größer als zwischen Thüringern und Hessen oder Schleswig-Holsteinern und Mecklenburgern. Gegenüber diesen tausendjährigen Nord-Süd-Unterschieden sind die Ost-West-Unterschiede jung. Sie sind allerdings nicht nur landsmannschaftlich, sondern durch verschiedene politische, ideologische und wirtschaftliche Lebensverhältnisse bestimmt. Aber je mehr sie verblassen, umso deutlicher werden die alten Nord-Süd-Unterschiede auch im Osten – und auch die alten Verbindungen etwa zwischen Thüringen und Hessen oder zwischen Mecklenburg-Vorpommern und den nordwestlichen Bundesländern. Sie haben ja deshalb einen gemeinsamen Norddeutschen Rundfunk.

Dass es mit der deutschen Einheit gut bestellt ist, ergibt sich auch aus Folgendem: Leider gehen viele Ostdeutsche in den Westen, der Arbeit oder der Ausbildung wegen. Sie haben aber dort überhaupt keine Integrationsprobleme. Auch die Solidarität ist in Deutschland beachtlich. Bei der Elbeflut und der Oderflut konnten wir das erleben. Noch immer gibt es Transferleistungen in den Osten. Darüber gibt es hier und da westlichen Unmut, auch die berechtigte Rückfrage, ob das Geld immer richtig verwendet wird, aber doch weder Verweigerung noch öffentlichen Protest.

Was vom Westen aus oft übersehen wird, sind die gewaltigen Unterschiede innerhalb des Ostens. Ich meine jetzt nicht die landsmannschaftlichen, sondern die posttotalitären. Gelegentlich gab es Veranstaltungen, bei denen ehemalige Funktionäre der SED und DDR-Oppositionelle aufeinanderstießen. Da flogen die Fetzen. Noch heftiger geht es zu, wenn Stasi-Offiziere und Stasi-Opfer aufeinanderstoßen. Ich persönlich kann mich mit einem Protestanten aus Hamburg sehr viel einfacher verständigen als mit dem Schulleiter, der meine Tochter nicht zur Oberschule zulassen wollte. Ich gehe ihm bis heute aus dem Weg.

Wer vom Scheitern der deutschen Einheit spricht, legt einen Maßstab von Einheit, sprich Einheitlichkeit an, wie ihn die Romantiker erträumt haben, oder er nimmt sich die deutschen Diktaturen zum Vorbild. Aber die haben zwar von der Volksgemeinschaft oder der sozialistischen Menschengemeinschaft geschwärmt, aber um den Preis, dass die Rassenfeinde dort und die Klassenfeinde hier ausgeschlossen wurden.

Dritter Maßstab:

die anderen ehemals sozialistischen Länder

Überall war der Transformationsprozess mit schweren wirtschaftlichen Verwerfungen und hoher Arbeitslosigkeit, auch mit Abwanderung verbunden. Überall sitzen postkommunistische Parteien in den Parlamenten, öfter auch in den Regierungen. Überall ist das Wahlverhalten und die Wahlbeteiligung sehr wechselhaft. Überall gibt es leider auch nationalistischen Radikalismus. Überall gibt es das Problem des Elitenwechsels, zermürbende Auseinandersetzungen um die Vergangenheit und um Eigentumsfragen. All das und noch einiges mehr erscheint vielen Westdeutschen als »typisch Ost«, ist aber in Wahrheit typisch posttotalitär.

Bei diesem Vergleich schneidet Ostdeutschland sehr gut ab. Dank der Vereinigung konnten die Schmerzen dieses Prozesses in Ostdeutschland namentlich für die Rentner und Arbeitslosen erheblich abgefedert werden. Alle jene Länder waren mit dem Problem der hohen Staatsschulden konfrontiert. Sie haben sie durch Inflation abgebaut, was die Sparguthaben vernichtet und zu einer Phase der Altersarmut geführt hat. In Polen betrug die Arbeitslosigkeit 2007 18 Prozent, in Nordböhmen ebenfalls, aber Arbeitslose bekommen nur ein Jahr Unterstützung. Von allen ehemals sozialistischen Ländern hat Ostdeutschland den weitaus höchsten Lebensstandard und die beste Infrastruktur.

Eigentlich wissen das die Ostdeutschen auch. Denn wer an Umzug denkt, denkt an Süddeutschland, an Österreich oder die Schweiz, vielleicht auch an Skandinavien. In eines der anderen ehemals sozialistischen Länder will keiner umziehen.

Wir Ostdeutschen sollten uns endlich einmal eingestehen, dass wir den Zusammenbruch des Sozialismus äußerst glimpflich überstanden haben, und zwar dank der deutschen Einigung.

Vierter Maßstab:

der Vergleich der Lebensbedingungen in der DDR mit unseren heutigen

Die Forderung der ostdeutschen Demonstranten von 1989 sind erfüllt: Stasi raus, Reisefreiheit, freie Wahlen, Einheit Deutschlands.

Ich nenne an erster Stelle den Freiheitsgewinn und denke dabei nicht zuerst an die Reisefreiheit, sondern an die Freiheit von der Angst vor Verhaftung. Noch im Sommer 1989 wurde von SED-Funktionären vertraulich die Warnung weitergegeben, der Platz des Himmlischen Friedens sei näher, als manche dächten. Gemeint war die blutige Niederschlagung der Demonstrationen in Peking, die Egon Krenz ausdrücklich gelobt hatte. Zum 9. Oktober 1989, nach der Jubelfeier zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR, war alles vorbereitet, um die Leipziger Montagsdemonstration gewaltsam niederzuschlagen. Das AGRA-Gelände in Markkleeberg war für eine Internierung der Demonstranten vorbereitet worden. Die Sicherheitskräfte zogen sich aber zurück, weil sie befürchteten, mit der unerwartet hohen Anzahl von Demonstranten nicht fertig zu werden: Es waren 50.000 erwartet worden, aber 70.000 waren gekommen.

Nachträglich haben wir erfahren, dass für den Fall des Ausnahmezustands landesweit Internierungslager vorbereitet waren sowie Namenslisten.

Als Zweites nenne ich die Freiheit vom ideologischen Zwang. Ich denke dabei besonders an die Zeitungen, an die Museen und an die Schule, an Staatsbürgerkunde und Geschichte. Auch die lokale Geschichte, wie sie in Museen präsentiert wurde, war ganz vom klassenkämpferischen Geschichtsbild beherrscht. Erst seit 1990 können wir wieder unsere jeweilige Heimatgeschichte mit ihren schlechten und guten Seiten – aber eben farbig – erinnern und pflegen.

Drittens nenne ich die Freiheit zur politischen Betätigung namentlich für Christen. Als Pfarrer durfte ich in der DDR nicht einmal Mitglied im Elternbeirat werden.

Nun zu den ökonomischen Seiten. Sie werden uns im Detail noch später beschäftigen, auch mit ihren problematischen Aspekten. Jedenfalls aber haben die Ostdeutschen einen mit den anderen ehemals sozialistischen Ländern nicht zu vergleichenden Wohlstandsgewinn erfahren. Während sich nämlich in jenen anderen Ländern nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus die Lebensbedingungen und die Einkommen über Jahre hinweg rapide verschlechterten, kam es nach 1990 im Osten zu beachtlichen Lohnsteigerungen. Diese haben zwar auch eine problematische Seite, auf die noch einzugehen ist. Jedenfalls hat aber die Ausstattung der Haushalte mit technischen Gütern den westlichen Standard erreicht, auch der Grad der Motorisierung, während in der DDR die Lieferfrist für ein Auto mehr als zehn Jahre betrug.

In der DDR herrschte bis zuletzt Wohnungsmangel. Honecker wollte zwar das Wohnungsproblem bis 1990 lösen. Da er das aber nicht schaffte, wurde verfügt, dass Wohnungssuchende nicht mehr erfasst werden sollten. Man wollte das Problem ersatzweise durch eine geschönte Statistik lösen. Heute haben wir mit dem Gegenteil zu kämpfen, nämlich Leerstand. Auch der macht erhebliche Probleme. Trotzdem sollten wir doch nicht vergessen, dass der Wohnungsmangel behoben ist und dass sich die Qualität der Wohnungen ganz erheblich verbessert hat. Manche sagen, das Gesundheitswesen sei in der DDR besser gewesen. Das ist falsch. Es war in mancher Hinsicht bequemer. Wir waren aber damals nicht etwa gesünder, sondern mussten im Durchschnitt früher sterben. Für manche Krankheiten gab es Medikamente und Operationen nur im Westen – oder im Regierungskrankenhaus, aber nicht für Otto Normalverbraucher. Seit 1990 ist die Lebenserwartung im Osten um fünf Jahre gestiegen, das heißt doppelt so schnell wie im Westen. Sie ist jetzt in Ost und West etwa gleich. Auch das hat Milliarden gekostet. Übrigens: Seit 1990 ist die Suizidrate in den neuen Bundesländern erheblich gesunken.

Das Bildungswesen entspricht westlichem Standard. Östliche Universitäten sind auch bei westlichen Studenten beliebt, weil sie nicht so riesengroß und anonym sind. Die Anzahl der Abiturienten pro Jahrgang hat sich enorm erhöht.

Schließlich sind mit ungeheuren Kosten die massiven Umweltschäden beseitigt worden, die die DDR hinterlassen hat. Am gefährlichsten waren die Hinterlassenschaften des Uranbergbaus (Kosten: 6,2 Milliarden Euro). Aber auch der Braunkohlenabbau hatte Wüsten hinterlassen, die nun zu Seenlandschaften werden. Außerdem die verseuchten Truppenübungsplätze und Kasernengelände, die Beseitigung der Minen am Grenzstreifen und der Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg … – die Liste lässt sich fortsetzen.

Ich selbst habe erst 1990 Telefon, Erdgas und Kanalisation bekommen.

Die Städte und Dörfer haben ihr Gesicht wiederbekommen. In den ersten fünfzehn Jahren nach der Vereinigung ist weit mehr renoviert worden als in 40 Jahren DDR. Die Infrastruktur – Straßen, Schienen, Telekommunikation, Strom, Wasser, Abwasser – hat in einem Aufholprozess, der einen Bruchteil der Zeit dauerte, der im Westen für diesen Standard benötigt wurde, insgesamt westliches Niveau erreicht, auch wenn die Landespolitiker hier noch ein Stück Autobahn und dort irgendetwas anderes vermissen. Und weil man nicht auf alt renovieren kann, kann ein westlicher Bürgermeister auf Besuch im Osten durchaus zu Recht bemerken, sein Rathaus sei in einem schlechteren Zustand als dieses. Es ist wahr: Die Infrastruktur ist im Osten heute oft besser als in bestimmten westlichen Regionen, für die in der Tat nun ein Programm »Aufbau West« gerechtfertigt ist.

Es ist nicht ganz einfach, einen plastischen Eindruck von dem enormen Zuwachs an Lebensqualität zu vermitteln, den wir alle im Osten erfahren haben. Ich habe in 40 Jahren DDR zweimal in einem Hotel übernachtet. Die waren nämlich dank der Planwirtschaft weitestgehend durch organisierten Tourismus ausgebucht. Urlaub habe ich entweder mit dem Zelt oder bei Bekannten und Verwandten gemacht. Da ich kein Arbeiter war, waren mir die FDGB-Ferienheime verschlossen. Einen Platz in einer Gaststätte zu bekommen war Glückssache. Vorn das Schild: »Sie werden platziert«, und davor eine Schlange. Ein einziges Mal habe ich ein Flugzeug benutzt: dienstlich, nach Ungarn.

Das Leben ist ungemein bunter geworden. Egal, um welches Hobby es sich handelt, für jedes sind die Möglichkeiten enorm gewachsen. Und wer will, gründet einen Verein, ohne vorher das Wohlwollen der Partei zu benötigen: Dort könnte ja etwas Umstürzlerisches betrieben werden! In Halle ist einmal eine Studentengruppe ausgehoben worden, die privat die Frühschriften von Karl Marx studiert hat! Wer die studierte, geriet nämlich unter Häresieverdacht.

Man braucht auch keinen Gesinnungstest mehr, ehe man ein Segelflugzeug besteigen darf. An der Ostsee waren sogar Luftmatratzen im Wasser verboten und das Baden bei Nacht. Und so weiter. Jedes Mal wieder freue ich mich, wenn ich auf dem Berliner Ring Nürnberg, Hannover oder Hamburg angezeigt finde statt »Transit BRD«.

Auch die genialsten Klagekünstler werden sich schwer tun, diese Bilanz im Tatsächlichen anzufechten. Sie können nur jeweils ein »ja, aber« dagegensetzen. Aber die Arbeitslosigkeit ist im Osten doppelt so hoch wie im Westen; das Vermögen der Ostdeutschen ist im Durchschnitt niedriger als das der Westdeutschen (die Ostdeutschen haben nun einmal aus 40 Jahren DDR weniger mitgebracht – und weniger zu vererben); der selbsttragende Aufschwung Ost ist noch nicht erreicht. Die große Kunst, sich als Opfer darzubieten, treibt auch Sumpfblüten: Kein einziger General der Bundeswehr und kein einziger Richter der Bundesgerichte sei ein Ostdeutscher. Woher nehmen, wenn nicht stehlen – nach einer Revolution? Immerhin haben wir eine ostdeutsche Bundeskanzlerin – und seit 2012 einen ostdeutschen Bundespräsidenten. Wann übrigens war je ein Sizilianer italienischer Präsident und Ministerpräsident?

Joachim Gauck hat einmal gesagt: Wir träumten, wir kommen ins Paradies, und sind in Nordrhein-Westfalen aufgewacht. Das ist aber nicht der schlechteste Ort auf dieser Welt, übrigens auch von Umstrukturierungskrisen betroffen mit örtlichen Arbeitslosenraten von Ostniveau, ohne dass sich die Nordrhein-Westfalen als Bürger zweiter Klasse verstehen würden.

Ich behaupte auch gar nicht, dass wir im Osten keine Probleme hätten. Ich habe auch nicht den Bevölkerungsrückgang im Osten übersehen. Er beruht aber zu mehr als der Hälfte nicht auf Abwanderung, sondern auf dem Geburtenrückgang nach 1990. Und daran ist weder der Westen noch die Bundesregierung schuld. Die Menschen haben in unsicheren Zeiten den Kinderwunsch verschoben, was ja verständlich ist. So wollten sie es, und so haben wir es jetzt. Eine Revolution hat stattgefunden, ein Staat ist zusammengebrochen mitsamt seiner Wirtschaft. Wer für solche Zeiten auch noch Planungssicherheit verlangt und konstante Lebensverhältnisse, der muss sich eine andere Welt suchen.

Das Ausmaß der ostdeutschen Abwanderung verwundert Ökonomen anderer europäischer Länder überhaupt nicht, wie aus einer Studie hervorgeht, die die Deutsche Nationalstiftung zur ökonomischen Lage in Ostdeutschland hat erstellen lassen. Das gibt’s bei uns auch, sagen jene, Liverpool und Magdeburg sind beide deindustrialisiert, mit dem Unterschied, dass in Magdeburg eine neue Infrastruktur entsteht, in Liverpool nicht. Auch bei uns gehen die Menschen dorthin, wo sie Arbeit finden, und kommen, wenn es zu Hause vorangeht, wieder zurück, wie derzeit die Iren, die aus Großbritannien zurückkommen. Es sei doch besser, Ausbildung und Arbeit anderswo zu finden als gar nicht, sagen sie.1

Die Abwanderung aus dem Osten ist außerdem nur der Negativsaldo einer viel größeren wechselseitigen Wanderungsbewegung. Von 2001 bis 2003 ist die ostdeutsche Bevölkerung insgesamt durch Abwanderung um 150.000 gesunken. 862.000 sind gegangen, aber 715.000 sind von West nach Ost gekommen oder zurückgekommen. Wir vermischen uns also, und das ist gut so. Allerdings kommt die Zuwanderung den großen ostdeutschen Städten zugute, nicht dem flachen Land, das sich entvölkert – wie in Schleswig-Holstein. Im Jahre 2013 ist zum ersten Mal der Wanderungssaldo ausgeglichen: Es sind so viele gegangen wie gekommen.

Seit dem Mittelalter beruht in Europa der Wohlstandsgewinn darauf, dass immer weniger Menschen für die Ernährung und dafür umso mehr Menschen für anderes arbeiten, und zwar in Städten. Das Besondere an Ostdeutschland ist nur die Schnelligkeit des Nachholprozesses. Im Westen fällt derselbe Prozess nicht auf, weil er langsamer läuft. Unsere östlichen Nachbarn befinden sich noch in diesem Prozess. Er ist dort schmerzhafter.

Jens Bisky befürchtet: Der Osten verarmt, vergreist, verblödet.2 Zum letzten Punkt machen jene Gutachter eine ganz andere Rechnung auf. Es gehen zwar viele, es kommen aber Hochqualifizierte. Per Saldo ergebe der Intelligenztransfer eher ein Plus für den Osten.

Der Hinweis, dass es anderen genauso schlecht geht oder schlechter, wird oft als Zynismus gebrandmarkt und mit dem Vorwurf versehen, da mache einer seinen Frieden mit einer faulen Wirklichkeit. Wo bleibt das Mitgefühl mit den Opfern der Einheit? Ich habe volles Verständnis für denjenigen, der empört ist und frustriert, weil er sich nun schon über Jahre vergeblich um einen Arbeitsplatz bemüht. Ich würde ihn nur bitten, mit Schuldzuweisungen vorsichtig zu sein. Es gibt kein wirtschaftspolitisches Rezept für eine Vollbeschäftigungsgarantie, schon gar nicht für den Arbeitsplatz nach Wunsch vor Ort. Das lässt sich erklären und verstehen. Es gibt kein Leben ohne Risiko, und am wenigsten gibt es das, wenn Neues entsteht. Wir leben in einer Welt mit beschleunigtem Veränderungstempo. Das Mitgefühl mit dem einzelnen Schicksal kann aber nicht verbieten, auch gesamtgesellschaftliche Prozesse zu beurteilen und zu bewerten. Wenn ich darauf verweise, dass die Zahl der Sexualmorde zwischen 1993 und 2003 um 37,5 Prozent zurückgegangen ist – die meisten glauben, sie habe sich mehr als verdoppelt, weil jeder Fall ins Wohnzimmer gemeldet wird3 –, habe ich weder den Sexualmord verharmlost noch behauptet, dass wir uns mit dem Status quo abfinden sollten. Wir haben Probleme in Deutschland, es sind aber gesamtdeutsche Probleme, die sich allerdings im Osten oft verschärft oder geballt zeigen. Alle diese Probleme kommen auch im Westen vor, allerdings sind die betroffenen Regionen dort kleiner. Und unsere Probleme sind zu einem großen Teil unerfreuliche Folgen erfreulicher Entwicklungen. Wir werden im Durchschnitt älter, aber darauf ist das Rentensystem nicht eingestellt. Die Medizin kann viel mehr leisten als früher, aber das kostet Geld und verlangt nach einer Gesundheitsreform. Schwere und eintönige Arbeit nehmen uns heute Maschinen ab. Aber es ist nicht leicht, für die eingesparten Arbeitsplätze Ersatz zu schaffen. Die deutsche Einheit wurde unerwartet möglich, aber das kostet viel Geld. Der eiserne Vorhang ist gefallen und mit ihm die latente Weltkriegsgefahr. Aber nun schützt er auch nicht mehr den reichen Westen vor der östlichen Armut und der Konkurrenz aus unseren östlichen Nachbarstaaten mit ihren niedrigen Lohnkosten. Und so weiter.

Ich äußere mich hier auch zu ökonomischen Fragen, obwohl ich kein Ökonom bin. Ich hoffe, ich habe meine Grenzen nicht allzu weit überschritten. Man muss aber nicht Meisterkoch sein, um zu beurteilen, ob das Essen schmeckt. Es gibt in unseren Fragen den Unterschied zwischen Fachkenntnis und Feldkenntnis. Der Ökonom weiß, was in der Situation a zu tun ist, damit das Ziel b erreicht wird. Ich habe die DDR sehr intensiv kennengelernt und kann deshalb manchmal beurteilen, ob denn die Situation a zum Zeitpunkt x tatsächlich gegeben war. Ökonomische Empfehlungen werde ich nicht geben.