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Willibald Alexis' historischer Roman "Isegrimm" entführt den Leser in das Deutschland des 16. Jahrhunderts, eine Zeit geprägt von politischen Intrigen und gesellschaftlichen Umbrüchen. Der Roman zeichnet sich durch seinen detailreichen historischen Kontext und die lebendigen Beschreibungen der Charaktere aus. Alexis' literarischer Stil ist geprägt von einer präzisen Sprache und einer tiefgreifenden Analyse der menschlichen Natur, die den Leser in die Welt des späten Mittelalters eintauchen lässt. Der Autor verbindet geschickt Fiktion mit historischen Fakten und schafft so ein fesselndes Leseerlebnis.
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Seitenzahl: 1145
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Non semper in medias res.
Die Sonne wirft den scharfen Strahl auf die Gipfel der Berge und in die Täler, sie leuchtet so hell auf das Dächermeer der Städte, als auf die bemoosten Hütten der Dörfer. Ueberall schafft sie Bilder, aus was Stoff ihr entgegenkommt, und sie fragt nicht nach Vornehmheit und Schönheit, ob sie die Firnen der Alpen anglüht, oder ihren Abendhauch in den Hagedorn sprenkelt, da auf dem einsamen Rain, wo nur die Mücken wirbelnde Kreise durch die goldene Glut ziehen. Unsere Kunst tut es nicht gleich der großen Gleichmacherin. Was sie sich auch müht, die Wahrheit in den Winkeln und Ecken zu finden, sie sucht doch immer nach dem, was sich auszeichnet, auch unter Lumpen nach den buntesten. Und unsere allergrößte Kunst, die Geschichtsschreibung – denn was wären wir ohne sie? ein Strom, aus dem Luftblasen auftauchen, um wieder darin zu vergehen – auch sie, wenn sie ihr klarstes Licht in die Dinge und ihre Bewegungen senkt, beleuchtet nur das, was sich hervortat. Es ist eitle Arbeit, wenn sie von den Königen und Helden sich abwenden will, um nur das Volk zu schildern; wie tief und tiefer sie in die Schichten und Kreise dringt, sie konterfeit nur die, welche auch da Führer und Fürsten waren.
Die Geschichte geht wie ein großes Heer auf der Heerstraße fort, und in das Land daneben schickt sie nur Streifzüge, je wie die Gelegenheit es gibt, zum Auskundschaften und Beutemachen. Ja, wenn die Büsche und Felsen zur Festung werden, wenn Entschlossenheit, Glaube und Mannesmut von den Hauptstädten und Straßen sich in die Schluchten und Winkel retten, dann ändern sich die Verhältnisse, aber nicht das ewige Gesetz; dann kann auch einmal ihre große Straße durch die unwegsamen Hecken der Vendee führen und über die schwindligen Klippenstege der Tiroler Alpen.
Die große Heerstraße der Geschichte von Jena bis Tilsit kennen wir, mit ihren Etappen, den großen Niederlagen. Auch Streifzüge macht sie in die Provinzen, aber wo ihr Brennspiegel Licht hinwirft, zeigt sie uns nur den Fall von Festungen, Kapitulationen und Uebergaben. Weiter malt sie nichts, sie fand keine Vendee und kein Tirol. Und hätten wir ein Buschland gehabt von der Elbe bis zur Oder, von dichten, stachlichten Hecken durchschnitten, und drüben Bergschluchten, um Felsblöcke herunterzuwälzen, die Franzosen wären doch ruhig durchmarschiert – damals! Es war nicht die physische Gewalt, es war der panische Schreck des Unerwarteten, Ungeahnten, es war der Zauberschlag der Wirklichkeit, was die verschlafenen und träumenden Seelen niederwarf; da waren sie, enthülst von allen ihren Illusionen, allen den Schirmen und Brillen, die sie um ihr Gesicht getan, von dem niederschießenden grellen Licht geblendet – in einen Starrkrampf verfallen. Der Schrecken mußte lange regieren, der Körper gelähmt bleiben, damit die Seelen wieder erstarkten.
Wir können auf der Heerstraße Schritt um Schritt verfolgen, den Uebermut und die Gewalttätigkeit der Sieger, die Not, das Elend, die Torheit und Kleinmütigkeit oder den stummen Grimm der Besiegten. Davon sind hundert Bücher zu lesen, wie es in der Hauptstadt und den großen Städten traurig und jämmerlich aussah; aber dasselbe Elend und dieselbe Not breitete sich auch aus über das Land, und jeder Flecken und jeder Winkel hatte davon zu tragen und zu klagen. Von diesen Klagen nahm die Geschichte nur wenige auf, weil sie meint, es sei nicht nötig, zehnfach zu wiederholen, was an neun Orten ebenso war, wie an dem einen. Es schmerzte aber darum nicht weniger. Ja, in der großen Anklage, die sie uns jetzt tausendfältig in die Ohren schreien, daß das Uebergewicht der großen Städte der zehrende Schaden des platten Landes sei, und daß, um dies gutzumachen, die Weltgeschichte umgekehrt oder neugemacht werden müsse, und das Land und seine Grundherren die Uebermacht wiedergewinnen über die Städte, da führen sie auch an, daß das Land damals weit schwerer die allgemeinen Lasten getragen, und seine Aengste und Schmerzen ganz besondere gewesen, welche der Städter hinter seinen warmen Mauern und unter dem Schutz der Ordnung, welche auch unter der Herrschaft der Feinde bleibt, gar nicht kennen gelernt. Das ist möglich, es hat ein jeder Schmelz sein aristokratisches Recht, daß er sich für den ersten und größten hält, die der anderen im Vergleich damit für klein. Aber wo das Unglück alle ereilt wie eine Wasserflut, da, meine ich, ist es an den einzelnen, nicht zu rechten und zu rechnen, wer mehr verloren hat, sondern daß, wer noch nicht ertrunken ist, dem Ertrinkenden die Hand reicht, um ihn zu retten.
Doch kam der Feind nicht wie eine Ueberschwemmung, sondern wie graue Wolken, die langsam, aber sicher eine Gegend überziehen, bis sie in einem Regen sich entladen, so durchdringend und andauernd, daß endlich kein noch so verstecktes Fleckchen undurchweicht ist. Wohl sah das Land auch viele Schreckensauftritte, wenn die ersten Feinde in die Dörfer sprengten, in die Höfe preschten. Krieg ist Krieg, und auf die Namen kommt es nicht an, auch nicht, ob der Sieger nimmt oder sich geben läßt, worauf er Lust hat. Was gut ist, schlecht finden, was man nicht mehr genießen kann, verwüsten, und Gewalttätigkeiten üben, wo man sich Herr glaubt, das gehört nun einmal zur unverwüstlichen Natur des subalternen Menschen. Das bißchen Plündern und Mißhandeln hätte man abgeschüttelt wie ein Unwerter, aber dann die Kolonnen auf Kolonnen, die wie ein Alp ruhten, wie Vampyre aussogen, und hinter ihnen die Marodeure, die nächtlichen Einbrüche, Feuersbrünste, die Lazarette und ihr vergiftender Pesthauch. Doch das übelste der Uebel war das System, das die Fremden mitbrachten, und auf die Verhältnisse, die sie vorfanden, impften. Ihre Kommissäre, Receveure und Direkteure litten weder Abschläge auf die noch gefüllten Kisten, nein, sie stellten Schildwachen davor, noch begünstigten sie die Plünderer, sie trieben sie wohl mit Klingenhieben fort und zwangen sie, was sie aus den Speichern auf die Gasse geworfen, selbst zurückzutragen. Denn was sie retteten, retteten sie für sich, die Besitzer wurden ihre Verwalter. Das war der feuchte Nebelregen, der in alle Poren des Landes drang, das Spinnengewebe der französischen Beamten mit höflichen Redensarten und lächelnden Mienen, aber mit Argusaugen und den Klauen des Luchses.
Sie drangen bis ins Herzblut und hatten sich eingewühlt und gefressen, wie die Maden in alle Teile des Leibes. Nicht an einem Aderlaß sollte das Opfer verbluten, nein, sie pflegten und hätschelten es, damit es wieder Kräfte bekäme, und dann zapften sie langsam und sicher Tropfen um Tropfen ab. Das war der Schrecken der Schrecken, weil man es nicht sah, und doch in jeder Fiber fühlte, das systematische Aussaugungssystem, das von der Hauptstadt auslief, bis es mit seinen Schlingen und Fasern das letzte Haus des letzten Dorfes umspannt hielt.
Ein grauer Nebelhimmel war es auch, der noch nicht regnen wollte, aber Regen schwitzte, als wir einer Jagdkalesche begegneten, deren sonst wohlgehaltene Pferde nur mühsam das leichte Gefährt durch die aufgewühlten Sandwege zogen. Daß die erscheinende Natur so oft Sympathie hält mit den Dingen und Stimmungen, die uns drücken! Es war einer der Landesteile, wo die ganze Wucht des Unglücks sich noch nicht entladen hatte, aber die Wolken zogen und senkten sich immer tiefer, wie die an dem Novemberhimmel, der die Erde fast zu berühren schien.
In der Kalesche saß ein hochgewachsener Mann mittlerer Jahre, dessen mit Zobel besetzte Wildschur den vornehmen Herrn andeutete. Nachlässig zurückgelehnt, nahm er den größten Teil des Sitzes ein, den er mit einem anderen teilen sollte.
Der neben ihm war ein junger schmächtiger Mann von blassem Gesicht, aber dunkelglänzenden Augen. Sein schwarzes Haar fiel unter dem Hut in lockenförmiger Kräuselung über beide Seiten herab, in einer Art, wie es damals noch nicht Mode war. Es war überhaupt wenig Modisches an dem jungen Manne; sein dünnes, abgetragenes Oberröckchen deckte nur den schwarzen Leibrock darunter, aber kaum die Knie und die Füße gegen die herabfallende Nässe. Die Pelzdecke, welche man beim Ausfahren wohl zu diesem Zwecke mitgenommen, hatte ein anderer junger Mann über seine Knie gebreitet, was sehr natürlich schien, da er vorn die Pferde lenkte. Aber der junge Mann draußen, sichtlich vornehmer als sein Platz, hatte, was man nennt, mehr auszugeben, nämlich das, was einen Schutz von innen gegen die Einwirkungen von außen gewährt; wie einer, der ein gutes Frühstück zu sich nahm, besser der Kälte trotzt, als der, welcher hungrig in den nassen und kalten Morgen ausreitet.
Er gehörte auch weder auf diesen Platz, noch auf diesen Wagen; das Reitpferd, welches der Knecht in Kutscherlivree hinter der Karosse ritt, war augenscheinlich das seine, und er hatte es nur mit dem Kutschersitz und Dienst aus Liebhaberei, oder um der Gesellschaft willen, vertauscht. Man sah, er wußte mit Pferden umzugehen, aber die Pferde kaum mit dem Wege zurechtzukommen, besonders jetzt, wo sie durch eine Niederung sich durcharbeiten mußten. Als auch die Pfeife, vielleicht infolge der nassen Luft, ihm ausgegangen war, hielt er einen Augenblick an, wie er sagte, um die Tiere verschnaufen, andere mochten denken, um sich von dem Kutscher, den er heranwinkte, Feuer geben zu lassen.
»Frieren Sie auch nicht, Herr Kandidat?« fragte er zu dem jungen Manne gelegentlich über die Achsel.
»Es ist eigentlich warme Luft,« entgegnete der Angeredete, ob doch ein Frösteln über seine Glieder fuhr.
»Wir sind ja bald da, Baron,« warf der andere hin. »Auch kann man oben in der Schenke, wo wir ohnedies anhalten müssen, etwas Wärmendes zu sich nehmen.«
Der vornehme Mann bedurfte nicht der Wärmung, obgleich er nicht gerade das auszugeben hatte, was der als Baron angeredete. Er schien vielmehr mager, aber die Wildschur hielt, wie jeden Tropfen, jedes Lüftchen von ihm ab.
Die Pfeife brannte, aber der Weg ward nicht besser. Es war ein Knüppeldamm, der an einigen Stellen ganz aufzuhören schien. Die Hölzer waren verfault und in den Moorgrund gesunken, die Räder sanken mit einem heftigen Ruck nach und mußten, oft bis an die Achse im Kot, sich Bahn brechen. Hätten nicht hie und da verkrüppelte Weiden gestanden, so hätte man fürchten können, den Weg ganz verloren zu haben. Der Herr in der Wildschur schien diese Besorgnis zuweilen zu teilen, indem er über die Räder auf den Boden unter sich und dann in die Ferne blickte, die, obgleich es noch früher Nachmittag, immer dunklere und unbestimmtere Schattierung annahm. Der Knecht, der, soviel es ging, sich in der Nähe des Wagens hielt, mußte auch die stumme Sprache seines Herrn verstehen.
»Herr Hofmarschall brauchen keine Bange nicht zu haben, das ist man hier in dem verfluchten Loch unter der Schwedenschanze so. Weiß der Teufel, wenn’s acht Tage im Herbst geregnet hat, dann ist’s, als ob die Quierlitz ihr altes Bette sucht, dann quirlt und quikt und sprudelt es von Quellen, an die kein Christenmensch denkt, und ist doch Sommers, wenn’s trocken ist, wie ‘ne aufgesprungene Brotkruste, die der Bäcker verbacken hat.«
Für die Herren im Wagen mochte das kein Trost sein, besonders da derselbe jetzt im hellen Wasser fuhr. Der Baron wollte wieder anhalten.
Der Eigentümer ermahnte ihn, getrost dem Knecht zu folgen, der hier aus und ein wisse, und bald hörte auch das Plätschern und Rauschen unter ihnen auf, um wieder dem unangenehmen Stolpern und Holpern Platz zu machen, das erst nach einer ganzen Weile nachließ, als der Erdboden sich hob und den Pferden die schwierigere Arbeit blieb, die Kalesche eine langsam steigende Anhöhe durch tiefen Sand hinaufzuziehen. Der Hofmarschall sah jetzt etwas besorgt auf seine dampfenden Tiere. Der Knecht verstand ihn wieder.
»Gar nicht, gnädiger Herr! Da hätten Sie sehen sollen, wie sie beim Vorspann dran mußten, und gar wie die Kanonen im Bruch bei Dammerthin stecken blieben. Alles losgespannt im Nu, die Wagen gelassen, wo sie staken, und vor die Lafetten, und nun, das war ein Peitschen und ein Fluchen, alles französisch, und ricks, racks, raus und durch! Ob ein paar Stränge rissen und ein paar Tiere fielen, darauf kam es nicht an. Unsere sahen aus, daß Gott erbarm, ich hab’s dem gnädigen Herrn nicht gesagt, derweil Herr Hofmarschall zur Kreissteuer-Konskription drinnen waren, aber ich habe sie doppelt gefuttert und gestriegelt; denn was gute Rasse ist, hält aus. Dem Herrn Baron sein Fuchs, dieser, hat ja auch nach Daberlow ‘nen Pulverwagen ziehen müssen. Da hieß es: Zieh, Schimmel, zieh! Und sieht doch wieder ganz reputierlich aus. Den Franzosen ihre Tiere aber, das sind Schindmähren, mit Respekt zu sagen. Kaninchen sind das, und keine Pferde. Ich kenne sie ja, wenn sie damit in die Oderbrüche kommen!«
»Desto schlimmer für uns,« seufzte der Hofmarschall, als er abstieg, um den Pferden Erleichterung zu schaffen, und der Kandidat folgte; der Baron nahm seine Büchse und sprang vom Bock, jetzt eine elegante Jägergestalt, in dem grünen, knappen Ueberzieher mit Metallknöpfen und den glänzend gelben Klappstiefeln. Die Herren waren, ohne selbst zu eilen, dem Wagen vorauf und hatten die Höhe erreicht. Der Baron, der ein verdrießliches Gespräch mit dem andern über die Pferdelieferungen geführt, blieb hier stehen und sah mit einem prüfenden Kennerblick umher.
»Ich wünschte, die Rackers, die Franzosen würden auch mal hier durchgeführt, daß sie im Dreck stecken blieben. Wozu ist sonst solcher Morast!«
Der Hofmarschall machte unwillkürlich das Gesicht, als wollte er nach dem Wind sehen.
»Lassen Sie sich nur von Herrn Mauritz erzählen,« sagte er dann. »Etwas Aehnliches hat sich hier schon in der Vorzeit zugetragen.«
Der Kandidat erzählte kurz, aber doch noch vielleicht zu lang für die Aufmerksamkeit seines Zuhörers, daß der Sage nach in diesem Sumpfe der größte Teil eines deutschen Heeres in dem furchtbaren Wendenkriege um den Besitz der Marken den Untergang gefunden. Das Historische schien aber den Baron nicht sehr zu interessieren, auch nicht, daß es vielleicht Otto der Große selbst gewesen, der den Angriff seiner Heere geleitet.
Sie standen auf einem jener gewellten Höhenzüge, die sich so oft in den Marken mitten aus dem flachen Bruchland erheben, zuweilen in so regelrechter Form, daß das Auge zweifelhaft wird, ob es mit einem Spiel der Natur oder einer Befestigungskunst zu tun hat, deren rohe Züge durch die Jahrhunderte wieder verwischt sind. Die Kiefern, welche in unregelmäßigem Aufwuchs die Höhe bestanden, konnten indes für den Kenner die Formen eines altslavischen Burgwalls nicht verbergen, hier auf einer der Sandhöhen errichtet, welche das Meer bei seinem Abzuge von diesen Alluvionen zurückließ. Wo der Wall gegen Mitternacht sich deutlich mit dem Hügel zugleich senkte, erhob sich gegenüber eine fortgesetzte Reihe von Hügeln, auf denen unverkennbar Hünengräber standen, das erste, nächstgelegene von beträchtlicher Größe, die Formen der tiefer nach dem Bruchland zu gelegenen hatte der Pflug schon mehr verwischt.
Die andern waren zweifelhaft, was der Baron beabsichtigte, als er ins Erdreich des Walles mit dem Ladestocke bohrte, und, mit der Hand nachdrängend, das Herausgezogene ans Licht hielt.
»Sie suchen doch nicht nach Schätzen,« sagte der Hofmarschall. »Jene Vorzeit hatte nach unserer Taxe keine, als die unsere Einbildungskraft ihr beimißt.«
Der junge Mann zeigte eine Handvoll fetter schwarzer Erde.
»Sind das keine Schätze, Herr von Quarbitz? Alle diese Wälle sind von Lehm und der fettesten Dammerde gebacken und gedampft; wie hätten sie sonst durch ein Jahrtausend sich so steil erhalten! Jenen alten Heiden, Ketzern oder Barbaren will ich’s verzeihen, die aus dem Moor die Schätze, die sie nicht kannten, auf den Sandhaufen schleppten und damit nichts Besseres anfangen zu können glaubten, als Schanzen zu bauen, die sie doch nicht vor den Eroberern schützten; aber daß wir, die wir uns gegen die Feinde nicht verschanzt haben, sondern ihnen alle unsere Festungen auf den ersten Trompetenstoß übergeben, die Schätze liegen lassen, ist Sünde und Schande. Sehen Sie hier, Hofmarschall« – er fuhr mit dem Hacken etwas tief in den Boden, daß der trockene Sand unter der feuchten Oberlage aufflog – »purer Staub und Kiennadeln! Wenn jene Kerle, die eigentlich Vieh waren, denn sie hatten keine Maschinen und keine Industrie, auf ihren Buckeln den schwarzen Kot da hinaustragen konnten, höchstens mit Ochsengespann, was sind wir denn, die wir Maschinen haben und Ochsen auch, daß wir ihn zusammengeballt liegen lassen, wo wir damit zwanzig Morgen Sandboden düngen könnten.«
Der Hofmarschall lächelte. Sein Verwalter hatte auch schon einmal daran gedacht, die Wälle abkarren zu lassen, wenn auch nicht zu Weizenäckern, doch um den Damm durch den Morast höher schütten zu lassen. »Aber mein Herr Vetter in Ilitz wollte davon nichts wissen. Sie erinnern sich vielleicht nicht, daß Querbelitz, was wir jetzt passieren, ein Lehngut ist, was denen von Ilitz und Quilitz zu gemeinsamer Hand gehört.«
»So war’s ja sein Profit auch!«
»Er hält aber, die auf den Profit sehen, nicht für Edelleute,« entgegnete der Hofmarschall mit dem Anflug einer mokanten Miene, deren Spitze auf den jungen Baron gemünzt sein konnte. »Passons là-dessus, mon cher! Auch paßte es nicht in meines Vetters Kram, wenn ich den Damm fahrbarer machte und wir dadurch leichter zu einander kämen.«
Der Baron sah ihn verwundert an. »Sie leben doch nicht in Feindschaft? Sonst würden Sie ihn jetzt nicht besuchen wollen.«
»Gewiß nicht, wir vertragen uns, wenigstens ich weiß ihn zu ertragen. Aber ce sont ses idées feudaliques, daß ein guter Edelmann eigentlich wie ein Klausner isoliert leben soll. Je weniger Umgang und je weniger Kommunikationen, um so sicherer steht er für sich, ein Patriarch, ein König oder ein kleiner Gott unter seinen Schafen, Ochsen und Untertanen. Die liebe Familie nicht zu vergessen,« setzte er leiser hinzu. »Da er nun den alten Graben um sein Schloß wieder aufräumen ließ, unbekümmert um den Gestank, der seine Damen in Verzweiflung brachte, so mögen Sie denken, daß er zu einer Regulierung der Quierlitz sich am wenigsten verstehen würde.«
»Mein Gott, der Herr von der Quarbitz will sich doch nicht in Ilitz gegen die Franzosen verschanzen!« rief der Baron.
»Was er will, werden wir erfahren; ich fürchte aber – nichts Gescheites.«
Die Kalesche war längst auf der Höhe, aber der Kutscher brachte aus dem Gehölz die unangenehme Nachricht, daß der kleine Fluß, den wir die Quierlitz nennen hörten, dermaßen reißend geworden, daß vermutlich der Schulze drüben es für geraten gehalten, die Bohlen der Brücke abtragen zu lassen. Das Resultat war, daß Wagen und Pferde an der Stelle nicht hinüber konnten, sondern rechts eine andere Brücke oder Furt suchen mußten, um das Wasser zu passieren. Das verursache einen beschwerlichen Umweg, wo nicht einen gefährlichen, da der Wagen zwischen dem Rande der Hügel und dem Moor sich ihn erst suchen müsse, so versicherte wenigstens der praktische Knecht und schlug vor, daß die Herrschaften zu Fuß hinüber möchten, derweil er mit dem ledigen Wagen sie schon noch an der Querbelitzer Schenke zu treffen hoffe.
Der Baron, obgleich vor kurzem erst in der Provinz angesiedelt, wußte doch, daß das Flüßchen jenseits des Kiefernwaldes sich einen tiefen Durchweg durch die Hügel gebahnt, und, wenn es angeschwollen, ein Fußgänger zugleich ein verzweifelter Springer sein müsse, der von einem steilen Ufer zum andern wollte.
»Die gnädigen Herren gehen mit Verlaub über den Buttertrab,« entgegnete der Knecht auf den Einwand.
Der Hofmarschall gab eine kurze Erklärung des Epithetons, welches der Witz der Bewohner einem Richtsteig beigelegt, den die Bauerfrauen an den Markttagen benutzten. »Es ist etwas beschwerlich, indessen was erträgt man nicht,« setzte er lächelnd hinzu, »wenn das Ziel schön ist.«
Der Baron erklärte sich zufrieden: ohne Richtwege im Leben komme man nie zum Ziel, und obgleich der Bauer von Natur ein Hornvieh zum Spekulieren, sei er doch pfiffig genug, wo es am besten krumm rum zu kommen gelte.
Der Wind hatte inzwischen in den Kiefern zu spielen angefangen, bald klärte er die obere Luftschicht, daß auch etwas vom Sonnenlicht auf ihre Scheitel fiel. Es war kein schönes, auch kein besseres Wetter, aber doch der Schein davon. Man ging daher leichteren Mutes an die Promenade.
»Vergessen nicht, Herr Hofmarschall,« rief der Knecht ihnen nach, als der Wagen schon über die Wurzeln rollte, »bei den Blutsteinen rechts um die Ecke, geradeaus geht’s nach Nauwalk.«
Die Fußgänger mußten durch den Burgwall, um links auf dem Hügelrande den beschriebenen Fußsteig zu erreichen. Der Boden war glatt von den Kiefernadeln; an schrägen Stellen gleitete man aus. Von den Wipfeln kamen dichte Tropfenschauer, die der Wind oder das Anstoßen gelöst, und Schwärme von Krähen lösten sich auch bei ihrer Annäherung von den Kieferästen und umkreisten mit ihrem unmelodischen Angstruf die Wipfel. Baron und Hofmarschall gerieten trotz aller Hindernisse in lebhafte Unterhaltung. Der Baron fand vieles unrecht und überall etwas auszusetzen. Warum hätte man hier keine Krähenhütte angelegt, dazu wenigstens wäre solche alte Umwallung in der Wüstenei zu nutzen. Er geriet sogar in eine historische Erörterung, warum man das Volk nicht aufkläre, das diese Wälle irrtümlich »Schwedenschanzen« nenne.
»Und die Kerls schwören noch darauf und sind stolz, als ob die Schweden, die eine kultivierte, in der Technik erprobte Nation waren, solche plumpe, hohe Wälle für ihre Kanonen aufgeführt hätten. Wo sollten denn die auf der schmalen Spitze stehen! Und als ob sie, denen die Städte des Landes offen standen, sich in irgend einem feuchten Winkel, im Bruch und Moor, zwischen Sumpf und Pfützen, verschanzt haben würden.«
»Unseres Volkes Erinnerungen gehen nicht weit zurück,« sagte der Kandidat. »Der dreißigjährige Krieg hat in diesen Gegenden nicht allein physisch so gewütet, daß ganze Dörfer von der Erde verschwanden, er hat auch moralisch die Generationen verdumpft und schwachsinnig gemacht. Geschichte, Sage und Tradition sind dem armen Volke völlig entschwunden. An den Namen Schwede knüpft sich für ihn alles, was über das Gewöhnliche hinausgeht. Der Schwede ist für ihn der Heros und der Barbar, er ist Riese, Hüne, und mitunter sogar der Teufel selbst.«
Der Hofmarschall fügte hinzu, daß die Schweden in diesen Gegenden besonders arg gehaust. »Als sie darauf von den Brandenburgern nach dem Tage von Fehrbellin hier eine böse Schlappe erlitten, haben die Bauern mitgeholfen. Mit ihren Dreschflegeln und Mistgabeln drangen sie in ein Karree und haben die Schweden bis auf den letzten Mann niedergedroschen.«
Der junge Baron schüttelte den Kopf.
»Trauen Sie unsern Bauern den Mut nicht zu?«
»Wenn’s die oberschlesischen meines Bruders wären, meinethalben! Da ist noch polnisch Blut drin. Wenn der Gutsherr ihnen Branntwein, der Pfaff den Segen gibt und etwa noch das Strumpfband einer Heiligen an ihre Fahne bindet, dann schlagen sie los, worauf es sei, wie Teufel. Womit wollen Sie aber diese hier aus ihrem Phlegma rütteln? Kann ich sie nur dazu bringen, ihre Aecker zu mergeln? Sie sehen, wie meine Felder prosperieren; sie haben Gespann, Zeit, Arme. Gott bewahre. – Ihr Schwerenöter, warum denn nicht? – Sie grinsen und krauen sich hinterm Ohr: Ja, Herr Baron, das mag für den gnädigen Herrn schon gut sein, aber für uns paßt es nicht. – Oder, daß sie ihre Gemeindewiese, die immer mehr versumpft, trocken legen? Mit ein paar Gräben wär’s getan. – Wozu das? – Unsere Väter und Großväter haben’s nicht getan und haben auch gelebt! – Ich will mich mit ihnen abfinden, ich will, ich mag ihre Hofedienste nicht, bezahlte Arbeit ist besser als Frondienst, ich stelle ihnen die besten Bedingungen. Ja, sie wollen sich bedenken. – Habt Ihr Euch bedacht? Ja, gnädiger Herr! Ich rechne es ihnen wie das Einmaleins vor, daß es ihr eigener Vorteil ist. Habt Ihr’s verstanden? – Ja, gnädiger Herr! – Also nun wollt Ihr? – Da drehen sie die Mütze in der Hand und kneifen die Augenwimpern. Ne, gnädiger Herr, wir denken, es ist nun mal schon so, nun mag es auch so bleiben. – Nun, so denk’ ich, bleibt hinter Eurem Ofen sitzen, eßt Schlippermilch und Buchweizengrütze bis an den jüngsten Tag, und geht im Sommer im Schafpelz, aber wer Euch hinaustreibt, um selbst für Euer Bestes zu sorgen, der soll noch geboren werden.«
»Sie vergessen, Baron, daß der brandenburgische Bauer Friedrichs bester Soldat war.«
»Dressiert. Wo ist denn hier im siebenjährigen Kriege nur ein Freikorps zustande gekommen?«
»Herr Mauritz scheint anderer Meinung,« sagte der Hofmarschall, vielleicht weil es ihm unbequem war, seine zu äußern, vielleicht weil er keine hatte.
Der Kandidat äußerte bescheiden, ein Urteil darüber stehe ihm nicht zu.
»Ei, Sie sprechen doch sonst über manches, worüber ich Sie nicht zum Informator nahm,« lautete die Antwort, »und hier hört Sie niemand.«
Der junge Mann errötete etwas. »Ich glaube, es ist in der sittlichen wie in der physischen Welt jedem Dinge sein Maß gesetzt. Darüber hinaus wächst kein Baum, und der Geduldigste erträgt nicht mehr, als – Gott ihm auferlegte, daß er ertragen sollte.«
Nach einer Pause, die andern schwiegen, setzte er hinzu: »Wenn der märkische Bauer das wieder ertragen sollte, was unter Schweden und Wallensteinern, so glaube ich, ist er noch heut so fähig wie damals, die angeerbte Trägheit abzuschütteln, sich umzukehren, vielleicht aus der Menschenhaut in einen Tiger oder Dämon zu springen. Freilich, aus ihm heraus kommt’s nicht. Die Hilfe muß von anderswo sein. Es bedarf des Lichtfunkens, der Trompetenstöße, daß sein Innerstes erbebt und empfänglich werde für die Erkenntnis. Wo dieser Stoß jetzt herschallen soll, weiß ich nicht. Er hat keine Führer, keine väterlichen Freunde, keinen, der mit ihm fühlt, ihn liebt. Die die Aufgabe hätten, ihn aus der Verdumpfung aufzuziehen, betrachten ihn als eine Maschine, ein Werkzeug, er ist ihnen nicht mehr als der Spaten, der ihre Schollen umwirft, ein Lasttier, sie nennen ihn auch ein Hornvieh. Für den Staat ist er nichts als der große Teich, das Gehege, worin er seine Schlingen und Netze auswirft, wenn er Soldaten bedarf. Nummern, Zahlen, zum Statisten, Futter fürs Pulver, ist er bestimmt, ohne andere Bestimmung, als, wenn er abgenutzt ist, fortgeworfen zu werden. Was wundern wir uns, daß er die Schwielenhaut der Trägheit und Gleichgültigkeit immer fester um sich zieht, um sich zu schirmen gegen die Stacheln und Schläge, daß er jene Pfiffigkeit und Schlauheit ausbildet, die auch das Tier mit ihm gemein hat, wenn es seine Peiniger wieder sticht. Was, daß der kleinherzige Egoismus die kleingetretene Seele ausfüllt, wo ein brausendes Hohngelächter ihm antworten würde, wenn er von seiner Menschenwürde sprechen wollte. Was weiß er von Freiheit, Vaterlandsgefühl, von den Ideen, die den Edlen über sich selbst erheben, zu Opfern mutig machen. Der König freilich ist ihm das Bild der Allmacht und Gerechtigkeit auf Erden, aber wie unklar, undeutlich ist dies Bild! Wo sieht er ihn unvermittelt, in belebender, persönlicher Größe? Wohl sah der Bauer einst seinen Friedrich, und er lebt noch in den Hütten, so sah er auch seinen Retter in den ärgsten Nöten, den großen Kurfürsten, da schuf Verzweiflung und Dankbarkeit eine Begeisterung, die –«
Die beiden hatten schon lange nicht mehr zugehört, als der ältere den jüngeren hier mit einem: »Apropos, beim großen Kurfürsten« auf die Schulter klopfte. Sie hatten den Ausgang des Kiefergehölzes erreicht, und es war nur noch ein halb entblätterter Elsenbusch, der die Aussicht über die weite Moorgegend vor ihnen verbarg, während sie vom letzten übermoosten Waldknollen eine ziemlich weite über den zurückgelegten Strich hatten.
»Dies ist auch das Werk des großen Kurfürsten, Herr von Eppenstein,« sagte der Gutsherr und wies auf einen überwachsenen Erddamm hinter ihnen, welcher an den Hünengräbern quer ins Land schnitt und den man jetzt durch eine Lichtung des Holzes bequem übersehen konnte. »Von daher fluteten vor alters die Sumpfwässer und die Quellen, welche heut das Flüßchen, die Quierlitz, bilden, und ergossen sich ins Torfmoor, durch das wir müssen. Der Bach, der sich in den Hügeln ein Bett beschnitten, war damals nur ein Abfluß, möglicherweise auch nur ein Graben, von den Wenden, um die Mühle zu treiben, ausgetieft.«
»Oder um die Festung fertig zu machen,« unterbrach der Baron, der mit raschem Blick die Position erkannt hatte. Die Hügelkette mit dem Burgwall und den Hünengräbern mußten, von dem alten See, dem tiefen Graben und dem Moor umschlossen, eine starke Fortifikation jener Zeit abgegeben haben. »So ganz dumm waren die alten Heiden auch nicht.«
»Der große Kurfürst war aber noch klüger,« setzte der Hofmarschall seine Erklärung fort und beschrieb, wie man in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts den Erdwall geschüttet, der die Flut allmählich dämmte und das Wasser in das enge Bette zwischen den Bergen trieb. »Nur schade, die Arbeit ward nicht fertig, der Damm nicht hoch und fest genug. Im Herbst und Frühling brechen die Hochwasser durch und suchen doch wieder ihren alten Weg.«
Der Baron lachte etwas höhnisch auf. »Wie alles hier, es ward nicht fertig. Gut gedacht und schlecht ausgeführt. Angefangen und liegen gelassen. Ein großer Ansatz und ein kleiner Sprung. Wissen Sie, was mein Vater sagte? – Ein Dutzend betriebsame Köpfe ins Land und drei Schock Generäle, Kriegsräte und Minister weniger, und er wollte parieren, ob nicht aus der Kurmark ein so propres Ländchen würde, das seine Leute nährte, wie der Magdeburger Boden.«
Der alte Edelmann unterfaßte den jungen, indem sie den letzten Abhang in den Elsenbusch hinabstiegen. Das sind Principes, mon cher baron, über die sich viel sagen läßt, dafür und dagegen. Aber, was geht es uns an! Als Freund rate ich Ihnen indessen, zu schweigen, wenn wir bei meinem Vetter sind. Es ist schon nicht gut, das Wort Melioration zu brauchen, und er wittert Unrat, wie der Jagdhund stutzt, wenn es raschelt. Ueber diese verwünschten Sümpfe, diesen Bach, die Quierlitz, ihre Regulierung, die Mühle, ah, mon dieu, wenn ich Ihnen alles erzählen sollte, was uns das Verdruß gemacht, Verredereien, Advokaten, Prozesse auf den Hals geladen. – Mon cher ami, man muß nichts, was schlimm ist, noch schlimmer machen. Man muß die Menschen, ein Land und die Zeit nehmen, wie sie sind, dann kommt man noch am besten fort.«
Wenn die Monotonie einer afrikanischen Wüste den Maler zum Bilde begeistern kann, was nicht auch eine der wüsten Moorgegenden, an denen unsere Küstenländer so reich sind, noch reicher waren. Das Licht macht die Landschaft; die Stimmung, in der wie sie betrachten, drückt ihr den Charakter auf. Der einsame Raubvogel, der über dem buntschillernden Wasserspiegel schwebt, die graue Weide, vom Winde zerrissen, das bleichende Gebein eines Tieres, ein morscher Wegweiser, dessen Arme niedersinken, eine überwachsene Wagenspur, die in Gras und Moos sich verliert, – hauche das rechte Licht darauf und bringe den Sinn dafür mit, so ist das Bild fertig.
Aus dem grau dunstenden Horizont schoß ein mattgelber Lichtstrahl auf das Torfmoor. Es lebte, und es war doch kein lebendiges Wesen da, soweit das Auge trug. Auch der Wind bewegte nicht die entblätterten Gesträuche. Grau in grau umspannte Himmel und Erde. Und doch hätte es einen Maler entzücken können, das weite Fernbild einer ersterbenden Natur.
Die scharf geschnittenen Torfgräben mit ihren grauen Wasserlinien freilich nicht, sie verwunden das künstlerische Auge. Aber diese Linien, Winkel, liefen nur aus wie Radien und Zacken, welche die Kultur hineingeschnitten in die noch unbewältigte Masse. Das war sie freilich hier nicht, die Väter der Väter hatten schon Torf gegraben, aber das war lange her, und die Natur hatte wieder Besitz genommen von ihrem Eigentum. Die scharf abgestochenen Wände waren eingefallen, das Wasser quellte über.
Gestrüpp und Schilf wucherten, und die braungelben Hügel waren überwachsener Auswurf des Spatens. Da verfiel eine Hütte von den alten Torfgräbern, zum Schutz vor der Witterung errichtet; aus ihrem eingesunkenen Dach wuchsen junge Birken auf. Und wenn der schräge, gelbe Strahl alle die aufquellenden Wasserstrahlen traf, wenn er sich drüben am Horizont an den bloßgelegten Hügeln, die ihren rollenden Sand ins Moor schütteten, brach, konnte man sagen, die Gegend blitzte, lebte; es war aber nur das letzte Aufblitzen, hätten andere gesagt, eines Sterbenden, seine Augen starren noch einmal, sie leuchten noch einmal die Gegenstände an, die er nicht mehr sehen soll, und im Körper ist schon der Todesfrost, der ihn niedersinken läßt, ein starrer Klumpen, Erde, um Erde zu werden. Wenn die Wolken sich schlossen, der Strahl versank, schillerten und blitzten auch die Wasser nicht mehr, es ward alles wieder Grau in grau.
Als der Baron, der Gesellschaft vorauf, eben aus dem Elsenbusch trat, schoß der rötlichgelbe Wetterstrahl gerade hinter einer scharf abgekanteten Wolke stärker als vorhin nieder. Es war eine Wirkung, wie etwa die alten Maler Jehova andeuten, der aus den Wolken sich den Propheten verkündet. Ein goldbrennender Lichtstreifen fuhr schräg über die Heide, die kleinen Seen und Wassertümpel, die er berührte, gleichsam entzündend. Er konnte einen Wanderer, der in der Wüste dies unerwartet sah, erschrecken. Auch fuhr der Baron zurück, wenigstens zog er den Fuß, der eben über eine Moortiefe nach einer festen Wurzel drüben den Ansatz nahm, wieder sacht an sich, bog sich dann links mit dem Körper und ließ mit angehaltenem Atem den Riemen seiner Flinte von der Schulter gleiten, bis sein Gewehr in seinem Arme lag. Aber sein Auge verfolgte nicht den Sonnenstrahl bis zu den fernen Sandhügeln, sondern haftete auf zwei Steinen, die gegen hundert Schritt von ihm in Mannshöhe sich aus dem Moore erhoben. Sie schienen von tausendjährigen Regenströmen und Wassergüssen abgespült und von der Sonne gebleicht, wie Gebeine der Erde in der braunen Wüste zurückgelassen, aber der Reflex des Sonnenstrahls brach sich rötlich an ihrer Kante.
Ehe es hinter ihm ausgesprochen war: »Um des Himmels willen, was tun Sie, Baron!« war der Schuß losgegangen. Er hallte dumpf hin über die lautlose Stille der Heiden
»Nur ein paar Krähen, da auf den Steinen,« antwortete der Schütz, die Hand über den Augen, durch den Pulverdampf blickend. Darüber sah er nicht die Wirkung, welche der Schuß ihm ganz zunächst auf den Hofmarschall hervorgebracht.
»Das sind ja die Blutsteine. Mein Gott, was mußten Sie das!«
Kaum aber waren die Worte heraus, als ein entsetzlicher Angstschrei in unartikulierten Lauten gehört ward. Der Hofmarschall, nicht einer der behenderen, war mit einem Satz auf der Elsenwurzel und der Kandidat ihm nach.
»Da ist ein Unglück passiert!« – »Was wird’s denn sein?« brummte der Baron, sein Gewehr in Ordnung bringend, »das ist ein altes Weibergeschrei.«
Der Baron hatte recht, das Geschrei kam von einer alten Bauerfrau; die Hände vorm Gesicht, schien sie ein angeschossener Vogel, der vor dem aufsuchenden Jäger noch einmal aufflattern und fliehen will, aber er weiß nicht wohin. Hinter den Steinen war helles Wasser. Das arme Weib sank am Ende des einen nieder und wimmerte: »Gottes Gnade und Barmherzigkeit, Herren Franzosen, ich bin ein unschuldiges Weib!«
»Elle est blessée!« rief der Hofmarschall, denn Blut tröpfelte allerdings von ihrem Gesicht über ihren Brustlatz.
»Ach, mein Gott, die alte Suse, die Botenfrau aus Ilitz!« rief der Kandidat.
»Die ist tot,« rief der Baron, eine blutende Krähe am Flügel aufhebend. »Da fließt’s ja vom weißen Stein! – Krähenblut, Herr Nachbar, weiter nichts. Mein Schrot geht nicht um die Ecke.«
Das Weib wimmerte noch immer: »Gnade, allergnädigste Herren Franzosen, ich bin nur die Botenfrau, ich habe nichts. Mein Mann ist tot, mein Sohn ist auch tot; ich habe nur die armen Würmer zu Hause.«
Der Hofmarschall war nähergetreten. Er fragte, ob sie verwundet, – er meine, ob sie blessiert sei, ob es ihr wo weh tue?
Es kostete einige Weile, bis die Alte zur Besinnung kam, und einige Rückfälle, bis sie in ihrem Zittern vernünftige Antworten fand. Sie war von der gnädigen Herrschaft von Ilitz mit vielen Besorgungen nach der Stadt geschickt und hatte sich hier nur etwas verpusten wollen.
»Lieber Gott, man geht doch auch schon auf die achtzig los, und Botenlaufen ist ein sauer Brot.«
Aber sie wollte sehen, ob die jüngste es ihr nachtäte, denn warum, sie kenne den Weg wie eine, aber es seien zu schlimme Zeiten, und wer sich heut niederlegt, der wisse nicht, ob er morgen wieder aufsteht.
»Und wie’s da knallte, da kam’s heruntergeschossen, blutrot und heiß,« und sie hätte gedacht, das Herz wäre ihr gesprungen und der Kopf auch, »denn die Franzosen sind zu grausam, gnädiger Herr.«
Der gnädige Herr fragte, ob jetzt Franzosen in Ilitz lägen.
Der Schuß hatte nicht ihr Herz getroffen, aber es schien, in die Zunge, und sie gelöst. Franzosen waren jetzund keine da in Ilitz, aber der taube Herr Pastor, der hatte noch Panduren im Quartier gehabt, damals im Siebenjährigen. Die stahlen wie die Kibitze und sprachen, was keine Seele verstand. Aber die Franzosen, das ginge wie ein Sturmwind, raus und rein, und alles wär’ ihnen zu schlecht, und wollten immer das Beste haben, und die wüßten, wo alles liegt. Mit dem Pferd in die Stube rein, und nun mit dem Säbel auf den Tisch. Und das würde noch schlimmer werden. Sie schonten das Kind im Mutterleibe nicht. »O, du lieber Gott!« rief sie, von neuem aufwimmernd, und suchte die herausgefallenen Sachen aus der Kiepe, welche in der Verwirrung umgestürzt war. »Wenn sie das gekriegt hätten, ich hätte mich ja mein Lebtag nicht wieder vor der gnädigen Herrschaft sehen lassen dürfen.«
Der Kandidat war ihr beim Auflesen behilflich. Beim Hofmarschall schienen die Gegenstände nicht gerade ein Interesse zu erregen, doch betrachtete er einige mit Aufmerksamkeit.
»Was sollen denn die wollenen Strümpfe in der Stadt? Ist eine Lieferung fürs Lazarett kommandiert?«
»Gott bewahre, gnädiger Herr, so was Feines für das! Die gnädigen Fräuleins haben’s selbst gestrickt, ganz heimlich. O, ich habe noch manches sonst. Das ist alles, Sie müssen mich aber ja nicht verraten, für den gnädigen Herrn Kornett Theodor. Ach Gott, das junge Blut!«
Die Botenfrau wischte mit der Schürze die Augen. »Daß so feinen und vornehmen Herrschaften auch so was begegnen muß! Splitternackt, ja, barfuß kann man schon sagen, denn die Zehen steckten ihm aus den Stiefeln. Ich sah ihn ja ankommen, und kotig und staubig. Wenn’s unsereinem geschieht, nun, da weiß man, das ist so und schadet nichts. Aber so mir nichts dir nichts wiesen ihm der gnädige Herr Major die Tür. Es tat ja not, daß ihm die gnädige Frau einen Bissen in den Mund steckte, sonst wäre er unmächtig geworden, und der gnädige Herr Major wollten’s nicht sehen, drum schmissen sie die Tür zu. Und ist seines Bruders Frau Schwester leiblich Kind, und ein so hübscher, junger Mensch!«
»Also die Geschichte ist noch nicht aus,« murmelte der Gutsherr. Lauter setzte er hinzu: »Der Kornett ist noch in Nauwalk?«
»Und der Major wollen nichts von ihm wissen, noch hören, und schicken ihm keinen Groschen. Ja, wovon soll er denn leben, sagten die gnädige Frau. – Da sagten der gnädige Herr einmal: von der Schande, und spuckten aus. Und die gnädigen Fräulein weinten, denn sie sind ihm alle gut.«
»Sie vermuteten in dem alten Weibe wohl nicht einen postillon d'amour? sagte spöttisch der Hofmarschall zu dem Baron; zur Botenfrau aber: »Welches Fräulein hat Ihr denn die besten Sachen für den jungen Herrn mitgegeben?«
Die Frau mußte den Sinn der Frage verstehen, sie schüttelte mit grinsendem Lächeln den Kopf. »O, da ist eine wie die andere; sie sparten ihren letzten Bissen für ihn.«
»Da sehen Sie wieder eine Probe der Erziehungsmethode meines Vetters; der junge Mensch hat nicht mehr getan, als wie viele Tausend andere. Es ist wahr, seine Sortie war etwas großsprecherisch und sein Rentree pitoyabel. Welcher Familie ist das nicht passiert! Wer auf vernünftige Ehre hält, kaschiert die Sache. Mein Herr Vetter aber versteht die Ehre anders, er zog an der großen Glocke. Was soll der arme Teufel ohne Gage machen? Vermögen hat er nicht, reiche Verwandte auch nicht. Und läßt ihn in die Stadt laufen, Schulden machen, plaudern, über die Hartherzigkeit seines Onkels klagen. Zwingt er nicht dadurch die weichen Herzchen seiner Töchter, für den armen Vetter Partei zu nehmen!«
»Nahmen die Damen schon früher Partei für ihn?«
»Wie das so zu gehen pflegt, wenn man einen hübschen vater- und mutterlosen Knaben im Hause aufnimmt, wo ein rauher Vater ist und gutmütige Cousinen. Die Cousinen kajolierten und admirierten ihn; je toller er renommierte, um so mehr vor dem blauen Rocke glaubte der Alte schweigen zu müssen. Es war ja möglich, daß er als zweiter Seidlitz wiederkehrte. Aber als er als ein Ausreißer ankam, nun, Sie hörten ja. Was nun einmal draus werden kann, hat er sich selbst eingerührt.«
»Uebrigens ist es mir lieb, daß wir in Ilitz keine Einquartierung finden; der Isegrimm ist vielleicht traktabler,« hatte der Hofmarschall hinzugefügt, als er Anstalt machte, den Weg fortzusetzen. Aber die alte Botenfrau war wieder unruhig geworden, sie suchte noch etwas, die Kiepe ward noch einmal um und um gepackt. »Ach, wenn das verloren ist, bin ich eine verlorene Frau, das Frölen hat’s mir auf die Seele gebunden.«
»Es wird ja wohl zu ersetzen sein,« meinte der Hofmarschall, als er den Fuß zurückzog, unter dem etwas knickte, ein zerbrochenes Glas. Die Alte brach in Tränen aus, als der Herr es aufgenommen und betrachtete. Was das Frölen ihr auf die Seele gebunden, war zertreten! Ein kleines Medaillon mit Silhouetten; auf der einen Seite ein männlicher, auf der andern ein weiblicher Kopf, über beide ein Glas mit einem Kranz von geflochtenen Haaren. Nicht erst der Fußtritt hatte das Glas zerbrochen, nach dem spiralförmigen Riß des Glases schien es durch ein Schrotkorn vorher gesprengt, welches auch in das Pergament ein Loch gebohrt und damit einen Teil des männlichen Kopfes durchdrungen hatte. Wer das Wunderbare natürlich erklären wollte, hätte sagen können, daß die Alte, ihre Kiepe auf dem Rücken, sich an den Stein gelehnt, und daß von dem Schuß, der die Krähe traf, ein Korn, am Stein abprallend, wie manche matte Kugel noch im Fallen die Verwüstung angerichtet.
»Kindereien!« hatte der Hofmarschall gesagt, indem er das zerbrochene Medaillon in die Brusttasche steckte. »Nichts als Kindereien!« hatte er in sehr ernstem Tone wiederholt, als die Alte mit einer Miene die Hand danach ausstreckte, die es nicht auszusprechen wagte, was sie dachte: was soll ich denn nun dem jungen Herrn sagen? »Sie braucht ihm nichts zu sagen, Suse. Ich weiß das alles und werde das Bild wieder ganz machen lassen; denn so zerbrochen kann Sie es ihm doch nicht bringen. Nun mach Sie sich nur auf den Weg, damit Sie in Ilitz zurück ist, ehe es dunkel wird.«
»Nichts als Kinderpossen,« hatte der Edelmann wiederholt, als er mit dem Baron langsam weiterging, um bald mit demselben in ein sehr ernsthaftes Gespräch verwickelt zu sein.
Ehe der Kandidat ihnen folgte, half er der alten Suse den Korb auf den Rücken nehmen. Es war ein innerem Schrecken, der sich nur durch ein stilles Wimmern und Zittern kundgab: »Was mußte ich auch an den Blutsteinen mich verpusten,« wimmerte sie. »Die sind nun verloren.«
»Verloren ist niemand,« sagte der Kandidat, »der nicht Gott verlor.«
Er sprach ihr Trostworte zu, daß der die Haare auf ihrem Haupte gezählt, auch mit seinem Auge wache, wo ihr Fuß straucheln könne. Sie nickte dankbar, und beim Abschied ergriff sie seine Hand.
»Ach, Herr Kandidat, so einer wie Sie tut da not. Das Wort Gottes ist schon gut, wo es ist und wie es klingt, aber es ist doch anders, wenn’s gut klingt. Der Herr Major sind ein gottesfürchtiger Herr, das weiß der liebe Gott, und kennt seine Bibel auswendig, aber ‘s ist nicht gut, wenn der Pastor und der Edelmann sich nicht ausstehen mögen, und ist nicht gut, wenn in einem Hans der eine da hinaussieht und der andere da. Die Frölen sind engelsgut, und die gnädige Frau ist auch so gnädig, und der gnädige Herr ist ein Mann Gottes, der kein Unrecht tut und kein Unrecht leidet, aber wissen Sie noch, wie Sie in der Predigt sagten: Der Herr fährt auf dem Sturmwind, und seine Stimme ist ein Rollen des Donners, aber er ist auch im Abendwind, der über die Blütenfelder säuselt, und wohl dem Hause, wo seine Stimme klingt wie der Gesang der Vögel, und sein Blick hineinscheint wie die Sonne, die aufgeht am klaren Himmel und untersinkt nach einem heitern Tage; denn das ist das Haus des Friedens, sagten sie, der von ihm kommt. Da sahen alle Bauern nach dem gnädigen Herrn, und der gnädige Herr ließ den Kopf sinken, und nachher tat er einen harten Taler ins Becken. – Von uns Bauersleuten hat jeder die Worte behalten, aber,« sie flüsterte es ihm ins Ohr, als könne der Luftzug es über die Heide tragen – »der gnädige Herr Major muß sie wohl vergessen haben. Darum warten wir alle in Ilitz, daß der Herr Kandidat kommt. Dann schreien Sie es ihm nur wieder von der Kanzel zu.«
Einige zwanzig Schritte vorauf waren die beiden Herren im Eifer des Gesprächs stehen geblieben, vielleicht auch weil der Weg nicht mehr ein Nebeneinandergehen erlaubte.
»Sie wollen dem Aberglauben das Wort reden!« hatte der Baron vorwurfsvoll ausgerufen.
»Wenn ich in Berlin bin, lache ich darüber, wie man über einen ungeschickten Menschen lacht, der sich in der Gesellschaft nicht zu präsentieren weiß. Hier auf dem Lande – ich möchte sagen, die Atmosphäre hat auch ihr Recht. Il faut s'acclimatiser! Ueberdem, lieber Baron, es ist vielleicht Pflicht der Klugheit, den Samen des Aberglaubens nie ganz aufgehen zu lassen. Womit soll man die Menge gouvernieren! Et enfin, wer weiß, ob er nicht wieder einmal gangbare Ware wird!«
»Was aber mein Krähenschuß mit dem auf parole d'honneur davongelaufenen Kornett zu tun haben soll, begreife ich doch nicht.«
»Auch ich nicht, aber die Leute glauben es, und darauf kommt es an. Auf diesem Moorgrund haftet nun einmal ein Etwas. Hier war die Wendenschlacht, hier fiel ihr letzter Krole. Oben da sehen Sie sein Grab. Hier spielte auch die Schwedengeschichte. An den Blutsteinen wäre der Schwedenoberst erschlagen, von dem Sie in Ilitz genug hören können. Man spricht aber nicht gern bei den Blutsteinen davon. Die Gegend ist nun einmal in Verruf. Ein paar Schatzgräber sind wirklich im Moore versunken; mehr als ein tüchtiger Mann, der die Torfgräbereien unternommen, ward bankrott, das mischt sich untereinander, und wenn die Geschichte mit der durchschossenen Silhouette bekannt wird, so ist es ein Omen, ein neuer Beleg für den Volksglauben, und wir wissen nicht, was sich weiter daraus entspinnt.«
»Sind der Herr Major von der Quarbitz auch abergläubisch?«
»Kluge Leute wollen behaupten, daß niemand frei vom Aberglauben sei, am wenigsten die, welche sich für die allergescheitesten halten. Nun will ich das zwar meinem Lehnsvetter nicht nachsagen, aber Sie täten gut, etwas seinen Aberglauben zu studieren. Wer das versteht, kann viel. Aber jetzt Attention, der Weg wird schlecht.«
Sie, oder der Knecht, welcher ihnen den Rat gab, ihn einzuschlagen, hatten nicht bedacht, daß ein Strom, welcher im engen Gefälle einer Bergschlucht die Brücke wegreißen konnte, jenseits auch seinen Weg für sich braucht.
Es quellte und strömte von allen Seiten, und man hatte für solche Fälle schon ehedem große Steine in gemessener Entfernung voneinander gelegt, um von einem zum andern zu springen. Für den Hofmarschall war es eine saure Arbeit, dem munter vorauf springenden Baron zu folgen. Während jenem die Büchse, die er spielend in der Hand trug, zur Balancierstange ward, fühlte dieser sich durch seine Wildschur geniert. Er ward zu heiß, und an einer Stelle, wo die Strömung so heftig war, daß sie den nächsten Stein fortgerissen hatte, stand er zaudernd vor der breiten Oeffnung und dachte laut:
»Man ist doch auch nicht mehr« – »ein Springinsfeld,« dachte er still hinzu, aber der Baron, der, um ihm zu helfen, zurückgesprungen, ergänzte es laut: »ein Butterweib oder eine Botenfrau. Reichen Sie mir nur dreist die Hand, Herr Nachbar.«
Das ließ sich indes in dem schleppenden Pelze nicht so leicht bewerkstelligen. Der Edelmann zog die Wildschur vom Leibe und revanchierte sich dabei an dem Nachbar drüben für dessen Laune, indem er versicherte: dies solle ihm künftig eine Warnung sein vor allen Richtsteigen, welche die Spekulation ausfindig gemacht.
Aber die Last der Wildschur im Arm machte das Springen noch bedenklicher. Zum Glück war jetzt auch der Kandidat herangekommen. Ob er den Arm danach ausgestreckt oder der Edelmann ihm entgegenkam – genug, der Kandidat hielt den schweren Pelz im Arm, der Hofmarschall sagte: »Ach, Sie sind sehr gefällig!« und sprang, von der Hand des Barons gezogen, auf die andere Seite. Drüben fand er, und der Baron auch, daß er in starker Transpiration sich befinde und durch schnellere Bewegung sich vor einer Erkältung bewahren müsse.
»In der Schenke von Querbelitz treffen Sie uns, Herr Mauritz,« waren seine letzten Worte. »Sie kommen uns wohl bald nach.«
Der Kandidat Mauritz beeilte sich nicht. »Es muß doch manches hier anders werden!« sprach er und sah ihnen mit einem halb wehmütigen, halb lächelnden Blicke nach. Erst als sie am Ende des Moorpfades in den Büschen der jenseitigen Höhen verschwunden waren, warf er den Pelz über die Schulter und war mit einem Satz auf dem Steine drüben. Die Wasser, die an den Steinen sich brachen und um seine Füße rauschten, schien er mit Vergnügen zu betrachten. Er blieb oft stehen, um ihr Spiel zu verfolgen.
»Sein Geist schwebt, wie über den großen Wassern der Schöpfung, auch über diesen kleinen Strudel, und es ist ewige Bewegung. Aber diese spielenden Fluten werden versiegen, die durstige Erde schluckt sie schon im nächsten Sommer ein, und der alte Sumpf haucht wieder die feuchten, schädlichen Dünste aus. Die Wassertank spült nicht mehr den Schlamm der Jahrtausende herunter. . . . Wird seine nächste eine Feuertaufe sein?«
Er hatte die Höhe drüben erstiegen; eine kleine Waldkuppe bot noch einen letzten Rückblick auf die Gegend, ehe der Flußpfad nach dem Dorfe sich in dem dichten Kiefernwalde verlor.
Die Sonne schoß noch einmal aus der kleinen Wolkenbreche, die sich enger zusammenzog, einen trügerischen Freudenstrahl. Rote Lichter fielen auf das braune Moor, die Blutsteine flammten, und der hohen Kiefernstämme knorrige Aeste, welche die jenseitigen Ufer der Quierlitz überschatteten, die dem Wanderer zu Füßen rauschte, waren von der Glut übergossen, welche unsere Nadelwälder oft so malerisch macht. Der Burgwall ward von den Bäumen versteckt, aber jenseits links ragte das große Königsgrab, vom Lichtglanz übergossen, in den Horizont.
Es war ein stiller, feierlicher Anblick. Ein Maler, der das Bild wiedergeben wollte, hätte ein verfehltes Gemälde geliefert; aber ein Maler, der hier sammeln wollte, fand Töne und Tinten, um ein ausdrucksvolles zu schaffen. Tiefe Stille ruhte über der Gegend, nur schwach unterbrochen vom Klappern der Wassermühle, welche der Bach trieb. Das Krähengeschrei war verstummt: nur hoch über dem Krolengrabe kreisten zwei Raubvögel.
Der Kandidat schien der Maler, der hier Töne sammelt. Er stand mit untergeschlagenen Armen, den Blick unverwandt auf die Hünengräber gerichtet, als wolle sein Auge in ihre geschlossenen Tiefen dringen.
»Was ist von Euch allen übrig als eine dunkle Mär, daß Ihr einst gelebt habt! Alles andere vergessen, Eure Taten, selbst Eure Namen, und über Eure Gräber geht der Pflug. Wo einer Eure Aschenurnen ausgräbt, zerschlägt er sie gleichgültig, er zerstreut den Rest Eurer Gebeine in den Wind, weil Ihr keine Schätze gesammelt, die Wert für uns haben. Wenn so große Reiche und Völker untergehen konnten, welche die Geschichte noch gekannt, spurlos, ohne Erinnerung verschwanden, kann nicht auch an uns die Reihe kommen? Was helfen Heldentaten, große Werke und große Könige einem Volke, wenn seine Stunde abgelaufen ist! Wir hatten auch große Könige, haben Werke verrichtet und Heldentaten geübt, die unser Stolz bis in die Sterne erhebt, und wenn doch auch unsere Stunde gekommen wäre in dem Zeitmeer, für das wir keine Messung haben, wenn die Hand des Ewigen verdammend über uns hinwehte und die Schöpfung dieser gewaltigen Könige bestimmt wäre, in Trümmern und Staub zu sinken, und Männer ständen einst vor unsern Gräbern wie wir vor diesen und fragten gleichgültig, wer waren sie und was haben sie getan? Und unsere Geister schwebten wie Dunstflocken im Nebel, ihr Angstschweiß, weil keiner Antwort gäbe, träufte wie dieser kalte Nebel auf die Haut der Lebendigen! Und wenn die Allmacht, unseres Schmerzes sich erbarmend, ihm doch Laute und Stimmen schenkte, – auch dann verständen die Männer es nicht. Die Stimmen blieben ein toter Schall, Friedrichs Ehre und Fehrbellin ein Klang, wie uns die gleichgültigen Namen jener Wilzenkönige, und sie zerschlügen unsere Urnen, sie streuten unsere Asche und Gebeine in den Wind. denn wir haben keine Schätze gesammelt, die für sie Wert haben!« –
Der Wind, der leise pfeifend von Westen gekommen, heulte jetzt durch den Forst. Die Kronen der hohen Kiefern beugten sich knarrend über den Einsamen, und das leuchtende Königsgrab war zum grauen Klumpen verschrumpft.
Der Weg durch den Wald war eng und dunkel, aber festgetretener Boden. Wo er sich am Ausgang durch jüngeren Kiefernaufwuchs nach der Landstraße schlängelte, ward er lockerer Sand, der bis zum Dorfe fortdauerte.
Die Schornsteine rauchten schon gastlich aus der Ferne. Ueberhaupt hatte der Charakter der Gegend sich verändert. So schlecht der Boden sein mochte, war doch alles Kultur. Die Felder gut gehalten und geteilt, die Straße mit einer Allee bepflanzt. Die Laubbäume standen zwar traurig entblättert, aber die Dächer des Dorfes schimmerten wie aus einem großen Boskett rotgoldenen Laubes; das ist der Zauber auch des späteren, finsteren Herbstes auf dem Lande. Die Fruchtbäume der Gehöfte erhalten sich länger in ihrem bunten Kleide als die des Waldes.
»Wollen Sie nicht aufsteigen, Herr Mauritz, es geht sich schlecht im Sande!« rief eine wohlbekannte Stimme hinter ihm. In dem weichen Geleise hatte er das Gefährt des Knechtes nicht bemerkt.
»Nicht wahr, Sie haben tüchtig springen müssen?« fuhr dieser fort, als der Kandidat im Wagen saß, und wandte sich, während er die Pfeife gemächlich fortrauchte, zur Konversation gelegentlich um. »Ich wußte es schon, und die Füße sind auch wohl naß.«
»Und doch konntest Du uns den Weg anraten?«
»I nu, dem Herrn Baron von Eppenstein gönnte ich’s schon.«
»Er geht Dich ja nichts an.«
»Was muß er alles besser wissen und hat kaum in die Gegend gerochen.«
»So haben die wohl recht, die meinen, weil er nicht vom alten Adel ist, hätten die Bauern keinen rechten Respekt vor ihm?«
»Na, da ließe sich manches drüber sagen, Herr Mauritz. Der wird sich noch manchmal wundern tun, daß es hierzulande auch kluge Leute gibt.«
»Aber Dein Herr! Den Hofmarschall hast Du auch in den Sumpf geschickt.«
Der Knecht verzog etwas schlau den Mund. »Sterben wird er auch nicht davon. Ist ihm für seine Gicht recht gut, das Hopsen.«
»Wenn ich ihm aber wiedererzählte, was Du mir eben vertraust!«
»Das werden Sie nicht tun, Herr Mauritz. – Ich war ja schon längst hier mit der Kalesche; da im Busch hielt ich. Ist gar nicht so weit, der Weg, als der gnädige Herr glaubt, denn hinter der Sägemühle ist ‘ne Furt, die ist zu jeder Zeit passierbar. Also raucht’ ich da ruhig meine Pfeife und dachte: wer wird nun zuerst kommen? Da war’s der gnädige Herr und der Baron, die spürten auch bald im Sande, daß mein Gefährt noch nicht vorbei war, also warteten sie. Ich dachte, Ihr könnt warten, bis Ihr schwarz werdet, und kitzelte meine Braunen unterm Hals, daß sie nicht wiehern sollten. Aber es ward ihnen zu lang.«
»Und warum das? Wenn sie müde waren!«
»Ach was, müde! Bei Hofe müssen der Herr Hofmarschall oft zwölf Stunden hinter dem Stuhle stehen und dürfen nicht müde werden. Und mit seinen Storchbeinen kann er besser durch den Sand steigen –«
»Als ich, meinst Du?«
»Freilich! Sie mußten ihm ja die dicke Wildschur nachschleppen. Er ging im Flips. Also wer konnte sie ihm tragen! Da dachte ich, der Kandidat muß müde sein, und auf den willst Du warten. Und das war richtig. Sehen Sie, unsereins kann auch kalkulieren.«
Der Kandidat schwieg. Sollte er ihm danken, ihn schelten? Er fragte den Knecht, was ihn denn so freundlich gegen ihn gestimmt?
»Sie sind auch nicht von unserer Art, Herr Mauritz, mit Verlaub, aber Sie sind doch anders als der Baron. Sie wissen auch alles besser. Nu, dafür sind Sie ein Studierter; aber, ‘s kommt nicht ‘raus als wie beim Baron. Der denkt immer dabei: Du dummer Bauerkerl! Sie spielen auch mit den Kindern, und die Bauerweiber, wenn Sie mal gepredigt haben, was heulen die! Ja, die Frauensleute habend Sie alle bei uns im Sack.«
»Aber die Männer, ich meine die Bauern?«
»Na, davon wollen wir nicht reden, Herr Mauritz; – Sie wohnen bei der Herrschaft, Sie sind aber doch nicht die Herrschaft. Das fühlt unsereins auch ‘raus, und darüber ließ sich auch viel sagen, aber das taugt nichts. Und Sie predigen auch schön, das muß Ihnen der Neid lassen; das Herz rührt sich einem im Leibe, wenn Sie nur nicht so grausam katholisch predigen wollten!«
Der Kandidat sah verwundert auf.
»Ja, ja, ich weiß schon, was Sie meinen, daß Sie ein guter Lutherischer sind; aber wir hierzulande nennen das katholisch predigen und nicht christlich. Immer vom Schlamm der Verderbnis und der Erbsünde und der ewigen Verdammnis. Herr Gott, wenn ein Bursch mal ein Mädel ins Korn zieht, darum geht die Welt auch nicht unter. Aber Sie orgeln und donnern ja, daß einem das Mittagsessen nicht schmeckt. Wir haben unser Christentum auch, Herr Kandidat, und darum will uns das eben nicht schmecken.«
Der Kandidat war nicht geneigt, sich in einen theologischen Disput einzulassen; er fragte nur kurz, ob alle Bauern hier so dächten. Der Kutscher schien entweder durch das lange Warten gesprächig gestimmt oder seine Epistel als Bezahlung für seinen Dienst einstreichen zu wollen.
»Alle nicht, Herr Mauritz, ich meine, es gibt wohl solche Dörfer, wo sie den Kopf hängen, aber bei uns nicht. Auch nicht in Ilitz, wo Sie hinkommen. Sehen Sie, unser Christentum ist, daß einer gut soll sein und sich anständig aufführen. Er soll nicht immer besoffen in der Schenke liegen und seine Frau nicht prügeln ohne Not und nicht betrügen und keine Schulden machen, die er nicht bezahlen kann. Undankbarkeit ist auch unchristlich, und seine Steuern soll man bezahlen, wenn der König befiehlt, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst. Das ist auch christlich und manches noch, was mir nicht gleich einfällt, und das weiß jeder so gut wie der Küster und der Pastor. Den Herrn Christus lieben wir auch, denn er ist unser Herr und Seligmacher. Das ist unser Christentum, aber mehr soll man nicht draus machen; das ist nicht gut hier, Herr Mauritz, das sage ich Ihnen. Denn unsere Bauern sind pfiffiger, als die Herrschaften denken, und wenn einige Herrschaften mehr aus ihnen machen wollen – nun ja, sie tun’s, warum nicht, wenn sie sehen, daß es der Herrschaft ihr Pläsir ist. Sie verdrehen die Augen und schlagen sie runter und sprechen wie die Bibel. Aber passen Sie acht, Herr Mauritz, das werden im Leben keine guten Bauern nicht. Wenn man so viel beten soll, kann man nicht arbeiten, und unser Herrgott hat uns geschaffen, daß wir arbeiten sollen im Schweiße unseres Angesichts. Das ist auch der Boden hier dazu, daß man faullenzen sollte. Der liebe Gott düngt den Sand nicht und wietet nicht den Hederich, wenn man ihn auch noch so sehr bittet. Das ist alles katholischer Aberglaube. Ja, drüben an der Elbe, da gibt’s wohl Aecker, wo’s von selbst wächst, da mögen sie faullenzen und beten, soviel sie wollen, und meinethalben mögen sie ihr apartes Christentum haben und Fasttage und Erbsünden, so viel sie wollen, aber unser Christentum, das ist das hier, was ich Ihnen sage, und die Herrschaft, die damit nicht zufrieden ist, die zieht sich Heuchler auf und Scheinheilige. Das werden hochmütige Taugenichtse, und die Herrschaft und der König kriegt keine guten Untertanen nicht. Glauben Sie mir, Herr Mauritz, so ist’s hier in der Mark jetzo, und so ist’s immer gewesen. Ob katholisch oder halbkatholisch, das ist egal. Wir wissen das ja vom dicken Könige her, und vom Zopfschulzen aus Gielsdorf wissen wir auch recht gut. Wir wollen gar nicht katholisch sein, das ist gut brandenburgisch, und so wird’s immer sein.«