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Jakob Wassermann

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Beschreibung

Philipp Unruh ist ein Bücherwurm. Er ist die Hauptfigur der Erzählung "Der niegeküßte Mund", die diesem bezaubernden Erzählband den Namen gegeben hat. In sich gekehrt studiert der Schullehrer seine wertvollen Buchschätze. Als das Schulhaus eines Tages Feuer fängt, gelingt es ihm mit letzten Kräften seine Bücher in einer Truhe zu retten. Doch wie verblüfft ist er, als kurz darauf die Truhe verschwunden ist. Was für ihn bisher eine einzige Katastrophe gewesen wäre, hat ab dem Moment, da Unruh der Premiere des neu eröffneten Theaters beiwohnt, für ihn nicht mehr die gleiche Bedeutung wie zuvor – die junge Komödiantin Myra verzaubert nicht nur ihn. Was ihre anderen Verehrer aber nur am Rande wahrnehmen, bemerkt Unruhs wacher Sinn: Myra trägt schwer an ihrem Schicksal. Als sie eines Nachts bei ihm Schutz und Geborgenheit sucht, spitzen sich die Dinge zu. – Neben der Titelerzählung enthält der Band auch die beiden Erzählungen "Treunitz und Aurora" und "Hilperich".-

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Jakob Wassermann

Der niegeküsste Mund

Drei Erzählungen

Saga

Ebook-Kolophon

Jakob Wassermann: Der niegeküßte Mund. © 1925 Jakob Wassermann. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2015 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2015. All rights reserved.

ISBN: 9788711488294

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.

Der niegeküsste Mund

Erstes Kapitel

Schon von ferne sieht man den gelben, alten, fünfeckigen Turm mit seinem dunklen Ziegeldach, das einer Nachthaube gleicht. Er schliesst eine breite, stille Strasse mit seltsam regelmässigen Häusern ab, die sich wie Zierrat ausnehmen. Mit seinem Torbogen scheint er auf den gebrechlichen Schultern zweier Häuser zu stehen; das eine ist die Wirtschaft zum lustigen Pfeifer, das andere gehört dem Doktor Maspero. Die Strasse setzt sich verengert bis zum Marktplatz fort, welcher den Eindruck eines städtischen Mittelpunkts macht. Viele ruhige Gassen und Gässchen zweigen von da ab: zum Schiessanger, zur Altmühlbrücke, zur Kirche, und ein ganz schmaler Gang zwischen der Apotheke und dem Bezirksamt zur jüdischen Synagoge, einem lustigen Bau aus rotem Backstein, gekrönt von zwei dickbäuchigen Kuppeln. Ringsherum zieht sich ein weitläufiger Obstgarten, der den Tempelvorhof gegen die Strasse frei lässt. Aber diese Strasse hat nur noch ein einziges Stirngebäude, eingeklemmt zwischen uraltem Häusergerümpel, doch nicht minder alt und nicht minder baufällig: das Schulhaus. Sechsundsechzig Kinder, Knaben und Mädchen, werden hier täglich von Herrn Philipp Unruh in die Geheimnisse des Alphabets und der Arithmetik eingeführt.

Es gibt Namen und Namen. Manche sind ihrem Besitzer wie aus dem Wesen geschnitten, manche passen zu ihm wie etwa die Synagoge zum Obstgarten. Ein solcher Obstgarten, um den Vergleich müde zu machen, war der Name jenes Lehrers. Er selbst und der Kreis seines Daseins waren voller Ruhe. Die kleine Stadt lag unter dem Horizont der Ereignisse. Die Leute von Gunzenhausen verrichteten ihre Geschäfte bei Tage und schliefen in der Nacht und von eisernen Gesetzen wurden die Stunden geregelt. Uhren und Kalender hatten nur einen äusserlichen Wert. Die Glocke schlug, aber was sie schlug, brauchte an keines Hörers Ohr zu tönen. Die Zeit ging, wie sie seit Ewigkeiten gegangen war, aber wohin sie ging, gab keinem Verstand ein Rätsel. Nur die Eisenbahnzüge, die das friedliche Altmühltal hinab- und hinaufrollten, brachten einen Duft von Welt mit, von Geschehnissen, vom Wandel der Dinge, von den traurigen und heiteren Spielen, die in den Ländern vor sich gehen, welche eingespannt liegen zwischen den Ozeanen.

Philipp Unruh war also ein Ruhiger mit den Ruhigen. Er war auch kein Philippos, kein Pferdefreund, sondern eher der beschaulich schreitenden Katze zugeneigt. In seinem Amt war er weder rühmenswert, noch gab er zu tadeln Grund. Seit einem Dezenium rollte das Jahrwerk ab ohne sein Hinzutun. Es glitt ihm vor den Händen vorbei, ähnlich wie bei geschickten Arbeitern, die ohne Augen, ohne Licht vollbringen könnten, was Zwang und Gewohnheit sie gelehrt. Der Tag zerfiel in Stunden; einzelne Stunden bedeuteten Fächer, und jedes Fach war ein Häuflein Eingelerntes, bereit, in ein Schock mehr oder minder williger Gehirne gestopft zu werden. Diese kleine Maschinensammlung um Philipp Unruh war seine Schule, in welcher er gleichmütig herumschritt und hantierte und mit Wohlwollen und kühler Befriedigung dem ordnungsmässigen Verlauf der Dinge anwohnte.

Derselbe Mann, der weder alt noch jung, weder lustig noch traurig, weder lebendig noch tot war, hatte eine Liebhaberei, welche fast mehr als diesen Namen verdiente, weil sie den eigentlichen Zirkel seines Wesens überschritt. In seiner dumpfen Kammer, aus der der hellste Sommertag die Dämmerung nicht vertreiben konnte, weil rings Dächer und Galerien ihr den Himmel nahmen, gab es eine lange Reihe von Folianten: Chronika und Memoria und ernsthafte Darstellungen, die Geschichte aller Zeiten und Völker enthaltend. Darin las und grübelte, studierte und spekulierte Philipp Unruh seit Jahr und Tag. War gleich gelehrter Eifer im Spiel, — etwas wie Abenteuergelüst war sicher auch dabei. Und wohl noch eines. Während um ihn die Zeit starr lag gleich einem gefrorenen See, erblickte er durch seine Bücher ein aufgewühltes Meer von Leben. Für ihn war die Gegenwart nur der Schatten, das lautlose Widerspiel der bunten, glänzenden gefährlichen und anziehenden Vergangenheit. Seine Stube, das zufriedene Städtchen, das stille fränkische Land, das war die Gegenwart. Die Vergangenheit war Europa, Asien, Ägypten, waren mörderische Schlachten, strahlende Revolutionen, versinkende Reiche. Hier war der Doktor, der Apotheker, der Bürgermeister, der Schulrat. Dort war eine Gesellschaft von Königen, genialen Feldherrn, erhabenen Verbrechern, blutgierigen Empörern, ruhmvollen Märtyrern und unerschrockenen Entdeckern. Es gab glänzende Künstler, Propheten, falsche Herzöge, aufopfernde Bürger, heroische Weiber, Vaterlandshelden und märchenhafte Städte. Und solchem Reichtum gegenüber, der unerschöpflich vor ihm lag, der seine Sinne entzündete, seinen Geist bewegte, seine Träume mit unvergleichlichen Gestalten bevölkerte, sollte ihm der matte Tag noch etwas bedeuten? Er ahnte das Schicksal, das seine Hand von Jahrtausend zu Jahrtausend spannt, das die Kleinen vernichtet, um die Grossen zu erhalten; das ganze Länder verbrennt, um die Asche zum Mörtel für das Häuschen eines Heilands zu verwenden, das jedes Ereignis menschlichem Mass entrückt, jeden Zufall zur Bestimmung wandelt. Deshalb hatte sich unter seinem rötlichen, buschigen Schnurrbart jenes Lächeln eingenistet, das ebenso kindlich war, wie es für weise gelten konnte. Deshalb hatte er kein Verständnis für die kleine Spottsucht des Doktor Maspero und keine Teilnahme für den Kummer der Frau Süssmilch, deren Töchterchen dem ABC feindlich gegenüber stand. Der Herr Adjutant (man nannte ihn so, obwohl niemand sich erinnern konnte, ihn jemals in einer Uniform gesehen zu haben) sagte, der Unruh zähle seine fünfunddreissig Jahre doppelt. Und da er es zu Frau Federlein sagte, welche die Frau des Nachtwächters war, erfuhren es alle Leute, die in der Abgeschlossenheit des Lehrers etwas Verdächtiges und Geheimnisvolles sahen.

Zweites Kapitel

Wie heute hatte Doktor Maspero fast täglich einen Begleiter, der die nächtliche Heimkehr vom Wirtshaus verkürzte. Er plauderte in seiner finster-spöttischen Manier mit dem Baron, der die Apotheke besass. Es gab manchmal ausgedehnte und tiefsinnige Gespräche in der Nacht, wenn das Kartenspiel beendet war. Der Doktor war ein Mann, klein wie ein Zwerg, hager wie ein Knabe, hatte auch die Bewegungen eines Knaben, sprach überlaut und meist grimmig, auch wenn er witzig war. Sein bärbeissiges Wesen glich einer Schutzwaffe gegen die länger gewachsenen Menschen.

Lispelnd und visionär erzählte der Baron von seinem neuen Provisor. Das Lispelnde und Visionäre war ihm stets eigen. Seine Art erinnerte an frische Butter, so reinlich, mild und appetitlich war er. Er war den schönen Künsten ergeben und verdankte dieser Neigung das Zerflossene und Selbstgefällige seiner Natur. Immer ging er durch die Strassen wie jemand, der sagen will: Seht, welch ein Träumer bin ich.

Der Doktor drückte seine Verwunderung aus, dass er den neuen Provisor, der doch schon vier Wochen hier sei, noch nicht gesehen habe, und fragte nach dem Namen.

„Apollonius Siebengeist,“ erwiderte der Baron, und seine Blicke waren verloren ins schwarze Firmament gerichtet.

„Einstampfen lassen! Einstampfen lassen! So heisst man nicht,“ kreischte der Doktor mit unbegründeter Wut und lauschte auf den Beifall seines Freundes empor, der ihm um zwei Kopflängen überragte. Auch er war nicht ohne Beziehung zum geistigen Leben der Nation. Sein ungestümer Witz war eine Frucht der Bildung. Sein Ideal unter den Bücherschreibern war jener Saphir, der einst nach des Doktors Ansicht die Welt aus ihren Fugen gerüttelt.

Der Baron entgegnete langsam und bedeutungsvoll, dass Siebengeist aus einer guten Familie sei, jedoch sei sein Gehirn nicht in gehöriger Ordnung. Er habe etwas Koboldartiges an sich, etwas Sozialdemokratisches. Darauf antwortete der Doktor, indem er mit zwei Fingern seine Nasenspitze kniff, der Apotheker möge ihm doch ein Pülverchen zur Beruhigung zubereiten, eine staatserhaltende Mixtur.

„Rizinusöl!“ platzte der Baron heraus und brach über diesen unerwarteten Geistesblitz in solch brüllendes Hoho-Gelächter aus, dass der Nachtwächter Federlein an der Marktecke erschrocken stehen blieb. Geringschätzig verzog der Doktor den Mund, während der sanfte Apotheker noch lange nicht zur Ruhe kommen konnte. Und während sie ihren Weg durch die ausserordentlich stille Nacht fortsetzten, sprach man noch von den Theatervorstellungen, welche für die nächsten Tage angekündigt waren, denn eine Wandertruppe wollte im fränkischen Hof ihr Lager aufschlagen. Der Doktor war vom Redakteur des Tageblatts als Kritiker gewonnen worden, und der Baron hatte die Absicht, dem Direktor ein Vorspiel in Versen zu schreiben.

Beim Schulhaus winkte der Doktor leutselig zum dunkeln Fenster hinauf, aus dem der Lehrer auf die Strasse sah. Die Glocke schlug eben elf Uhr. Der Doktor fragte empor, ob Philipp Unruh morgen zur Auktion kommen werde. „Es soll auch Bücher geben,“ fügte er mit überlegenem Spott hinzu. Die beiden Männer wünschten gute Nacht und waren bald in der Finsternis verschwunden.

Der Lehrer wusste, dass es Bücher bei der Versteigerung geben würde. Der jüdische Kantor war gestorben, ohne Angehörige zu hinterlassen, und dessen Habseligkeiten kamen unter den Hammer. Insbesondere wusste Unruh um eine alte Ansbacher Chronik, die der Kantor nie hatte verkaufen noch verleihen wollen. Daran erinnert, freute er sich jetzt, vergass die trüben Gedanken, die ihn beherrscht, musterte lächelnd den schwarzen Vorbau der Synagoge, schaute strassauf, strassunter, ruhegewohnt, friedesicher und achtete der Kälte nicht. Schnee fiel, flaumig anzusehen, aufglitzernd im Licht einer einzigen Laterne. Indes, jene allzuschnell vertriebenen Gedanken kehrten zurück.

Er hatte etwas Seltsames gelesen. Unlängst war er bei seinem Schwager, einem Schwestermann in Teilheim, gewesen. Das ist ein Örtchen in der Nähe Hesselbergs und mitten im sogenannten Hahnenkamm. Der Freund besass eine Krämerei, und beim Herumstöbern in Kisten und Kasten, wie es Philipp Unruhs Besuch mit sich brachte, fand sich ein vergessener Schmöker vor, benagt von Motten und Mäusen, um alles Ansehen gebracht durch Liegen und Staub. Der Krämer hatte schmunzelnd den Fund verschenkt, welcher die Aufzeichnungen einer Marquise Bourguignon enthielt, von einem Kammerherrn, Exzellenz, behäbig und schnörkelhaft in das Deutsch des achtzehnten Jahrhunderts übertrgen.

Nun sitzt da weltfern und lebensfremd ein Schulmeisterlein in seiner engen Kammer und vertieft sich dumpfen und erschrockenen Sinnes in die frivolen Erinnerungen der Hofdame. Ein goldgieriger Räuber steigt durchs Fenster, aber das Fräulein, fast noch ein Kind, gibt gutlaunig Edleres hin. Der würdige Pater im Beichtstuhl zeigt sich nachsichtig gegen Sünden, an deren Begehung er teilnehmen darf. Auf der Treppe küsst die reizende Marquise ihrem Geliebten das Herz aus dem Leibe, während zehn Stufen höher der arme Gatte nach der Lampe ruft. Mönch und Nonne, Fürst und Lakai, Bauer und Soldat, Kavalier und Bürgerin nehmen teil am übermütigen Tanz der Liebe, ja die Dinge der unbelebten Welt sind ergriffen vom heiteren Taumel, der Himmel wiederhallt vom frohsinnigen Gelächter, und die graziösen Geister der Galanterie werfen jauchzend bunte Tücher über Gräber und Schlachtfelder. Was Gesetze, Philosophen, Zukunft, Religion! Kein Schauer der Ewigkeit für diese lächelnde Bacchantin und ihre Liebeskünste.

Es sind ja längstvergangene Zeiten, dachte schliesslich Philipp Unruh furchtsam. Das ist damals so gewesen, durfte damals so sein, denn es war eine Zeit der Barbarei, eine wilde, sittenlose Zeit. Heute ist die Welt still geworden; nichts ist mehr zu erblicken von solch übertriebenem Abenteuerzeug. Ein jeder Mann geht wacker dem Geschäfte nach, ein jedes Weib wohnt züchtig in seinem Hause, und es regiert die Ordnung. Törichte Leidenschaften der Vergangenheit mit eurem Überschwang und eurer Gefährlichkeit, dachte der Lehrer mitleidig und war zufrieden damit, einem besseren Jahrhundert anzugehören.

Daneben war aber etwas Unbestimmtes und Hinterlistiges, das ihn quälte. Bei all dem Herumdenken suchte er sich heimlich zu beschwindeln, und das wusste er. Exzellenz Kammerherr hatte sich da eine teuflische Sache ausgesucht für seine lahme Feder. Mit böser Zähigkeit kamen und gingen Bilder, und Philipp Unruh schaute sie an mit wildfremden Gefühlen. Er, der alle Dinge über sich ergehen und herabsinken liess wie Schnee, fühlte plötzlich etwas wie Lebenslast und -besinnung.

Endlich schien es ihm genug des Träumens. Er schloss das Fenster, ging noch eine Weile zwischen den leeren Schulbänken auf und ab, trotz der Dunkelheit sicher den Weg findend und suchte dann seine Studier- und Schlafstube auf, um sich zur Ruhe zu begeben.

Drittes Kapitel

Ziemlich viele Menschen waren in der Kantorwohnung versammelt, Ortswürdenträger und andere Leute. Es gab auch solche, die nur gekommen waren, um für eine Stunde der Winterkälte zu entrinnen. Der Auktionator war ein dicker Mann mit einer militärischen Fistelstimme. Bei den billigen Gegenständen wurde er herablassend, fast gnädig, und sein Würdegefühl stieg um so mehr, je geringer sich die Kauflust erwies. Doktor Maspero erstand einen Schreibtisch, der Bürgermeister ein Dutzend leere Flaschen, der Trödler Most die Gebetbücher, das „Kasino“ einen Teppich.

„Eine Chronik!“ rief der Auktionator finster.

„Eine Chronik für Unruh!“ witzelte der Doktor.

„Eine Chronik der Markgrofschaft Ansbach,“ sagte der Auktionator streng, wartete, bis das Gelächter zu Ende war und fügte verächtlich hinzu: „Zwei Mark zum ersten.“

„Drei Mark,“ murmelte Philipp Unruh schüchtern. Einige kehrten sich lächelnd um, denn er stand an der Rückwand des Raums. Die Geschäftigkeit hier hatte ihn aus irgend einem Grund betrübt gemacht. Alle Gegenstände, die unter den Hammer kamen, hatten einen Schein von Persönlichem, von Zusammengehörigkeit, sahen aus wie Glieder einer Familie, die in die Welt verstreut werden sollten. Etwas wie Todestrauer lag über ihnen, besonders über dem schwarzen Ledersofa im Winkel. Es war, als sässe der alte Kantor unsichtbar darin und betrachte mit mürrischem Gesicht die entrückte, kunterbunte Welt.

Die Fistelstimme rief mit beleidigtem Ausdruck den Taler zum zweitenmal ab.

„Fünf Mark,“ sagte jemand, der eben eingetreten war. Alle drehten sich um, und die Mienen wurden zurückhaltend und unzufrieden, als man den neuen Provisor sah.

Philipp Unruh erbebte. Er blickte nach Apollonius Siebengeist und dachte erbittert: der reine Adonis. Warum er gerade diese Bezeichnung wählte, und warum es in einer gehässigen Bedeutung geschah, blieb ihm rätselhaft. Der Auktionator nahm das höhere Angebot mit erwachendem Interesse zur Kenntnis.

„Zwei Taler“, erwiderte der Lehrer mit dünner und unsicherer Stimme. Die Leute wurden neugierig, drängten sich zusammen und sahen zu, als ob ein Hahnenkampf vor sich ginge. Der Lehrer schämte sich wie jemand, der auf irgend eine Weise Interesse erregt, ohne es rechtfertigen zu können.

„Drei Taler,“ sagte Siebengeist mit kaltem Lächeln. Er stand an den Pfosten gelehnt, beide Hände in den Taschen seines Pelzmantels, in der nachlässigen Haltung eines Mannes von Welt. In Philipp Unruh erwachte ein trüber Zorn. Doch wie alle schwachen Menschen, die sich beleidigt oder übervorteilt sehen, hatte er den Wunsch, dem Gegner sein Anrecht logisch und herzlich zu beweisen. Er hatte die dunkle Empfindung, als müsse er hingehen und dem Manne sagen, wie viel ihm der Besitz der Chronik wert sei, und wie er sich darauf gefreut habe, sie erwerben zu können. Besonders den Umstand seiner Freude und Erwartung wollte er betonen. Indessen hasste und verachtete er gleichzeitig den fremden Eindringling, und in einer Aufwallung dieser Gefühle bot er zehn Mark. Der Doktor machte ein faunisch entzücktes Gesicht und eine triumphierende Gebärde, der Auktionator nickte beifällig und schnupfte geräuschvoll aus einer braunen Papierdüte. Jedoch andere Gesichter sah der Lehrer auf sich gerichtet, deren prüfender Hohn ihn erschreckte, und als der Provisor nachlässig noch weiter steigerte, verliess er schweren Schrittes den Raum mit den Gefühlen eines Menschen, über den ein falscher Urteilspruch ergangen ist.

Ein trüber Wintertag war es; alle Scheiben waren mit Eisblumen bedeckt. Der Schnee lag hoch und rein und blendete die Augen des Lehrers. Auf einem Zaun, dessen Pfähle weisse, runde Kappen trugen, sassen drei Spatzen und zwinkerten bekümmert den Vorübergehenden an. Aus dem Schulhaus drang ein betäubender Lärm. Unter seiner Ladentüre stand der Bäcker und schaute spöttisch lachend hinauf. Kunigunde, die Wirtschafterin, begegnete ihm auf der Stiege und kicherte dumm vor sich hin. Er lächelte plötzlich freundlich, als ob er mit jemand eine liebenswürdige Unterhaltung führte, doch schien es ihm unzuvorkommend und bedrückend, dass dieser Jemand bildlos im Raum verblieb.

Das Schulzimmer war zum Schlachtfeld geworden. Kriegsgeheul ertönte, und Gegenstände flogen durch die Luft, die einst einer andern Bestimmung geweiht waren. Die schwarze Tafel, in eine Generalstabskarte verwandelt, war mit Hieroglyphen bedeckt. Die Reiterei hatte sich des ganzen Globus bemächtigt, und ein dämonisch kleiner Knabe sass auf dem Nordpol und fuchtelte mit beiden Armen. Einige Amazonen hatten die Gegend des Katheders besetzt und sangen Kampfgesänge. Der Lehrer blieb auf der Schwelle stehen, schöpfte Atem und schrie eine fürchterliche Drohung in den Raum. Sechsundsechzig Paar Augen blickten ihn bestürzt und schuldbewusst an. Alle Kinder setzten sich mit geschäftsmässiger Kühle auf ihre Plätze. Sie erwarteten eine unheilvolle Untersuchung. Der Kleine vom Nordpol hatte sich beim Herunterspringen die Hosen an der Erdachse zerrissen und sass leichenblass da. Indes begann der Lehrer zu diktieren: Der Hamster und der Igel; eine Geschichte, worin die Hässlichkeit des Geizes eine grosse Rolle spielte. Die Enttäuschung der Kinder war gross. Sie hätten die gleichgültige Hamstergeschichte gern entbehrt gegen das aufregende Prozessverfahren, das einer Vormittagsschlacht sonst zu folgen pflegte. Immerhin ereignete sich noch etwas sehr Merkwürdiges, was den Fortgang des einschläfernden Diktats angenehm unterbrach. Die Tür wurde heftig aufgerissen, und Apollonius Siebengeist trat herein. Er hatte ein dickes Buch unter dem Arm, schritt gerade auf das Pult zu, legte den Folianten nieder und sagte zu Philipp Unruh mit emporgezogenen Brauen: „Ich bringe Ihnen Ihre Chronik. Ich wollte Ihnen damit ein Geschenk machen. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen einzuwenden.“ Er grüsste mit übertriebener Unbefangenheit, doch mit schüchternem Blick und ging.

Einige Kinder lachten; das brünette Fräulein Süssmilch auf der dritten Bank fand sich am meisten erlustigt. Sie war blutrot im Gesicht und konnte kaum aufhören, in ihre Schürze hineinzulachen. Philipp Unruh war verwirrt und beschämt. Mit der schablonenhaften Strenge, die ein wichtiges Erziehungsmittel war, befahl er Ruhe und stellte sich an das Fenster. Es ist etwas Schönes um den Winter, dachte er mit jener Wärme im Innern, welche kühne Hoffnungen erzeugt. Draussen mag es stürmen, ich stehe da, um zuzuschauen. Schlaf und Frieden ist alles. Wie schön, wenn es dämmert und ich durch den Schnee wandere, den bläulichen Schnee, und kein Laut dringt aus der Erde.

Mit liebevoller Sorgfalt legte er die Chronik in die Pultschublade, und bald darauf schlug es elf Uhr. Die Sechsundsechzig stürmten davon, und der Lehrer rüstete sich zu einem Spaziergang. An der Ecke bei dem Kasino stand Apollonius Siebengeist und plauderte mit einem Mann, der einen grossen roten Zettel an das Hauseck klebte. Philipp Unruh grüsste und war sichtlich bemüht, etwas Weitläufiges und Kameradschaftliches in seinen Gruss zu legen.

„Wir werden jetzt Grossstadt,“ sagte Siebengeist lebhaft, „bekommen ein Theater. Und was für ein ungewöhnliches Stück sie da ankündigen!“

Der Lehrer tat überrascht, obwohl er in der Zeitung davon gelesen hatte. Er hauchte in seinen Schnurrbart, der ein wenig steifgefroren war, und rieb die Hände.

„Sagen Sie, lieber Onkel,“ wandte sich Siebengeist an den Zettelmann, „habt ihr denn hübsche Schauspielerinnen?“

Der Zettelmann machte eine grossartige Physiognomie. „Bei mir ist die Blüte unseres Standes engagiert“, entgegnete er kurz und majestätisch.

„Aber Onkelchen, sind Sie denn der Direktor?“ rief Siebengeist erstaunt.

Der Schauspieler bestätigte es. „Mein Name ist Schmalich“, sagte er mit dem Stirnrunzeln eines berühmten Mannes.

Scheinbar interessiert besah sich Philipp Unruh den angeklebten Zettel. „Melchior oder die Leiden des Alters“, hiess das Stück, ein Lebensbild in zehn Abteilungen. Einige Leute waren stehengeblieben und starrten neugierig auf das rote Papier. Der Direktor nahm seinen Kleistertopf und entfernte sich mit feierlichem Gruss. Auch der Lehrer wandte sich zum Gehen und war kaum einige Schritte weit, als er Siebengeist an seiner Seite sah. Der Provisor begann zu reden, als ob es ihm nur um Worte zu tun sei. Er schimpfte über das Nest, in das ihn ein unwirsches Geschick verschlagen habe; er machte sich über Himmel und Erde lustig, und etwas Knisterndes, Sprudelndes, Glattes war an ihm. Viele Zuckungen gingen über sein Gesicht. Seine Augen hafteten an vielen Punkten zugleich. Dem Lehrer ward es unbehaglich wie neben einer gefährlichen Maschine. Siebengeist aber schlug einen weiten Spaziergang vor, da ja heute Mittwoch sei. „Der ganze Nachmittag liegt vor Ihnen“, sagte er. „Gehen wir ein wenig hinaus in den Schnee.“

Philipp Unruh wagte nicht, nein zu sagen. Er war überhaupt weder ein Nein- noch ein Ja-Sager, und hier fand er sich verpflichtet, Wünsche zu erfüllen. Siebengeist redete weiter, bespöttelte die Büchersucht des Lehrers und sprach im allgemeinen vernichtend über das Gelehrtentum. „Was wollen Sie denn mit Ihren Namen und Zahlen, Onkelchen? Erklären Sie sich doch. Die Geschichte? So? Die Geschichte ist ein altes Weib. Alles, was war, ist wertlos. Jener Komödiant und sein Theater ist jetzt wichtiger als alle Moses, Marc-Aurel, Robespierre und Lasalle. Der Unterrock meiner Geliebten wiegt das ganze babylonische Reich auf. Freilich, tausend Jahre sind euch nichts, denn auch die Stunden sind euch nichts.“

Der Lehrer blickte verängstigt auf seinen Weg. Nichts Erschreckenderes für ihn als diese Reden, deren Sinn ihm vorüberglitt wie Wasser. Das Heftige, Sprunghafte, dabei Lachende und Kühne im Wesen seines Begleiters machte ihn schülerhaft verzagt. Eine Weile schwieg Siebengeist und pfiff nur vor sich hin. Weiss und still dehnten sich die ebenen Felder. Unbestimmte Laute kamen aus Fernen, die vom Nebel verhüllt waren. Im glatten Schnee waren zahllose Hasenfährten und Krähenfüsse sichtbar, am Waldrand trippelte eine Rebhühnerschar mit schwachen, seufzenden Schreien. In der Luft war ein Sieden und Sausen, hervorgebracht durch das merkwürdige, schwere Schweigen ringsumher.

„Sind Sie verheiratet?“ fragte Siebengeist wie ein Untersuchungsrichter. „Nein? Sind Sie verliebt?“

Der Lehrer wurde blass und schüttelte unwillig den Kopf. Siebengeist lachte hell wie ein Kind. „Waren Sie je verliebt? Wissen Sie, Onkelchen, man könnte Sie geradezu für einen Eunuchen halten, wenn man nicht wüsste, dass Sie ein deutscher Bücherwurm sind. Sie verachten natürlich die Liebe, sofern sie nicht auf dem Papier verewigt ist. Haben Sie mal von einer gewissen Ninon de l’Enclos gehört? Ein wundersames Frauenzimmer. Sie hat ganze Generationen mit Liebe beschenkt. Ich war damals ein Gascognischer Prinz und in mancher Nacht küsste ich die unsterblichen Lippen. Seitdem ist die Welt bitter geworden. Onkelchen, was heutzutage sich Weib nennt, ist wert, eingesalzen zu werden. Ich habe keines kennen gelernt, in dem nicht die dumme Gans oder die Xantippe steckt. Sie sind schlecht, eitel, feig, anmassend, sitzen stets auf dem Galanteriestühlchen und sind mit Leidenschaft der Lüge ergeben. Dagegen liest man in den Kunstbüchern von den erlauchtesten Idealgestalten. Davor warne ich Sie, Onkelchen. Durch diese Literatur geht ein Riss. Sehn Sie doch nur, ein Mann wie ich, Prinz von Geblüt, sitzt auf dem Trockenen und weiss nichts anzufangen mit seinen Gefühlen, geht sehnsüchtig in der Welt umher und gafft sich die Augen aus nach dem Bild der Liebe. Nun, ich gebe mir noch eine kurze Frist, dann wähle ich ein angenehmes und schmerzloses Gift.“ Er lachte wieder sein kindliches Lachen.

Der Lehrer wischte sich den Schweiss von der Stirn. Es ist ein Traum, dachte er zweifelnd und betrübt und sah auf das Bahngeleise hinüber, auf dem ein Schnellzug einherraste. Er