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Das Mittelalter, wie es wirklich war. Düster, schmutzig und bedrückend farblos. Pest und Lepra waren die Seuchen der Zeit. Intrigen, Machtspiele, Glaubenskriege gehörten zum Alltag. Folgen Sie mir in eine Zeit, in der Sie nicht selbst gelebt haben wollen.
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Seitenzahl: 290
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Burkhard Friese
Jahre des Hungers
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
„Jahre des Hungers“
Vorwort
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Impressum neobooks
Roman
Jana
Für ihre unermüdliche Hilfe bei den Korrekturen.Für ihr unerschütterliches Vertrauen in mein Schreiben.Für ihre permanente Motivation.Ihr gilt auch mein Dank für die Covergestaltung und den Klappentext.
Die Zukunft liegt im Dunkeln. Sie wird sich entwickeln, wie es Gott gefällt, der auch die Ursache kennt.
Evagarius (Scholastikus aus Antiochia)
Seinerzeit, als die Idee für diesen Roman entstand, lebte ich in Kiel,warum es für mich naheliegend war; wenn ich einen historischen Romanschreibe, dann einen, der sich um die Stadt dreht, in der ichzuhause war und in der ich mich auch zuhause fühlen wollte. Da Kiel im letzten Weltkrieg völlig zerstört wurde, empfand ich diese Stadt aber als gesichtslos. Sehr wenig, fast nichts erinnerte an irgendeine Art von Geschichte, wie es in vielen anderen alten Städten der Fall ist.
Durch meine Recherche in Kiels Stadtarchiv bekam Kiel für mich ein Gesicht, und fühlte sich auch mehr als meine Heimat an. Auch, wenn vieles frei erfunden ist, so gibt es einige Passagen und Auszüge, die im Stadtarchiv Kiel so hinterlegt sind, wie sie auf den folgenden Seiten erzählt werden.
Nicht alles zu der Zeit, in der diese Geschichte stattfindet, manchesfrüher, manches später und manches in einem anderen Zusammenhang. Ich habe versucht, mich an denwirklichen Geschehnissen des Mittelalters in Kiel auszurichten. Dennoch habe ich vieles zu Gunsten des Romans verändert. Und so sollte man es auch sehen. Als einen Roman.
Die Nicolaikirche gab es und gibt es immer noch. Das Franziskanerklosterfiel dem zweiten Weltkrieg zum Opfer, aber man kann heute noch anhandder teilweise erhaltenen Fundamente den Kreuzgang und das Klosterselbst erahnen.
Auch der Einzug der Pest in Kiel, ist in den Stadtarchiven aufgeführt. Was auch für gerichtliche Verfahren und Hinrichtungsarten gilt und für andere Einträge, die ich für das Buch verwendet habe und in meiner künstlerischen Freiheit verändert habe. Was die Pest und ihren Verlauf anbelangt, habe ich mich mehr an den allgemeinen Umgang mit dieser Seuche gehalten, weil aus den Stadtarchiven Kiels nur hervorgeht, dass die Pest Kiels Friedhöfe zum Überlaufen brachte. Wie wohl in jeder anderen Stadt damals auch.
So entstand nach zwei Jahren Recherche "Jahre des Hungers".
Seit langer Zeit waren die Sommer zu kalt und nass. Darauf dann zu heiß und trocken. Die Früchte der Erde verfaulten oder verdorrten.Von der dauernden Unterernährung dämmerte die Landbevölkerung vor sich hin. Wenn die Sonne endlich das Korn zum Reifen bringen konnte, waren die Menschen zu schwach es zu ernten und zu dreschen. So blieben die Dreschflegel und auch die Mägen der Menschen ohne Arbeit.
Es waren die Jahre der Krüppel, Blinden, Skrofulösen und Wassersüchtigen. Minderwüchsige zogen sich in die Wälder zurück und fraßen Wurzeln und Pilze. In den kalten Monaten gruben sie sich in die Erde ein. Es fehlte Bier und Wein, aber der berauschende Inhalt jener einzigen Nahrung war es, der all die Schmerzen und die Not vergessen ließ.
Es waren die Knechte, Bauern und das Gesinde, die Söhne Chams, die ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen konnten. War man fern der Stadt, war man fern der Gesundheit. So flohen die Landmänner in die Städte und fraßen dort die Speicher leer. Die, die nicht am Tage kamen, kamen nachts, wenn die Stadt schlief. Sie schlichen sich auf die Kirchhöfe und gruben Leichen aus. Sie wären auch tagsüber gekommen. So, wie sie es auf dem Lande machten. Doch fürchteten sie mehr noch als den Hunger die Strafe. Schließlich ergaben sie sich ihrem Schicksal. Jeder dort, wo er hineingeboren wurde.
Es wurde Brot mit Mutterkorn und Mohn gebacken. Die Menschen versetzten das Brot mit Koriander, Anis und Kreuzkümmel. Sie streckten es mit Sesamöl und Schlafmohn. Es ließ die Menschen verdummen und bald verblasste auch der Wunsch nach Brot und Bier in ihrer Blödheit. Später brachten sie nur noch Kraft auf, um Hanf zu ernten. All dies hinterließ nicht nur Spuren im eigenen, sondern auch im Geist der Erben. Kinder, die zu sehr schrien, wurden verkauft oder ausgesetzt. So kam es vor, dass ein Kind, wenn es nicht gefunden wurde, über Umwege auf der Tafel seiner Eltern landete. Säuglinge wurden mit dem Dampf des Bilsenkrautes in einem dämmernden Dauerschlaf gehalten.
Es waren die Jahre des Hungers, als einige weiße Wolken am hellblauen Frosthimmel vom Nordostwind langsam vor sich hergetrieben wurden. Er baute sie auf und federte sie auseinander.Es war in den Jahren des Hungers, als der junge Hinrich in den Himmel sah. Die blassweiße Sichel des zunehmenden Mondes stand bei diesem Frost noch immer im Zenit. Ein Winter voller Not und Elend!
Seit seiner Wanderschaft aus Lübeck, das war nun schon vier Tage her, hatte Hinrich nichts mehr gegessen. Seine Füße waren nass und schmerzten. Die Fußlappen gefroren und konnten die Kälte nicht mehr abhalten.Hinrich zog seine Schultern hoch, als er durch die fremden Gassen auf den Marktplatz von Kyl trat. Er steckte seine Hände tiefer in die Taschen seines gefrorenen Wollumhanges und ging mit gesengtem Haupt weiter. Im vereisten Boden erkannte er zarte, nackte Fußabdrücke von Kindern. Als Zeugen der Zeit vor dem Frost, blieben sie solange im eisigen Grund erhalten, bis die ersten Sonnenstrahlen sie aus dem Gesicht der Stadt schmolzen. „Wahrscheinlich verschwinden damit auch die Erinnerungen an das Leben dieser jungen Geschöpfe“, dachte Hinrich, „und keiner wird zu sagen vermögen, ob sie dem Hunger oder der großen Kälte zum Opfer fielen.“
Hinrich betrat den fremden Marktlatz mit Neugier. Einen Fremden hatten die Bewohner dieser kleinen Stadt schon immer mit Argwohn betrachtet. Wenn er auch noch lesen und schreiben konnte, ging man ihm aus dem Weg.Bei diesen Temperaturen verlor nicht nur die Natur ihre Beweglichkeit, sondern auch die Menschen erstarrten in ihrem Leben. Jeder allein, jeder getrieben durch das Bestreben, der Kälte zu entfliehen. So blieb der neue Schreiber unbehelligt. Denn er war ein Fremder und er konnte lesen und schreiben.
Dies war im Winter 1347.
Hinrich hatte die Klosterschule in Lübeck verlassen, um dem Ruf seines alten Magisters nach Kyl zu folgen. Probst Paul hatte die Pfründe der Nikolaikirche übernommen.Nun stand Hinrich, am ersten Tag in seiner neuen Heimat, in der Nähe der Kirche. Als sich die bronzene Doppelflügeltür öffnete, erkannte er sofort das Gesicht, welches ihm in den zehn Jahren seiner Erziehung nicht nur ein Lehrer, sondern auch eine Vaterfigur geworden war. Erfüllt von Glück und Sehnsucht drängte sich Hinrich durch die Menge. Immer wieder musste er seine Ellenbogen benutzen. Durch die Menschenmassen war der frostige Boden aufgeweicht. Knöcheltief standen sie im Schlamm. Den Lederbeutel mit einigen Lübecker Witten krampfte Hinrich in die rechte, während er mit der linken Hand die Menschen beiseiteschob. Nur widerwillig machten sie Platz, störte Hinrich als Fremder doch ihre Versammlung.
„Verzeiht“, murmelte er heiser. Der lange Fußmarsch von Lübeck und die Nächte auf fauligen Strohschütten hatten ihre Spuren hinterlassen. „Verzeiht, dass ich erst jetzt erscheine. Meine Reise war sehr mühsam“, sagte der junge Schreiber hustend weiter.„Hinrich!" freute sich der Probst und alte Magister mit seiner tiefen sonoren Stimme, vom freien Sprechen geübt. „Hinrich, mein liebster Schüler. Schön, dass Ihr hier seid. Ich habe Euch schon gestern erwartet. Es wurde mir zugetragen, dass Ihr im Gasthaus neben dem Rathhaus Quartier bezogen habt. Doch Ihr hättet auch bei mir einkehren können.“„Das ist sehr gütig von Euch. Aber wie Ihr wisst, lebe ich schon seit zehn Jahren in Gemeinschaft. Ich habe die Nacht, wenn auch nicht sehr bequem, doch von der Ruhe her sehr genossen.“„Wollt Ihr mir die Freude machen und ab heute bei mir nächtigen?“„Das würde ich gerne. Aber ich möchte mir eine Kammer bei ehrlichen Leuten suchen. Es ist, wie Ihr es uns gelehrt habt. Irgendwann muss jeder seinen Weg gehen. Den will ich jetzt mit Gottes Hilfe gehen.“„Verzeiht meine Ungastlichkeit. Kommt doch herein. Hier draußen ist es zu kalt.“ Der Probst drehte sich um und ging zurück in die dreischiffige Hallenkirche. „Erzählt, wie habt Ihr die letzten Monate verbracht?“
Eine Gänsehaut lief dem ehemaligen Schüler des Probstes den Rücken hinunter, als sich der starre Frost langsam aus seinem Wollumhang löste. „Mit Lesen. Ich bin mit mir selbst zu Gericht gezogen.“ Hinrich folgte dem Probst durch den Mittleren der drei Gänge, an den verwurmten Bänken vorbei. Links von ihnen ein bronzenes Taufbecken. Rechts der große, doppelflügelige Altar, mit den Stationen vom Leiden Christi. Dieser nahm fast die gesamte Stirnseite ein. Sie gingen durch die Spitzbogentür in einen dunkel getäfelten Raum, mit einem steinernen Kamin an der rechten Seite. Ein mächtiger Eichentisch stand direkt davor.
„Wollt Ihr mir von Euren Erkenntnissen berichten?“ Der Probst stand mit dem Rücken zu Hinrich und wärmte sich die Hände am lodernden Feuer.„Wenn Ihr verzeiht, dann möchte ich es später tun.“ Erst jetzt hob Hinrich zum ersten Mal richtig seinen Kopf. Er stand in der Tür zur Sakristei und blickte über seine Schulter. Von hier konnte er das Taufbecken sehen. Es wurde von vier sitzenden Löwen getragen und zeigte in zwei Reihen biblische Szenen.„Ein bescheidenes und erbauendes Haus Gottes“, murmelte Hinrich.„Kommt hierher. Hier hinten ist es wärmer.“ Die Worte seines väterlichen Freundes rissen Hinrich aus seinen Gedanken und die wärmende Herdstelle lockte ihn in den Raum.Probst Paul drehte sich ganz um und schenkte gewärmten Wein in zwei Tonkrüge. „Kommt, das wird Euch helfen warm zu werden“, rief er seinem Schüler gastfreundlich entgegen.Der Frost tropfte aus Hinrichs Wollmantel und hinterließ feuchte Flecken auf dem Dielenboden. Dabei wurde der Mantel immer klammer und feuchter. Er ließ den schmächtigen jungen Mann breiter erscheinen, als er war.„Darf ich Euch fragen, welche Aufgabe Ihr für mich habt?“ wollte Hinrich wissen, nachdem er den Krug zur Hälfte geleert und seine Glieder an der Herdstelle gewärmt hatte.„So wie ich Euch kenne“, lachte der Probst, „kann er es gar nicht erwarten, eine Aufgabe zu bekommen. Nun, wenn Ihr so begierig darauf seid, werde ich Euch nicht länger hinhalten. Ehrlich gesagt ist es mir sogar eine besondere Freude, gerade Euch hier zu wissen. Ich habe schon immer Eure Kunst bewundert, mit der Ihr Worte aufs Pergament bringt. Nun, Eure Aufgabe besteht aus zwei Teilen. Die Eine, Ihr müsst alles Schriftliche für diese Kirche erledigen. Ich bin Augustiner und meinen Brüdern verbunden. Wir wollen näher an unsere Kirche heranziehen und unser Kloster von Bordesholm nach Kyl verlegen. Doch der Rath sperrt sich. Es sollte aber alles Weltliche vom Geistlichen getrennt werden. Zu diesem Zweck haben wir die Kurie in Avignon angerufen. Um diese Aufgabe im geistlichen Sinne zu beenden, bedarf es eines kundigen, wortgewandten Schreibers.“„Und welches ist der zweite Teil meiner Aufgabe?“„Der Rath hat ein Mitbestimmungsrecht bei der Vergabe dieser Pfründe. Auch er benötigt einen neuen Schreiber.“ Der Probst wandte sich ab. Hinrich spürte die Wut, die in diesen Worten mitschwang.„Wie kann man diese beiden Aufgaben vereinen?“ Hinrich stand mit dem Rücken zum Feuer und wärmte seine schmalen Glieder.„Die genauen Zusammenhänge werde ich Euch später näherbringen. Wir wollen nicht unsere Wiedersehensfreude trüben. Nur dieses: Der Rath wollte einen weltlichen Schreiber. Ich konnte mit Hilfe der Grafen Johann II. aus Plön und Gerhard II. aus Rendsburg den Rath überzeugen, mir die Wahl eines Stadtschreibers zu überlassen. Es geht doch um kirchliche Belange, um die Verkündung von Gottes Wort. Das Seelenheil der Menschen muss über die Weltlichkeit gehen. Steht nicht auch die Seele, der Geist, über dem Körper? Beherrscht nicht das Gedankengut alles Handeln?“„Wenn doch aber die Geistlichkeit von der Weltlichkeit genährt wird? Was wäre der Geist ohne die Nahrung, ohne den Körper? Bilden sie denn nicht eine Einheit?“Der Probst lachte kurz auf. „Genug, wie ich sehe, habe ich die richtige Wahl getroffen. Kein Wort mehr. Wir wollen doch nicht gleich zu Beginn alles erörtern.“ Dabei schenkte er Hinrich etwas Wein nach und schmunzelte. „Erlaubt mir eine Frage Hinrich, nur die Eine, die ich Euch immer wieder stellen werde, bis Ihr sie mir beantworten werdet: Warum seid Ihr nicht unserem Konvent beigetreten - der Prior fragt nach Euch?“„Ich weiß. Auch danke ich Euch dafür. Wenn ich aber etwas von Euch gelernt habe, dann dies: Wie kann ich mein Leben einer Sache widmen, wenn ich mein Leben nicht kenne?“„Ihr vergesst, dass es nicht Euer Leben ist. Es wurde Euch von Gott geschenkt“, erwiderte der Probst. „Jedem wird sein Leben gegeben; ein Leben, um Gott zu dienen. Dort zu dienen, wo er hingestellt wurde. Doch alle zusammen sind wir die Einheit, die Gott gefällt.“„Wozu hat uns Gott dann einen Willen gegeben?“„Um zu entscheiden, was Gut und Böse ist.“„Doch nicht wir entscheiden, was Gut und Böse ist, sondern Gott tut es“, sagte Hinrich.Probst Paul lachte und umarmte seinen jungen Schüler. „Schön, dass Ihr hier seid. Mit Euch an meiner Seite werde ich, werden wir ... nun gut ... werden wir den Rath überzeugen. Ihr seid doch auf meiner Seite?“„Gewiss doch. Ich habe Euch viel zu verdanken.“„Habt Ihr Hunger? Ich kann Euch etwas bringen lassen.“„Das ist nicht nötig“, erwiderte Hinrich etwas verunsichert durch den schnellen Wandel des Gespräches. „Ich muss mich noch um eine Unterkunft bemühen.“
Probst Paul öffnete die Sakristeitür nach draußen auf den Kirchhof und sprang erschrocken einen Schritt zurück. Hinrich blickte hinaus. In der Kälte stand eine dürre Frau mit einem verfilzten Wollschal um den Kopf gebunden. An ihren Rücken drückte sich ein Mädchen.Bevor die Frau etwas sagen konnte, schloss der Probst die Tür und ehe er sie verriegelte, rief er noch „Einen Augenblick“, und zu Hinrich gewandt: „Kommt nach hinten. Die Burspraken sind noch nicht vorüber und ich muss mich um eine Sünderin kümmern.“ Dabei zog der Probst Hinrich zurück ins Kaminzimmer. „Ich bin gleich zurück. Wärmt Euch auf.“
Unsicher und müde stand Hinrich vor dem Kamin. Die Erschöpfung durch die beschwerliche Reise und die Kälte, die seine Glieder noch immer umschloss, ließen keinen klaren Gedanken zu. So setze er sich auf einen schiefen Stuhl und trank noch einen Becher gewärmten Wein. Aus der Ferne drang die zornige Stimme des Probstes zu ihm. Hinrich stand auf, um ihn zu unterstützen, doch als er um den Altar trat, stockte er.So hatte Hinrich seinen Lehrer selten gesehen.Probst Paul hatte Mühe sich zu beherrschen. Hinrich kannte die Gesten seines alten Magisters und diese hier zeigten Hinrich auf, sich zurückzuhalten. Viel zu leicht ließ Probst Paul sich vom Zorn zu Handlungen hinreißen. Dann war es besser ihn nicht zu belästigen.„Gretje von der Heide“, zischte der Probst. „Ich werde es veranlassen und Euch eine Nachricht zukommen lassen.“Sie sackte auf die Knie, zog dabei ihre Tochter mit nach unten und küsste die Hand des Probstes.Verlegen zog sich Hinrich zurück.
„Was hat ... was wühlte Euch so auf?“ empfing Hinrich den Probst. „Was war mit dieser Frau?“„Ach, eine arme Sünderin. Aber genug. Es ist Euer erster Tag.“ Das Gesicht des Probstes war rot. Auf seiner Stirn pochte eine Ader. „Die Burspraken, die Verkündung vom Recht, sind noch nicht vorüber.“„Wie lange wird es noch dauern?“„Habt Geduld. Nach deren Ende werdet ihr im Rathhaus erwartet. Dort bekommt Ihr Eure zweite Aufgabe. Sie werden einen Burschen schicken, wenn es soweit ist. Erzählt mir doch von Lübeck“, fuhr der Probst kühl fort.„Viel ist nicht geschehen. Aber dem Erfindungsgeist der Menschen sind keine Grenzen gesetzt. Ich weiß nicht, ob Ihr schon unterrichtet seid, aber wir schreiben nicht mehr auf Pergament. Wir haben jetzt Papier – dünneres, leichteres Pergament.“ Das Gesicht des Probstes erhellte sich: „Ja, das kenne ich. Kyl ist zwar nicht so alt wie Lübeck, dennoch sind wir allem Neuen aufgeschlossen. Es wird Euch freuen, dass auch wir auf Papier schreiben.“Hinrich blickte ins Feuer. Die Flammen ließen sein Gesicht älter und härter aussehen. Kleinlaut drehte er sich um. „Meint Ihr, ich kann mich nun um eine Lagerstatt bemühen?“„Geht nur hin, in Eurem jugendlichen Tatendrang. Ich werde nach Euch schicken, wenn es soweit ist“, sagte der Probst.„Wo finde ich wohl rechtschaffene Bürger, bei denen ich eine Kammer finden kann?“„Versucht es in der Schuhmacherstrate. Dort hat der Kaufmann Merten von der Heide mit seiner Frau Gretje sein Haus. Beides ehrliche Leute“, antwortete er leise.„Wendet Euch einfach nach links, dann seid Ihr schon in der Strate.“ Hinrich öffnete die bemooste Küstertür.
Vor der Nikolaikirche zimmerte eine Schauspieltruppe ihre Bühne zusammen, um nach der Rathserneuerung und der Verkündung der Burspraken mit dem Spiel zu beginnen. Die Burspraken waren von jeher eine Angelegenheit der Männer. Nur Männer sprachen Recht, setzten es durch und waren berechtigt, die Rechtsverkündung zu hören. Nun vereinte sie die Bürgerpflicht und ihre Neugier. Gespannt starrten sie auf das Rathhaus, eines der wenigen Gebäude mit starken Brandmauern.Der Auftritt des Bürgermeisters wurde wie jedes Jahr mit dem Schlag der bronzenen Glocke angekündigt. Und nicht nur sein Pelzmantel unterschied ihn von denen auf dem Platz, in ihren klammen Wollumhängen. Jeder war sich selbst der Nächste, doch versuchte auch jeder, die Wärme seines Nachbarn zu erhaschen.Wo sonst die Händler und Kaufleute hinter ihren gezimmerten Scharren auf dem Marktplatz hockten und die wenigen Waren feilboten, die sie besaßen, drängten sich nun die Bürger von Kyl. Der klirrenden Kälte trotzend standen sie da, wärmten sich gegenseitig und ihre gemeinsame Not ließ sie zusammenhalten. Dann wurde der Mittelpunkt des bürgerlichen Lebens auch ein Tummelplatz für Beutelschneider und Gaukler. Mit ihren flinken Fingern hatten sie keine Schwierigkeiten, unter den dicht gedrängten Bürgern reiche Beute zu machen.
Das Rathsfest ging zu Ende. Die letzten Nahrungsreste wurden verteilt und geteilt. Schauspieler begeisterten mit Mysterienspielen und Darstellungen aus der Liturgie.
Die Stimme von Hans Boyenhusen, dem Bürgermeister, drang vom Marktplatz herüber auf den Kirchhof und verfing sich in den dunklen Gassen. „Im Namen des Vaders, des Sönes, des hylgen Ghestes, Amen.“„Amen“, antwortete die Menge.„In den Jahren unsers Herren Jhesu Christi, im neuen Jahr dreizehnhundertsiebenundvierzig, dankt der Rath der Stadt Kyl all denen, die zum Besten der Stadt willig und gehorsam sind, und verspricht lieber ihnen Hilfe, als den Ungehorsamen. Und nun höret, was der Rath Euch als Recht heißt: Bei Todesstrafe verboten ist es, in den Brunnen zu scheißen, und Unflat in Brunnen und Pferdetränken zu werfen. Auch Wäsche darf dort nicht gewaschen werden. Jeder Bürger wacht für Kyl bei zehn Schilling Strafe. Er hat zur Wachtpflicht zu erscheinen und bei drei Mark Silber dort zu harren, wo er hingestellt wurde.“Zustimmendes Gemurmel.„Bier muss zwei volle Nächte in den Keller!“„Jawohl, richtig so“, riefen die dicht gedrängt stehenden Bürger, wie aus einer Kehle.„Nie gegen die Ehre einer Jungfrau sprechen! Bei zehn Schilling Strafe“, drang die Stimme des Bürgermeisters vom Marktplatz.Hinrich musste schon genau hinhören, um die Worte Boyenhusens in der Gasse noch verstehen zu können.„... der Rath sähe es gerne, wenn sich die öffentlichen Frauen bessern. Wir haben aber, um die anständigen Frauen zu schützen, beschlossen, dass die Tändelfrauen einen roten Strich an der Kapuze oder rote Schuhe tragen sollen. Weiterhin ...“ Die Worte des Bürgermeisters vermischten sich mit den Stimmen seiner Stadt. In den Gassen zwischen den Häusern wurde es ruhiger. Es war auch weniger Volk unterwegs. In der engen düsteren Gasse in die ihn der Probst geschickt hatte, standen weder Türen noch Fenster offen. Hinrich scheute sich, an ein Tor zu klopfen. Er schlenderte weiter.Hier und dort sah man einige Weiber. Unehrliche und Bettler, die sich im Schatten der Buden verkrochen, verfolgten Hinrich mit Blicken.„Meine Mitschüler hatten Recht“, erinnerte er sich, „Kyl ist doch nur ein zusammengewürfelter Haufen von armseligen Hütten und Buden.“Dennoch spürte Hinrich den Geist und den Willen dieser Stadt, aus Lübecks Schatten heraustreten zu wollen. Dabei wollte er helfen. Er wollte den Bürgern die Schrift nahebringen, sie Lesen und Schreiben lehren, wollte einfach nur von Nutzen sein.Weißsilbrige Möwen kreischten am blauen Himmel und lockten Hinrich den gefrorenen, verharschten Weg durch die Schuhmacherstrate entlang, an den Fjord.
Kyl war von drei Seiten vom Wasser umgeben. Der breite, sumpfige Uferstreifen war gefroren. Ein Palisaden- und Plankenwerk schützte die Stadt zur Seeseite hin. Im tieferen Wasser dümpelten zwei Koggen. Kyl hatte keine Kaimauer. Flache Ruderboote paddelten zu den Koggen und entluden die Waren. An der schmalen Seite überquerte eine fünfzig Fuß lange, grob gezimmerte Holzbrücke das Wasser. Hier lagen allerhand Holzwaren, Steine und Werkzeuge zum Bau der Stadtmauer. Vom Stadtgraben war sie schon bis zur Marienkapelle hin errichtet worden. Im sumpfigen Untergrund waren dicke Stützpfeiler verankert. Sie sollten die Mauer vorm Absacken bewahren. In der anderen Richtung bestand der Schutz der Stadt nur aus bemoosten, schwarz verwitterten Holzplanken, die feucht im Tageslicht glänzten. Hier tummelten sich Scharen von Krähen. Hinrich schaute aufs Wasser.In unzähligen kleinen Lichtern spiegelte sich die Sonne auf den Wellen. Geblendet kniff er die Augen zusammen. Der beißend scharfe Nordostwind schaukelte kleine Wellen auf, die schnell wieder zusammenfielen. Möwen tummelten sich mit ihnen auf und ab. Mal schauten die Köpfe vorwitzig aus dem Wasser, dann waren nur die heiseren Schreie zu hören. Mit dem Wind kamen Schnee und Eis.
Ein Lächeln huschte über Hinrichs Gesicht. Er war fremd hier aber er fühlte sich wohl und freute sich über den Entschluss, Lübeck verlassen zu haben. Hier konnte er Gott, hier konnte er den Menschen dienen und ihnen helfen, Gott zu verstehen. Mit diesen Gedanken drehte er sich um und ging zurück in die Schuhmacherstrate. „Eingesperrt war ich in der Klosterschule“, sinnierte er. Die kühle Seeluft drang durch Hinrichs feuchte Kleidung und ließ ihn frösteln. Es roch nach Winter und Algen. „Eingesperrt mit den Lehren von Aristoteles und Albertus; sicherlich alle erbauend, dennoch engen sie den Geist, das Denken und vor allem das Handeln ein.“ Hinrich hatte Lübeck nie als Heimat empfunden. So fiel ihm der Abschied nicht schwer. Er holte tief Luft, schloss die Augen und sog den Duft des Meeres noch einmal ein. Das Wasser war für ihn schon immer ein Ort stiller Übereinkunft. Jeder Schritt knirschte unter seinen Fußlappen.Die Gedanken an seine Aufgabe ließen das Herz Hinrichs höher schlagen und beflügelten seinen Schritt. Um sich herum nahm er nichts mehr wahr, wollte er doch gleich mit der Aufgabe beginnen.
Aus dem Augenwinkel sah er eine schwere schwarze Eichentür aufschlagen. Hinrich sprang zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Inhalt einer Pütz, die voll dampfender menschlicher Notdurft war, vor ihm auf den Boden klatschte. Dabei rutschte er auf einer gefrorenen Pfütze aus. Kaum lag Hinrich am Boden, kam auch schon jemand mit flinken krummen Beinen und half ihm auf.„Oh, oh, verzeiht mein Herr! Ich habe Euch nicht kommen sehen“, nuschelte der alte Mann zahnlos, die Pütz noch in der Hand.„Lasst gut sein. Es ist nichts geschehen.“ Hinrichs Herz schlug bis zum Hals. „Außer einigen blauen Flecken, die mich morgen an diesen Fehltritt erinnern werden, habe ich mir nichts getan.“„Doch, doch, verzeiht noch einmal. Kommt herein und wärmt Euch. Ich bin Gottfried der Bader.“ Die kleinen blauen Augen lugten neugierig und listig unter einer Wollkappe hervor. „Und, und gegen Eure Blessuren habe ich ein Kraut in meinem Haus.“„Nein, aber für das Angebot habt Dank. Ich muss weiter.“„In meinem Haus findet Ihr auch allerlei Vergnügungen“, nuschelte der kleine dickliche Bader verschmitzt. „Ich, ich habe Euch zu Fall gebracht und möchte es wiedergutmachen.“„Nochmals vielen Dank für das Angebot“, wiederholte Hinrich.„Seid, seid Ihr neu in der Stadt?“Hinrich war nicht groß, doch der Bader war noch einen halben Kopf kleiner und mit jedem neuen Satz kam er einen Schritt näher.„Ja.“ Hinrich wich zurück. Aus der Badestube drangen große Wasserdampfwolken. „Wollt Ihr mir sagen, wo ich das Haus von Merten finde?“„Sein, sein Haus ist das hier gegenüber, mein Fremder“, nuschelte Gottfried, drehte sich um und verschwand in der Diele. Den Dampf, mit den Wohlgerüchen der Verführung, nahm er mit sich.Hinrich schämte sich. Einmal, weil er die Einladung abgelehnt hatte und zum anderen, weil sein Rock mit Schlamm bedeckt war. Mit einem letzten Blick auf die Badestube drehte er sich um und klopfte an die Eichentür gegenüber.
„Ich bin der Schreiber Hinrich und auf Geheiß von Probst Paul an Eurem Tor“, begrüßte er den Hünen, der das Tor öffnete.„Sagt, was begehrt Ihr“, brummte Merten, „sagt, und verschwindet.“„Der Probst schickt mich, um nach einer Kammer zu fragen.“„Ich habe keine Kammer, schon gar nicht für einen Günstling vom Probst“, erwiderte Merten barsch und war im Begriff die Tür zuzuschlagen. Aus dem Dunkel der Diele hörte Hinrich die Stimme einer Frau. „Es ist Unrecht. Sei nicht so gottlos und bitte den Frierenden herein.“Merten drehte sich um. „Verzeiht meine Ungastlichkeit“, knirschte er und trat zur Seite. Zögernd betrat Hinrich die hohe, dämmrige Diele. Sie war warm und rauchfrei. Es roch nach Geräuchertem und geheimnisvollen Gewürzen. Auf den Wandbetten für das Gesinde lag frisches Stroh. In einer großen Feuerstelle knisterten wärmende Flammen. Sie schafften es kaum den Raum zu erhellen, warfen nur bizarre Schatten an die Wände. Überall lagen kleine verschnürte Pakete herum.
Hinrich war kleiner und bestimmt auch nur halb so breit, wie Merten von der Heide. Die unruhigen Schatten machten den Kaufmann noch bedrohlicher.„Ihr könnt Gott danken, dass Eure Diele rauchfrei und trocken ist“, sagte Hinrich.„Es waren meine Hände, nicht die von Eurem Gott, die die Feuerstatt so errichteten.“„Verzeiht, ich wusste nicht, dass Euch mein Anliegen derart ungehalten macht. Ich bin fremd und durch ein Bittschreiben vom Rath und der Kirche nach Kyl gekommen.“„Ihr müsst meine Ungastlichkeit verzeihen. Ich kann Euch keine Kammer anbieten. Aber wenn Ihr Hunger habt? Mein Weib hat gerade eine heiße Biersuppe über dem Feuer“, knurrte Merten. Hinrich folgte seinem Stolz und nicht dem Hunger und dem Verlangen nach Wärme. „Nein, herzlichen Dank. Ich will Eure Gastfreundschaft nicht noch mehr in Anspruch nehmen.“„Aber er kommt doch vom Probst“, hörte Hinrich gerade noch. Die Kälte der Gasse empfing ihn wie einen alten Freund. Verletzt und nachdenklich schlich Hinrich zum Markplatz zurück.„Schreiber!" rief eine kräftige Stimme. „Schreiber?“ Hinrich drehte sich um. In seiner breiten Tür stand Merten. „Schreiber, wenn Euch eine kleine Kammer genügt?“Hinrich wollte einfach weitergehen, doch die Kälte kroch seine feuchten Füße hinauf und nahm ihn ein. Der Gedanke an eine warme Schlafstätte, ließ ihn umdrehen.
Wortlos führte ihn Merten durch die anheimelnde Diele, hin zu einer steilen durchgetretenen Holztreppe, die hinter der Vorstube nach oben führte. Sie kletterten die Holzstiege nach oben, quetschten sich an wohlduftenden Paketen vorbei und stiegen über zwei Ballen Stroh. „Die vordere Kammer ist die Eure.“ Damit ließ Merten Hinrich auf dem Speicher stehen und stapfte zurück in die Hauptstube.
Die Tür zu seiner Kammer hatte keinen Schlüssel und schloss auch nicht richtig. Der Dielenboden war zerschlissen. Ohne, dass Hinrich die Worte verstehen konnte, drang die Stimme von Merten durch die Ritzen der Bodenbretter hindurch, zu ihm in die Kammer.Hinrichs Kammer war leer aber warm. In der einen Ecke ein Haufen Stroh für die Nacht. Auf einer Tonschale stand eine Wachslichte und in einem Krug fand sich fad schmeckende Molke. Neben der Kerze ein Löscheimer; halb voll Wasser. Die Diele war direkt unter ihm und die Wärme der Herdstelle erreichte eine Wand. Eifrig schob Hinrich das Stroh an diese Wand und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Der Stein des Kamins wärmte seinen Rücken und mit einem Seufzer sackte er müde zusammen. Die kurze Wachslichte war am erlischen, und mit ihr verlor auch der junge Schreiber die Kraft sich aufrecht zu halten. Je dunkler es wurde, desto lauter wurden die Geräusche des fremden Hauses, der fremden Stadt. Als wollten sie ihn einhüllen und in den Schlaf begleiten. Vornübergebeugt, auf dem Stroh hockend, kritzelte Hinrich noch einige Worte aufs Papier, sein Federkiel schrieb unsauber. Die Stimmen um ihn herum verstummten. Irgendwo scharrte ein Huhn, die schnellen Pfoten einer Ratte vernahm er noch, und das tiefe Schnauben eines Ochsen. Die Begleiter für die Nacht.
„Ich muss der Frau von Merten danken. Anscheinend habe ich diese Kammer nur durch ihre Nächstenliebe“, kratzte Hinrich mit dem letzten Licht aufs Papier. Die Lichte flackerte nur noch wenige Lidschläge lang. „Ich hoffe, dass der Geist des Schlafes mich fortholt und mir die Erquickung des Erwachens am Morgen schenkt.“
Dann wurde es dunkel.
Mühsam öffnete Hinrich die Augen. Im zwielichtigen Schein des frühen Morgens drangen ungewohnte Geräusche aus der Diele laut durch die Bodenbretter in Hinrichs Kammer.Sein Kopf schmerzte bei jeder Bewegung. Seine Augen brannten. Er bekam kaum Luft durch die Nase. Schwer atmete Hinrich durch den Mund. Der war trocken, die Lippen rissig. Mit einem Stöhnen wälzte sich der Schreiber von seiner Strohschütte. Seine Zunge fuhr immer wieder über seine geschwollenen Lippen. Er griff zum Tonkrug. Die Molke darin war gefroren. An der kleinen Butzenscheibe hatten sich Eiskristalle gebildet.Hinrich wankte fiebertrunken und musste sich am Türpfosten festhalten, um nicht zu stürzen. Seine Stirn fühlte sich wie die Wand einer heißen Herdstelle an. Schwindelig, und mit den Gedanken an seine neue Aufgabe, öffnete er die Kammertür und torkelte die ausgetretene Holzstiege nach unten.Mit jedem Schritt wurde es wärmer. Je wärmer es wurde, desto häufiger musste sich Hinrich die Nase am Rockärmel abwischen. Er war es gewohnt, krank zu sein. Mindestens zweimal im Jahr, doch er erholte sich auch schnell wieder. Deshalb war es auch diesmal für ihn kein Grund auf der Schütte zu bleiben.
Ein Knecht schlurfte durchs hintere Dielentor in den Stall. Eine dickliche Magd zischelte „für Euch, mein Herr“, und zeigte mit krummen, harten Fingern auf den großen Esstisch. Ein Napf voll Gerstenbrei und einen Fladen Roggenbrot sah er dort. Daneben ein Krug mit warmem Bier. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, packte die Magd ein quiekendes Ferkel, das um ihre Beine schlich, und folgte dem Knecht nach hinten zum Vieh. Hinrich nahm einen Schluck vom Bier, setzte sich erschöpft auf die Bank und kaute appetitlos auf seinem Brot. Er entschloss sich, doch noch einmal nach oben zu gehen.Kraftlos fiel er zurück auf seine Schütte, und da es noch dunkel war, schlief er sofort ein.
Hinrich blinzelte. Die Sonne schien freundlich durch die dreckige Butzenscheibe - die staubige Kammer wirkte heller.Hinrich blieb liegen, bis sein Wille die nötige Kraft hatte, den Körper zu befehligen. Die Geräusche von vorhin waren geschäftigen Lauten gewichen. Eilig griff er sein Schreibzeug und hetzte auf die Schuhmacherstrate. Tausende von kleinen Sternen glitzerten im unberührten Schnee. Hinrich schloss geblendet seine Augen. „Wie göttlich“, dachte er. „Der Dreck der Straten weicht dem Weiß der Gedanken.“ Alle sonst so lauten und hektischen Geräusche flüsterten nur mehr durch die Luft. Hinrich lächelte: „Ein friedliches Bild in der bedrohlichen Kälte.“Er rannte trotz seiner Erkältung wie im Rausch durch den feinen Schnee. Immer wieder strebte er danach, die unberührten Flächen zu betreten.Auf dem Markplatz verlangsamte Hinrich seine Schritte. Die Menschenmassen von gestern waren verschwunden und das Handeln, Feilschen und Hoffen hatte wieder Einzug gehalten.Auf der breiten, steinernen Rathhaustreppe nahm Hinrich zwei Stufen auf einmal.
„Wie ich hörte, habt Ihr eine Unterkunft bei Merten von der Heide gefunden“, donnerte Boyenhusen, der Bürgermeister, in der gleichen Lautstärke, wie er gestern die Burspraken verkündet hatte. Und ohne eine Antwort abzuwarten: „Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Nacht. Obwohl, Ihr seht sehr mitgenommen aus. Vielleicht solltet Ihr Gottfried den Bader aufsuchen. Seine Badestube ist gegenüber dem Haus von Merten.“„Ich danke für die Fürsorge“, näselte Hinrich, „es wird schon gehen. Könnt Ihr mir nun das mir zugedachte Pult zeigen?“Der Bürgermeister führte Hinrich am Saal des Obergerichts vorbei, in einen kleinen und schmucklosen Raum. Reihen voll Bücher an der Wand neben der Butzenscheibe. Zwei Stehpulte, einer war leer. Sonst gab es nur noch einen groben Eichentisch mit zwei Sitzbänken. Auf dem Eichentisch standen zwei Ölleuchten. An der Mauer, gegenüber der Bücherwand, hing ein Teppich. Ein Edelmann auf ihm abgebildet, daneben, an einem Waldrand, ein Bettelmönch. Beide hatten dieselben Gesichtszüge.„Hier könnt Ihr Euch in Ruhe niederlassen“, sagte der Bürgermeister knapp. „Am Tag nach den Burspraken ist recht wenig zu schaffen. Peter Vysch, unser Stadtschreiber, wird nachher noch erscheinen und Euch genauer in die Aufgaben einweisen.“ Damit verließ er die Schreibstube. Mit einem Blick zurück: „Ich hoffe, der Probst hat nicht übertrieben, als er Euch angepriesen hat.“Noch bevor Hinrich antworten konnte, schnappte die Tür zu.Hinrichs Finger fuhren über die Buchreihen. Lose Dielen knarrten unter seinen Füßen. An der groben Eichenplatte des Tisches stehend, blätterte er unschlüssig zwischen einigen Papieren. Lustlos schob er sie beiseite, als sein Blick auf einen ledergebundenen Umschlag fiel. Nur eine Ecke schaute unter dem Stapel loser Blätter hervor.Die Tür war immer noch verschlossen.Vorsichtig legte Hinrich einige Rollen Pergament zur Seite. Noch einen Stapel Papiere, wobei er sich die Reihenfolge genau merkte, dann zog er den Ledereinband nach oben. Behutsam zog er das Band auseinander, das den Stoß Papiere zusammenhielt. Es hatte Ähnlichkeiten mit seinem Tagebuch.Hinrich lauschte.Unsicher nestelte er am Einband. Es knarrte – Bodendielen!Hastig knotete Hinrich den Einband wieder zusammen, legte ihn auf den Eichentisch und stapelte Papiere darauf. Lag die Lederecke so? Dann noch die Rollen Pergament …„Was machst Du hier?“Hinrich fuhr herum.„Verschwinde sofort! Du hast hier nichts zu suchen.“Hinrich zog seine Schultern höher, doch er stand noch immer leicht gekrümmt da und zitterte innerlich. Die Worte stammten von einem gichtigen und zahnlosen alten Mann. Der junge Kerl dahinter war in Hinrichs Alter. Er ballte seine Hände.„Nimm die Finger von den Rollen“, schrie der Alte mit kräftiger Stimme. Dabei humpelte er erstaunlich schnell zum Eichentisch. Hinrich wich einige Schritte zurück. Dann stieß er mit dem Rücken gegen die Buchreihen.„Ich, ich bin Hinrich, der neue Schreiber.“„Pah!“„Der Bürgermeister hat mir diesen Raum angewiesen.“„Pah, das kann jeder behaupten. Verschwinde!“„Vater, Vater, wenn es nun tatsächlich der neue Schreiber ist?“„Dann wird er morgen wiederkommen“, unterbrach der Alte seinen Sohn. Dabei verfolgte sein Blick jeden von Hinrichs flüchtenden Schritten, zurück auf die Rathhaustreppe.
Unschlüssig stand Hinrich oben auf der Treppe und beobachtete die Bürger auf dem Markt. Die Bürger beachteten ihn nicht. Es schneite. Seinen Wollumhang hatte der junge Schreiber in der Schreibstube gelassen. Ihn quälten seine Glieder und Kopfschmerzen. Er wollte keinen Menschen treffen. So schlich er mit eingezogenem Kopf in seine Kammer und schlief, kaum dass er auf der Schütte lag, ein.
Am nächsten Morgen war der Schnee dem Matsch gewichen. Hinrich hatte den ganzen Tag und auch die Nacht durchgeschlafen. Nun stand er frisch gestärkt vor der Nikolaikirche. Ein Bote des Probstes hatte ihn bei Merten aufgesucht, und in die Kirche gebeten.Er freute sich auf seinen Freund, er freute sich auf Gespräche mit dem Probst und er hatte eine Menge Fragen.