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Tag für Tag, über ein Jahr hinweg, erzählt Gesine Cresspahl ihrer zehnjährigen Tochter Marie aus der eigenen Familiengeschichte, vom Leben in Mecklenburg in der Weimarer Republik, während der Herrschaft der Nazis, in der sich anschließenden sowjetischen Besatzungszone und den ersten Jahren in der DDR. Zugleich schildert der Roman das alltägliche Leben von Mutter und Tochter in der Metropole New York im Epochejahr 1967/1968, inmitten von Vietnamkriegs- und Studentenprotesten. In den »Jahrestagen« entfaltet Uwe Johnson ein einzigartiges Panorama deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert – eine »Lese-Weltreise« (Reinhard Baumgart) in die bewegte New Yorker Gegenwart des Jahres 1968 und zugleich in die Geschichte einer deutschen Familie seit der Weimarer Republik.
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Seitenzahl: 857
Veröffentlichungsjahr: 2013
Uwe Johsohn
Jahrestage 2
Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Suhrkamp Verlag
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage
der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4452
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1971
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg
auf Grundlage der von Willy Fleckhaus gestalteten Originalausgabe
unter Verwendung eines Fotos von Renate von Mangoldt
www.suhrkamp.de
ISBN978-3-518-73071-3
Dezember 1967 - April 1968
Das Wasser ist tief unter der Straße versteckt, wo sie über einen Felsbuckel muß, chlorgrünes, laues, pralles Wasser in einem Fliesenkasten unter dem Hotel Marseille an der West End Avenue, Manhattan, Obere Westseite, New York, New York. Das Wasser ist laut, platzt und reißt unter den Sprüngen der Schwimmer, schwappt gegen die Wände, klackt in den Überläufen, wirft das Prasseln des eingeengten Echos wild hin und her. Auf die Zehenspitzen. Die Arme vor. Die Knöchel hoch. Den Kopf zwischen die Arme. Die Fußsohlen flach beieinander halten. Jetzt schlägt das Wasser gegen die Schädeldecke. Die rasche Fahrt unter dem Wasser, den Händen hinterher, geht durch halbblindes Zwielicht.
Die Kinder im flachen Teil des Beckens begrüßen schon den Kopf, der zwischen ihnen auftaucht. - Beautiful header, Gesine: sagen sie. Sie sagen aber: Dschi-sain, und womöglich meinen sie, daß sie einen Kopfsprung so nicht gelernt haben. A curious header, Mrs. Cresspahl.
Die Kinder von der West End Avenue, dem Riverside Drive halten den Mediterranean Swimming Club besetzt in dieser Zeit zwischen Ende der Arbeit und letzter Mahlzeit. Sie dulden unter sich die tapfer rudernden Greisinnen in ihren Blumenkappen, sie halten die jugendlichen Athleten im Auge, die mit Gewaltmärschen unter Wasser dem Verfall ihrer Körper vorbeugen wollen, und es ist leiser in der Ecke, in der eine einsame Ehefrau stillsteht, gewissenhaft und geniert mit einem Kriechling auf der Hüfte. Aber die Sprungbahn räumen die Kinder eher für ihresgleichen, die Erwachsenen lassen sie warten oben auf dem Brett, und Jungen wie David Williams machen sich einen Spaß daraus, unverhofft unter den verbissen strampelnden Muskelmännern hindurchzutauchen.
Sie haben den Kopfsprung anders gelernt. Der Ruck, den die vorschnellenden Arme durch den ganzen Körper bis in die Knöchel ziehen, er ist nicht zu sehen. Sieh dir diese Marie Cresspahl an, seit sechs Jahren erst im Lande, sie gleitet in einer einzigen unabgesetzten Bewegung vom Beckenrand ins Wasser, wie ein Fisch auf der Rückreise ins geheurere Element. Es ist, als ließe sie sich fallen; so ohne sichtbaren Abstoß springt sie. Marie übt mit ihren Freundinnen das Tauchen, mit Pamela Blumenroth, mit Rebecca Ferwalter; sie werfen aber nicht Geldstücke auf den Grund des Beckens, sondern die Schrankschlüssel, deren stumpfe Farbe sie tarnt. Ohne Schlüssel kämen sie aus dem Bad nicht mehr hinaus, in ihrem schadenfrohen Geschrei sitzt auch Ängstlichkeit, und wenn Marie aus dem Tiefen aufsteigt, die Hand mit dem geretteten Schlüssel steil voran, ist doch Erleichterung zu merken in ihrem kleinen, nassen, von Freude straffen Gesicht. Nachher, wenn sie sich die stramme Kappe vom Kopf zieht, wird sie inmitten ihrer langen winterblonden Haare älter aussehen als ihre zehneinhalb Jahre. Im weißen Rahmen der Kappe ist der unausgewachsene Bogen ihrer Augenhöhlen unter der gedrungenen Stirn ausgestellt wie allen Schutzes entblößt.
Oberhalb des lärmenden Wassers, in halber Höhe des blaukachligen Raums, läuft um zwei Wände ein Balkon, die Rückseite der Bar Marseille, wo die paarsitzigen Tischchen aufgestellt sind. So alt ist das Hotel. Den Kunden von 1895 genügte es noch, von oben, von ferne hinabzusehen auf die Badenden, die knapp Bekleideten; in einem Bau von heute würden die Trinker die Hocker an den Rand des Beckens wünschen, oder daneben, hinter eine durchsichtige Panoramawand. Dennoch kommt Mr. McIntyre dort oben kaum je zum Stillstand vor seinen neunundneunzig Flaschen Feuerwassers; in diesem Viertel wohnen genug Leute, die sich gern verabreden inmitten der rothölzernen Wände, die jeden Tag ein bißchen wohnen auf dem blankgesessenen Leder und den massigen Wulst der altersglänzenden Mahagonitheke mit ihren Ellenbogen putzen. Dort oben hat vor sechs Jahren eine Gesine Cresspahl zu lange gesessen und an irischen Redensarten einen falschen Eingang in das hiesige Leben gesucht, oft in der Nachbarschaft von Mr. Blumenroth, der damals nicht aussah wie ein Vater von Pamela. Immer noch haben die Juden die Obere Westseite nicht ganz aufgegeben, Juden sind hier erwünscht; aber in sechs Jahren noch nie hat sich an der zierlich durchbrochenen Brüstung der Kopf eines dunkelhäutigen Bürgers gezeigt, und wie es oben nicht die Preise Mr. McIntyres sind, die Neger von einem Besuch des Marseille abhalten, so machen es unten nicht allein die sechzig Dollar Jahresgebühr, daß die Weißen im Wasser unter sich bleiben.
An diesem Abend sind es zwei Gäste des Hotels, die am südlichen Rand des Beckens hin und her ziehen, stur in immer der selben Bahn, zwei junge Fremde, die in einer fast beleidigten Art stoppen vor den alten Damen, die lieber die kürzere Querstrecke schwimmen, und sie schlucken Wasser und Wut auf die Kinder, die dicht vor ihrer Nase sich ins Tiefe versenken. Vielleicht sind es Deutsche, technische Lehrlinge auf Ausbildung in der new yorker Stammfirma, denn sie sprechen deutsch, obwohl nicht nur Gesine Cresspahl sondern auch die jüdischen Schwimmer ihre etwas ratlosen Bemerkungen und Zurufe zur Not verstehen. Sie ahnen nicht, wo sie sind; sie sprechen unbefangen, laut. Es ist ihnen nicht sauber genug hier. Zu Hause haben sie eine neugebaute Schwimmhalle. Ihnen sehen viele Badegäste aus, als müßten sie in europäischen Ländern nicht auffallen. Und endlich kommt Marie an, in glatten weichen Stößen unter Wasser, und berichtet siegesgewiß: Sie reden über dich! Du hättest die richtige Größe! Dein Busen säße zu tief! Du hättest vielleicht noch kein Kind geboren, aber auf die Nasenspitze müßte dich Keiner noch drücken! Dein Haar, deine Wangenknochen, danach solltest du aus Polen stammen! From a Slavian country! sagt sie. Denn das Deutsche sprechen Cresspahls nur noch unter sich, darauf besteht diese Marie, der die grau und grünen Augen ganz fürsorglich geworden sind von dem Glauben, sie habe ihrer Mutter ein Lob angebracht, etwas Verträgliches.
Und wenn ihr Kinder in die Welt setzt, nich mit dein’n Knochn, Cresspahl! Neemtlich, wenn das ein’ Diern wird, soll sie die Beine von Lisbeth haben!
Das Becken des Mediterranean Swimming Club, zwanzig Meter lang, achtbahnig, ist vielleicht geräumiger als das der »Mili« in Jerichow, in dem Gesine Cresspahl schwimmen gelernt hat, das Kind das ich war. Erinnerung baut an: sagen die, die noch einmal zurückgegangen sind. Dahin zurück darf ich nicht. Das ist weit von hier. Das ist mehr als 4500 Meilen entfernt, und mehr, noch nach acht Stunden Flug muß man dahin gehen, bis man in die Nacht gerät, und kommt nicht an. Das ist mehr als 6000 Kilometer. Das ist wendische Gegend, Mecklenburg, an einer anderen Küste. Dort habe ich gelebt, für zwanzig Jahre. Denn sittst vilicht, verraden un verköfft, in son’n amerikanschen Wald …
An der »Mili« von Jerichow Nord stellte mein Vater vor dreißig Jahren Regenschuppen auf, Heinrich Cresspahl, Jahrgang 1888, von den deutschen Kriegen weggegangen in die Niederlande, nach England, und doch mit meiner Mutter zurückgekehrt nach Mecklenburg, damit ich in Deutschland zur Welt käme, wenige Jahre vor dem nächsten Krieg. So elend war meine Mutter damals schon, Lisbeth, geborene Papenbrock. Der Flugplatz auf der hohen Ostseeküste bei Jerichow, den mein Vater mit Holzarbeiten bauen half, war für einen modernen Krieg, und so wurde ein mickriger Grabenfluß auf seinem Weg zum Meer angehalten und umgeleitet und mußte das Wasser der Militärbadeanstalt erneuern. Den Namen »Mili« bekam die Anlage von der Schuljugend, erst nach dem Krieg, als die sowjetische Besatzungsmacht den Komplex Jerichow Nord sprengte und schleifen ließ und das Schwimmbecken vergaß. 1953 waren Cresspahls Regenschuppen längst durch Jerichows Öfen gegangen, nur in verrotteten Stümpfen übriggeblieben. Es war Februar, das Becken abgelassen, von Schneetreiben säuberlich weiß ausgelegt am Boden. Jakob kam mir ohne Zögern nach unten nachgeklettert. Wir sind in dem Becken auf und ab gegangen, bis alle Bahnen ausgefüllt waren mit den Spuren unserer Füße. Von Jakobs Gesicht an diesem Tage bekomme ich kein Bild; ich müßte es denn erfinden. Wir waren unsichtbar, geschützt von den Wänden des Erdlochs, versteckt unter dem wirbelnden Himmel, in der sausenden Stille. Und er konnte mir nur für sich sagen, wie das Leben ist in der Fremde, nicht für mich.
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