Jahrestage 3 - Uwe Johnson - E-Book

Jahrestage 3 E-Book

Uwe Johnson

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Beschreibung

Tag für Tag, über ein Jahr hinweg, erzählt Gesine Cresspahl ihrer zehnjährigen Tochter Marie aus der eigenen Familiengeschichte, vom Leben in Mecklenburg in der Weimarer Republik, während der Herrschaft der Nazis, in der sich anschließenden sowjetischen Besatzungszone und den ersten Jahren in der DDR. Zugleich schildert der Roman das alltägliche Leben von Mutter und Tochter in der Metropole New York im Epochejahr 1967/1968, inmitten von Vietnamkriegs- und Studentenprotesten. In den »Jahrestagen« entfaltet Uwe Johnson ein einzigartiges Panorama deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert – eine »Lese-Weltreise« (Reinhard Baumgart) in die bewegte New Yorker Gegenwart des Jahres 1968 und zugleich in die Geschichte einer deutschen Familie seit der Weimarer Republik.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 584

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Uwe Johsohn

Jahrestage 3

Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Suhrkamp Verlag

Suhrkamp

Impressum

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage

der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4453

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1973

echte vorbehalten, insbesondere das

der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

auf Grundlage der von Willy Fleckhaus gestalteten Originalausgabe

unter Verwendung eines Fotos von Michael Bengel

www.suhrkamp.de

ISBN978-3-518-73072-0

Jahrestage

April 1968 - Juni 1968

 

20. April, 1968 Sonnabend

Das Wasser ist schwarz.

Über dem See ist der Himmel niedrig zugezogen, morgendliche Kiefernfinsternis schließt ihn ein, aus dem Schlammgrund steigt Verdunkelung auf. Die Hände der Schwimmenden rühren voran wie gegen eine schwere Farblösung, kommen erstaunlich rein an die Luft. Überall sind Ufer nahe, in der Dämmerung glaubte ein Betrachter zwei Enten in der Seemitte unterwegs, eine dunkel, eine hell befiedert. Aber es ist zu früh für Menschen. Die Stille macht den See düster. Die Fische, die Vögel zu Wasser und zu Lande mögen nicht wohnen in der ausgebaggerten Senke, in den kümmernden Bäumen, der chemisch behandelten Landschaft, hergerichtet für zahlende Menschen. Laß dich zwei Fuß sinken unter die stillstehende Fläche, und du hast das Licht verloren an grünliche Schwärze.

– Dein wievielter See ist dies, Gesine? sagt das Kind, sagt Marie, sagt der fremde Fisch, der aus langer Tauchfahrt hervorstößt. – How many lakes did you make in your life now?

Zwei Stimmen über dem Wasser, in der verhangenen Stille, eine ein elfjähriger Sopran, schartig an den Rändern, die andere ein Alt von fünfunddreißig Jahren, kugelig, nicht sehr geräumig. Die Ostsee läßt das Kind nicht gelten.

In der Ostsee zum erstenmal schwamm das Kind das ich war, vor dem Fischland und in der Lübecker Bucht, an den Seegrenzen Mecklenburgs, ehemals Provinz des Deutschen Reiches, jetzt Küstenbereich des sozialistischen Staates deutscher Nation. Schwamm mit Kindern, die tot sind, mit Soldaten der geschlagenen Marine, die das große mächtige Ostseemeer die überschwemmte Wiese unter den Ozeanen nannten. Aber in den Geographiebüchern dieses Landes heißt sie Baltic Sea, und Marie läßt sie nicht gelten. Es ist ein amerikanisches Kind.

Wieviel Seen die Mutter beschwommen hat, mitgenommen, gemacht; welchen Rekord.

Ein europäisches Kind nennen die Hiesigen sie, ausgehungert nach Zurückhaltung, Aufmerksamkeit, höflichem Betragen bei Kindern. Höflich hat Marie vor dem frühdunstigen Seerand gestanden, geduldig ist sie ihrer Mutter gefolgt in das knochenkalte Wasser, der Partnerin auf Gedeih und Verdruß seit sie lebt, noch nicht verzichtbar. Und wie sie es gelernt hat von den Nonnen ihrer Schule, benimmt sie sich schicklich und unterhält ein Gespräch beim Schwimmen. So gern sie die Gelegenheit unter Wasser verbrächte, sie hält den Kopf oben, versucht Anteilnahme zu zeigen in ihrem bestimmten, glattgewischten Gesicht.

Wieviel Seen in fünfunddreißig Jahren?

Geschwommen im gneezer Stadtsee, Sportunterricht der Oberschule Fritz Reuter nach dem Krieg, und das Kind Gesine Cresspahl sollte zu Wettkämpfen trainiert werden, Badeanstalt Stadtseite Gneez. Gneezer Stadtsee, wiederum in Gemeinschaft mit anderen, Südseite, wilde Badestelle der Schule, Klasse 10 A II, 11 A I, 12 A I. Geschwommen zu Hause im Militärbecken, vergessen von Deutscher Luftwaffe und Roter Armee, zusammen mit Lise Wollenberg, Inge Heitmann, dem Jungen aus der Apotheke der Stadt Jerichow. Nie: im Dassower See, nur zwölf Kilometer von meines Vaters Hintertür und unerreichbar, das Ufer Demarkationslinie, Staatsgrenze, das Wasser: Britische Zone, Bundesrepublik Deutschland, Westen. Mit Pius Pagenkopf: im Cramoner See, eine Fahrradstunde von der Schulstadt, zwischen Drieberg und Cramon, 1951. Allein, auf dem Wege von Jerichow, Nordwesten, nach Wendisch Burg, Südosten Mecklenburgs: im Schweriner See bis zur Insel Lieps, im Goldberger See, im Plauer See, in der Müritz. Mit Klaus Niebuhr, Günter Niebuhr, Ingrid Babendererde, Eva Mau in allen sieben Seen um Wendisch Burg, noch 1952. In Leipzig, in Halle: Rettschwimmertraining in überdachten Hallen, noch bis Mai 1953. Zum letzten Mal im Stadtsee von Gneez: Ende Mai 1953, und Jakob nahm mir den zerstochenen Fuß hoch wie einem jungen Pferd, und die Bewegung lief mir durch den Leib nach oben ohne einen Schmerz.

Mit Jakob nie. Jakob arbeitete noch in Cresspahls Haus, auf den Dörfern, wenn wir abends aus Jerichow liefen für drei Runden in der Mili, Militärbadeanstalt, hartnäckig Mili genannt (auch der Fliegerhorst Mariengabe hieß nun ein für alle Male Jerichow Nord). Jakob ging weg aus der Stadt mit Arbeit bei der Eisenbahn, wurde einmal an der Pfaffenteich-Fähre, in Schwerin, fotografiert (in Gesellschaft von Sabine Beedejahn, ev., 24 Jahre alt, verh.). Jakob ging mit Freunden fischen an Seen, brachte Eimer voll lebender Krebse mit aus mecklenburgischen Seen, und ich kannte die Seen nicht, und er ging ohne mich mit Fischern, mit Mädchen, mit Kollegen, und ich kannte fast Jakob nicht.

Nach dem Verlassen der ostdeutschen Behörden: mit Anita fast jeden von zehn Tagen im Wannsee von Westberlin, wo die Grenze am meisten entfernt war. In Westdeutschland: Städtische Badeanstalten Frankfurt, Düsseldorf, Krefeld, Düren. Genf. In den Vereinigten Staaten von Amerika: Winnipesaukee Lake, Lake Chippewa, Lake Travis, Lake Hopatcong. Noch einmal mit Anita in den französischen Vogesen.

– Achtzehn gültig, vier ungültig, einer zweifelhaft, und ausgezeichnete Komplimente für Lake Travis in Texas! sagt Marie.

Aber der Bootssteg ist jetzt nur noch eine Viertelmeile von uns entfernt, und gleich legt sie den Kopf seitlich ins Wasser, so unfehlbar glaubt sie die Aufforderung zum Wettkampf verstanden, und nach langem Tauchstoß zieht sie kraulend davon, scharf und genau zupackend, fast lautlos. Sie will zurück zu dem geliehenen Haus, dem kostbaren Stück aus nichts als Glas und edelhölzernen Dachschrägen, wo es ein Telefon gibt und Nachrichten aus Fernsehstationen und womöglich aus dem Dorfladen die New York Times und schon morgen nachmittag die Rückkehr nach Hause, nach Manhattan in New York, Riverside Drive und Broadway, corner of 96th.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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