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Tag für Tag, über ein Jahr hinweg, erzählt Gesine Cresspahl ihrer zehnjährigen Tochter Marie aus der eigenen Familiengeschichte, vom Leben in Mecklenburg in der Weimarer Republik, während der Herrschaft der Nazis, in der sich anschließenden sowjetischen Besatzungszone und den ersten Jahren in der DDR. Zugleich schildert der Roman das alltägliche Leben von Mutter und Tochter in der Metropole New York im Epochejahr 1967/1968, inmitten von Vietnamkriegs- und Studentenprotesten. In den »Jahrestagen« entfaltet Uwe Johnson ein einzigartiges Panorama deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert – eine »Lese-Weltreise« (Reinhard Baumgart) in die bewegte New Yorker Gegenwart des Jahres 1968 und zugleich in die Geschichte einer deutschen Familie seit der Weimarer Republik.
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Seitenzahl: 840
Veröffentlichungsjahr: 2013
Uwe Johsohn
Jahrestage 4
Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Suhrkamp Verlag
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage
der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4454
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1983
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg
auf Grundlage der von Willy Fleckhaus gestalteten Originalausgabe
unter Verwendung eines Fotos von Digne Meller Marcovicz
www.suhrkamp.de
ISBN978-3-518-73073-7
Juni 1968 - August 1968
Aufgewacht von flachem Knallen im Park, Schüssen ähnlich. Unerschreckt stehen Leute an der Bushaltestelle gegenüber. Hinter ihnen spielen Kinder Krieg.
Unser Stand an der 96. Straße ist verhängt. Keine Zeitungen wegen Todesfalls. Der Alte hätte doch hinschreiben sollen, ob er selber der Tote ist. Auch die wöchentliche Ware ist zugedeckt mit verwittertem Plastiktuch. Die Kunden treten regelmäßig heran, stutzen erst wenige Schritte vor den grabähnlichen Packen, ziehen in verlegenem Bogen ab. Niemand versucht etwas zu stehlen. Wer dann immer noch Schlaf bei sich trägt, erwartet auf dem von Hand beschriebenen Karton: Geschlossen aus Anstand gegenüber … wem?
In der Unterführung der Ubahn geht ein Junge mit Schädelkappe vorüber an einem Whisky-Plakat, da hat jemand gleich zweimal in Schönschrift aufgetragen: Fickt die jüdischen Säue. Der Junge hält den Kopf, als hätte er es übersehen.
Im Grand Central war noch eine New York Times übrig. Wetter teils sonnig, teils kühl. Behalten: das Foto des Adolf Heinz Beckerle, früheren deutschen Gesandten in Bulgarien, angeklagt wegen Mithilfe bei der Deportation von 11 000 Juden ins Todeslager Treblinka im Jahr 1943. Weil er an Ischias leidet, liegt er auf einer Bahre, bürgerlich bekleidet zwischen Kopfkissen und Decken; sorgsam tragen zwei frankfurter Polizisten ihn die Treppe zum Gericht hinauf. Frankfurt am Main.
Manchmal gelingt das letzte Aufwachen an dem Wasserbrunnen vor dem Durchgang zum Graybar-Haus. Heute hängen da zwei Herren, beugen abwechselnd sich vor, nehmen den Kopf hoch wie die Hühner, betäuben ihre Alkoholschmerzen.
Der Bettler vor dem Ausgang hat heute einen roten Eimer für seinen Hund.
Etwa dreißig Leute können bezeugen, daß Mrs. Cresspahl um 8 : 55 ihr Büro betrat und den Dienst erst um 4 : 05 Uhr verließ!
In der nachgezogenen Mittagspause, um viertel fünf hat der Haarkünstler Boccaletti den einzigen Termin in der ganzen Woche für seine Mrs. Cresspahl gefunden. Im Wartezimmer sitzen die anderen vom Abonnement, unter ihnen die beiden Damen, die es lieben, einander mit zärtlicher Besorgnis anzureden, befriedigt in der Gewißheit, daß die eine doch immer noch schlechter dran ist als die andere. Das hat sich schon auf der Flucht gezeigt, wissen Sie noch, in Marseille. Mrs. Cresspahl hätte gern noch mehr gehört von diesem Deutsch, aber Signor Boccaletti ruft sie eilends heran wie sonst nicht. Es geht ihm nicht um Zeitgewinn bis zur nächsten Kundin, er will klagen über den weiten weiten Weg bis Bari, wo es anders zugeht als hier. Zwei Hände voll Seifenschaum wirft er in die Luft, erst so kann er ausrufen: Signora, uccidere per due dollari? Ma!
(Giorgio Boccaletti, Madison Avenue, wird gebeten, in der Seufzerspalte der Times mitzuteilen – Diskretion zugesichert –: Von welchem Betrag an denn es sich lohnt.)
Verspätungen auf dem Expreßgleis der Westseite. Der Lautsprecher verspricht knurrend, mit jeder Wiederholung brummiger: Der Bummler hält an allen Schnellstationen, zu der verzerrten Stimme ist ein Mensch nicht zu denken, und da halten muß ein Lokalzug doch so wie so. Mitgekommen bin ich erst mit dem dritten Zug, in dem war zu wenig Luft zum Atmen.
Zehn Minuten stand ich vor einem Plakat mit der Aufforderung Support Our Servicemen. Darunter war ein S. O. S. in Morseschrift abgebildet, darunter ein Foto, auf dem ein weißer Soldat einem schwarzen eine Blutlösung eintropfen läßt. Unterstützt unsere Soldaten. Links, unter rotem Kreuz: Hilf uns helfen. Nach Amanda Williams’ zuverlässigen Auskünften soll dies Plakat heimlich bedeuten: Die Amerikaner sind in äußerster Not in Viet Nam.
Dann drehten zwei Negerinnen sich in einer nahezu synchronen Bewegung um ihre Körperachse, bewegten ihre Nachbarn mit, so daß ich von dem Plakat abgewandt stehen konnte.
Auf dem Broadway taumelte ein vielleicht betrunkener Neger in einen Delikatessenladen und begrüßte den Inhaber mit einem Wort, das kann ich nicht. – Wenn Sie das nicht gern hören, können Sie ja verschwinden! schreit er. Er schwankt weiter zwischen den Vitrinen und hält eine Aufstandsrede, die versteht nun keiner mehr. Der Inhaber beobachtet den Feind, leicht gekrümmt, die Hände auf den Kassentisch gestützt, mit nicht ärgerlichem Blick unter den Brauen hervor.
Zu Hause hat Marie Blumen. Es waren einmal ein Dutzend Päonien, zu sechs Dollar. – Da war eine Puertorikanerin mit ihrem kleinen Kind, neun Jahre alt, das Mädchen wünschte auch solche, die Mutter sagte so oft: But they don’t last, child! Aber sie halten sich nicht! Da hab ich vor der Tür auf das Mädchen gewartet und ihr sechs abgegeben. Gesine, bist du einverstanden? Talk to me! Sprich mit mir!
– Einverstanden, Marie. Warum überhaupt Blumen?
– Heute hat doch Karsch Geburtstag. Nehmen sie dir denn auch das Gedächtnis heraus in der Bank? Heute hat Karsch Geburtstag!
In der Post aus Europa beruft jemand sich auf Bekanntschaft mit Mrs. Cresspahl und will das schriftlich haben, zu einem Jubelfeste. Auf Bestellung.
Gestern begannen von Amts wegen die Manöver der Sowjets, Ungarn, Ostdeutschen und Polen mit den Tschechoslowaken auf deren Boden. Nach Auskunft von Ivan I. Yakubovsky, Marschall der Sowjetunion, sind nur Kommandostäbe, Signal-, Transport- und Hilfstruppen beteiligt. Über die Dauer ist nichts gesagt.
– Marie, was benötigt man für öffentliche Wahlen?
– Gewählt haben sie auch noch in Mecklenburg? Konnten sie nicht nehmen, was da war?
– Wenn es denn einmal sein soll, Marie. Was nimmt man da.
– Parteien hattet ihr schon, erstens. Zweitens, die Leute in Parteien müssen Leute einladen, die nicht in den Parteien sind. Denen müssen sie etwas versprechen, entweder mehr oder was anderes als die anderen Parteien. Eine Partei, die nicht an der Macht ist, muß dazu ebenso eine Erlaubnis haben wie die Partei, die an der Macht ist. Weil die Parteien nicht alle Leute einladen können, die nicht in Parteien sind, müssen sie auf den Rest einreden mit Zeitungen, Flugzetteln, Plakaten. Wenn es endlich ans Wählen geht, brauchen sie drittens Schiedsrichter. Die kümmern sich nur um die Regeln, als da sind Freiwilligkeit, Geheimhaltung und genaue Auszählung; die Parteien aber sind ihnen schnurz. Dann brauchst du noch Leute, die es nicht satt haben und überhaupt wählen wollen. Da weiß ich ein paar, die wollten sich gar nichts mehr aussuchen.
– Es waren aber die Grenzen zu seit dem 30. Juni 1946. Das hatten die Sowjets zwar zu eigenen Gunsten eingerichtet, jedoch im Kontrollrat mit den westlichen Alliierten zusammen. Auch nach deren Willen sollte einer in Mecklenburg bleiben, wenn er einmal da war, da bereit sein für die Forderung des täglichen Tags. Für den 15. September standen Gemeindewahlen im mecklenburgischen Kalender. Mine Köpcke hätte nicht einmal in einem Letzten Willen angeben können, was sie in der Hand hatte, es sei denn Duvenspecks weichen Hals; auch die sagte, dennoch: Warum sollen wir die Macht aus der Hand geben?
– Wer gewinnt, weiß ich. Das wird langweilig.
– Für den Wahlkampfleiter der S. E. D. im Landkreis Gneez war es nicht langweilig. Unheimlich war ihm. Oft in den Wochen vor der Wahl bekam er ein Gefühl, als stünde Einer hinter ihm, im Dunkeln. Er konnte nicht herausfinden, was es war. Die Sache lief für ihn und seine Freunde prächtig, er würde sagen: schnuckelig geht das! Er war kein Dummkopf, er hatte was gelernt aus den hessischen Gemeindewahlen vom Januar, als die S. P. D. achtmal soviel Stimmen bekam wie die eigene Partei; der Landkreis Gneez war einer der ersten, in dem die Sozialdemokraten ihre eigene Partei aufgaben und mit ihm in eine neue gingen, am Ende hatte auch der Zentralvorstand begreifen müssen und der von unten aufsteigenden Vereinigung gehorchen. Den Mund hatte er sich fusselig geredet! Was hatte er den Sozis nicht alles versprechen müssen: Sauberkeit bei Prozeduren der Geschäftsordnung, wonach die jieperten in einer unheimlichen Art; daß nicht jedes Wort von Lenin in deutsche Verhältnisse eingebaut würde; grundsätzlich den besonderen deutschen Weg, den demokratischen, wenn auch nur so lange, wie die kapitalistische Klasse den Boden der Demokratie nicht verläßt, dann leider revolutionär, was die Sozis für einen Gegensatz ansahen; alles versprochen, besiegelt mit Protokoll. Das kam ihm eher zupaß; er hielt es mit den Genossen von Kröpelin, die den Beschluß über die Vereinigung noch hatten unterzeichnen lassen vom Ersten wie dem Zweiten Bürgermeister und schließlich vom Chef der Polizei. Lade hieß der. Kröpelin nannten sie die Schausterstadt. Oh, er lernte gewiß. So war er auf Sozialdemokraten gestoßen, die beriefen nur auf Befehl des sowjetischen Ortskommandanten eine gemeinsame Sitzung mit ihm ein. Manche begriffen erst, wenn ihnen vorsorglich der Rücktritt befohlen wurde. Oft jedoch waren es gesellige Abende gewesen, lustig geradezu; in seiner Sammlung hatte er Unterschriften, denen war der selige Schwung des Wodka erheiternd abzulesen. Mit solchen Hallodris war man nun in einer Partei, ihretwegen hatte man den Titel Deutsche Volkszeitung aufgegeben für ein »Neues Deutschland«, mehr als die Hälfte der Mitglieder stellten ehemalige Sozis in der Einheitspartei; zwar würden die für sie gedachten Stimmen nicht mehr auf sie allein fallen. Da war er beruhigt; warum denn hatte er ein flimmerndes Gefühl innen in den Handgelenken, wenn die Gemeindewahlen ihm bloß durch die Gedanken witschten und nicht einmal sich niederließen im Bewußtsein?
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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