Jahrhundertwende - Wolfgang Fritz Haug - E-Book

Jahrhundertwende E-Book

Wolfgang Fritz Haug

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Beschreibung

Einsetzend im Juni 1990 im Anschluss an sein ­Peres­trojka-Journal zeigen Haugs Aufzeichnungen seine Denk- und Schreibwerkstatt in Auseinandersetzung mit den großen Umbrüchen der bislang wenig aufgearbeiteten Dekade 1990 bis 2000: vom schrittweisen Zerreißen der Sowjetunion und der Abwicklung der DDR sowie der Zerstörung Jugoslawiens über Inflation in der Türkei und weltweite Börsenkrisen bis zu lateinamerikanischen Gegenpolitikversuchen. Es ist die Epoche der neoliberalen Konterreformen und des in ihrem Zeichen sich vollziehenden Übergangs zum transnationalen Hightech-Kapitalismus, gestützt auf die rasante weltweite Auskristallisierung des Internets und seiner »New Economy«. Für den Autor waren es die Jahre, in denen ihn die Übersetzung und kritische Ausgabe der »Gefängnishefte« Antonio Gramscis sowie die Herausgabe der ersten vier Bände des »Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus« in Atem hielten und er sein ›philosophisches Bekenntnis‹ »Philosophieren mit Brecht und Gramsci« veröffentlichte, dazwischen arbeitet er immer wieder an der materialanalytischen Gewinnung von Mosaiksteinchen für seine Theorie des Hightech-Kapitalismus. Haugs Werk-Tagebuch beleuchtet und ruft in Erinne­rung, wie die Weichen gestellt wurden für eine ­Menschen und Ressourcen verschleißende, zugleich aber ungeahnte Handlungsmöglichkeiten freisetzende Globalisierungs­offensive. Es dokumentiert Versuche Einzelner, sich in einer Welt des Paradigmenwechsels zu positionieren – gedanklich, politisch, existenziell, oft schmerzlich ohne Perspektive. Immer wieder geht Haugs Blick vom konkreten Einzelnen zu den Zusammenhängen. In diesem Buch sind die fertigen Gewissheiten in der Minderheit, vielmehr kann man dem Chronisten zusehen, wie er wahrnimmt, zweifelt, nichts einfach stehen lässt, sondern unbequem hinterfragt und manche unbequeme Antwort findet. Man geht durch eigene Zweifel, wird sich ihrer bewusst, um wie der Autor teilzuhaben an dem Projekt, nichts unversucht zu lassen, »die eigene Weltauffassung bewusst und kritisch auszuarbeiten und folglich, im Zusammenhang mit dieser Anstrengung des eigenen Gehirns, die eigene Tätigkeitssphäre zu wählen, an der Hervorbringung der Weltgeschichte aktiv teil­zu­nehmen« (Gramsci).

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Wolfgang Fritz Haug

Jahrhundertwende

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Deutsche Originalausgabe

© Argument Verlag 2016

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Lektorat: Ilse Schütte-Kronauer

Umschlag und Satz: Martin Grundmann, Hamburg,

unter Verwendung des Angelus Novus (1920) von Paul Klee

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-86754-862-5

Wolfgang Fritz Haug

Jahrhundertwende

Werkstatt-Journal

1990 – 2000

Argument

»Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«

Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte

»Manchmal wünschte ich, Sie hielten ein Journal mit vielen Eintragungen in der Baconischen Form über alle die Gegenstände, die Sie gerade interessieren, unmethodisch im ganzen, ich meine antisystemisch. Solche wissenschaftlichen Aphorismen könnte man einzeln, in der oder jener Zusammenstellung […] verwerten […]; anstatt einen davon umzubauen, könnten Sie einen neuen bauen usw. – Es wäre sozusagen epische Wissenschaft!«

Bertolt Brecht an Karl Korsch, April 1948

Vorweg: Im Rückblick

I.

Der weltgeschichtliche Umbruch, dem die Öffnung der Berliner Mauer im November 1989 das Gesicht gegeben hat, begann früher und dauerte länger als dieses emblematische Ereignis. Manche Beobachter lassen das »kurze 20. Jahrhundert« mit dem Ersten Weltkrieg beginnen und mit dem Zusammenbruch des – der russischen Oktoberrevolution und dem Zweiten Weltkrieg entsprungenen – europäischen Staatssozialismus enden. Meine Aufzeichnungen aus den 1990er Jahren wirken, als wäre ich dieser Idee gefolgt. Die kalendarische Jahrhundertwende, von der als »Jahrtausendwende« so viel Aufhebens gemacht worden ist, wird hier mit keiner Silbe erwähnt. Es ist die Folge der Ereignisse sowie die Art, wie diese mit der Gegenwart 25 bis 15 Jahre später zusammentreten, die mir im Nachhinein vor Augen führt, dass sich der Zusammenbruch der Sowjetunion als eine Zäsur begreifen lässt, in der die noch unabsehbar weiterwirkende krisenhafte Konfiguration des 21. Jahrhunderts auftaucht.

Vom als passive Revolution einsetzenden Projekt einer sozialistischen Demokratisierung der SU hatte ich mich hinreißen lassen zu einer Studie über die von Michail Gorbatschow, dem Generalsekretär der KPdSU, vorgelegten Zustandsanalysen und Umgestaltungskonzepte dessen, was als »Perestrojka« in die Sprachen der Welt und damit in die Geschichte eingegangen ist.1 Meine 1989 erschienene und im Grundtenor optimistische Studie wurde alsbald von der Krisendynamik dieses Umgestaltungsversuchs eingeholt, was mich in deren atemlosen Chronisten verwandelte, der in dieser immer zugleich selbstkritischen Arbeit seine Ideengläubigkeit abbüßte. Ich warf mich in die »Sisyphos-Arbeit, aus dem Strom der Ereignisse und dem Gewirr der Diskurse, wovon Einzelnen nur winzige Ausschnitte wahrnehmbar werden, Material an Land zu ziehen; wissend, dass man vieles verpasst, von Tag zu Tag Reflexionen an Einzelnes zu knüpfen und immer wieder neu dazu anzusetzen, dem Schwarm von Einzelheiten ein Gesicht abzugewinnen«. So kündigte ich mein Perestrojka-Journal2 an, und so ähnlich lässt sich auch das hier vorgelegte Werkstatt-Journal beschreiben.

Nach den »zwölf Monaten, die die Welt veränderten«, die im Perestrojka-Journal von Juni 1989 bis Mai 1990 Revue passieren, geht es im Folgenden um die zehneinhalb Jahre von Juni 1990 bis Ende 2000. Beim Wiederlesen war ich betroffen vom Zeitlupentempo und der unheimlichen Gründlichkeit, mit der die Lawine der Veränderungen zu Tale ging, nationale Entwicklungsregime und soziale Einrichtungen in vielen Teilen der Welt vernichtete und einen Rattenschwanz bestialischer Bürgerkriege und imperialistischer Interventionen nach sich zog. Wie von Sonja Margolina im Dezember 1991 vorausgesagt, erwies sich der Zusammenbruch der Sowjetunion als »historischer Supergau«, ein schlimmeres politisches Tschernobyl, denn hier gab es »kein Mittel, die verschiedenen Kettenreaktionen, die die Völker der SU erschüttern, zu unterbinden«.

Im Spiegel der Ereignisse türmen sich Trümmer auf Trümmer, entbrennen Kriege und setzt sich die politisch-ökonomische und ideologische Vernichtung verbleibender sozialistischer Elemente weit über den Untergang des europäischen Staatssozialismus hinaus fort. Dennoch kann unser Blick nicht der des mythischen Engels der Geschichte sein. Der Wind, der uns ins Gesicht bläst, kommt nicht vom Paradiese, sondern vom Urknall des Universums her, und wir haben auch keine Flügel, in der dieser sich und damit uns fangen kann. Nichts hindert uns daran, den Bann des Rückblicks zu brechen und uns mittels der dem Geschichtsmaterialismus von Benjamin empfohlenen Stützen »der Erfahrung, des gesunden Menschenverstands, der Geistesgegenwart und der Dialektik« in die geschichtliche Prozessrichtung umzuwenden. Wo jener Engel »eine einzige Katastrophe« sieht, »erscheint vor uns eine Kette von Begebenheiten«. Kriege und Verfolgungen verschwinden zwar nicht aus unserem Blick, aber von Mal zu Mal treten die tektonischen Verschiebungen, die das große Erdbeben ausgelöst und die vielen Nachbeben verursacht haben und weiter verursachen, deutlicher hervor: die Entwicklung der informatisch potenzierten Produktiv- und Destruktivkräfte, die im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts rasant erfolgende Auskristallisierung des Internet und die dadurch angebahnten Veränderungen der Vergesellschaftungsweise. Die vermeintlichen Sieger der Geschichte erfahren sich ihrerseits in den krisengetriebenen Strudel der Veränderungen hineingerissen. Die schöpferische Seite der großen Zerstörung meldet sich im vielförmigen Auftauchen, an allen Ecken und Enden, von Elementen des transnationalen Hightech-Kapitalismus, dies nun aber im Horizont der planetarischen Umweltkrise, die der auf fossiler Energie basierenden Produktionsweise ihre Grenze zeigt.

II.

Im Rückblick war ich erstaunt, wie wenig Erzählung, etwa von der Gründung des Instituts für kritische Theorie, das Journal enthält, ja wie es kaum die »Werk-Tage« im Sinne der Erarbeitung meiner in diese Jahre fallenden Schriften schildert, sondern sich im interstitiellen Gewebe der Lebens- und Arbeitszeit, einem nebenherlaufenden Kontinuum aktiver Geistesgegenwart aufhält, gelegentlich unterbrochen von Selbstreflexionen. Das Hauptamtliche ist weitgehend abwesend, zum Beispiel meine akademische Lehre. Als Sparringspartner dienen mir die bürgerlichen Medienintellektuellen, von denen, wie man sehen wird, nicht wenige beharrlich die intellektuelle Kompetenz verabschieden, als wollten sie ihren eigenen Partialverzicht in dieser Form projektiv abarbeiten.

Vermutlich ist es genau jener zum Habitus gewordene Dauerversuch, ›auf dem Tag‹ zu bleiben, in dem sich niederschlägt, wie mich nicht nur das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus, sondern auch die kritische Ausgabe von Antonio Gramscis Gefängnisheften in Atem hielten. Auf Stil und Materialverständnis dieses Werkstatt-Journals scheint nicht zuletzt von Gramscis Arbeitsweise ein Ansteckungseffekt ausgegangen zu sein. Sie ist zugleich eine Lebensweise und hält dazu an, sich in die Diskurse der Zeit hineinzubegeben, ihnen ihr Moment der Wirklichkeitserkenntnis abzugewinnen und es der Ideologie zu entwinden. Sie scheint mir unentbehrlich für die ständige Weiterentwicklung theoretischer Denk- und praktisch-politischer Handlungsfähigkeit im Augenblick des geschichtlichen Prozesses.

Die Diskurse, in die ich mich dabei ständig einmische, stammen aus unterschiedlichsten Richtungen. Doch die mit Abstand häufigste Quelle für die ›herrschende Meinung als Meinung der Herrschenden‹ ist die Frankfurter Allgemeine. Hier ist Kritik gefragt. Von vielen wird sie als einfache Zurückweisung verstanden. Nicht so von Marx. Dieser Kritiker par excellence grenzt sie ab »von einer Verneinung, die mit der kapitalistischen Produktionsweise deren Früchte wegwirft«.3 Diesem Verständnis steht die vulgärmarxistische These vom »notwendig falschen Bewusstsein […], wenn man zu den Herrschenden zählt«, im Wege.4 Die Klasseninteressen blockieren die Rationalität, indem sie diese kanalisieren; aber sie löschen sie nicht aus. Man darf sich also nicht seitenverkehrt antagonistisch kanalisieren lassen. Der Karl Marx, der die Holzbank im British Museum drückte, tat dies im Dom der unter bürgerlicher Hegemonie gesammelten Rationalität aller Zeiten. Selbst noch für seine Kritik der politischen Ökonomie fand er unentbehrliche Vorarbeiten seitens bürgerlicher Ökonomen, namentlich bei Ricardo, den er dafür rühmt, geradezu eine »Kritik der bisherigen politischen Ökonomie« geleistet zu haben (MEW 26.2, 166). Eine entsprechende Erfahrung lässt sich im Spiegel meiner Werkstattnotizen machen. Auf den Höhepunkten des Korruptionsskandals der CDU, der fast zu einer Staatskrise führte, oder des irreführend so genannten »Kosovo-Krieges«, der ein Krieg gegen Jugoslawien war, wird man sehen, dass bestimmte Redakteure der FAZ in kaum überbietbarer Schärfe als Kritiker hervortraten. Sie ihrerseits gleichzeitig zu beerben und zu kritisieren, bezeugt auch eine Form von Respekt. Ihnen etwas abzugewinnen, macht diese Kritik zur immanenten und charakterisiert sie als bestimmte Negation. Als solche enthält sie ein Moment der Zustimmung, aber eines, über dessen Status, ob rechtens Zwischenakt oder Haupthandlung, gestritten wird.

Es kommt mir nicht vor allem darauf an, Recht zu behalten. Erkannte Fehler wiegen mehr als sedimentierte Überzeugungen. Richtig scheint es mir auf jeden Fall, wenn ich von Tag zu Tag daran arbeite, die chaotische Mannigfaltigkeit der Geschehnisse zu entwirren, zu entziffern und ihre inneren Zusammenhänge aufzuspüren, und dabei versuche, »im Untergegangenen auch das Uneingelöste zu sehen, im Defekten und Defizienten auch den Funken eines Unaufgebbaren«5 am Glühen zu halten.

III.

Von sich selbst als Wesen aus Fleisch und Blut, den eigenen Träumen, Verletzlichkeiten, Schwächen und Zweifeln zu schweigen, empfiehlt die Vorsicht. In der Werkstatt aber regiert das experimentelle Denken. Ohne Risiko ist es nicht zu haben. Nicht nur das Material, auch sein Bearbeiter wird bearbeitet. Das Experimentieren, was das Material hergibt und mit sich machen lässt, ist Sache eines Subjekts, freilich eines, das eingetaucht ist in den geschichtlichen Prozess, dem es auf die Schliche zu kommen versucht. Die Unschärferelation, die dadurch hereinkommt, gehört ins Bild, muss sichtbar gemacht werden. Sie auszublenden, würde sie unbearbeitbar machen. Sie im Bild zu belassen, mag erfahrungsoffenen und experimentierfreudigen Geistern den Zugang erleichtern. Und dies ist bitter nötig angesichts des »Zerberstens der Bindeglieder zwischen den Generationen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart«, das Eric Hobsbawm im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts registrierte.

Vielleicht tragen die folgenden Aufzeichnungen in ihrer an Einzelheiten sich festmachenden Streuung dazu bei, eine Brücke zwischen den Zeiten und Generationen zu schlagen, auch wenn manches den später Geborenen wie böhmische Dörfer vorkommen mag. Die Möglichkeit, im Internet zu suchen, macht Anmerkungen in solchen Fällen zumeist entbehrlich. Auf ein Namensregister verzichte ich, weil es zur personalisierenden Neugier einlädt. Was nicht interessiert, mag bedenkenlos überblättert werden. Wer Lesen als Herauslesen praktiziert, wird entdecken, dass unter sich wandelnden Bedingungen immer wieder Anderes zu einem spricht.

Danksagung

Wer wären wir ohne Weggefährten! Else Laudans spontane Reaktion auf einen ersten Einblick ins Manuskript half mir über die Schwelle der Bedenken, das Material zu veröffentlichen. Bei der Bearbeitung, Kürzung und Korrektur der Notizen standen mir Klaus Bochmann, Jan Rehmann, Jörg Tuguntke, Thomas Weber und immer wieder Frigga Haug zur Seite, ganz besonders aber Ilse Schütte und Jan Loheit. Martin Grundmann gestaltete den Umschlag und gab trotz einer Erkrankung dem Buch mit bewährter Sorgfalt seine typographische Gestalt, zuletzt unterstützt von Iris Konopik. Ihnen allen gilt mein herzlichster Dank.

Erster Teil

Juni 1990 – Dezember 1995

1990

5. Juni 1990

Nach einer Volksuni-Veranstaltung fand ich einen Spiegel-Artikel von Rolf Schneider, den jemand ausgerissen, sorgfältig zusammengeheftet, dann zusammengefaltet und auf irgendeiner Bank des Hörsaals vergessen hatte. Dort geht es um den DDR-Prozess gegen Walter Janka, Wolfgang Harich und andere von 1957. Irgendetwas an diesem Sozialismus war nicht weniger als völlig verkehrt. Angesichts dessen segelt Rolf Schneider hart am Rande einer totalen Absage an jeden Sozialismus. Ein einziges Wörtchen, »dieser«, hält sie, schwach genug, in der Schwebe: »Der Sozialismus, dieser, braucht zu seiner Existenz die Autokratie und den Terror. Anders bricht er zusammen. Substanzielle Reformen sind sein Untergang. Die Stalinisten wussten das. Alle Reformer, einschließlich des Michail Gorbatschow, wussten es wohl nicht.« – Ich »wusste« es auch nicht, glaube aber auch nicht, dass es in Bezug auf die SU etwas so Eindeutig-Alternativloses zu wissen gibt.

24. Juni 1990

Peter Brandt vermutet, dass – ähnlich wie 1949 in der Bundesrepublik – »das große Kapital und die liberal-konservativen Kräfte eine historische Schlacht gewonnen« haben. Dass die Linke nicht gut vorbereitet war auf die neue Virulenz der nationalen Frage, ist ein Faktor, aber nicht der Hauptgrund. Diesen sieht B »in dem für alle unerwartet raschen und radikalen Zusammenbruch des Systems sowjetischen Typs mit der Bürokratie als einer herrschenden und privilegierten Schicht, mit der politischen Diktatur und weitestgehend verstaatlichter Zentralverwaltungswirtschaft und, damit verbunden, in dem dramatischen Niedergang der sowjetischen Weltmachtposition.« (»Die deutsche Linke und die Nation«, Gewerkschaftliche Monatshefte, Mai/Juni, 274).

In derselben Nummer wendet sich Detlef Hensche gegen den »Abschied von antikapitalistischen Zielen« unterm Eindruck der Tatsache, »dass der reale Sozialismus niedergeht bzw. sich radikal verändert« (403). Ohne »weitergesteckte politische Perspektiven« bleibt es bei »Handwerkelei« (»›Der Sozialismus geht‹ – was kommt? Lehren aus dem Niedergang«, 404). Das Reden von Marktwirtschaft »in wichtigen Sektoren pure Ideologie« (wo die Konkurrenz ausgeschaltet ist). Oder gesamtgesellschaftliche Irrationalität als Preis für profitgetriebene innerbetriebliche Rationalisierung. BRD: »Verlagerung sozialer Probleme ins Ausland«. Dritte Welt: »Abhängigkeit, Not und Elend dieser Völker haben sich in den letzten Jahren verschärft. Unter diesem Gesichtspunkt wirken konservativer Siegestaumel über den Erfolg des Kapitalismus zynisch und partnerschaftlicher Burgfrieden einäugig.« (404f) Frauengleichstellung und Ökologie weitere Politikfelder. Ebenso: »Die Durchsetzung und Sicherung individueller Freiheitsräume und die Fortentwicklung der Demokratie«. All das »erfordert Antworten, die den Verwertungsinteressen des Kapitals zuwiderlaufen und durch partnerschaftliche Mitverantwortung nicht zu erreichen sind« (405). »Auch in kapitalistisch geprägten Verhältnissen sind Freiräume, begrenzter Fortschritt, Zonen demokratischer Beteiligung möglich. Sie gilt es auszubauen; einzelne Zugeständnisse sind zu verallgemeinern; Bruchstellen und immanente Widersprüche müssen immer wieder genutzt werden.« Kampf notwendig. Aber »Alternativ-Denken nach dem Prinzip: Konflikt oder Kooperation ist Unfug.« Doch keine Partnerschaft möglich, wegen ungleicher Macht.

Allgemeinere Gründe für die Fehlentwicklung: »Die Arbeiterbewegung war mit Vorrang auf die Macht im Staat und in der Wirtschaft fixiert.« Zitiert Rosa Luxemburg, sehr schön (406), benennt »bürokratische und zentralistische Wurzeln« und die »Dominanz des Repräsentations- und Stellvertreter-Systems« (407): »Die Versuchung ist immer wieder groß, sein Amt für die Kollegen einzusetzen, für sie zu handeln und zu verhandeln – in bester Absicht, versteht sich –, nicht jedoch mit ihnen zu handeln und zu kämpfen.« (Ebd.) Er denkt die Kritik an der Neuen Heimat parallel zur Kritik am »Realsozialismus«. – Dann plötzlich Gramsci! »Proletkult und Intellektuellenvorbehalte haben eine lange Tradition, auch bei uns. Dabei wissen wir spätestens seit Gramsci, dass nicht allein der starke Arm des Arbeiters, sondern ebenso die öffentliche Meinung, die kulturelle Hegemonie über die eigene Durchsetzungskraft entscheiden.« (410)

25. Juni 1990

Gründungskongress der KP Russlands. – Ihr neuer 1. Sekretär, Iwan Kusmitsch Poloskow (Jg. 1935), ein Agrarexperte, bekräftigte den ML, unklar, ob nur formelhaft oder trotzig restaurativ. Ähnlich wie Ligatschow sagt er von sich, er habe die Perestrojka von Anfang an unterstützt. Ruft nun zur Einheit der Partei und bietet Jelzin Zusammenarbeit an. Ausdifferenzierung. Neues Spiel der Kräfte. Hauptsache, sie machen sich nicht verrückt.

Gorbatschow, der nach der russischen Eigengründung einer zunehmend entkernten Kommunistischen Partei der Sowjetunion vorsitzt, beantwortete zum Abschluss des Gründungsparteitags schriftlich eingereichte Fragen. »Die sozialistische Idee und die kommunistische Perspektive« hätten noch ein »langes Leben« vor sich, sagte er. In der gegenwärtigen »Umschichtung der politischen Kräfte« müsse er das Amt des Generalsekretärs und das des Staatspräsidenten noch zusammenhalten. Poloskow unterstützte ihn darin, da die Macht des Staatspräsidenten noch nicht voll zum Tragen komme und die Macht der Partei nicht einfach abgebaut werden könne. Indem er zugleich eine stärkere Einbeziehung der Partei in den Entscheidungsprozess forderte, schien er aber eine bereits vollzogene Machtverschiebung zum Präsidentenamt wieder zurücknehmen zu wollen.

Eine blinde Dialektik waltet hier: Der Hegemon Russland meldet sich zur Überraschung aller Randvölker, die sich durch ihn unterdrückt wähnen, aus der Vorherrschaftsrolle ab, und nun schlägt die Ablösung der Randrepubliken um in die des »Zentrums«. Während der eine Pol des politischen Kräftebogens die russische Regierungsmacht erobert, gewinnt der Gegenpol die Parteiführung.

Die Verwandlung der Union in eine Konföderation verlangte einen Starken Mann; dessen Stärke müsste, um Erfolg im Sinne der Perestrojka zu haben, seine eigne Schwächung bewirken.

26. Juni 1990

Gorbatschow auf der russischen Parteikonferenz am 19.6.: »In diesen etwas mehr als 1500 Tagen haben wir eine weitreichende Wende in einem Riesenland vollzogen, die mit den größten und schärfsten revolutionären Wenden in der Weltgeschichte vergleichbar ist«. Die einen sehen darin »Möglichkeiten zur Humanisierung«, die anderen »einen Zusammenbruch, einen totalen Zerfall, eine wahre Apokalypse«. Jetzt gelte es, eine Art »Risikoraum« zu durchqueren, »da neue Mechanismen der Perestrojka noch nicht in Gang kamen, während die alten schon beinahe abgeschaltet sind«. Höchste »sozio-ökonomische Labilität« und Versagen der Perestrojka »in einigen Richtungen« bestimmen die Lage. Gegen die »populistische Taktik«, aus der Krise politisches Kapital zu schlagen, beschwört Gorbatschow die Einheit »aller vernünftig denkenden patriotischen Kräfte des Volkes«.

Der Übergang zur Marktwirtschaft müsse »ohne Beeinträchtigung des Lebensniveaus der Bevölkerung« bewerkstelligt werden. Doch das ist lange vorher schon zur Illusion geworden, der schöne Schatten, den er auf sein eignes Projekt wirft. Auch wehrt er sich dagegen, den Übergang als Rückkehr zum Kapitalismus aufzufassen. Zur Staatsaufgaben in einer sozialistischen Marktwirtschaft erklärt er u.a. den Schutz des Rechts auf Arbeit, des Lebensniveaus und der Ökologie, sowie Aufrechterhaltung und Entwicklung der Infrastruktur.

Der auf dem Märzplenum des ZK beschlossenen (zugestandenen?) Konferenz waren heftige Auseinandersetzungen zur Frage »Muss die KP Russlands sein oder nicht« vorausgegangen. Nun versucht Gorbatschow zu vermeiden, dass Russland und die Sowjetunion gegeneinander ausgespielt werden – auf Staats- wie Parteiebene. »Russland, auf dessen Territorium sich die ganze Struktur der zentralisierten staatlichen Landesleitung herausgebildet hat, verschmolz gleichsam mit der Unionsstruktur in Wirtschaft und Leitung.« Jetzt sei »die Frage nach einer neuen Rolle der KPdSU und ihrer radikalen Erneuerung in aller Schärfe aufgeworfen«. – Jedenfalls nur mehr eine Rolle neben anderen und in einem viel größeren Stück.

29. Juni 1990

Was jetzt auf die DDR zukommt, ist keine Vereinigung, sondern eine Okkupation, schreibt André Brie (»Staatsstreich«, in: Sozialismus 6/90). Der Staatsvertrag ein Staatsstreich, weil er ohne Verfassungsprozeduren die Verfassung außer Kraft setzte. »Die BRD sonnt sich im Schatten des Scheiterns der DDR.« Künftig entfällt die Systemkonkurrenz als Ansporn für sozialintegrative Zugeständnisse. Was die internationalen Kräfteverschiebungen zwischen Ost und West angeht, so fühlt Jochen Willerding, der die Kommission für internationale Politik beim PV der PDS leitet, sich an München 1938 erinnert. Deutsches Vormachtstreben, wie oft schon Kriegsursache, wieder am Ball. Jupp Schleifstein beschwört die sozialistische Linke, organisatorische Initiative zu ergreifen, damit die PDS einen westlichen Partner erhält.

Der Kurs der DM steigt. Die USA erhöhen, allen Wahlversprechen ihres Präsidenten zuwider, die Steuern. Ihr Defizit in den letzten Monaten übertrifft alles Bisherige. Das Kapital kann nun aber woanders hin und »will« das anscheinend auch. Karl Georg Zinn meint, die bundesdeutschen Arbeiter hätten durch zu niedrige Löhne (sinkende Lohnquote) den Konsum des US-Mittelstands und den US-Staatshaushalt subventioniert (ebd.).

Hansgeorg Conert sieht im Machtverlust der KPdSU, der weit mehr als nur ein Autoritätsverlust sei, die »bemerkenswerteste« Veränderung in der gegenwärtigen SU. Er bringt Beispiele von durch Demonstrationen erzwungenen Rücktritten von Parteisekretären. Das könnte natürlich auch Zeichen für eine Demokratisierung sein. Das Politbüro und das ZK hätten bereits ihre gesamtstaatlichen Entscheidungsfunktionen eingebüßt. – Für die sozialdemokratische Tendenz Schatalin in den Präsidialrat berufen. Zerfall der staatstragenden Identifikation in der RSFSR. Die Soziologin Nazimowa, die bei den Bergarbeiterstreiks in Westsibirien war, fand die KPdSU bei den streikenden Arbeitern völlig abgemeldet. In der Wirtschaftspolitik hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, dass »direkte Erzeuger-Abnehmer-Beziehungen unerlässlich« sind. Rückfall in regionale oder lokale Tauschwirtschaft? Gefragt sind Instrumente der Prozessregulierung.

Conert hält den Niedergang der KPdSU für unaufhaltsam, die Kommunisten werden Minderheiten auf allen möglichen Sowjet-Ebenen. Er rechnet mit Enttäuschung an derzeitigen Publikumshelden wie Jelzin und endlich mit »Unregierbarkeit«. Dies sein letztes Wort.

*

Steffen Lehndorff zu Besuch. Erzählt vom Parteiaustritt Schleifsteins. Ich kann es nicht glauben. Bedenken gegen die umstandslose Bildung einer Linken Liste mit der PDS, weil dann der Wahlkampf sofort wieder alle Energien von der Neubesinnung abzieht.

30. Juni 1990

Heinz Jung am Telefon: Er sei vollkommen abgerückt von der Auffassung, die er in der Besprechung meines Gorbatschow-Buches6 zum Ausdruck gebracht hat. Gorbatschows Politik habe den Test der Praxis nicht bestanden, und er selber stehe ihm nun »sehr kritisch« gegenüber. Er habe »wenig Hoffnung, dass etwas bleibt« – wieviel Unausgesprochenes in diesem »Etwas«! – »außer Türöffnung für die kapitalistische Moderne«, die dem Land nicht viel mehr als den Status der Türkei zugestehen werde. – Jung hat von meinem Perestrojka-Journal gehört. Seit September hat er ebenfalls Buch geführt und »gegen die Realität angeschrieben«. Schließt es morgen ab.

Im Aprilheft der »Marxistischen Blätter« Wütend-Enttäuschtes von Gerd Deumlich, notiert am Abend der DDR-Wahlen vom 18. März: »Das Volk – diese Idealisierung eines Subjekts, das sich immer nur richtig entscheidet, erst recht, wenn es schon die Höhen einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft erklommen hat, wird man sich wohl abgewöhnen müssen.« – Mir scheint, dass die am Gängelband der DDR geführte DKP sich seit langem »das Volk abgewöhnt« hat.

1. Juli 1990, als Pressekorrespondent für die »Volkszeitung« auf dem Flug nach Moskau

An diesem Sonntagmorgen auf der Fahrt nach Schönefeld zum Flug nach Moskau vorbei an den Schlangen der vor Schulhäusern und Polizeiwachen um DM anstehenden DDR-Bürger. Denn heute wird der Übergang zur Westwährung vollzogen. Die Waren drängten sich bereits an die Straßenränder: dicke Bündel gelbleuchtender Mohrrüben, rote Kirschen, Beeren, Blumen. Viele Geschäfte hatten an diesem Sonntagmorgen geöffnet.

In der DDR waltete eine veraltete Gerechtigkeit, die Käthe-Kollwitz-Visionen hungernder Kinder entsprungen zu sein schien. Das Elementare war drastisch verbilligt, das Anspruchsvollere entsprechend verteuert. Im Effekt wurden dadurch gerade die leistungsfähigeren Schichten der Arbeiterklasse beeinträchtigt, was dazu beitrug, den gesamten Gang der Wirtschaft zu verlangsamen.

*

Heinz Jungs Umschwung vom Anhänger zum Gegner Gorbatschows – in weniger als einem Jahr – hilft, die Stimmung auf dem russischen Parteitag zu verstehen. Sein Sinneswandel ist die Antwort auf die zwölf hinter uns liegenden Monate der gesellschaftlichen Desintegration, ja Demoralisierung der bisher autoritär-sozialistischen Länder. Die Zusammenbrüche in Mitteleuropa und der weitergehende Staatszerfall in der Sowjetunion sind für ihn schlimmer als der frühere Zustand. Anscheinend war er nicht durch die Diagnose der unheilbaren Krankheit des alten Regimes gewonnen worden, sondern durch die Hoffnung auf einen relativ kurzfristig erneuerten Sozialismus. Als er diese Hoffnungen aufgeben musste, wandte er sich gegen Gorbatschow. Er rechnet ihm nicht die Neuöffnung zugute. Vermutlich ist es die kapitalistische Expansion, die den Umschwung bewirkt hat.

Der »konservativen« Mehrheit des russischen Parteitags mögen ähnliche Umschwünge vorhergegangen sein. Wie wohl Tatjana Saslawskajas Tableau der sozialen Gruppen nach Graden der Trägerschaft bzw. Gegnerschaft im Verhältnis zur Perestrojka von 1987 heute aussehen würde?

Der APN-Kommentator Dmitri Gaimakow sah im russischen Parteitag die Revanche für »die erzwungene Delegierung der Macht von den Parteikomitees an die Sowjets«. »Delegierung« eine sonderbare Kategorie für den Machtransfer in die Parlamente.

Dass es bislang keine russische Parteiorganisation gab und ihre Schaffung eine Schwächung der KPdSU bedeutet, deutet auf das imaginäre Moment der Sowjetunion. 60 Prozent der Mitglieder der KPdSU leben in Russland, wo es allerdings 120 Nationalitäten bzw. Ethnien gibt. Die russische Hegemonialmacht konnte eben deshalb, weil Hegemonialmacht, keine eigne Organisation brauchen. Die jetzige Bewegung zweideutig, denn der Zerfall geht mit Emanzipation schwanger (falls es sich nicht umgekehrt herausstellt und die Emanzipation den allseitigen Zerfall bringt).

Gegenwärtig fährt Russland in Gegensätze auseinander: Die Partei, vor allem das Funktionärskorps, zieht sich in diffuser Besitzstandswahrung nach der einen Seite zusammen, das Parlament, näher am Elektorat, in die entgegengesetzte Seite. Bisher hatte Gorbatschow diesem Gegensatz die Macht seines Zentrismus abgewonnen. Nun fahren ihm die Gegensätze davon, und sein Zentrismus hängt in der Luft. Zentrifugalität wird zum Generalnenner. Das kostet zugleich den Generalsekretär und den Präsidenten ein Gutteil der jeweiligen Amtsmacht. Lew Woronin, 1. Stellvertreter des sowjetischen Ministerpräsidenten, erwartet ausgerechnet vom Markt, dieser werde »die zentrifugalen Bestrebungen verhüten«.

Wjatscheslaw Schostakowski, der Rektor der Parteihochschule, einer der führenden Vertreter der demokratischen Plattform, schätzt, dass 65 Prozent der Delegierten des 28. Parteikongresses zur Nomenklatura gehören (Hauptamtliche, Leiter, Offiziere). Seiner Richtung schwebt die Gründung einer »Partei des sozialen Fortschritts und der Demokratie« vor, die eine »linkszentristische Orientierung« haben soll (linke Mitte?). Die Konsolidierung der Konservativen bestimme die Situation, während die Linken wie üblich träge verharrten, bzw. vor lauter Selbstentzweiung die rechte Gefahr übersähen.

2. Juli 1990, Moskau

Beginn des 28. Parteikongresses der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. – »Schicksalsparteitag« (K. J. Herrmann im ND, 28.6.). – Engelbrecht, den ich abends am Telefon erreiche, begeistert von Jakowlews Furioso, das ihm Ovationen eintrug, nachdem er den Konservativen seinen Zorn und seine Verachtung hingeworfen hatte. War wohl seine Abtrittsrede. Er wirkt künftig im Präsidialrat. – Engelbrecht erklärt mir die beiden Rituale, um einen Redner fertig zu machen bzw. einen Hohen zum Abtreten aufzufordern: höhnischer Beifall oder Schwenken der Delegiertenkarten; »der ganze provinzielle Pöbel von Betonköpfen« im Saal, der dies praktiziert, sei die paradoxe Folge einer halben Demokratisierung der Delegiertenwahl. Unter der Herrschaft des mechanischen Auswahlschemas von früher hatte es eine Quotenregelung gegeben, die Arbeiter, Bauern, Frauen und Jugendliche begünstigte. Ca. 2000 Stimmen des ›rechten‹ Blocks. Die Demokratisierung des Wahlverfahrens begünstige diesen, da die anderen Richtungen ihre Stimmen auf mehrere Rivalen verteilten. Am Freitag vor dem Parteitag hat Gorbatschow auf einer ZK-Sitzung Bedingungen formuliert und sich ultimativ Anpöbelungen verbeten. In einer Hinsicht zeichnet sich eine Teilniederlage ab: den Entwurf zu einem neuen Statut musste er im Wesentlichen zurücknehmen; er wollte eine neue Struktur, bestehend aus einem Vorsitzenden mit Stellvertretern und einem Parteipräsidium (der PDS vergleichbar). G wollte mehr Zeit für Staatsgeschäfte. Engelbrecht meint, es sehe nach künftiger rechtszentristischer Führung aus.

*

G. Melikjan (Staatliche Kommission für Wirtschaftsreform): Aktiengesellschaften seien die beste »Entstaatlichungsform«, weil nicht Privatisierung, da die operative Verfügung übers Kapital nicht weggegeben werde. Mir schwant, dass das eine Milchmädchenrechnung ist, weil es ohne Spekulation keine Aktie geben kann. Die Alternative wären festverzinsliche Papiere. Über die Triebkraft möglicher Anleger schweigt sich der APN-Bericht aus. Ich glaube, es gibt einfach noch keinen ökonomischen Common Sense. – Der Wert der Produktionsgrundfonds betrage ca. 2 Billionen Rubel. In 1,5 bis 2 Jahren könnten davon allenfalls für 100 bis maximal 200 Mrd Rubel in Form von Aktien verkauft werden.

3. Juli 1990

Zu den Paradoxien des politischen Spiels der Kräfte in der KPdSU gehört die Forderung der »Arbeiter-Plattform«, einer linken Minderheit, nach »strenger Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit«. Sie sieht die »Schattenkapitalisten« sich in der Partei »ausbreiten« und das Land hinübergleiten in eine »bürgerliche Diktatur«. Der unheimliche Witz ist, dass diese ihre Warnung Teil der Gefahr ist.

Gorbatschows Agieren beobachtend, fällt mir auf, wie er einmal gefällte Beschlüsse an und für sich untergeordneter Gremien wie festgefügte Tatsachen behandelt, von denen auszugehen ist. So jetzt die Beschlüsse des Märzplenums zur Landwirtschaftspolitik. Die Delegierten folgen ihm darin, obgleich sie eigentlich das souveräne Gremium schlechthin bilden, das sein ZK ohne weiteres desavouieren könnte. Die jetzt einzusetzende Kommission soll also die Verwirklichung jener Beschlüsse kontrollieren, nicht etwas Neues auskochen. Listig lässt er mit den Händen abstimmen, dass er diese Kommission nicht leiten muss. Denn er kandidiert für den Vorsitz der Kommission zum Parteistatut, und alle andern Kandidaten ziehen sich zurück, sodass er mit 3.166 gegen 1.046 Stimmen gewählt wird. Das Dispositiv dieses Kongresses erinnert mich an einen Laser-Generator; was dort das gebündelte Licht, sind hier die gebündelten Stimm(ung)en.

Alexander Degtjarew, stellvertr. Vorsitzender der Ideologiekommission des ZK, gibt Ergebnisse der Meinungsumfragen unter den Delegierten bekannt. Bezeichnend diese Rolle der Demoskopie; als seien die Delegierten selber noch einmal ein Demos, der erst gesichtet und repräsentiert werden muss. Aber das ist wohl auch so. Nur die wenigsten kommen zu Wort, und dies als Resultat hart ausgetragener Kräfteverhältnisse; schon dieses Wort zählt in der Regel nicht viel; nichts aber scheint die einzelne Stimme zu zählen, die als Knopfdruck in die Zählmaschine eingegeben wird.

Befragt nach dem Hauptgrund der Krise, heißt es am häufigsten, »die ideologischen Markierungen für die Ziele der Umgestaltung fehlen«; am zweithäufigsten, die Umgestaltung werde halbherzig betrieben; am dritthäufigsten, die Apathie.

3. Juli 1990 (2)

Gorbatschows gestriger Rechenschaftsbericht enthält wenig Vorwärtsweisendes. Er bräuchte diese Partei als »zementierende Kraft unseres multinationalen Staates«, d.h. als multinationale Kraft einer universalistischen politischen Kultur, hängt aber zugleich den kommunistischen Horizont aus, der längst zur sturen Mauer geworden ist, an der die Plakate abblättern, verfügt also über keine Losung, die zumindest im Glauben die Menschen in eine bessere Zukunft risse. Da Gorbatschow zugleich die »Umwandlung des superzentralisierten Staates in einen wirklichen Bundesstaat« betreibt und die unmittelbare Aufgabe darin sieht, »die Souveränität der Republiken und der örtlichen Selbstverwaltung mit realen wirtschaftlichen Inhalten zu füllen«, hängt er in den Widersprüchen einer fast magischen Problemstellung: die »Unteilbarkeit der KPdSU mit der maximalen Selbständigkeit der kommunistischen Bewegungen der Unionsrepubliken und Autonomien« zu vereinbaren. Die baltischen Republiken bieten ein Lehrstück: die dortige Spaltung der KP hatte zur Folge, »dass die kommunistische Bewegung in den Republiken weitgehend geschwächt wurde und dort andere politische Kräfte an die Macht kamen«. So schärft er als wichtigste Lehre ein: »Zusammen stellen die Kommunisten eine starke politische Kraft dar, doch diese Kraft wird zerbröckeln, wenn sie sich auf ihre nationalen Quartiere zurückziehen.« Aber was sollen sie der nationalen Agitation entgegensetzen? Der Klassenkampf ließe eine internationalistische Position aufbauen, aber von ihm ist nicht die Rede. Statt von einer im genauen Sinn sozialen Basis der Partei zu sprechen, bestimmt Gorbatschow die KPdSU als »politische Organisation des ganzen Volkes«. Gegensatzlos? Das erinnert an Stalins »Staat des ganzen Volkes«? Nicht die Pluralität von Bedürfnissen und Interessen ist das Problem, sondern die Antagonismen sind es. Hier redet Gorbatschow drum herum, als wäre das sozialistische Projekt gegensatzlos. Die KPdSU soll diejenigen Interessen vertreten, »die Millionen von Individuen zu einem Volk verbinden.« Der Markt, auf den er orientiert, spaltet indes die Gesellschaft bereits, und diese Spaltung führt dem Nationalismus paradoxe Energie zu (paradox, weil der Markt jede Nation unbarmherzig in Gewinner und Verlierer zerlegt). Nur als unerbittlich funktionierende Sanktionsmaschinerie in einer sich im Selbstlauf beschleunigenden Wirtschaft würde der Markt zugleich Kohäsionseffekte zeitigen. Jetzt bedingt die ökonomische Misere ein allgemeines Rette-sich-wer-kann.

Gorbatschow erwähnt den Vorwurf, er habe »das Land in ein ›globales Experiment‹ verwickelt, ohne einen theoretischen Vorlauf oder ein Reformkonzept zu besitzen.« Und da hat sich ja in der Tat ein Abgrund des Nicht-Vorhergewussten oder -Gewollten aufgetan, eine Verkettung von Zwangslagen, die seinem Handeln immer neue Impulse aufzwingen. Am wenigsten hatte man (einschließlich meiner) wohl erwartet, die Idee des Sozialismus könnte vom Versuch ihrer Neubelebung doppelt verletzt werden. Gorbatschow kann nur allgemein sagen, was nötig wäre, diesen Begriff mit neuem Leben zu erfüllen: »freie Arbeit, Selbstverwaltung und Wohlstand des Volkes« wäre ein »humaner und demokratischer Sozialismus«, der »das stalinsche Sozialismus-Modell durch die zivile Gesellschaft freier Männer und Frauen« ablösen würde. Diese Perspektive bleibt vorerst gleichsam ins Körperlose gebannt, hat keine materielle Basis mehr, vor allem im nächsten ›materialistischen‹ Sinn der Versorgung jener freien Männer und Frauen mit Lebensmitteln. Die »Befreiung vom Monopolismus« bleibt vorerst eine rein negative.

Neu, wie er die Frauenfrage aufnimmt; und endlich gewahrt er die neue Arbeiterbewegung. Klar, dass die KPdSU eine Partei im Wortsinn werden muss: Teil eines weiten politischen Spektrums. Klar auch, dass sie parlamentarische Partei zu sein hat und dass die Transposition vom Monopol der Staatspartei dorthin ein Salto mortale sein wird.

4. Juli 1990

Ajas Mutalibor (1. Sekr. Aserbaidschan): »Die Geschichte wird den politischen Mut des Mannes gebührend einschätzen, der sich für eine revolutionierende Perestrojka entschieden hat. Doch seine Zeitgenossen können sich nicht mit Unentschlossenheit und Inkonsequenz abfinden, wegen derer die große Initiative untergehen kann.«

Leonid Abalkin hat dem Parteitag auf seine Weise das historische Surfprinzip erklärt: Jede gesellschaftliche Bewegung muss »die Tendenz fortschrittlicher Veränderungen des gesellschaftlichen Prozesses aufspüren und möglichst zu deren Realisierung beitragen«. Eine Partei, die dem zuwiderhandelt, »wird unweigerlich […] abtreten«. – Was daran verzweifelte Rhetorik ist, um das Neue in die Köpfe des Apparats zu hämmern, was er selber davon so denkt, vermag ich nicht abzuschätzen. Aber da ist es wieder, das ›eiserne Gesetz des Fortschritts‹. Diesmal will es die Absage an die »Idee der sozialistischen Wahl«. Von der Gegenseite wendet sich Generaloberst Nikolai Schljaga, 1. Stellv. d. Chefs der politischen Hauptabteilung der Sowjetarmee und der Seekriegsflotte, scharf »gegen Entideologisierung und Entpolitisierung der Streitkräfte […]. Die Partei als die politische Avantgarde der Gesellschaft darf die Armee nicht verlassen.«

APN verteilt ein Interview mit Wladimir Lysenko (Kandidat in Philosophie) von der Demokratischen Plattform. Sein Credo: »Die Gesellschaft sollte sich auf natürliche Weise entwickeln und ihren eignen Gesetzen folgen.« Da sind sie wieder, Natur und Gesetz, diese scheinschweren Kaliber, mit denen auch der ML in die Gegend schoss. Immerhin findet L. es »notwendig, sich auf marxsches Denken als Ganzes zu stützen, einschließlich von Werken Plechanows, Bernsteins und Gramscis«. Vor allem müsse man weg von Lenins Lehre von der Partei neuen Typs.

Abel Aganbegjan: »Die UdSSR auf dem Wege zur Integration in das Weltwirtschaftssystem«, ein kleiner Artikel von vier Manuskriptseiten, verteilt von APN, preist den Weg von der Selbstisolierung zum offenen Wirtschaftssystem, das sich in den Weltmarkt einklinkt. Völlig theorie- und bedenkenlos.

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Hans Ulrich Kempski (»Der Magier probiert einen neuen Trick«, SZ v. heute) nennt Gorbatschows Bericht »eine seltsame Rede, die erst hinterher bewusst werden lässt, wie sehr sich Gorbatschow bedeckt hält: keine Versprechungen und keine Prognosen, auch keine Schuldzuweisungen.« Auf dem XXVII. Parteikongress hatte er noch rasche Besserung versprochen und Kampfansagen gegen negative Erscheinungen und Personengruppen ausposaunt.« Diesmal räume er bloß ein, »bisher vergeblich nach einem grandiosen Gedanken […], nach einem rettenden Geistesblitz zugunsten der Perestrojka« gefahndet zu haben. Das Wort »radikal« durchziehe nun als »trotzig-theatralische« Beschwörungsformel den Diskurs. – Die ausländischen Beobachter rätselten, warum es ihm nicht gelingt, »seine geradezu magische Strahlkraft, die ihn im Ausland gleichsam zum Supermann macht, zu Hause in der Sowjetunion in Erfolge umzumünzen«. Die »kaum strittige« Antwort laute: »weil die Perestrojka nicht nach einem durchdachten Plan in Gang gesetzt worden sei«. Nur 4,8 Prozent der KPdSU-Mitglieder sollen sich noch als »gläubig« bekennen. Den schütteren Applaus für Gorbatschow im Vergleich zum »rauschhaften Beifall« für Jakowlew erklärt Kempski aus Sätzen wie diesem, dass es »nicht nur leere Regale, sondern auch leere Seelen« gegeben habe. Dieser Satz habe die Seelen der Delegierten erreicht.

Der Verteidigungsminister, Dmitri Jasow, gegen »Entpolitisierung« der Armee. Wegen einer Welle von Wehrdienstverweigerung fehlten 400 000 Soldaten. Erlitt danach einen Schwächeanfall und musste vom Podium geführt werden. – Ligatschow lobte die Armee: sie habe »endlich angefangen, sich selber zu verteidigen«. Klingt nach gefährlichem Spiel. Gekontert wird es von Schewardnadse: die Konfrontation mit dem Westen habe in 20 Jahren 700 Mrd Rubel gekostet. Sagt damit indirekt, dass das alte Regime zugrundegerüstet wurde. Die Politik müsse dafür sorgen, »dass man keine Gegner und Feinde hat«. Träumt er? Oder schläfert er ein?

4. Juli 1990 (2)

Die Souveränitätserklärung des sich eigenstaatlich neuformierenden Russland unter Jelzin hat alles verändert. Ein Parameter der Veränderung ist die Existenz der unter Stalin zwischen 1934 und 1938 geschaffenen Branchenministerien. In Russland hat man sie radikal gekappt. Ebenso in Moldawien und natürlich in den baltischen Republiken. Die Branchenministerien stehen für das System der Ressourcen-Zuweisung-von-oben.

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Ein junger Journalist aus Baku erklärt mir als oberste Spielregel des Parteitags: Niemand spricht aus, was er wirklich will.

Meckern, Herummosern. Engelbrecht nennt, was da im Plenum Stunde um Stunde füllt: Luft ablassen.

5. Juli 1990

Der ›Radikalreformer‹ Nikolaj will durch Ausdehnung des Warencharakters auf bisher un(ver)käufliche Güter bzw. Rechtstitel die inflationäre Kluft zwischen Geldumlauf und Warenangebot schließen. Derzeit werde die sowjetische Ökonomie durch »heißes Geld«, das der Ware auflauert (geschätzte 300–350 Mrd Rubel), und durch »Kapital« bzw. Geld, das dem Profit zustrebt, destabilisiert. Eine Situation am Rande der Panik verlange unmittelbare Erfolge, sonst gehe die Geldlawine nieder. Das Reich des Privateigentums soll in die gesellschaftliche Anlagesphäre und die Naturbedingung »Boden« vorgeschoben werden. Er nennt das: Geldrückkauf durch den Staat. Den daraus resultierenden Grundbesitz tituliert er als »ewige Pacht«. Ansonsten will er Wohnungen zum Erwerb freigeben. Die Genossenschaften sollen freie Bahn bekommen, wodurch eine gewisse Kapitalisierungsmöglichkeit für lauerndes Geld entstehe. Staatsanleihen, vom Monatsgeld bis zu Laufzeiten von zehn Jahren, sollen weiteres Geld binden. Planüberschießende Vorräte und nichtfungierende Produktionsmittel sollen auf den Markt bewegt werden (unklar, durch welche Hebel und warum die Ladenhüter plötzlich Absatz finden sollen). Vorübergehend soll der PKW-Export zugunsten des Inlandsmarkts reduziert werden. Der Spirituosenhandel soll wieder »normalisiert« (freigegeben) werden, um zig Mrd Rubel Nettoertrag zu erhalten, die jetzt der Schwarzmarkt absahnt.

5. Juli 1990 (2)

Meldungen, die an diesem Tag über den Fernschreiber gelaufen sind und deren Zusammenstellung zeigt, dass der Perestrojka inzwischen eine selbständige Dynamik zugewachsen ist, die nicht mehr von einer einzigen politischen Kraft oder einem Machtzentrum aus kontrolliert werden kann:

KPdSU-Kongress: Die Sektion »Erneuerung der Partei« hat so viele Delegierte angezogen, dass die Sitzung in den großen Saal des Kreml verlegt werden musste, wo sonst das Plenum tagt. Zwar erklärten sich alle Redner für Erneuerung, aber deren Richtung war heftig umkämpft. Die Mehrheit sprach sich dafür aus, an der kommunistischen Perspektive festzuhalten. Der Stalin-Biograph Dmitri Wolkogonow nannte dagegen den Kommunismus »ein ephemeres Ziel« und schlug vor, ein neues Programm abzufassen und die KPdSU in »Partei des Demokratischen Sozialismus« (PDS) umzubenennen. Der ZK-Sekretär Juri Manajenkow verteidigte die Einheitlichkeit der Partei: »Ich glaube nicht, dass getrennte Teile eines Organismus lebensfähiger sind als der ganze Organismus.« Boris Pugo, Vorsitzender der Kontrollkommission, schlug vor, diese zu einer Art »Komitee für Verfassungsaufsicht in der Partei« umzufunktionieren.

In Moskau ist die erste Nummer der Zeitschrift »Bisnes i Banki« (Business und Banken) erschienen. Sie soll unter Geldmarktgesichtspunkten Wirtschaftsinformationen aller Art bringen und wendet sich an Banker, Unternehmer, »Geschäftsleute«.

Die Kumpel des kusnezker Kohlenreviers beraten die Fragen eines 24-stündigen politischen Streiks am 11. Juli. Forderungen: Rücktritt der Regierung; Abschluss eines neuen Unionsvertrags; Annullierung der nicht durch direkte Wahl zustande gekommenen Parlamentsmandate; »Entpolitisierung« (Entparteilichung) der repressiven Staatsorgane Armee und KGB. Der Vorsitzende der kusnezker Arbeiterkomitees, Wjatscheslaw Golikow, sieht den Ausweg in der Entwicklung von Demokratie, Marktwirtschaft und Sozialpolitik sowie der Legalisierung der Opposition als Institution. – Es soll ein aktiver Streik (in den Betrieben) werden, über dessen Formen die Arbeitskollektive vor Ort entscheiden; manche Kollektive werden zwar Kohle fördern, über diese jedoch nach eigenem Ermessen verfügen. Um Ausschreitungen zu verhindern, sind Arbeiterkomitees gebildet und eine Sicherheitspartnerschaft mit der Polizei angebahnt worden.

In Budapest verhandelt man die letzten Finanzierungsfragen im Zusammenhang mit dem Abzug der Sowjettruppen.

In der Parteitags-Sektion zu Nationalitätenproblemen erklären sich alle Diskutanten für die Beschleunigung des Abschlusses eines neuen Unionsvertrags, um die Wirtschaftslage normalisieren zu können. Im ZK-Rechenschaftsbericht wurde eingestanden, dass man sich statt mit Konfliktprävention mit Konfliktmanagement beschäftigt habe, der Entwicklung ständig hinterherrennend. – Ein ZK-Sekretär teilt mit, dass von den 2 Mio Deutschen nur 300 000 in die ehemalige Heimat zurückkehren möchten; falls der bevorstehende Kongress der Sowjetdeutschen zustimmt, will das Politbüro eine extraterritoriale Assoziation der Sowjetdeutschen bilden, ausgestattet mit den Rechten einer Autonomen Republik.

Das litauische Parlament hat die Aufnahme von Verhandlungen mit der SU-Regierung gebilligt und ihre Kontrolle an sich gezogen.

Kaliningrad, früher Königsberg, ist durch Beschluss des Stadtsowjets für den Tourismus geöffnet worden. Die Stadt war seit Kriegsende Sperrgebiet.

Der Gebietssowjet von Odessa weist moldawische Gebietsansprüche zurück. In der umstrittenen Region leben u.a. Rumänen, Bulgaren, Russen, Juden und Gagausen.

In Moskau geht eine Ausstellung von Petrotechnologie zu Ende, wo vor allem japanische und westeuropäische Firmen Ausrüstungen anbieten, die für die Erdölförderung im fernöstlichen Teil der SU geeignet sind, sowie Technologien petrochemischer Verwertung, Tankstellen und sogar Motels.

Parteitags-Sektion »ideologische Arbeit«: Iwan Frolow, der als Anwärter für die Nachfolge Medwedews gilt, gab Rechenschaft als ZK-Sekretär und Prawda-Chef. Die Initiative zur Perestrojka gehöre der Partei, sagte er, aber viele »Mitläufer, die nach 1985 mutig zu werden begannen«, würden das jetzt vertuschen. Die meisten Redner erklärten den Autoritätsverfall der KPdSU mit der Schwächung ihres »ideologischen Einflusses«.

In Leningrad haben Jugendorganisationen – darunter Anarchisten, aber auch der Komsomol – einen Block der Linkskräfte gegründet. Die Erklärung sagt: Die Wirtschaftskrise führe zur massenhaften Enttäuschung an der Demokratisierung und folglich zur Möglichkeit der Wiederherstellung des staatlichen Autoritarismus. Deshalb müssten alle Kräfte sich sammeln, die an Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Humanismus festhalten.

Der Oberste Sowjet und die Regierung Estlands haben ein Treffen ehemaliger estnischer SS-Angehöriger verboten.

Usw. usf.

6. Juli 1990

Der APN-Fernschreiber im Pressezentrum gibt nur fragmentarisch-rätselhafte Eindrücke von der Debatte zur Wirtschaftsumgestaltung. Abalkin will anscheinend Marktwirtschaft-sans-phrase.

Alexej Sergejew, Professor an der Gewerkschaftshochschule, polemisiert scharf gegen die zwei Linien: die »konservative« der Regierung und die bürgerlich-reaktionäre, die »höchst sonderbar« selbst »auf den höchsten Parteiebenen als linksorientiert und demokratisch bezeichnet wird«. APN unterschlägt, wie er diese zweite Linie charakterisiert. Die erste resultierte im »langsamen und schwierigen Hinabgleiten […] zu einer Gesellschaftsordnung der ökonomischen Ungleichheit«. Die zweite setzt an am faktischen »Bündnis zwischen der Schattenwirtschaft – den bislang noch illegalen Kapitalisten – und den Resten des voluntaristischen und bürokratischen Systems, die sich an ihre Machtpositionen klammern«. Beide »verheißen den Volksmassen nichts Gutes […]. Die UdSSR würde […] praktisch zu einer Halbkolonie von höher entwickelten kapitalistischen Ländern und danach würde sie sich schnell aus einem Bettler in einen ausgeplünderten Bettler verwandeln.« Die Warnung ist klar. Rätselhaft das Fragment, das sie ihm (des Einklangs mit der Marktpolitik wegen, denke ich) zugestehen: »Die einzige wissenschaftlich fundierte Verhaltensweise […] besteht darin, sich auf den Prozess der Vergesellschaftung der materiellen Produktion zu stützen, der sich in der gesamten Weltwirtschaft objektiv entfaltet.«

Alexander Busgalin, Vertreter der »Marxistischen Plattform«, bejaht die Entstaatlichung des Eigentums und die Entbürokratisierung der Wirtschaftslenkung, widersetzt sich jedoch dem Verkauf der Betriebe an Privatpersonen. Er plädiert für »Eigenständigkeit der Arbeitskollektive und ihre reale Selbstverwaltung«, »Vertragsbeziehungen zwischen Zentrum, Produzenten und Verbrauchern« und »demokratisch ausgearbeitete langfristige Zielprogramme zu einer strukturellen Umgestaltung […]. Das ist der Weg zur Wiederherstellung des gesellschaftlichen Eigentums«.

Die These, die KPdSU solle sich als »Partei des gesamten Volkes« verstehen, wurde von vielen Rednern angegriffen. »Arbeiter und Bauern und alle Werktätigen«, war ihre Gegenformel.

7. Juli 1990

W. Schostakowski behauptet, die Formel »Partei des ganzen Volkes« sei von den Theoretikern des »entwickelten Sozialismus« verkündet worden. Er verfolgt die Linie nicht zurück zu Stalins »Staat des ganzen Volkes« (war das 1936 in der Verfassung?). Das »ganze Volk« ist allenfalls eine beschwörende Anrufung, die mit populistischer Gewalt gegen alles Dissidente schwanger geht. Schostakowski sieht für die KPdSU die Rolle einer »politischen Vorhut der Gesellschaft, doch ihre Grundlage bildet der Teil der Werktätigen, der einen humanen, demokratischen und auf Selbstverwaltung basierenden Sozialismus anstrebt.« Dass die sozialen Antagonismen der politischen Vertretung des »ganzen Volkes« im Wege stehen, dämmert in dem merkwürdigen und nicht weiter verfolgten Bedenken, die Beziehung auf eine bestimmte soziale Basis würde dazu führen, »dass Kräfte, die andere Interessen vertreten, an Boden gewinnen«. – Den von der KPdSU geförderten Menschentyp nennt er den »Erfüllungsgehilfen«.

Die KPdSU beschäftigt insgesamt 214 000 Personen.

Parteitheoretisch: Der Spalt in einer parlamentarischen Partei, die an der Regierung ist; es regiert ja nicht die Partei, sondern ihre Regierungsvertreter regieren, Vertreter hoch 2 oder hoch 3.

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In seinem Rechenschaftsbericht sagte Medwedew, das ZK sei nicht länger ein »Ideologie-Ministerium«. – Jakowlew in seinem Bericht: Die Partei der revolutionären Idee zu einer Machtpartei geworden. Jetzt der Zusammenstoß zwischen der »Idee der Volksmacht und der Praxis der Volksunterdrückung«. Die Wende zur Demokratie sei Jahrzehnte zu spät gekommen.

Lew Saikow in seinem Bericht: Die gesamte Militärpolitik des Landes wurde vom Politbüro gesteuert. (Merkwürdig, daneben/darunter noch eine extra Regierung zu halten.) Er sprach von der von ihm geleiteten Sonderkommission, die bis vor kurzem nie erwähnt wurde, wo Außenpolitik und die Repressionsapparate aufeinander abgestimmt wurden, wo außer Schewardnadse und Jakowlew u.a. die Chefs von KGB und Armee saßen. Ihre Haupterrungenschaft war der Rückzug aus Afghanistan und die Beendigung des Kalten Kriegs. – Zu den (einseitigen) Abrüstungsmaßnahmen gehört die Öffentlichkeit von vielem, was bislang der Geheimhaltung unterlag.

Das Problem beim Übergang zur parlamentarischen Daseinsform der KPdSU ist, dass sie nicht mit Mehrheiten bei den Wahlen rechnen kann. Auch hat sie Handlungsfähigkeit einseitig akkumuliert in direkter befehlsadministrativer Machtausübung. Ihre Leute haben nicht gelernt, sich in öffentlicher Konkurrenz durchzusetzen.

Reflexion am Rande des Parteitags: Das »Persönliche« eine eigenartige Instanz; seine Bedeutung abhängig vom Institutionengefüge und der politischen Kultur des Lebens in diesem Gefüge. Die Mehrheit dieser Delegierten scheint »unter« ihrem Bewusstsein ein großes Verlangen nach dem großen Führer zu spüren. Man muss aufpassen, ein solches Verlangen nicht vorschnell mit Strukturen des »Unterbewussten« zu erklären. Das Geflecht von mittragenden Einlassungen ist noch zu schwach; es fehlt an einem Common Sense, an entsprechenden bewährten Erfahrungen und also auch an Gewohnheiten. Merkwürdig wäre, setzte sich das Verlangen nach einem Volkskönig durch, obwohl es kein politisches Fundament für dieses Volkskönigtum gibt.

Gorbatschow – Zentrist ohne Zentrum, und doch der einzige Kandidat.

8. Juli 1990

»Es wurde demontiert, ohne zugleich aufzubauen.« (ND, 3.7.90) Frank Wehner, Berichterstatter des ND, hält es noch immer für erwähnenswert, »dass kein Beschluss gefasst wurde, ohne dass es Gegenstimmen gegeben hätte«. Auch der Titel gemäßigt-nostalgisch: »Lenin blickt diesmal eher skeptisch in den Saal«. Für »Fehler« in den letzten fünf Jahren habe »die Partei einen hohen Preis zu bezahlen«. Aber was ist mit den sechzig Jahren davor? Begreift nicht, dass ihre Stellung und Funktion der Urfehler. »In scharfem Ton« weist Gorbatschow laut ND die Forderung nach Parteirückzug aus den Repressionsapparaten zurück; unterschlagen wird sein revolutionärer Zusatz, auch alle andern Parteien könnten dort Gruppen aufmachen. Ebenso weggelassen die Frauenfrage und die neue Arbeiterbewegung.

ND, Titelseite, Herrmann/Wehner unkritisch und konzeptionslos: »Ligatschow setzte sich für die Zusammenarbeit aller marxistisch-leninistischen Kräfte, für den klassenmäßigen Zugang bei der Formierung der Sowjets der Volksdeputierten und eine folgerichtige, stufenweise Verwirklichung der Reformen ein.« Wer, bitte, sind die »marxistisch-leninistischen Kräfte«? Ist der ML denn kein Problem? Was, bitte, wäre ein »klassenmäßiger Zugang bei der Formierung der Sowjets der Volksdeputierten«? Also doch keine freien Wahlen? Und wer spräche im Namen welcher Klassen? Mit welchem Anspruch (Privileg)? Schließlich: was wäre dann »folgerichtig«? Welches wären die »Stufen« und ihre Reihenfolge? Ist denn irgendjemand gegen Folgerichtigkeit als solche und gegen »stufenweise Verwirklichung der Reformen«? Gegen was und wen richtet sich das? Warum werden die Beschwerden gegen die Pressefreiheit nicht berichtet? Nicht der Wink mit Armee und KGB?

»Schewardnadse, der seine Unterstützung für die Politik Gorbatschows deutlich machte« – was man im ND für mitteilenswert hält! Hier schreibt das Unbewusste, zumindest Ungesagte. – »Aufsehen erregte dessen Bereitschaft, nicht für Leitungsorgane der Partei zu kandidieren«. – Hübsche Bereitschaft. Im Kommentar bezeichnet Frank Wehner die Position Ligatschows als »Sozialismus der reinen Lehre«. Als ob das reine Lehre gewesen wäre.

Nicht anders der Ton im ND vom 5.7. (Klaus Joachim Herrmann: »von der Klärung zur Klarheit?«): nostalgisch, äußerst ungeklärt selber. Am treffendsten noch, was als absurdes Zeugnis berichtet wird: auf der Demo im Gorkipark ein Transparent: »Es lebe der letzte Parteitag der KPdSU!« – Es ist tatsächlich der letzte.

An der Kritik, die geübt wird, übersieht der Berichterstatter das positionelle, das Vorentschieden-Indirekte, das Genörgel, das Fehlen wirklicher Analyse und Strategie.

9. Juli 1990

Gestern Gorbatschow mit rund 2/3 der Stimmen gewählt: zum ersten Mal direkt und geheim vom Parteitag, also auch nicht mehr durch Palastintrigen im Politbüro absetzbar. Awaliani kandidierte gegen ihn, kein Vertreter der Machtkonservativen.

12. Juli 1990

Ligatschow sagte, seine Differenzen mit Gorbatschow beträfen die Taktik, nicht die Strategie. Alle, denen es um die Verteidigung des Sozialismus gehe, sollten sich hinter ihm sammeln. Diese Bewahrungsposition unterminierte er freilich durch die ironische Frage, warum den Sowjetmenschen zugemutet werden solle, nach 70 Jahren des Kollektiveigentums »den Sozialismus durch die Einführung des Privateigentums zu retten«. – Hält er Staatseigentum für Kollektiveigentum?

1916 Delegierte stimmten dann überraschend für die Streichung Ligatschows aufgrund seiner »konservativen« Ansichten von der Kandidatenliste. Die Streichung wurde zwar wieder rückgängig gemacht, aber der Ausgang war damit klar. Gorbatschows Kandidat, der ukrainische Parlamentspräsident Wolodymyr A. Iwaschko, würde das Rennen machen. Zur Kandidatur war übrigens auch der Karrierist Frolow vorgeschlagen worden.

Zum Streik scheint Gorbatschow keine konstruktive Position zu finden. Als Lysenko (Demokratische Plattform) beantragte, die Forderung der Streikenden nach Rücktritt der Regierung zu unterstützen, soll Gorbatschow laut FAZ gesagt haben, die »Anstifter« des Streiks hätten ihr Ziel nicht erreicht.

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Wjatscheslaw Kostikow, Kommentator von APN, malt das Bild eines durch den Parteitag schicksalhaft erschütterten Gorbatschow, der als ein anderer hervorgeht, nachdem man ihn der »Demontage des Sozialismus« angeklagt hat. Der Parteitag habe ihn einige Jahre seines Lebens gekostet. Das Wort »Schicksal« liebe er besonders. Er wird mit dem Zaren Boris Godunow verglichen (»und tobend haben sie mich verflucht«), der als Progressiver »seiner Zeit voraus war«. Seit 1985 hätten sich »seine Ideen, Reden, Ansichten, Machtstellung, Wertsystem« »beträchtlich gewandelt«. – Dieser Kommentator lässt einen künftigen präsidialen Würdigungsjournalismus ahnen und verurteilt mich, der ich konzeptionelle Kontinuität bei Gorbatschow sehe, zum Illusionisten.

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Gorbatschow zur Parteitags-Diskussion über seinen Bericht: Scharf gegen Inkompetenz, Flegelei, demagogische Agitation, »gemeine Berechnung« und opportunistische Anpassung an Stimmungen. »Man darf sich nicht von Leuten gängeln lassen, die in der Politik inkompetent sind, das bringt Unglück.« Er spottet über die, welche Vor- und Nachteile auf die Goldwaage legen. »So etwas wie die Perestrojka […] muss man nach neuen, historisch dimensionierten Kriterien einschätzen.« Sein Hauptkriterium: »Befreiung der Gesellschaft«, Freisetzung der »Tatkraft des Volkes«. Dass dabei nicht nur Gutes und Konstruktives an die Oberfläche gekommen ist, »muss man hinnehmen – so ist das nun mal mit der Revolution«. Alle haben noch nicht genügend »gelernt, von der neuen Freiheit Gebrauch zu machen«.

Was die Verlagerung der Macht in die parlamentarischen Konfliktbearbeitungsorte angeht, registriert er »ein kühles Verhältnis zwischen den Sowjets und der Partei«. Mehr noch: »Bei einem Teil der Deputierten zeichnet sich […] eine Konfrontationshaltung ab.« Viele sind aber auch »einfach verunsichert und in einem Schockzustand; da kam die alte Krankheit zum Vorschein: Mangel an Initiative, an selbständigem Denken, das Unvermögen, unter demokratischen Bedingungen, in einer ungewohnten Situation frei von Klischees zu handeln.« Ergo: nicht nur Widerstand ist schuld am Nichtklappen, sondern Habitus. Im Diskussionsverhalten vieler Delegierter habe er »mit den Poren geortet, dass keineswegs alle begriffen haben: diese Partei existiert und arbeitet bereits in einer neuen Gesellschaft, wir brauchen eine andere, erneuerte Partei mit einem neuen Arbeitsstil«. Zur »Partei und ihren Geschicken« sagt er: »Für mich ist das die Frage meines ganzen Lebens und der menschlichen Haltung.«

Gorbatschow vermerkt bei den, »wie man sagt, ›einfachen‹ Genossen, Arbeiter, Bauern, Intellektuellen sowie Sekretäre der Grundorganisationen der Partei das meiste Verständnis für die Ungewöhnlichkeit und Neuartigkeit der Situation […]. Obwohl die Definition ›einfache‹ ja noch aus ›jener Zeit‹ stammt, und ich hätte sie wohl nicht gebrauchen sollen.« – Er denkt nur den Gegensatz zur Nomenklatura, nicht von Gramsci her.

Im Blick auf die neue Arbeiterbewegung akzeptiert er die Kritik am nachhinkenden Reagieren auf diese: »Die Parteikomitees, u.a. das ZK, sind daran schuld, dass sie […] sich ihre Haltung zu den entstehenden neuen Formen der Arbeiterbewegung zu lange überlegt haben.« Auch räumt er ein, »dass wir in den zwischennationalen Beziehungen vieles übersehen und Zeit versäumt haben«, lässt das aber nicht einseitig auf der Führung sitzen: »Wir […] alle zusammen – geben Sie das endlich zu [Beifall] – haben gedacht, in dieser Beziehung sei bei uns alles in Ordnung.«

Zur Kritik an der Nichteinmischung der SU in Osteuropa: »Was denn, wieder Panzer, wieder schöne Lehren, wie man zu leben hat?«

Ideologie. – »Dieser Bereich […] wurde vermutlich der heftigsten Kritik ausgesetzt.« Eine Schwierigkeit sieht er darin, dass viele negative Phänomene nicht nur Hinterlassenschaft der Vergangenheit, sondern »auch ein Ergebnis des ›explosionsartigen‹ Charakters der Freiheit« sind. – »Ideologie« konzentriert sich im Sprachverständnis der KPdSU in diesem historischen Moment auf den Sozialismusbegriff. Dies das Feld der Traditionalisten. Gorbatschow greift folgendermaßen ein: Alles drehe sich darum, was wir unter dem Sozialismus verstehen«. Die »Ideologie des Sozialismus« sei kein Lehrbuch, sondern werde »sich zusammen mit dem Sozialismus selbst in dem Maße herausbilden, in dem wir dazu beitragen, dass das Land satt, geordnet, zivilisiert, geistig reich, frei und glücklich ist«. Den »ideologischen« Tiefstand der auf den ML bestehenden Traditionalisten charakterisiert er damit: Wann immer ein Redner die Fragen philosophisch zu stellen und zu behandeln begann, »verfiel der Saal in Apathie oder er wurde niedergeklatscht«. Das Verlangen nach Wiederherstellung einer verbindlichen Denkordnung bekommt zu hören: »Wir werden es nicht erlauben, alles von den Klassikern Geschaffene in einen neuen ›Kurzen Lehrgang‹ zu verwandeln«.

Ökonomie. – Der Zustand des politischen Akteurs KPdSU ist das eine, die zerreißenden Konflikte und Ungewissheiten über die Umgestaltung des gesamten ökonomischen Mechanismus und aller Verhältnisse in Produktion und Distribution ist das andere, wahrscheinlich viel schwierigere Feld. Gorbatschow unzufrieden damit, dass der Parteitag mit Dreiviertelmehrheit das Wort »Markt« aus dem Namen der Kommission für Wirtschaftsreform gestrichen hat. Die »jähe Wende zu einer radikalen Änderung der Situation in der Volkswirtschaft« werde folglich »nach wie vor nicht verstanden«. Weiterzumachen wie bisher, werde »das Land in den Bankrott führen«.

Demnach tritt er inzwischen für Marktwirtschaft sans phrase ein, sagt er doch auch, deren Vorzüge seien »weltweit erwiesen«, und die Frage bestehe »nur darin, ob unter den Marktverhältnissen eine hohe soziale Sicherheit gewährleistet werden kann«. Die Antwort laute: »gerade die regulierbare [regulierte?] Marktwirtschaft wird es gestatten, den gesellschaftlichen Reichtum so zu vergrößern, dass das Lebensniveau aller steigen wird. Und natürlich haben wir die Staatsmacht in unseren Händen, die […] den Prozess des Übergangs zur Marktwirtschaft nicht ›ausufern‹ lassen« werde. Zwar dürfe man nicht mit den Preisen beginnen, aber die Preisreform sei unvermeidlich.

Trotz meiner Zweifel an der sozialen Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft überzeugen mich die Argumente, die Gorbatschow gegen bestimmte in unserem westlichen Sinn »linke« Kritiken vorbringt. Angesprochen von einem Arbeiter, wann endlich Ordnung herrschen wird und es keine Schieber mehr geben wird, erwidert er: der Markt, und nicht die Polizei, müsse das erledigen. Und noch einmal: Auf die Frage des Sekretärs eines Gebietskomitees: »Können Sie das tun, was Andropow getan hat?«, habe er geantwortet: »Die Bekämpfung des Schwarzmarkts ist zu 80 Prozent eine ökonomische Frage. [Beifall] Wenn es keine entwickelte Wirtschaft gibt, wird sich der Schieber gesundstoßen [Beifall], am Mangel schmarotzen all diese Jobber der Schattenwirtschaft und korrumpierten Elemente.«

Zur Landwirtschaft bekräftigt G nur das x-mal Gesagte: »Veränderung der Produktionsverhältnisse auf der Grundlage der Gesetze über das Eigentum, über den Grund und Boden, über die Pacht, und andrerseits die Hilfeleistung für die Infrastruktur, […] für den Bau von Landmaschinen usw.«. Konfiguration: 1) »allen freiwilligen Entscheidungen freien Spielraum zu gewähren«; 2) den Austausch Stadt-Land ins Gleichgewicht zu bringen; 3) die Lebensverhältnisse auf dem Land zu verbessern; 4) Ökologie gleichrangig mit Lebensmittelproduktion. – Wunderbar, aber im Sinn von Wunder verlangend. »Von daher wurde deutlich, dass die Macht eines Präsidenten gebraucht wird«.

13. Juli 1990

Gestern Abend erklärte Jelzin im Großen Saal des Kreml seinen Parteiaustritt, sehr wirksam, vor laufenden Fernsehkameras, man hätte eine Nadel fallen hören. Dann verließ er den Saal. Empörte Rufe: »Schande, Schande«, plötzlich sehr müde wirkende Gesichter. Die Demokratische Plattform hat sich nun abgespalten und konstituiert sich als eigne Partei. Jelzin erklärte, als russischer Präsident müsse er überparteilich sein, Präsident aller Russen, der sich nicht an die Linie der KPdSU binden könne. Er hat damit weiteren Wind aus Gorbatschows Segeln genommen.

Gestreikt wurde auch in Workuta, wo Arbeiter ihre Parteibücher in einen großen Papiersack warfen.

FAZ-Reißmüller: »Nur wenn die Partei nicht mehr der Staat ist, kann der Leninismus absterben, das Grundübel in der Sowjetunion.«

*

Die FAZ setzt ihre auf Säuberung der DDR-Universitäten gerichtete Serie fort: Ralf Georg Reuth (»Weiter auf antikapitalistischem Weg. Die PDS-Gesellschaftswissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität geben nicht auf«) stellt vor allem Heinrich Fink an den Pranger. Er steht im Wege als widerständiges, weil unbelastetes Element. Dieter Segert wird an zweiter Stelle angegriffen, an dritter Michael Brie, der aber mit seinem Bruder André verwechselt und zum Wahlkampfleiter der PDS erklärt wird. Brie habe Kontakte zu Markus Wolf, wird mitgeteilt, als ob das Stasi bedeute. Dieter Klein kriegt vorgehalten, auf dem SEDParteitag vom Dezember 1989 eine wirkliche Herrschaft des Volkes, nicht eine bloße Westkopie angestrebt zu haben.

14. Juli 1990

Außer Gorbatschow und Iwaschko lauter Neue im Politbüro gewählt. Schewardnadse nicht. In der FAZ interpretiert Werner Adam es als eine Art Halbherzigkeit, fast Feigheit, dass Gorbatschow »sich nicht dazu durchringen mochte«, die sozialistische Wahl zu widerrufen und zum Kapitalismus überzugehen.

15. Juli 1990

Laut Fernsehen 400 000 auf dem Platz der Manege. Keine Rede, in der die KPdSU nicht »verbrecherisch« genannt wurde. Ihre Führer sollen vor Gericht gestellt, ihr Eigentum beschlagnahmt werden. Gorbatschow habe sich zu den »Konservativen« geschlagen. Durch seinen Austritt scheint Jelzin diese Deutung festgelegt zu haben.

Später ein Bericht über sowjetische Faschisten, schwarz uniformiert, vom Popen gesegnet, mit Judenhass und Zarenemblemen. Sie sehen tatsächlich den unsrigen ähnlich und wünschen auch, mit diesen in Kontakt zu treten. Juden verlassen zu Zehntausenden das Land, in Israel eine Wohnungskrise.

16. Juli 1990

In seinem Schlusswort sagte Gorbatschow, dies sei nicht der letzte Parteitag der KPdSU und nicht ihr Begräbnis, wie vorhergesagt worden war. »Die Kommunistische Partei lebt und wird leben. Sie wird ihren historischen Beitrag zum Fortschritt des Landes und zum Fortschritt der Weltzivilisation leisten.« Ein Rückfall in die »alten Gewohnheiten« würde den »Tod der Partei« bedeuten. Er werde »alle verfassungsmäßige Macht als sowjetischer Präsident« gebrauchen, um die Politik der Umgestaltung durchzusetzen und zu verhindern, dass irgendjemand »die Perestrojka zerbricht«.

Die Resolution »Für einen humanen, demokratischen Sozialismus« erklärt sich für die Überwindung der »historischen Spaltung der Arbeiterbewegung«, für Zusammenarbeit von »Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, national-demokratischen Parteien sowie allen Organisationen und Bewegungen, die für Frieden, Demokratie und sozialen Fortschritt kämpfen«. Die innere Situation der SU sei bestimmt durch die Polarisierung zwischen einer »konservativ-dogmatischen Strömung«, die zurück zum autoritären Sozialismus der Vergangenheit will, und einem radikalen Antisozialismus, ja Faschismus und Monarchismus; in den nationalen Bewegungen immer mehr Chauvinismus.

Gorbatschow hat den Rückzug der KPdSU aus der Kontrolle der Massenmedien dekretiert. BBC brachte das in Zusammenhang mit der gestrigen Demonstration. Engelbrecht, den ich mit einigem Glück am Telefon erwische, sagt, der »konservative« Angriff sei dauerhaft abgewehrt. Daher sei die Demonstration auf dem Manegeplatz »die richtige Veranstaltung zum falschen Zeitpunkt« gewesen; nach dem russischen Parteitag wäre sie angemessen gewesen, jetzt nicht mehr. – Ich sage, im Fernsehen sei von 400 000 Demonstranten die Rede gewesen. E. erwidert, ich solle getrost die Hälfte streichen. Er war dort. Der Platz nur locker besetzt. Die Schaulustigen überwogen. Ein harter Kern von einigen Zigtausend umschloss die Rednertribüne. Weiter hinten zündeten die radikalen Sprüche nicht. Nicht die geballte Kampfstimmung wie im Februar oder April. Awaliani verglich er mit der SA. Dieser rechtsdemagogische Populismus sei gefährlich.

Wir hätten uns vom sinnlichen Eindruck zunächst irreführen lassen, als wir die Grundstimmung für machtkonservativ hielten. Was wir für »rechts« (er spricht diese Sprache allzu bedenkenlos) hielten, sei Ignoranz, Ungeübtheit, Verständnislosigkeit, Nicht-Mitkommen mit dem Neuen gewesen. Frei nach: Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht. Für das Folgenreichste hält E. rückblickend Gorbatschows Treffen mit den Sekretären der Grundorganisationen. Sie habe er gewonnen. Daraus sei ein zweiseitiger Energietransfer gefolgt. Kraft für ihn, Orientierung für die Verunsicherten.

Auf Gorbatschows Wunschliste (85 Namen) standen Gelman, Roy Medwedjew, Falin u.a. Sie hatten zwar mehr als die Hälfte der Stimmen erhalten, aber auch viele Gegenstimmen. Es bedurfte des massiven Auftretens von Gorbatschow u.a., die Beschwörung, nicht alles Erreichte des Kongresses in letzter Minute wieder zunichte zu machen, um die Delegierten dazu zu bewegen, das ZK entsprechend zu erweitern. – Der Opportunist Iwan Frolow hat es ins Politbüro geschafft. Ist aber nicht für »Ideologie« zuständig; dieses Ressort wurde Aleksandr Dsachossow (1934) übertragen, der den Ausschuss für Internationales im Obersten Sowjet leitet. Eine einzige Frau im Politbüro, anscheinend das übliche schamlose Feigenblatt: Galina Semenowa, Chefredakteurin der Zeitschrift »Krestjanka« (Die Bäuerin) seit 1981, nunmehr zuständig für Frauenfragen.

Mit Katja Maurer von der »Volkszeitung« meinen Abschlussartikel zum Parteitag vorbesprochen. Nach den Machtkonservativen wären nun die Gorbatschow-Leute zu behandeln. Allerlei Fragen von der Art, ob dies oder das »noch eine Zukunft« habe: die KPdSU, die Sowjetunion, der Sozialismus … Die nur 16 Prozent für Ligatschow eine große Überraschung. Wie zu erklären? Konzeptionslosigkeit der Machtkonservativen? Der Kultusminister, ehemals Chef des Tanganka-Theaters, zu den Delegierten: wir werden uns von der Jugend des Landes isolieren und die Beziehungen zu den Intellektuellen zerstören, wenn wir die Roy Medwedjew, Lazis, Gelman, Schatalin, Falin u.a. nicht wählen.

Die SU tut den großen Schritt von einem Wirtschaftsmodell zum anderen, das in der Logik der Dinge eigentlich nur mehr das des Westens sein kann. Zur sich neuen Konfiguration von Politik gehören der Nato-Generalsekretär, der die Feindrolle der SU für beendet erklärt, und Helmut Kohl, der eine Obergrenze der deutschen Armee und Geld und die Perspektive besonderer deutsch-sowjetischer Beziehungen anbietet.

Was verstehen die Leute um G unter »sozialistischem« Charakter der Politik? Die Rettung vor einem wilden Kapitalismus in einem drittrangigen Land.

Fragen. – Droht ein sowjetischer Bonapartismus, ein Präsidialregime mit Exekutiv-Verselbständigung auf Basis eines Klassengleichgewichts? Spricht dafür nicht die demokratisch dubiose Durchsetzung von Gorbatschows Kandidaten? Das Wiederholenlassen von Mehrheitsentscheidungen? So war freilich auch gehandelt worden, nachdem Ligatschow durch Mehrheitsentscheid von der Kandidatenliste gestrichen worden war. Oder entsprang es blindem Gehorsam, dass der kurz zuvor noch Gefeierte nicht gewählt worden ist? Nachträglich herrscht anscheinend der Eindruck, Gorbatschow habe den Kongress »total beherrscht«. NZZ erklärt Gorbatschows Erfolg mit alten Disziplin-Mechanismen und Angst vor weiterem Autoritätsverfall der KPdSU in der Öffentlichkeit.

Inwiefern ist Gorbatschow der (einzige) Garant der Umgestaltung? Ist die Angst des Westens vor seinem möglichen Verschwinden begründet?

Ist die Bewegung in den Städten, obwohl sie sich gegen Gorbatschow richtet, progressiv? Gibt es Ansätze einer nach Selbstverwaltung strebenden demokratischen Bewegung? Was bliebe andrerseits als Machtbasis der Partei? Provinz? Armee? Es sind doch wohl nicht nur die Funktionäre.

17. Juli 1990

So viele Energien in den Startlöchern, bereit zum Sprung –

Zwei Ungleichheiten: 1. Gedanken ungleich Worte; – 2. Worte ungleich Taten.

Manche sagen, Gorbatschows Text sei gut, aber unwirklich. Worte, denen nichts gefolgt sei. Und doch ist eine Revolution im Gange! Allerdings könnte sie in eine Konterrevolution münden. Dies dadurch begünstigt, dass dem Zerstören kaum ein neuer Aufbau entspricht.

25. Juli 1990

Perestrojka-Journal