Hightech-Kapitalismus in der großen Krise - Wolfgang Fritz Haug - E-Book

Hightech-Kapitalismus in der großen Krise E-Book

Wolfgang Fritz Haug

4,6

Beschreibung

Den transnationalen Hightech-Kapitalismus hat seine Große Krise im gleichen Alter ereilt wie achtzig Jahre zuvor den Fordismus die seine. Aus der damaligen stiegen die Ungeheuer des Nazismus, der Judenverfolgung und des Weltkriegs herauf. Wir können nicht wissen, was aus der neuen Großen Krise folgt. Aber wir können Triebkräfte, Strukturen, Bewegungsformen und Tendenzen der computerbasierten Produktionsweise und der von ihr in den Veränderungssog gezogenen Staatenwelt studieren. Inhalt: Teil I: Die Finanzkrise Erscheinungsformen der Krise Theoretisches Intermezzo: Marxsche Krisenbegriffe Was ist neu an dieser Krise? Die Zeit der Spekulation Was meint »Finanzialisierung«? Flucht aus der Geldform in die Geldwarenform Teil II: Die Hegemoniekrise Imperium oder Imperialismus Rekonstruktion der US-Hegemonie unter Obama? Hegemoniekämpfe in den USA Chimerika – das amerikanisch-chinesische Paradox China und die Welt nach Chimerika Hightech-Antikapitalismus und Krise der Demokratie

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 575

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,6 (16 Bewertungen)
12
2
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover

Titel

Wolfgang Fritz Haug

Hightech-Kapitalismus in der Großen Krise

Argument

Berliner Beiträge zur kritischen Theorie

Band 14

Copyright

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© InkriT 2012

www.inkrit.de

© für diese Ausgabe Argument Verlag 2012

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Lektorat: Jan Loheit

Umschlag und Satz: Martin Grundmann, Hamburg

ISBN 978-3-86754-930-1

1.Digitale Auflage 2012

Digitale Veröffentlichung: Zeilenwert GmbH

Inhalt

Einleitung

1. Worum es geht

2. Was hat sich seit dem ersten Buch verändert?

3. Zum Problem philosophischer Gegenwartsgeschichte

4. Arbeiten an künftiger Erinnerung im Material der Zeit

Danksagung

Teil I - Die Finanzkrise

Erstes Kapitel - Erscheinungsformen der Krise

1. Chronik eines angekündigten Zusammenbruchs

2. Neoliberalismus – momentan »mit null multipliziert«

3. Wiederkehr des Interventionsstaats

4. Die Finanzmacht interveniert in den Staat

5. Düstere Aussichten und ein Arbeitsprogramm dagegen

Zweites Kapitel - Theoretisches Intermezzo: Marxsche Krisenbegriffe

1. Marx als Kritiker des Kapitalismus

2. Kritik als Fähigkeit, die Widersprüchlichkeit des Kapitalismus zu denken

3. Alltagsverstand der Krise – populistisch ausbeutbar

4. Die Vorstellung vom »anständigen Kapitalismus« der »Realwirtschaft«

5. Omnipräsenz der Spekulation im Kapitalismus (I)

6. Überkapazitäten oder Kapital-Überproduktion?

6.1 Extraprofit als Magnet der Produktivkraftentwicklung

6.2 Die These vom tendenziellen Fall der Profitrate

6.3 Das Überakkumulationsgesetz

7. Omnipräsenz der Spekulation im Kapitalismus (II)

8. Ein Blick über die Grenze des Kapitalismus

Drittes Kapitel - Was ist neu an dieser Krise?

1. Was genau ist in Krise geraten?

2. Naturgrundlage und Epochenspezifik

3. Produktivkräfte und Möglichkeitsräume von Herrschaft

Viertes Kapitel - Die Zeit der Spekulation

1. Attraktion und Repulsion von Arbeitszeit

2. Zirkulation ohne Zirkulationszeit

3. Spekulation als raum-zeitliches Differenzgeschäft

4. Mannlose Spekulation

5. Hochfrequenz-Werbung

6. Die Spekulation verschlingt ihre Zeit

Fünftes Kapitel - Was meint »Finanzialisierung«?

1. Industriekapitalismus und Finanzspekulation

2. Finanzmarktkapitalismus

3. Finanzialisierter Kapitalismus

4. Kreditbasierter Konsumkapitalismus?

5. Paradoxe Keynesianismen

6. »Rentenfonds-Kapitalismus«

7. Der Schuldenanstieg nährt das fiktive Kapital

8. Die Triebkraft hinter der Finanzgetriebenheit

Sechstes Kapitel - Flucht aus der Geldform in die Geldwarenform

1. Wertzeichen und Selbstwert

2. Gold im Tollhaus der Preise

3. Gold als Geldware

Teil II - Die Hegemoniekrise

Siebtes Kapitel - Imperium oder Imperialismus

1. Vom Namen zum Begriff

2. Imperialismus – ein verschwundener Begriff taucht wieder auf

3. Imperialismus und Imperium im Lichte der Hegemoniefrage

4. Widersprüchliche Kompatibilität von Imperium und Freiheit

5. Die USA erfahren eine erste Form der Herr-Knecht-Dialektik

6. Exkurs über die »Kazikisierung« der Nationalstaaten und den Machtkampf zwischen ›Ökonomie‹ und ›Politik‹

7. Widersprüche und Scheitern des »Amerikanischen Jahrhunderts«

Achtes Kapitel - Rekonstruktion der US-Hegemonie unter Obama?

1. Hegemoniales Vorspiel: Obamas Wahlkampf

2. Ein Trümmerfeld als neuer Ausgangspunkt

3. »Clintons Witwen« hatten nie aufgehört, den US-Hegemon zurückzuverlangen

4. Das hegemoniale Opfer

5. Zurück zur Ausgangsfrage nach Imperium oder Imperialismus

Neuntes Kapitel - Hegemoniekämpfe im eigenen Land

1. Erwartungen vs. Aufgaben: Obamas Zwickmühle

2. Die blockierte Einlösung der Wahlversprechen

3. Die wirtschaftliche Hauptaufgabe

4. Obama vs. Tea Party – ein Präsident, der nicht kämpft, verliert die Hegemonie

5. Dyshegemonie im eigenen Land

6. Obama kämpft

Zehntes Kapitel - Chimerika – das amerikanisch-chinesische Paradox

1. Chinas Großer Widerspruch – Widerspruch im Marxismus

2. Eine Sub-Ökonomie der USA?

3. Die USA erfahren eine zweite Form der Herr-Knecht-Dialektik

4. Rückwirkungen

4.1 Das südkoreanische Beispiel

4.2 Rückwirkung auf die Metropolen

4.3 Rückwirkungen auf China

5. Chimerika in der Krise

Elftes Kapitel - China und die Welt nach Chimerika

1. Weltkapitalistische Perspektiven

2. Chinas Herausforderungen

2.1 Politik

2.2 Ökologisierung

2.3 Ökonomie

3. Die USA in der Finanzprofitfalle

4. Europa unter deutsch-französischer Hegemonie im Neugründungszwang

4.1 Grundwiderspruch der europäischen Konstruktion

4.2 Das Merkozy-Regime

5. Re-Industrialisierung als Sinisierung im Westen

Zwölftes Kapitel - Hightech-Antikapitalismus und Krise der Demokratie

1. Virtuelle Vergesellschaftung übers Handy

2. Die Rebellion, die aus dem Netzwerk kam

3. »Fuckyouwashington« als Vorspiel

4. Besetzt die Wallstreets der Welt!

5. Krise des »demokratischen Kapitalismus«

6. Grenzen des Kapitalismus

7. Exkurs über den globalen Gesamtarbeiter und die Welt-Arbeiterklasse

8. Ist die geschichtliche Produktivität des Kapitalismus erschöpft?

Nachwort in Erwartung geschichtlicher Diskontinuität

Anhang

Drucknachweise

Siglen

Literaturverzeichnis

Namensregister

Weitere Schriften von W. F. Haug

Einleitung

Einleitung

1. Worum es geht

Nie zuvor in der neueren Geschichte fiel eine Rezession mit so immensen geopolitischen Veränderungen zusammen.Javier Solana(2012)

Den transnationalen Hightech-Kapitalismus hat seine Große Krise1 im gleichen Alter ereilt wie achtzig Jahre zuvor den Fordismus die seine. Und wie damals dieser hat er seine Potenziale noch nicht ausgereizt. Eher als das von manchen vermutete Endspiel des Kapitalismus stehen die Weiterbildung seiner Ordnungsmuster im Weltmaßstab und seine innergesellschaftliche Einbettung an. Noch ist nicht gesagt, ob und wie diese krisengetriebene geschichtliche Agenda mit Erfolg abgearbeitet werden wird. In den Jahren nach 1929 gebar die Große Depression in Deutschland die Ungeheuer des Nazismus, der Judenverfolgung und des Zweiten Weltkriegs. In den USA verhinderte der New Deal »allenfalls politische und soziale Aufstände […]. Niemand bekam in den 1930er Jahren die Krise wirklich in den Griff.« (Hobsbawm 2009) Erst aus der mit Schulden finanzierten Kriegswirtschaft, dem Sieg der Alliierten sowie in den vom Krieg hinterlassenen Trümmern und in der antagonistischen Ordnung des Kalten Krieges konnten die knapp drei ›goldenen Jahrzehnte‹ des Fordismus mit seinem Sozialstaatskompromiss hervorgehen – parallel, bei allen Unterschieden, im Westen und Osten des geteilten Europa.

1 Unter »Großer« im Unterschied zu »konjunktureller Krise« verstehe ich mit Elmar Altvater eine »strukturelle« oder »Formkrise« (1983, 94), die als solche nie nur eine ökonomische, sondern immer auch eine gesellschaftliche Krise ist und die Formen stört, »in denen sich Hegemonie reproduziert« (97). Sie leitet einen umfassenden Restrukturierungsprozess ein, der »alle gesellschaftlichen Bereiche, das Insgesamt von Politik und Ökonomie und infolgedessen die Strukturen kapitalistischer Vergesellschaftung« betrifft (ebd.).

Wir können nicht wissen, was aus der neuen Großen Krise folgt. Aber wir können Triebkräfte, Strukturen, Bewegungsformen und Tendenzen der computerbasierten Produktionsweise und der von ihr in den Veränderungssog gezogenen Staatenwelt studieren.

Unsere Benennung dieser Produktionsweise als transnationaler Hightech-Kapitalismus zieht zwei Einwände auf sich. Der erste bezieht sich auf den Begriff des Transnationalen. Ist nicht der Nationalstaat nach wie vor ein durch nichts ersetzbarer Akteur? Und sind nicht die tonangebenden Konzerne, auch wenn trans­national aktiv, nach wie vor primär national verankert, und haben sie nicht in ›ihrem‹ Staat – in Europa allenfalls der EU – die Instanz, die ihnen im Zweifelsfall national oder auch gegenüber anderen Staaten beispringt? Überdies scheint die Globalisierung ins Stocken gekommen und die Entwicklung auf Regionalisierung oder auch »Kontinentalisierung« (Zinn) in einer multizentrischen Welt zuzulaufen. Das hat alles seine Richtigkeit. Dennoch ist »ein kohärenter Zusammenhang von Produktion, Verteilung und Konsumtion auf nationaler Ebene weniger denn je gegeben«, und vieles deutet darauf hin, dass man »im Grunde […] von einem globalen Akkumulationsregime sprechen« muss (Sablowski 2009, 118). Freilich kann dieses an Dichte und Standardisierung dem noch nationalstaatlich geprägten Regime des Fordismus nicht gleichen. Unzweifelhaft aber ist die nationale Ebene für den Einsatz der Produktivkräfte und mehr noch für die epochal dominanten Kapitale zu eng, und die Weltmarkt­akteure zögern nicht, andere Standorte gegen ihren angestammten auszuspielen.2 Der Begriff des Transnationalen ist bescheidener als der des globalen Regimes. Er ist offen dafür, die globale Ordnung als unfertig und nur partiell umfassend und innerhalb ihrer die Verschachtelung relativ selbständiger, ja sogar in gewissen Grenzen rivalisierender Regime zu denken.

2 Die drei großen US-Hightech-Konzerne Apple, Google und Microsoft fakturieren ihre außerhalb der USA anfallenden Umsätze (mehr als zwei Drittel ihres Gesamtumsatzes) in Ländern wie Puerto Rico, Singapur und Irland, wodurch sie ihrem Stammland den Löwenanteil der dort fälligen Gewinnsteuer entziehen. Entsprechend Inditex, einer der wenigen der mitten in der Krise weltweit erfolgreichen Konzerne Spaniens, der in Irland fakturieren lässt. Es bedurfte eines nationalen Skandals, um Inditex dazu zu bringen, wenigstens die innerspanischen Umsätze im Inland zu fakturieren und damit auch zu versteuern. Auch den Regulierungen ­pflegen die Weltmarktakteure auszuweichen. So 2012 der BASF-Konzern, der auf das EU-Verbot von Freilandversuchen mit gen-veränderten Pflanzen kurzerhand mit der Verlagerung seines damit befassten Betriebsteils in die USA antwortete.

Ein zweiter Einwand hakt beim Begriff der Hochtechnologie ein mit dem bereits im ersten Buch (HTK I, 12f) erörterten Argument, die Höhe einer Technologie sei etwas Relatives. In der Tat mag einer künftigen Epoche das Niveau unseres technischen Arsenals und seiner Anwendungen einmal niedrig vorkommen. Auf medizinischem, generell biotechnischem Gebiet etwa hat die hochtechnologische Zukunft erst begonnen. So unbestreitbar das ist, muss es uns nicht daran hindern, die aus dem Sprachgebrauch der Gegenwart aufgegriffene Hightech- oder Hochtechnologie-Kategorie zum Begriff auszuarbeiten.3 Denn die Informationstechnologie hat einen qualitativen Niveausprung der Produktivkräfte ausgelöst, dessen Reichweite und verändernde Wirkung auf Basis, Überbau und Lebenswelt der Gesellschaften noch kaum absehbar sind. So wenig Marx sich den Computer vorzustellen vermochte, so wenig können wir Heutigen uns schon einen weiteren Produktivkraftsprung vorstellen, der die Entwicklung über das in der Breite und Vielfalt seiner künftigen Anwendungen und Umwälzungsfolgen noch unauslotbare Prinzip der mikroelektronisch gestützten und informationstechnisch erschlossenen Produktivkräfte hinausheben könnte.

3 Die im Vergleich zu Buch I veränderte Schreibung (statt ursprünglich »High-Tech« nun »Hightech«) trägt der zwischenzeitlichen Einbürgerung des Ausdrucks und seiner Schreibung in einem Wort Rechnung. So findet er sich nicht nur in Wikipedia, sondern auch auf der Internetseite des Bundesministeriums für Bildung und Fortschritt, wo die Bundesregierung erklärt, Ziel ihrer »Hightech-Strategie« sei es, »Deutschland zum Vorreiter bei der Lösung globaler Herausforderungen zu machen« <www.hightech-strategie.de/de/81.php>. »Vorreiter« steht für die Fähigkeit, die Konkurrenz der anderen Länder zu schlagen.

Wie in der Produktion die Arbeitsmittel in Wechselwirkung mit den Produktionsverhältnissen Epoche machen, so in der Geschichte der zwischennationalen politisch-ökonomischen Beziehungen die organisatorisch-kommunikativen Techniken und Apparate in Wechselwirkung mit den militärischen und politisch-kulturellen Kräfteverhältnissen. Die »informatischen ›Metamaschinen‹, die wir Computer nennen und die zur revolutionären Allgemeinmaschine geworden sind« (KV II, 169), haben nicht nur die Welt der Produktion, sondern auch den Weltmarkt, seine kapitalistischen Akteure, Verkehrsformen und Ordnungselemente umgepflügt. Die mit diesen Entwicklungen einhergehende tektonische Verschiebung der globalen Konkurrenz- und Kräfteverhältnisse wird nicht zuletzt mit technologischen Innovationen ausgefochten. Die Fragen von Hegemonie und Herrschaft, von Imperialismus oder Imperium stellen sich seither neu. Im Folgenden werden wir uns zunächst mit den hochtechnologisch basierten Bewegungsformen der Krise befassen, um uns dann den Veränderungen der inneren und äußeren Hegemonieverhältnisse der USA, sodann den Formen und Folgen des chinesischen Aufstiegs und schließlich der europäischen Krisendynamik zuzuwenden.

Ungeachtet dieser Abfolge geht es uns gerade um den Zusammenhang der Geschehensebenen. Da hierfür jenes Zusammenhangsdenken benötigt wird, das Theorie genannt wird, beschäftigen uns auf dem Weg durch die Ereignisfolgen immer auch die im Umlauf befindlichen und auf diese Realebene sich beziehenden Analysen und ihre theoretischen Konzepte. Wenn im ersten Teil geläufige Diagnosen wie »Finanzialisierung« oder »finanz(markt)getriebener Kapitalismus« auf den Prüfstand rücken, so im zweiten Teil der gramscianische Hegemoniebegriff in seinem Verhältnis zu Theorien imperialistischer vs. imperialer Herrschaft, wobei die Konkretisierung und Weiterbildung der damit zusammenhängenden Begrifflichkeit am Material eine der durchgängigen Linien bildet.

2. Was hat sich seit dem ersten Buch verändert?

Wenn in Zeiten weltgeschichtlicher Umwälzungen zu einem Gegenwartsthema im Abstand von einem knappen Jahrzehnt ein zweiter Band erscheint, ist ein Blick auf seither eingetretene Veränderungen fällig. Die Verschiebungen in den politisch-ökonomischen Weltverhältnissen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sind kaum weniger dramatisch als die 1989 vom Fall der Berliner Mauer besiegelten. Dieser Einschnitt schloss die erste Phase des aufsteigenden Hightech-Kapitalismus ab und leitete die Epoche der beschleunigten kapitalistischen Globalisierung ein, deren virtuelle Infrastruktur in den 1990er Jahren erdumspannend zusammenschoss. In Gestalt des Internet dient sie seither nicht nur der Wirtschaft und den Staaten, sondern begleitet den Alltag von Milliarden von Menschen.

Indem das Ausscheiden des staatssozialistischen Systemkonkurrenten die USA als einzige Supermacht übrig ließ, schuf es die Voraussetzung des Projekts eines »American Century«, für dessen militärisch akute Phase die Terrorakte vom 11. September 2001 das Signal gaben. Inzwischen ist die daraus hervorgegangene Politik des Griffs nach »Herrschaft ohne Hegemonie« unter George W. Bush gescheitert und hat einer Rückkehr zu einer Politik multilateraler Aushandlung Platz gemacht. Der Zusammenbruch des Finanzmarkts, der das militärische Fiasko der USA im Irak und in Afghanistan überlagerte, trieb die Verschiebungen unerbittlich voran. Der »Konsument letzter Instanz« laborierte am Rande zur Zahlungsunfähigkeit, und das noch immer mit großem Abstand mächtigste Land der Welt, dessen Präsidenten seit dem Zusammenbruch des Systemantagonisten immer zugleich eine informelle Weltpräsidentschaft zufällt, rang kraft der Obstruktionspolitik des republikanischen Extremismus mit innenpolitischer Lähmung. Auch die europäische Gemeinschaft taumelte in die von der Rezession unterlegte Hegemoniekrise. Der Widerspruch zwischen transnationaler Vereinheitlichung von Markt und Geld bei nationaler Zersplitterung von Wirtschafts- und Finanzpolitik stellte sie vor die Notwendigkeit eines nachholenden politischen Integrationsschubs bei Strafe des ökonomischen und politischen Auseinanderbrechens. Kaum beeindruckt von der Wirtschaftskrise, entwickelte sich der ostasiatische Wirtschaftsraum zum neuen Gravitationsfeld des Weltkapitalismus, mit China als dem »hauptsächlichen neuen Wachstumszentrum der Weltwirtschaft als solcher« (Gowan 2007, 169).

Explosiv gewachsen seit dem ersten Buch unserer Analysen zur hochtechnologischen Produktionsweise ist weltweit die Rolle der sozialen Netzwerke. Was das Ambient-Marketing nutzt (vgl. KdWÄ, 273f), nutzen auch die politisch Unzufriedenen, vor allem die Angehörigen derjenigen Generationen, denen in ihren besten Jahren der Kapitalismus kaum Perspektiven bietet. Während die Arbeiterbewegung, traditionell die wichtigste Kraft des sozialen Protests, zumindest im Westen noch immer geschwächt ist, nachdem der Umbruch der Produktionsweise und die Globalisierung die Kräfteverhältnisse zu ihren Ungunsten verändert hatten, ist dem Kapitalismus eine nach klassischen Kriterien schwer fassbare Hightech-Rebellion erstanden. Ihr Medium ist das Internet, in dem sich ihre Informations-Guerilleros wie Fische im Wasser bewegen und ihre Scharen sich durch die elektronische Buschtrommel zur Aktion zu rufen gelernt haben.

Emblematisch für eine andere Form netzbasierter Gegenmacht ist die 2006 ans Netz gegangene Enthüllungsplattform Wikileaks. Wenn die gemeinnützig betriebene Wikipedia mit ihrer netzgeborenen Kooperationsform, die auch vom kommerziellen »Crowd Sourcing« genutzt wird, Allgemeinwissen frei zur Verfügung stellt, so verteilt dieser Robin Hood des Netzes geheimen Informationsreichtum der Herrschaftsmächte an die Allgemeinheit. Er tut dies in ständigem Räuber-und-Gendarm-Spiel mit den Internet-Polizeien, die unterm Mantel der Verfolgung von Kinderpornographie und des Schutzes intellektueller Eigentumsrechte der Kontrolle des Netzes zustreben. Die Staatsgeheimnisse, die hier, solange sich im Netz noch Freiräume dafür finden lassen, ans Licht kommen, entstammen dem Archiv jenes verdeckten staatlichen Handelns, das in Walter Benjamin angesichts des Nazismus die Erkenntnis aufblitzen ließ, die »Tradition der Unterdrückten« belehre uns, »dass der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist« (GS I/2, 697). Die staatliche Nutzung der Informationstechnologie hat mit der digitalen Archivierung der gegenwartsnahen Dokumente, die den Zugang der Staatsmacht ortsunabhängig machte, auch den Einbruch ins Archiv und das Zuspielen der Dokumente an die Medien ins Netz verlagert. Wie die digitale Naturalform der Informationsgüter die Warenform dieser Güter in die Krise stürzte (HTK I, 81ff), so hier ihre Geheimhaltungsform. Als Ende 2010 der US-Geheimdienst den Wikileaks-Zugang blockierte, stellten dessen Unterstützer binnen Tagen Hunderte, ja Tausende Spiegelserver auf die Beine, wo US-Verschluss-Sachen offengelegt waren.

Die Geheimhaltungskrise der US-Diplomatie erschütterte Hegemonieverhältnisse weltweit. Vor allem (aber nicht nur) in den mit diktatorischer Gewalt von Kleptokratien regierten Klientenstaaten des Westens fügte sie der objektiven Schande das Bewusstsein der Schande hinzu. Jetzt genügte ein letzter Übergriff, um das Maß des von den Bevölkerungen Ertragenen voll zu machen und den Protest auszulösen, der die Situation zum Kippen brachte. In der arabischen Welt war es der Selbstverbrennungstod des 26jährigen Tunesiers Mohamed Bouazizi, der sich und seine Angehörigen als Gemüsehändler mit einem fahrbaren Stand durchzubringen versuchte und dem die Polizei dieses sein Subsistenzmittel genommen hatte. »Seine Tat war der Funke, der den Flächenbrand entzündet und letztlich die ganze arabische Welt verändert hat.« (Ibrahim ­al-Koni)4 Im zivilen Aufstand für Demokratie, Rechtstaat und soziale Gerechtigkeit erwuchs dem Dschihadismus, den die USA einst gegen die Sowjetunion hochgerüstet und nach deren Verschwinden zum neuen Weltfeind Nr. 1 erklärt hatten, eine kraftvolle Konkurrenz. Der Selbstmordrebell entkleidete den Selbstmordattentäter des reaktionären Antiimperialismus seiner Aura. Die sozialen Netzwerke machten den Anfang, und das Satellitenfernsehen ermöglichte vollends, dass »die Bevölkerungen der gesamten [arabischen] Region ›virtuell‹ am ägyptischen Aufstand teilnahmen: alle waren sie auf Kairos Tahrir-Platz«, und wenn die Repression die TV-Kameras außer Funktion setzte, traten die Handy-Kameras ungezählter Demonstranten an ihre Stelle, deren Bildmaterial über YouTube an die Weltöffentlichkeit ging; so hingen markante Züge dieser revolutionären Demokratiebewegung »direkt mit der globalen informatischen Revolution zusammen« (Achcar 2012). Der so aufgestoßene neue öffentliche Raum sah »die fluchbeladene Dreiheit der arabischen Politik (Klasse, Geschlecht, Religion)« auf dem Rückzug (Gómez García 2011, 648). Die Fronten des Weltkrieges gegen den islamistischen Terror begannen zu veralten, wie die der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts veraltet waren.

4Tagesspiegel, 1.3.2011.

3. Zum Problem philosophischer Gegenwartsgeschichte

Wir Historiker schreiben die Verbrechen und den Wahnsinn der Menschheit auf, wir erinnern an das, was viele Menschen vergessen wollen.Eric Hobsbawm (2009)

Der Versuch, philosophisch reflektierte Gegenwartsgeschichte zu schreiben, scheint etwas Unmögliches zu wollen. Er setzt dazu an, eine Entwicklung zu historisieren, die noch unabgeschlossen ist. In ontologischer Hinsicht ließe sich erwidern, dass alle Geschichte als Erkenntnisgegenstand wesentlich unabschließbar ist. »Prozesse kommen in Wirklichkeit überhaupt nicht zu Abschlüssen«, heißt es in einer Notiz von Brecht. »Es ist die Beobachtung, die Abschlüsse benötigt und legt.«5 Kein Schluss auf diesem Gebiet ist ein für alle mal. So unentbehrlich die in der historischen Bibliothek angehäuften Wissensmassen und Deutungsansätze sind, so trügerisch ist die Vorstellung, gewesene Geschichte ließe sich besitzen und einschließen wie ein Museumsstück. Reliquien des Geschichtsprozesses mögen gesichert sein, ihr Sinn ist es nicht. Das macht, dass Geschichte Seinsmodus eines Seienden ist, dem es »in seinem Sein um dieses Sein selbst geht« (Heidegger, SuZ, 12), und dass, »wie Vico sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, dass wir die eine gemacht und die andre nicht gemacht haben« (K I, 23/393, Fn. 89). Mehr noch: indem ›wir‹ unsere Geschichte ›gemacht‹ haben, hat unsere Geschichte uns zu dem gemacht, was wir sind, ohne am Ziel zu sein. Das macht den von Ernst Bloch immer wieder abgewandelten Einsatz des Philosophierens aus: »Wir sind. Aber wir haben uns nicht. Darum werden wir erst.« Dieses unabschließbare Werden im Widerspruch lässt auch die vergangene Geschichte nicht in Ruhe. Was Geschichte heißt, ist eine zusammenfassend deutende Auswahl von Fakten. Nur ein infinitesimaler Teil des Geschehenen findet Eingang. Nicht nur die von der Forschung festgestellte Faktenlage, sondern auch die forschungsleitenden Deutungsmuster geben den Ausschlag. Dies liegt beschlossen in der radikalen Geschichtsimmanenz, die ­Antonio Gramsci »absoluten Historizismus« nennt (Gef 7, 1781). Wir Menschen sind geschichtliche Wesen. Die Wissenschaft kann Fakten in den Grenzen des Informationszugangs und des Forschungsstandes objektiv feststellen oder, wie Marx sagt, »naturwissenschaftlich treu konstatieren« (13/9). Doch was sie bedeuten, kann nicht anders als tastend und im Meinungsstreit herausgehoben werden, weil ihr Sinn in der geschichtlichen Praxis und der durch sie angestoßenen Veränderungsprozesse ankert. In diesen Prozess einzugreifen, macht den Geschichtsschreiber zum Akteur, der mithandelt und damit ›ins Objekt fällt‹. Wir sind mit von der Partie. Daher dreht das Geschichtsverständnis sich untergründig stets um den »geschichtlichen Springpunkt«6 der jeweiligen Gegenwart, auch wenn es sich im Bewusstsein zumeist anders darstellt. Der Glaube, Vergangenes historisch zu artikulieren, heiße zu erkennen, »wie es denn eigentlich gewesen ist«, bezeichnet folglich für Walter Benjamin »im Geschichtsbild des Historismus genau die Stelle, an der es vom historischen Materialismus durchschlagen wird« (GS I.2, 695).

5 Brecht fährt fort: »Im Großen werden natürlich Entscheidungen getroffen (und angetroffen), gewisse Bildungen ändern oder verlieren gar ihre Funktionen, ruckweise zerfallen Qualitäten, ändert sich das Gesamtbild.« (GA 22.1, 458)

6 Marx über Ricardo: »So sehr ihm der geschichtliche Sinn für die Vergangenheit fehlt, so sehr lebt er in dem geschichtlichen Springpunkt seiner Zeit.« (26.3/46)

Wenn es darum geht, »die Erfahrung mit der Geschichte ins Werk zu setzen, die für jede Gegenwart eine ursprüngliche ist« (II.2, 468), so stellt sich diese Aufgabe im Bezug auf Gegenwartsgeschichte noch einmal anders. Hier heißt es, die Erfahrung der Gegenwart mit sich selbst als geschichtliche ins Werk zu setzen. Das bloße Jetzt aber ist leer und gibt den geschichtlichen Springpunkt nicht her. Ihn aus einem Projekt, gleichsam als Wechsel auf eine angestrebte Zukunft zu ziehen, landet bei haltloser Spekulation. Handfest gibt der geschichtliche Springpunkt sich nur in negativer Form, indem wir »die Geschichte nicht anders denn als eine Gefahrenkonstellation betrachten« können, die wir, »denkend ihrer Entwicklung folgend, abzuwenden jederzeit auf dem Sprunge« sind (V.2, 587). Zweifellos werden wir dabei immer wieder über unsere Hoffnung stolpern, wo Gefahr wächst, wüchse das Rettende auch. Dass Hoffnung und Wunsch sich zum Vater des Gedankens machen, können wir nicht vermeiden. Wohl aber erhalten sie nie das letzte Wort. Schon der nächste Moment kann sie widerlegen.

Was soll uns dann ein Buch und der Versuch, einen theoretisch fundierten Zusammenhang in die Zerfahrenheit der Erscheinungen und Meinungen zu bringen? Ist nicht durch die Buchform und die durch den Druck erreichte Existenzdauer unser Text mit einem Anspruch auf »›Wahrheit‹ und ›Sein‹ assoziiert«, der einer »seit zwei Jahrhunderten obsolet gewordenen« Illusion aufsitzt? Das gibt Michael Jäger zu bedenken (2009, 246).7 Gilt nicht Wahrheit »jetzt als werdende Wahrheit«, so dass ich »auch nur meinem werdenden Gedanken Dauerhaftigkeit wünschen« kann? (Ebd.) Ja, so ist es. Aber daran ist nichts paradox. Es unterscheidet Bücher und Theorien, seit es sie gibt, ob das werdende Denken für sie vor dem gewordenen rangiert oder ob sie es in ihm verschwinden lassen. Worauf es ankommt, ist, wie wir früher sagten, »nicht so sehr das Fertige als die Verfertigung. Mehr als die alte Wahrheit zählt die neue Bewährung. Und das Wesen ist für uns nicht vor allem, was gewesen ist, sondern wesentlicher ist uns das Werden, sowohl der Erkenntnis wie, auf andere Weise, der Sache selbst« (KV I, 12). Die Buchform »fesselt« nicht den Gedanken, wie Jäger meint (247), ­sondern fordert ihn zur Anstrengung des Begriffs heraus. Und wenn die werdende Wahrheit, die in unserem Sinn die dialektische heißen kann, durchs wirkliche Werden überholt wird wie ein Erwarten durchs Eintreten des Unerwarteten, dann werden wir dies nicht durch nachträg­liches Umschreiben ausradieren. Die Darstellung mag in dem Maße philosophisch genannt werden, in dem sie Einsicht ins Sein des Werdens gewährt. Das meinen wir, wenn wir von Historisierung der Gegenwart sprechen.

7 Angesichts der endlosen Flucht solcher Momente scheint ihm ein Medium wie die »Bloggosphäre« als Textquelle vieler Subjekte statt des einen Autors angemessener.

4. Arbeiten an künftiger Erinnerung im Material der Zeit

It may be more productive, then, to combine all the descriptions and to take an inventory of their ambiguities – something that means talking as much about fantasies and anxieties as about the thing itself.Fredric Jameson (2000)

In diesem Buch werden wir uns das politisch-ökonomische Drama der Gegenwart und ihre Zukunftserwartungen als unvollendete Vergangenheit, in der Form künftiger Erinnerung erzählen, um sie als geschichtliche zu verstehen. Während zur Fiktion des Objektivis­mus die Zeitlosigkeit gehört, entfaltet sich unsere Erkundung in eben der Zeit, in welcher der historische Prozess weitergeht, den vorigen Moment korrigiert und der Wahrnehmung ständig neue Rätsel aufgibt. Unsere Dokumente sind aus dem Geschehen auftauchende Sichtweisen, und die Fakten, die wir anführen, zählen immer auch als von bestimmtem Standpunkt aus gesehene. Die kritischen Zeugen, die wir als Personen dadurch deutlicher hervortreten lassen, dass wir ihnen in den verschiedenen Etappen unserer Geschichte das Wort geben, sollen die Möglichkeit stiften, an ihnen das Kontinuum aufzubrechen. Ihre Namen sind immer dieselben, nicht aber die Namen, die sie den Verhältnissen und den in ihnen Agierenden geben. Wenn »Qualitäten ruckweise zerfallen« und das Gesamtbild sich ändert, ändern sich die Sichtweisen. Im Moment der bruch­artigen Umschwünge erfasst diese Wechselhaftigkeit im Bewusstsein der Zeitgenossen die Geschichte selbst. Als 1989 der sowjetische Demokratisierungsversuch unter Gorbatschow in die Krise kam, konnte man die Erfahrung machen, »dass sich heute in der Sowjetunion nichts so schnell bewegt wie die Vergangenheit« (PJ, 15). In solchen Sichtänderungen lässt sich die Erfahrung der Beteiligten erfahren und zugleich auf jene Distanz bringen, die wir historisch nennen. Meinungen scheinen in ihrer Wetterwendigkeit auf eine Weise historisch wie historische Kurse an der Börse. Im Extrem mag man sie für Windfahnen halten. Aber als solche zeigen sie die Windrichtung an. In ihrer Subjektivität spiegeln sie etwas Objektives. Dessen unmittelbar habhaft werden und Geschichte subjekt- und damit zeitlos schreiben zu wollen, ist illusionär. Je ferner der historische Gegenstand liegt, desto sicherer kann sich der Historiker in diesem illusorischen Glauben wiegen. Der Autor gegenwartsgeschichtlicher Betrachtungen kann es nicht. Für ihn gibt es keinen Standpunkt »über dem Getümmel«, wie Romain Rolland ihn 1915 für sich reklamierte. Für ihn gibt es solches Heraustreten allenfalls in dem Sinn, dass er, der sich auf demselben geschichtlichen Feld tummelt wie die Personen, die in seinem Bericht auftauchen, mit seiner subjektiven Sicht weder hinterm Berg hält, noch sie als objektive Gewissheit ausgibt, sondern sie beobachtbar macht, indem er den Fortgang sie relativieren lässt. Das Wort hat nicht der allwissende Erzähler, sondern der Forscher, der aus dem Getümmel seiner Zeit heraus deren Tendenzen auf den Begriff zu bringen sucht.

Friedrich Engels hat die Grenzen »der Beurteilung von Ereignissen und Ereignisreihen aus der Tagesgeschichte« an der Unmöglichkeit festgemacht, »den Gang der Industrie und des Handels auf dem Weltmarkt und die in den Produktionsmethoden eintretenden Änderungen von Tag zu Tag derart zu verfolgen, dass man für jeden beliebigen Zeitpunkt das allgemeine Fazit aus diesen verwickelten und stets wechselnden Faktoren ziehen kann, Faktoren, von denen die wichtigsten obendrein meist lange Zeit im Verborgenen wirken, bevor sie plötzlich gewaltsam an der Oberfläche sich geltend machen« (1895, 8/511). Jeder Versuch »einer zusammenfassenden Tagesgeschichte« schließe »unvermeidlich Fehlerquellen in sich«, fährt Engels fort, »was aber niemanden abhält, Tagesgeschichte zu schreiben« (512). Weiter geht der Gefangene Gramsci in seinen Gefängnisheften, wenn er davor warnt, es könnte »sich gerade das Gegenteil des Geschriebenen als wahr herausstellen« (Gef 6, 1367). Auch wir, die wir uns unter unvergleichlich besseren Bedingungen an der »Tagesgeschichte« versuchen, verhehlen uns nicht, dass unser Bericht »bestimmt Ungenauigkeiten, falsche Annäherungen, Anachronismen enthalten« wird (ebd.).8

8 Zu den eher harmlosen Ungenauigkeiten werden die Zahlen gehören, die im Folgenden immer wieder auftauchen werden. Die den Tagesveröffentlichungen entnommenen Summen und Prozentsätze dienen als Anhaltspunkte, an denen sich Entwicklungstendenzen ablesen lassen. Da wir keine wirtschaftshistorische Abhandlung, sondern einen Beitrag zum philosophisch reflektierten Gegenwartsverständnis vorlegen wollen, trösten wir uns mit Paul Krugmans Diktum, Wirtschaftsstatistik sei eine Form von Science Fiction, bloß nicht so unterhaltend. »All economic statistics are best seen as a peculiarly boring form of science fiction, but China’s numbers are more fictional than most. I’d turn to real China experts for guidance, but no two experts seem to be telling the same story.« (Krugman 2011f)

Gerade indem wir dieses Risiko eingehen, widerstehen wir jenem »markttechnischen Determinismus«, der Gedächtnislosigkeit generiert, von dem Armand Mattelart spricht.9 Wenn die kommerzia­lisierte Kultur unterhaltender Zusammenhangslosigkeit uns als zerstreute Konsumenten möchte, so hat das Internet einen ähnlichen Effekt. Eine schlichte Frage an die Suchmaschine überflutet den Fragenden mit Antworten, die ihm immer neue Eingänge weisen. Hier lässt sich erfahren, was schlechte Unendlichkeit heißt. Alles scheint erreichbar, nichts greifbar. Ein jedes ist dazu bestimmt, alsbald dem nächsten Platz zu machen.

9 Vgl. Mattelart 2003, 141. »Der Diskurs, der die Informationsgesellschaft begleitet, hat das Prinzip der tabula rasa zum Gesetz erhoben. Es gibt nichts, was nicht veraltet wäre.« (Ebd.)

In dieses Meer der Meinungen wirft begriffliches Denken den Rettungsring der Erfahrung. Es stellt den Zusammenhang der Phänomene in der Gegenwart her, wie die Erinnerung ihren Zusammenhang auf der Zeitachse. Nach der Verwünschung des Wissens in Information, geht es ihm darum, Information zum Wissen zu ­erwecken und dieses zum Nachdenken zu bringen. Da mit der Ökonomie der tonangebenden Ökonomen, die über keine Krisen­theorie verfügen, sich in der Großen Krise nichts Vernünftiges anfangen lässt und da »in den letzten 30, 40 Jahren eine rationale Analyse des Kapitalismus systematisch verweigert« worden ist (Hobsbawm 2009), schalten wir nach einer ersten Phänomenbeschreibung der Krise ein Kapitel über marxsche Krisentheoreme ein. Ohne eine elementare Kenntnis derselben würde unsere im Material der Zeit arbeitende Erkundung unverständlich. Theoriegeleitet zu verfahren, heißt nicht, aus Theorie abzuleiten. Wir brauchen die Theorie teils da, wo sie das Material ins rechte Licht rückt, teils dort, wo das Material die theoretischen Deutungen zurechtrückt. Vom Material ausgehend, experimentieren wir mit theoretischen Annahmen und unterziehen diese der Wirklichkeitsprobe. In diesem Sinn gehen wir zum Beispiel im ersten Teil mit dem marxschen Begriff der »Überakkumulation von Kapital« (25/261) oder im zweiten Teil mit Gramscis Begriff der Hegemonie ans reale Geschehen heran.

Wird sich die Idee vor der Wirklichkeit oder die Wirklichkeit vor der Idee blamieren? Das kommt darauf an, was wir unter Wirklichkeit verstehen. Denken wir sie als Faktizität, mag es so aussehen, als blamierten sich die Begriffe. Denken wir Wirklichkeit als Wirkendheit, kann die faktische sich vor dem Begriff blamieren wie eine stümperhafte Politik vor der Idee der Hegemonie, der ein Bild glückender Politik innewohnt. Die das Geschehen begrifflich durchdringende Darstellung wird dann zur Kritik. Denn in begrifflichem Denken spielt der schwache utopische Impuls, dass es vernünftig zugehe in der Welt. Freilich ist die Wirklichkeit des Vernünftigen, wie Hegel sie verkündet, »nichts Vorausgesetztes, sondern ein unablässiges fortschreitendes Gemacht-Werden« (Gef 5, 1120), wie Gramsci sagt, und dazu eines, das in der antagonis­tischen Gesellschaft sich ein ums andere Mal durchkreuzt findet und jederzeit auf dem Sprung zu sein hat, neu zu entspringen.

Um solcher Durchkreuzung zu entgehen, hat Slavoj Žižek der Occupy-Bewegung empfohlen, keine konkreten Forderungen zu erheben, weil »jede im Hier und Jetzt geführte Debatte notwendigerweise immer eine Debatte auf feindlichem Gebiet bleiben« müsse (2011). Doch die Auswanderung aus dem Hier und Jetzt ins Nie und Nimmer ist nicht die Lösung. Es ist wahr, wir brauchen einen utopischen Atem, um uns nicht im Hier und Jetzt zu erschöpfen. Doch den Ort der Gefahr, die es zu wenden gilt, können wir nicht fliehen. Bewegt sich unsere Untersuchung auf »feindlichem Gebiet«? Man wird sehen, dass diese Ortsbeschreibung zu simpel wäre. Gewiss, wir verlassen die Gefahrenzone nirgends. Doch sie ist nicht unumstritten in der Hand jenes »Feindes«, von dem Benjamin sagt, dass er »zu siegen nicht aufgehört hat« (I/2, 695). In der Zeit, von der wir handeln, hat dieser Feind die Gestalt der Auslieferung des menschlichen Gemeinwesens und seines Lebensraumes an die ›Märkte‹ angenommen.

Danksagung

Am Ende bleibt mir die angenehme Pflicht, all denen Dank zu sagen, die aus den unterschiedlichen Wissensgebieten, die unser Thema berührt, mit fachkundigem Rat geholfen haben. Wolfgang Küttlers geschichtstheoretische Bemerkungen waren wichtig für die Reflexion des Problems der Gegenwartsgeschichte und der forma­tionstheoretischen Aspekte. Bei der Bearbeitung der ökonomischen Passagen waren die kritischen Kommentare und Anregungen von Karl Georg Zinn und Mario Candeias eine herausfordernde Hilfe. Fachmännische Ratschläge zur Behandlung der finanztechnischen Aspekte kamen von Stefan Böhmerle von der Berenberg Bank und Alexander Henke von der Kreissparkasse Esslingen-Nürtingen. Jan Rehmann und Ingar Solty gaben mit ihren ortskundigen Einwänden und Vorschlägen wichtige Hinweise zur Überarbeitung der USA-Kapitel, deren erste zwei schon in einer früheren Fassung den Gesprächen mit Andreas Novy viel verdanken. Beim Chimerika-Kapitel haben mich Ivo Hammer und, mit sinologischer Kompetenz, Wolfram Adolphi unterstützt. Viel zu danken habe ich Jan Loheit, der das gesamte Buch lektoriert, das Namensregister erstellt und – wie auch Juha Koivisto – mich mit Literatur versorgt hat. Frigga Haug hat die Entstehung des Buches von Anfang an mit begeistert-herausforderndem Echo unterstützt und mir in der Schlussphase zudem den Rücken freigehalten. Martin Grundmann hat mit bewährter Sorgfalt Umschlag und Typographie gestaltet. Ihnen allen gilt mein Dank.

Los Quemados, im Februar 2012 Wolfgang Fritz Haug

Teil I

Die Finanzkrise

Erstes Kapitel

Erscheinungsformen der Krise

Der 15. September 2008, der Tag, an dem die Lehman-Bank zusammen brach, wird den Lauf der Geschichte mehr verändern als der 11. September 2001, als die Türme des World Trade Centers zusammenbrachen.Eric Hobsbawm (2009)

Oder wie kommt es, dass der Handel, der doch weiter nichts ist als der Austausch der Produkte verschiedener Individuen und Länder, durch das Verhältnis von Nachfrage und Zufuhr die ganze Welt beherrscht ein Verhältnis, das, wie ein englischer Ökonom sagt, gleich dem antiken Schicksal über der Erde schwebt und mit unsichtbarer Hand Glück und Unglück an die Menschen verteilt, Reiche stiftet und Reiche zertrümmert, Völker entstehen und verschwinden macht …Karl Marx und Friedrich Engels (1845)

1. Chronik eines angekündigten Zusammenbruchs

Als schliefe das Ungeheuer noch und könnte durch ein weniger verstörendes Wort im Schlaf gehalten werden, zog noch im vierten Krisenjahr »die Mehrheit der Politiker und Journalisten es vor, von ›Rezession‹ zu sprechen« (Jackson 2011).10 Doch es scheint eher ihr eigener Schlaf gewesen zu sein, den sie mit dieser Illusion zu schützen versuchte.

10 Immanuel Wallerstein dagegen sagte 2009 voraus: »The depression into which the world has fallen will continue now for quite a while and go quite deep. It will destroy the last small pillar of relative economic stability, the role of the U.S. dollar as a reserve currency of safeguarding wealth.« (Wallerstein 2009, 13) Dann werde es den Regierungen überall auf der Welt darum gehen, »to avert the uprising of the unemployed workers and the middle strata whose savings and pensions disappear.« (13f) Auch Joachim Hirsch erkannte in der Krise »auf jeden Fall die Dimensionen ihrer Vorgängerin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« und prognostizierte, sie werde »dazu führen, dass der Kapitalismus eine ganz neue Gestalt annimmt« (2009b).

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!