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Jakob und sein Herr (der Originaltitel lautete Jacques le fataliste et son maître) ist ein Roman des französischen Autors Denis Diderot. Der Diener Jacques und sein adeliger Herr, der im Roman nicht mit Namen genannt wird, reisen neun Tage lang durch Frankreich. Zur Unterhaltung tauschen sie Anekdoten aus, diskutieren über philosophische Fragen, über die Willensfreiheit und über Vorherbestimmung, und Jacques erzählt seine Liebesgeschichte. Dabei wird er immer wieder durch unglückliche Ereignisse unterbrochen, die Anlass zu neuen Geschichten bieten, die von Zufallsbekannten erzählt werden, die ihrerseits von unvorhergesehenen Ereignissen unterbrochen werden. Zusätzlich räsoniert der Erzähler über die Möglichkeiten, die er hätte, um die Handlung des Romans zu verändern, reiht Stichpunkte auf, wie er Ereignisse in eine andere Richtung lenken könnte, und er verwickelt schließlich den fiktiven Leser in Diskussionen über den Roman, dessen Protagonisten etc...
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Seitenzahl: 470
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Jakob und sein Herr
Denis Diderot
Inhalt:
Denis Diderot – Biografie und Bibliografie
Jakob und sein Herr
Jakob und sein Herr, Denis Diderot
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849609856
www.jazzybee-verlag.de
Namhafter franz. Schriftsteller, geb. 5. Okt. 1713 in Langres als Sohn eines Messerschmiedes, gest. 30. Juli 1784, widmete sich in Paris dem Studium der Philosophie, Mathematik und Physik, verlor, weil er darüber seine Berufsstudien vernachlässigte (er war anfangs Theologe, dann Jurist gewesen), die Unterstützung seines Vaters und mußte sich durch literarische Arbeiten (in denen er den Einfluß Bayles sowie der englischen Sensualisten und Freidenker verriet) seinen Lebensunterhalt verdienen. Der in Frankreich herrschenden Gläubigkeit trat er schon in den »Pensées philosophiques« (Haag 1746) und noch mehr in der 1747 geschriebenen, aber vor dem Druck mit Beschlag belegten »Promenade d'un sceptique« entgegen. Erstere Schrift, in der das Parlament einen Angriff auf das Christentum erblickte, wurde auf dessen Befehl vom Scharfrichter verbrannt. Letztere ist erst lange nach Diderots Tod in dem vierten Bande seiner »Mémoires, correspondance et ouvrages inédits« (Par. 1830) veröffentlicht worden. Der Zweifel, den er darin dem Theismus vom deistischen Standpunkt aus entgegensetzt, macht schon in den rasch darauf folgenden Schriften: »Introduction aux grands principes«, »Lettre sur les aveugles« (Lond. 1749), die, als atheistisch, ihm ein Jahr Gefängnis in Vincennes zuzogen, und »Lettre sur les sourds et muets« (1751) dem Zweifel am Deismus selber Platz. In der von 1751 ab publizierten »Encyclopédie« (s. Enzyklopädie) rühren nicht bloß sämtliche auf Technik und Gewerbe bezügliche, sondern auch einige philosophische, ja selbst viele physikalische und chemische Artikel von D. her, dessen schlagfertige Polyhistorie ihm erlaubte, überall einzuspringen, wo ein Mitarbeiter fehlte. Seine Theorien über das Theater, das er dem abstrakten klassischen Regelzwang entreißen und zur Natürlichkeit zurückführen wollte, betätigte er in seinen beiden Dramen: »Le fils naturel« (1757) und »Le père de famille« (1758). Diese beiden Stücke (übersetzt von Lessing, 1760), die wegen ihrer Rührseligkeit und pedantischen Moral vollständig durchfielen, waren die Vorläufer des sogen. bürgerlichen Dramas; sie fanden in Deutschland (bei Iffland, Kotzebue u. a.) mehr Nachahmung als in Frankreich. Von der Vielseitigkeit Diderots legen ein vortreffliches Zeugnis ab die »Salons«, Berichte über die Ausstellungen der Pariser Akademie von 1765–67, in denen er in geistreicher Plauderei die Naturwahrheit als Hauptforderung aufstellt; auch für diese Art der Kunstkritik kann D. als Begründer gelten. Die Mehrzahl seiner Erzählungen und Romane ist außer den »Bijoux indiscrets« (1748), einem unsaubern und faden Produkt, erst nach seinem Tode gedruckt worden. Von diesen ist am schwächsten »Jacques le fataliste« (deutsch von Mylius, Berl. 1792; eine Novelle daraus hat Schiller übersetzt, Sardou in »Fernande« dramatisiert), besser trotz des z. T. empörenden Naturalismus der Roman »La Religieuse«, am berühmtesten aber »Le neveu de Rameau«, der zuerst in Deutschland durch Goethes Übersetzung (1805) bekannt wurde, dann zurückübersetzt und erst 1821 nach dem Original gedruckt wurde, ein köstliches Spiegelbild der Genußsucht und Blasiertheit der Zeit (beste Ausg. von Thoinan, Par. 1891; vgl. R. Schlösser, Rameaus Neffe, Studien und Untersuchungen, Berl. 1900). Wahre Perlen liebenswürdigen Humors und geistreichen Erzählungstalents sind die kleinen Genrebilder, die er mit dem Namen »Petits papiers« bezeichnete. 1743 hatte er gegen den Willen seines Vaters aus Liebe ein armes Mädchen geheiratet, das aber durch Beschränktheit und Bigotterie sich den Gatten bald entfremdete, besonders als nach der Geburt mehrerer Kinder die drückendsten Nahrungssorgen auf ihm lasteten. D. fiel bald darauf in die Netze einer berüchtigten, herzlosen Kokette, Madame de Puisieux, die ihn zehn Jahre lang aufs schmählichste betrogen und ausgesogen hat. Dann schloß er eine enge Verbindung mit der geist- und gemütvollen Sophie Volland, die bis an deren Lebensende dauerte. Der pekuniäre Gewinn aus seinen Schriften, selbst aus der »Encyclopédie«, war nur gering, und er dachte schon daran, seine Bibliothek zu verkaufen, um seine Tochter aussteuern zu können, als seine enthusiastische Bewundrerin, die Kaiserin Katharina II. von Rußland, ihn auf edle, schonende Art seinen Verlegenheiten entriß: sie kaufte ihm seine Bibliothek für 15,006 Livres ab mit der Bedingung, daß er sie, solange er lebe, behalte und für 1000 Livres jährlichen Gehalt verwalte, und ließ ihm den Gehalt auf 50 Jahre vorausbezahlen; dann lud sie ihn nach Petersburg ein und lebte mit ihm einen Winter hindurch in vertraulichem Umgang, bis seine durch das rauhe Klima noch mehr geschwächte Gesundheit die Rückkehr in die Heimat verlangte. Eine Einladung Friedrichs d. Gr., über Berlin zu reisen, schlug er aus und reiste über Holland; seine Eindrücke über Land und Leute legte er in der Schrift »Voyage de Hollande« nieder. Nach Paris zurückgekehrt und bis an sein Lebensende unermüdlich tätig, starb er, wie er gelebt hatte, als Philosoph und wurde in der Kirche St.-Roch begraben. D. sind zwei Standbilder in Paris, von Gautherin vor St.-Germain-des-Prés und von Lecointe vor dem Hôtel de Ville, ein drittes von Bartholdi in Langres errichtet. D. war, nach Goethes Urteil, ein Schriftsteller, der mehr die Absicht hatte, die Freunde des Alten zu beunruhigen und eine Revolution zu veranlassen, als ein neues Gebäude zu errichten. Nach allen Richtungen anregend, ist er nach keiner erschöpfend; er selbst hat von sich gesagt, daß er nur »Seiten« schreiben könne. Sein Stil hat einen Zauber, den Goethe »hinreißend« nennt; auch seine tiefsinnigsten metaphysischen Abhandlungen, wie sein »Gespräch mit d'Alembert« und des letztern »Traum« (beides aus 1769), hat er durch Klarheit und Schwung zu rhetorischen Kunstwerken geformt. Als Philosoph hat er eine Reihe von Metamorphosen durchgemacht, die ihn vom Theismus zum Deismus, von diesem zum Atheismus und Materialismus führten. In seiner Schrift »Interprétation de la nature« (1754) setzt er an die Stelle der Monaden des Leibniz Atome, in denen, wie in jenen schlummernde Vorstellungen, so gebundene Empfindungen liegen. Sie werden bewußt im animalischen Organismus, und aus ihnen erwächst das Denken. Sein Atheismus beschränkt sich auf die Bemerkung gegen die Annahme eines persönlichen Gottes: diese Annahme bedenke nicht, daß das große musikalische Instrument, das wir Welt nennen, sich selbst spiele. Dagegen erkennt er in dem Naturgesetz und in der Wahrheit, Schönheit und Güte die Gottheit. – Seine Werke sind so zahlreich und so weit zerstreut worden, daß auch jetzt noch keine vollständige Ausgabe vorliegt, die beste und vollständigste ist die von Assézat und Tourneux (1875–77, 20 Bde.); leider ist darin Naigeon, dem D. die Herausgabe seiner Werke anvertraut hatte, und der den Text gewissenlos änderte, zuviel Glauben geschenkt (vgl. E. Dupuy, Paradoxe sur le Comédien par D., Par. 1902). Zahlreiche kleine Aufsätze Diderots sind in die »Correspondance littéraire« von Grimm (s.d. 1) aufgenommen und in deren Ausgaben mitgeteilt. Sein Briefwechsel mit Sophie Volland, Grimm u. a. ist enthalten in den »Mémoires, correspondance et ouvrages inédits« (1841, 2 Bde.). Seine einzige Tochter, Madame de Vandeul, hat »Mémoires pour servir à l'histoire de la vie et des ouvrages de D.« (1830) herausgegeben (abgedruckt an der Spitze der »Ouvrages inédits«). Vgl. Fr. Raumer, D. und seine Werke (Berl. 1843); Rosenkranz, Diderots Leben und Werke (Leipz. 1866, 2 Bde.); Sainte-Beuve, Portraits littéraires, Bd. 1 (neue Ausg., Par. 1869); Hettner, Geschichte der französischen Literatur im 18.Jahrhundert (5. Aufl., Braunschw. 1894); Avezac-Lavigne, D. et la société du baron d'Holbach (Par. 1875); I. Morley, D. and the Encyclopaedists (2. Aufl., Lond. 1886, 2 Bde.); E. Scherer, D., étude (Par. 1880); Collignon, D., sa vie, ses œuvres, sa correspondance (das. 1895); Tourneux, D. et Catherine II (das. 1899).
›Wie waren sie zueinander gekommen?‹
Von ungefähr, wie das gewöhnlich der Fall ist.
›Wie hießen sie?‹
Was kann euch daran liegen?
›Wo kamen sie her?‹
Aus dem nächstgelegenen Orte.
›Wohin gingen sie?‹
Weiß man je, wohin man geht?
›Was sprachen sie?‹
Der Herr kein Wort; Jakob hingegen, sein Hauptmann habe gesagt, alles, was uns hienieden Gutes oder Böses begegne, stehe dort oben geschrieben.
Der Herr: Das ist ein großes Wort.
Jakob: Mein Hauptmann pflegte hinzuzusetzen: ›Jede Kugel, die aus einem Musketenlauf abgeschossen wird, hat ihre Adresse.‹
Herr: Und er hatte recht.
Nach einer kleinen Pause rief Jakob aus: "Der Teufel hole den Weinschenken mit seinem Weinschank!"
Herr: Warum seinen Nächsten zum Teufel wünschen? Das ist nicht christlich.
Jakob: Weil ich, während ich mich an seinem schlechten Weine benebelte, unsere Pferde zur Tränke zu führen vergaß. Mein Vater wird es gewahr und gerät in Zorn. Ich setze einen Kopf auf. Er erwischt einen Stock und begrüßt damit meine Schultern ein wenig derb. Eben zog ein Regiment vorbei, um ins Lager von Fontenoy zu marschieren; aus Verdruß lasse ich mich anwerben. Wir langen im Lager an; die Schlacht geht vor sich ...
Herr: Und du bekommst die Kugel unter deiner Adresse?
Jakob: Erraten! Einen Schuß ins Knie, und Gott weiß, was alles für gute und böse Ereignisse dieser Schuß nach sich zog! Sie greifen genauso ineinander wie die Gelenke einer Kinnkette; ohne diesen Schuß zum Beispiel würde ich wohl nie in meinem Leben verliebt oder lahm geworden sein.
Herr: Du bist also verliebt gewesen?
Jakob: Und ob ich es gewesen bin!
Herr: Verliebt eines Schusses wegen?
Jakob: Eines Schusses wegen!
Herr: Du hast mir aber nie eine Silbe davon gesagt.
Jakob: Das glaub ich wohl.
Herr: Und warum das?
Jakob: Weil es weder früher noch später gesagt werden konnte.
Herr: Ist der Augenblick nun gekommen, wo ich diese Liebesgeschichte erfahren kann?
Jakob: Wer kann das wissen?
Herr: Auf gut Glück, fang nur immer an.
Und Jakob begann die Erzählung seiner Liebesabenteuer. Es war an einem Nachmittag, und die Luft sehr schwer und schwül.
Der Herr schlief ein. Die Nacht überraschte sie mitten auf dem Felde, und sie waren vom rechten Weg abgekommen. Der Herr geriet in heftigen Zorn und fiel mit der Karbatsche über seinen Diener her. Bei jedem Schlag sagte der arme Teufel bei sich: ›Auch der stand offenbar dort oben geschrieben.‹
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Du siehst, lieber Leser, daß ich auf dem besten Wege bin und daß es nur von mir abhinge, dich ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre auf die Erzählung von Jakobs Liebeshändeln warten zu lassen; ich brauchte ihn nur von seinem Herrn zu trennen und jeden in so viele Begebenheiten zu verwickeln, wie mir beliebte. Wer könnte mich verhindern, den Herrn zu verheiraten und zum Hahnrei zu machen, Jakob nach Westindien segeln zu lassen, seinen Herrn ebenfalls dahin zu schicken und beide dann auf einem und demselben Schiffe nach Frankreich zurückzuführen? Es ist ja so leicht, Geschichten zu erfinden. Doch diesmal sollen sie mit einer elenden Nacht und du mit diesem kleinen Aufschub davonkommen.
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Mit Tagesgrauen saßen sie wieder auf ihren Gäulen und setzten ihren Weg fort. ›Und wo ging ihr Weg hin?‹ – Leser, du tust mir diese Frage schon zum zweiten Mal, und zum zweiten Mal muß ich dir antworten: Was kümmert das dich? Lasse ich mich einmal auf den Zweck ihrer Reise ein, dann gute Nacht, Jakobs Liebesgeschichte!
Stillschweigend ritten sie einige Zeit. Als sich endlich jeder von seinem Verdruß ein wenig erholt hatte, sagte der Herr zu seinem Diener: "Nun, Jakob, wo sind wir in deiner Liebesgeschichte stehengeblieben?"
Jakob: Ich glaube, bei der Flucht des feindlichen Heeres. Es lief, wer laufen konnte, die Sieger hinterdrein, und jeder dachte nur an sich. Ich blieb auf dem Schlachtfelde liegen und war unter einer gewaltigen Menge Toter und Verwundeter begraben. Den Tag darauf lud man mich mit einem Dutzend anderer auf einen Karren, um mich in eines unserer Lazarette zu bringen. Ach, Herr, ich glaube, es gibt keine schlimmere Verwundung als am Knie!
Herr: Geh, Jakob! Du spaßest.
Jakob: Nein, beim Henker, Herr, ich spaße nicht! Es gibt da ich weiß nicht wie viele Knochen und Sehnen und andere Sachen, die ich weiß nicht wie heißen ...
Eine Art Bauer, der mit einem Mädchen hinter sich unsern Reisenden auf der Ferse nachritt und ihnen zugehört hatte, nahm das Wort und sagte: "Der Herr hat recht."
Man wußte nicht, wem dieses ›Herr‹ gelten sollte; aber es ward von Jakob und seinem Herrn sehr übel aufgenommen, und Jakob sagte zu dem ungebetenen Zwischenredner: "Worein mischest du dich?"
"In mein Handwerk; ich bin ein Wundarzt, Ihnen zu dienen, und will Ihnen beweisen ..."
Die Weibsperson, die hinter ihm saß, sagte zu ihm: "Herr Doktor, setzen wir unseren Weg fort und lassen wir diese Herren in Frieden, da sie es nicht gern zu sehen scheinen, daß man ihnen beweist."
"Nein," antwortete ihr der Chirurgus, "ich will ihnen beweisen und ich werde ihnen beweisen ..."
Und indem er sich umwendete, um zu beweisen, stieß er seine Gefährtin an. Diese verlor das Gleichgewicht, fiel vom Gaul, blieb mit dem einen Fuß im Schoße seines Kleides hängen, und die Röcke schlugen ihr über dem Kopf zusammen.
Jakob sprang hurtig hinunter, machte den Fuß des armen Geschöpfes los und gab ihren Röcken die vorige Lage wieder. Ich weiß nicht, ob er bei den Röcken oder mit Losmachen des Fußes anfing; genug, nach dem Geschrei der Weibsperson zu urteilen, hatte sie sich ernstlich verletzt.
"Das kommt beim Beweisen heraus", sagte Jakobs Herr zu dem Chirurgen.
Und der Chirurg: "Das kommt heraus, wenn man nichts bewiesen haben will."
Und Jakob zu dem gefallenen oder wieder aufgehobenen Frauenzimmer: "Tröste dich, mein gutes Kind, es ist weder deine Schuld noch die Schuld des Herrn Doktors, noch meine, noch die meines Herrn, sondern es steht dort oben geschrieben, daß heute auf dieser Landstraße zu dieser Stunde der Herr Doktor einen Anfall von Schwatzhaftigkeit bekommen, mein Herr und ich zum Anhören nicht aufgelegt sein, du eine Quetschung am Kopfe davontragen und man deinen bloßen Hintern sehen sollte."
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Oh, was könnte unter meinen Händen aus diesem Abenteuer nicht alles werden, wenn mich die Lust anwandelte, deine Geduld, lieber Leser, auf die Folter zu spannen! Ich würde aus diesem Frauenzimmer eine Person von Wichtigkeit schaffen, sie zur Nichte des Pfarrers in einem benachbarten Dorfe machen, die Bauern dieses Dorfes aufhetzen, kurz, ich würde Raufhändel und Verliebungen ohne Zahl zusammenhäufen; denn schließlich war diese Bäuerin unter ihrer Wäsche schön.
Jakob und sein Herr hatten es wohl bemerkt, und nicht immer lauert die Liebe eine so verführerische Gelegenheit ab. – Warum sollte Jakob nicht zum zweiten Mal verliebt werden? Warum nicht zum zweiten Mal der Rival und sogar der begünstigte Rival seines Herrn sein? ›War ihnen das schon einmal begegnet?‹ – Immer diese Fragen! Lieber Leser, du willst also nicht, daß Jakob in der Erzählung seiner Liebschaften fortfahren soll? Ein für allemal, erkläre dich! Macht sie dir Vergnügen oder nicht? Macht sie dir Vergnügen, so wollen wir das Frauenzimmer wieder auf die Kruppe von des Doktors Rosinante setzen, beide ihres Weges ziehen lassen und zu unsern Reisenden zurückkehren.
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Diesmal nahm Jakob das Wort und sagte zu seinem Herrn: "Das ist der Welt Lauf; Sie, die Sie in Ihrem Leben nie verwundet worden sind und nicht wissen, was ein Schuß am Knie zu bedeuten hat – Sie wollen mir gegenüber, dem das Knie zerschmettert worden ist und der nun schon seit zwanzig Jahren hinkt, behaupten ..."
Herr: Du könntest vielleicht recht haben; aber niemand als dieser unverschämte Schwätzer von Wundarzt ist schuld, daß du noch mit deinen Kameraden auf dem Karren liegst, fern vom Lazarett, fern von deiner Heilung und fern vom Verliebtwerden.
Jakob: Der Schmerz an meinem Knie war unbeschreiblich, was für eine Vorstellung Sie sich auch davon machen mögen. Die Unbequemlichkeit des Fuhrwerks und der böse Weg vermehrten diesen Schmerz noch; bei jedem Stoß des Karrens stieß ich einen lauten Schrei aus.
Herr: Weil dort oben geschrieben stand, daß du schreien solltest.
Jakob: Allerdings. Ich verblutete mich und wäre des Todes gewesen, wenn unser Karren, der letzte in der Reihe, nicht vor einer Bauernhütte gehalten hätte. Ich verlangte, abgeladen zu werden, und man legte mich auf die Erde. Ein junges Weib, das in der Tür der Hütte stand, lief hinein und kam schnell mit einem Glase und einer Weinflasche zurück. Ich trank hastig ein oder zwei Schluck. Die Karren vor dem unsrigen fingen an, sich von neuem in Bewegung zu setzen. Man machte schon Anstalt, mich wieder zu meinen Gefährten zu werfen; aber ich hielt mich fest an den Kleidern des Weibes und an allem, was ich nur ergreifen konnte, und beteuerte, daß ich mich nicht wieder aufladen ließe und daß ich, wenn ich ja sterben müßte, lieber hier auf dieser Stelle als ein paar Meilen weiter sterben wollte. Mit diesen Worten fiel ich in Ohnmacht. Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich ausgezogen auf einem Bett in einem Winkel der Hütte liegen. Um mich standen ein Bauersmann, der Herr vom Hause, seine Frau, dieselbe, die sich meiner angenommen hatte, und einige kleine Kinder. Die Frau hatte einen Zipfel ihrer Schürze in Weinessig getaucht und rieb mir Nase und Schläfe damit.
Herr: Elender! Verworfener Bösewicht! Jetzt sehe ich, wo du hinauswillst.
Jakob: Herr, ich glaube, Sie sehen nichts.
Herr: Hast du dich etwa nicht in diese Frau verliebt?
Jakob: Und wenn ich mich in sie verliebt hätte – was ließe sich wohl dagegen einwenden? Steht es einem frei, sich zu verlieben, oder nicht? Und ist mans, hängt es von einem ab, so zu handeln, als ob man es nicht wäre? Wenn es dort oben geschrieben gewesen wäre, so hätte ich mir alles sagen können, was Sie sich anschickten, mir zu sagen, hätte mich ohrfeigen, mit dem Kopf gegen die Wand rennen und mir die Haare ausraufen können – es hätte doch alles nichts genützt, und mein Wohltäter wäre zum Hahnrei geworden.
Herr: Wollte man schließen wie du, so könnte man jedes Verbrechen begehen, ohne daß man sich deswegen Vorwürfe zu machen brauchte.
Jakob: Der Einwurf, den Sie da machen, hat mir schon mehr als einmal das Hirn zermartert; aber trotzdem, ich mag wollen oder nicht, muß ich bei dem Spruche meines Hauptmanns bleiben: Alles, was uns Gutes oder Böses hienieden begegnet, steht dort oben geschrieben. Herr! Können Sie mir ein Mittel sagen, wie sich diese Schrift wegradieren läßt? Kann ich nicht ich sein? Und wenn ich ich bin, kann ich anders handeln als ich? Kann ich zugleich ich und ein anderer sein? Und hat es, seitdem ich auf der Welt bin, wohl einen einzigen Augenblick gegeben, da dieses nicht wahr gewesen wäre? Predigen Sie, soviel Sie wollen. Ihre Gründe können vielleicht gut sein; aber sobald es in mir oder dort oben geschrieben steht, daß ich sie schlecht finden soll, so sagen Sie selbst, was kann ich machen?
Herr: Ich denke über etwas nach: ob nämlich dein Wohltäter zum Hahnrei geworden wäre, weil es dort oben geschrieben stand, oder ob es dort oben geschrieben stand, weil du deinen Wohltäter zum Hahnrei machen würdest.
Jakob: Beides stand nebeneinander geschrieben; beides war zu gleicher Zeit eingetragen worden. Man muß sich das wie eine große Rolle denken, die sich nach und nach entfaltet ...
Leser! Du siehst, wie weit ich dieses Gespräch über einen Gegenstand ausdehnen könnte, von dem man seit zweitausend Jahren soviel geschwatzt und soviel geschrieben hat, ohne deswegen um ein Haarbreit vorwärtsgekommen zu sein. Weißt du mir für das, was ich dir sage, nicht viel Dank, so wisse ihn mir wenigstens für das, was ich dir nicht sage.
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Während unsere beiden Theologen sich stritten, ohne einander zu verstehen (wie sich das in der Theologie wohl zutragen kann), ward es Nacht. Sie reisten durch eine Gegend, die zu keiner Zeit recht sicher war, am wenigsten aber jetzt, da schlechte Verwaltung und Mangel und Not die Zahl der Gauner und Übeltäter gewaltig vermehrt hatten. Sie kehrten in der elendesten aller Herbergen ein. Man schlug ihnen zwei Gurtbetten in einer Kammer auf, die aus überall klaffenden Bretterverschlägen gebildet war. Sie verlangten zu Abend zu essen. Man trug ihnen Pfützenwasser, schwarzes Brot und kahmigen Wein auf. Wirt, Wirtin, Kinder, Gesinde – alle sahen unheimlich aus. Neben sich vernahmen sie das unmäßige Gelächter und die lärmende Fröhlichkeit von einem Dutzend Strauchdieben, die sich vor ihnen einquartiert und allen Vorrats bemächtigt hatten. Jakob war ziemlich ruhig; aber sein Herr ganz und gar nicht. Dieser machte sich alle möglichen Sorgen, während sein Bedienter einige Bissen schwarzes Brot verschlang und, sein Gesicht verziehend, ein paar Gläser von dem elenden Wein hinuntergoß. Indem hörten sie jemand an ihre Tür klopfen. Es war ein Knecht, den ihre unverschämten und gefährlichen Nachbarn gezwungen hatten, unseren beiden Reisenden auf einem Teller die Knochen und das Gerippe eines Huhnes zu bringen, das sie verzehrt hatten. Jakob ergrimmte und nahm die Pistolen seines Herrn.
"Wo willst du hin?"
"Lassen Sie mich nur machen."
"Wo willst du hin, frage ich dich?"
"Dieses Gesindel Mores lehren."
"Weißt du, daß ihrer ein Dutzend sind?"
"Und wären ihrer auch hundert! Die Zahl tut nichts zur Sache, wenn dort oben geschrieben steht, daß ihrer nicht genug sein sollen."
"Hol dich der Teufel mit deiner einfältigen Redensart!"
Aber Jakob entschlüpfte den Händen seines Herrn und trat mit einer gespannten Pistole in jeder Hand in das Zimmer der Gauner. "Auf und zu Bett!" rief er ihnen zu. "Den ersten, der aufmuckt, schieß ich vor den Kopf!" In Jakobs Ton und Miene lag so viel Entschlossenheit, daß diese Schelme, die ihr Leben wenigstens ebenso lieb hatten wie ehrliche Leute, ohne ein Wort zu sprechen, vom Tische aufstanden, sich auszogen und sich schlafen legten. Jakobs Herr erwartete in der Ungewißheit, was für einen Ausgang dieses Abenteuer nehmen würde, mit Zittern und Zagen seine Wiederkunft. Jakob trat ins Zimmer, mit den Kleidungsstücken aller dieser Burschen bepackt, die er an sich genommen hatte, damit sie nicht in Versuchung geraten möchten, früher, als er wünschte, aufzustehen und sich anzukleiden. Er hatte ihr Licht ausgelöscht, ihre Tür verriegelt und verschlossen und trug den Schlüssel nebst einer seiner Pistolen in der Hand. "Jetzt," sagte er zu seinem Herrn, "jetzt haben wir nichts weiter zu tun, als uns zu verbarrikadieren, indem wir unsere Betten vor diese Tür schieben, und ruhig zu schlafen." Damit fing er an, die Betten davorzuschieben, und erzählte dabei seinem Herrn kühl und ohne viele Worte die Einzelheiten seiner Expedition.
Herr: Jakob! Was bist du doch für ein Teufelskerl! Du glaubst also ...
Jakob: Ich glaube nichts und leugne nichts.
Herr: Wenn sie sich nun geweigert hätten, zu Bett zu gehen!
Jakob: Das war unmöglich.
Herr: Warum?
Jakob: Weil sie's nicht getan haben.
Herr: Wenn sie jetzt wieder aufständen!
Jakob: Desto schlimmer oder desto besser!
Herr: Wenn ... Wenn ... Wenn ... Und ...?
Jakob: Wenn das Meer zu kochen anfinge, so würde es, wie man zu sagen pflegt, viele gesottene Fische geben. Zum Henker, Herr! Vorhin glaubten Sie wunder welcher Gefahr ich mich aussetzte, und doch war nicht das geringste daran, jetzt glauben Sie sich in großer Gefahr, und doch ist daran vielleicht ebensowenig. Wir alle, so viele es unser in diesem Hause gibt, wir alle fürchten uns einer vor dem andern; ein Beweis, daß wir alle nicht recht gescheit sind.
Und indem er so sprach, hatte er sich ausgezogen, niedergelegt und fing an einzuschlafen. Sein Herr, der nun auch seinerseits ein Stück schwarzes Brot aß und einen Schluck von dem Krätzer nahm, spitzte die Ohren, horchte nach allen Seiten, sah Jakob an, der bereits schnarchte, und sagte: "Was ist das doch für ein Teufelskerl!" Endlich streckte er sich nach dem Beispiele seines Dieners ebenfalls auf sein Lager; aber er konnte kein Auge zutun. Sowie der Tag graute, fühlte Jakob eine Hand, die ihn rüttelte. Es war die seines Herrn, der ihm leise ins Ohr rief: "Jakob! Jakob!"
Jakob: Was gibts?
Herr: Es ist Tag.
Jakob: Meinetwegen.
Herr: So steh auf!
Jakob: Warum?
Herr: Damit wir hier so schnell wie möglich wegkommen.
Jakob: Warum?
Herr: Weil wir hier schlecht aufgehoben sind.
Jakob: Wer weiß, ob wir es anderswo besser sein werden.
Herr: Jakob!
Jakob: Ja doch! Jakob! Jakob! Was für ein Teufelskerl sind Sie?
Herr: Was bist du für ein Teufelskerl! Jakob, lieber Jakob, ich bitte dich darum!
Jakob rieb sich die Augen, gähnte zu wiederholten Malen, reckte seine Arme, stand auf, kleidete sich an, ohne sich zu beeilen, schob die Betten weg, ging zur Türe hinaus und die Treppe hinunter, begab sich in den Stall, sattelte und zäumte die Pferde, weckte den Wirt, der noch schlief, bezahlte die Rechnung, behielt aber die Schlüssel zu den beiden Kammern bei sich und verließ mit seinem Herrn den Gasthof.
Der Herr wollte in vollem Trabe davoneilen; aber Jakob, immer seinem System getreu, wollte Schritt reiten. Als sie schon eine ziemliche Strecke von ihrer fatalen Nachtherberge entfernt waren, hörte der Herr etwas in Jakobs Tasche klingeln und fragte ihn, was es wäre. Jakob gab zur Antwort: "Die Schlüssel zu den beiden Kammern."
Herr: Warum hast du sie nicht zurückgegeben?
Jakob: Damit man zwei Türen aufzubrechen hat: die Tür unserer Nachbarn, um sie aus ihrem Gefängnis zu befreien, und unsere Tür, um ihnen zu ihren Kleidern zu verhelfen. Auf die Art gewinnen wir Zeit und Vorsprung.
Herr: Gut ausgedacht, Jakob! Aber warum sollen wir Zeit gewinnen?
Jakob: Warum? Wahrhaftig, das weiß ich nicht.
Herr: Und wenn du Zeit und Vorsprung gewinnen willst, warum reitest du da Schritt?
Jakob: Weil man im dunkeln über das, was dort oben geschrieben steht, weder weiß, was man tun soll noch was man tut, und seinen Grillen folgt, die man Vernunft nennt, oder seiner Vernunft, die oft nichts weiter ist als eine gefährliche Grille, welche bald zum Guten, bald zum Bösen ausschlägt.
Herr: Kannst du mir wohl sagen, was ein Tor und was ein Weiser ist?
Jakob: Warum nicht? Ein Tor ... warten Sie ... ist ein unglücklicher Mensch, und folglich ist ein glücklicher Mensch ein Weiser.
Herr: Und was ist ein glücklicher oder unglücklicher Mensch?
Jakob: Das läßt sich sehr leicht erklären. Ein glücklicher Mensch ist der, dessen Glück dort oben geschrieben steht; und folglich ist der, dessen Unglück dort oben geschrieben steht, ein unglücklicher Mensch.
Herr: Und wer schreibt dort oben das Glück oder das Unglück der Menschen auf?
Jakob: Und wer hat die große Rolle verfertigt, worin das alles geschrieben steht? Ein Hauptmann, der Freund meines Hauptmanns, hätte gern einen Silbertaler darum gegeben, es zu wissen. Aber mein Hauptmann hätte nicht einen Heller daran gewendet und ich ebensowenig; denn wozu würde es mir helfen? Würde ich dadurch der Grube entgehen können, worin ich mir den Hals brechen soll?
Herr: Ich glaube es doch.
Jakob: Und ich glaube es nicht, denn alsdann müßte sich eine falsche Zeile in die große Rolle eingeschlichen haben, die Wahrheit, nichts als Wahrheit und alle nur mögliche Wahrheit enthält. Wenn in dem großen Buche geschrieben stände: An dem und dem Tage bricht Jakob den Hals, und Jakob bräche den Hals nicht – sagen Sie selbst, wie wäre das möglich, mag der Verfasser des Buches auch sein, wer er will?
Herr: Es ließe sich noch manches darüber sagen ...
Jakob: Mein Hauptmann glaubte, Klugheit sei eine Voraussetzung, bei welcher die Erfahrung uns berechtige, die Umstände, worin wir uns befinden, als Ursachen gewisser Wirkungen anzusehen, die wir in Zukunft zu hoffen oder zu fürchten haben.
Herr: Und du hast irgend etwas davon verstanden?
Jakob: Gewiß; ich hatte mich nach und nach an seine Art zu sprechen gewöhnt. Aber wer darf sich rühmen, genug Erfahrung zu besitzen? Und ist der nie betrogen worden, welcher sich schmeichelte, am besten damit ausgesteuert zu sein? Gibt es ferner einen Menschen, der imstande wäre, die Umstände recht zu kennen, in welchen er sich befindet? Die Berechnung, die wir in unserm Kopfe machen, und die Berechnung, die in das große Protokoll dort oben eingetragen ist, sind voneinander recht verschieden. Leiten wir das Geschick, oder leitet das Geschick uns? Wie viele klüglich ausgesonnene Pläne sind gescheitert und wie viele werden noch scheitern! Und wie viele unsinnige Pläne sind geglückt und wie viele werden noch glücken! Das wiederholte mir mein Hauptmann nach der Einnahme von Bergen-op-Zoom und nach jener von Port Mahon und setzte hinzu: Klugheit bürge uns nicht für einen guten Erfolg; sie tröste uns aber und entschuldige uns wegen eines schlimmen Ausgangs. Auch schlief er den Tag vor einer Schlacht so ruhig in seinem Zelt wie in seiner Garnison und ging ins Feuer wie auf den Ball. Von ihm hätten Sie wohl mit Recht ausrufen können: ›Was für ein Teufelskerl!‹
In eben dem Augenblick hörten sie hinter sich in einiger Entfernung Lärm und Schreie. Sie sahen sich um und erblickten einen Trupp mit Mistgabeln und Stangen bewaffneter Leute, die eilig auf sie zukamen. Du glaubst vielleicht, Leser, daß es die Leute aus dem Gasthofe, ihre Knechte und die Räuber waren, von denen wir oben gesprochen haben? Du wähnst, daß man des Morgens in Ermangelung der Schlüssel die Türen aufgesprengt hat und daß die Gauner sich eingebildet haben, unsere Reisenden hätten sich mit ihren Kleidern aus dem Staube gemacht ... Jakob glaubte es auch und brummte zwischen den Zähnen: "Verwünscht seien die Schlüssel und die Grille oder die Vernunft, die mich sie mitnehmen hieß! Verwünscht sei die Klugheit und so fort und so fort!" Du glaubst ferner, daß dieses kleine Heer über Jakob und seinen Herrn herfallen, daß ein blutiges Scharmützel geliefert werden, daß es Stockschläge regnen, daß man mit Pistolen schießen wird? Und es käme auch wirklich nur auf mich an, das alles geschehen zu lassen. Aber dann adieu, Wahrheit der Erzählung! Adieu, Liebesgeschichte Jakobs! Unsere beiden Reisenden wurden nicht verfolgt. Auch weiß ich nicht, was in dem Gasthofe nach ihrer Abreise vorgegangen ist. Genug, sie setzten ihren Weg fort und wußten immer nicht, wo sie waren, ob sie gleich ungefähr wußten, wohin sie wollten. Sie suchten sich über die Langeweile und die Beschwerlichkeiten der Reise durch gleichgültiges Geschwätz hinwegzutäuschen, wie das bei Leuten so zu sein pflegt, die sich auf der Wanderung befinden, und oft auch bei Leuten, die ruhig auf ihrem Stuhle sitzen.
Es ist klar wie der Tag, daß ich keinen Roman schreibe, weil ich das außer acht lasse, was ein Romanschreiber zu nutzen gewiß nicht ermangeln würde. Wer es für wahr nimmt, was ich da schreibe, irrt vielleicht weniger, als wer es für ein Märchen hält.
Diesmal brach der Herr das Stillschweigen und fing mit dem gewöhnlichen Refrain an: "Nun, Jakob, deine Liebesgeschichte!"
Jakob: Ich weiß nicht, wo ich stehengeblieben bin; ich bin so oft unterbrochen worden, daß ich ebenso wohl daran tun würde, von vorn anzufangen.
Herr: Nein, nein! Du hattest dich von deiner Ohnmacht an der Tür der Bauernhütte erholt und lagst in einem Bett, und die Leute in der Hütte standen um dich her.
Jakob: Gut! Das allernotwendigste war jetzt, einen Wundarzt aufzutreiben, und eine ganze Meile im Umkreis war keiner anzutreffen. Der gute Landmann ließ eins seiner Kinder zu Pferde steigen und schickte es in den nächstgelegenen Ort. Unterdessen hatte das gute Weib rauhen Wein ans Feuer gesetzt und eins von ihres Mannes alten Hemden zerrissen; mein Knie wurde gebäht, mit Kompressen belegt und in Binden gewickelt; man warf einige Stücke Zucker, die man den Ameisen abgejagt hatte, in den Wein, der von dem Verbande übriggeblieben war, und gab ihn mir ein. Hierauf ermahnte man mich, Geduld zu haben. Es war spät. Die Leute setzten sich zu Tisch und aßen ihr Abendbrot. Es war verzehrt und der Bube noch nicht zurückgekommen, auch noch kein Wundarzt da. Nun wandelte den Vater, der von Natur mißmutig war, eine üble Laune an; er brummte mit seiner Frau, und es war ihm nichts recht. Seine übrigen Kinder schickte er mit harten Worten zu Bett. Die Frau setzte sich auf eine Bank und nahm ihren Spinnrocken vor sich. Er spazierte auf und ab, und im Aufundabspazieren suchte er immer Gelegenheit, mit ihr zu zanken. ›Wenn du in die Mühle gegangen wärst, wie ich dir gesagt hatte ...‹ Und er endigte den Satz, indem er mit dem Kopf eine Bewegung nach meinem Bett machte.
›Ich will morgen hingehen.‹
›Heute hättest du hingehen sollen, wie ich dir gesagt hatte! Und der Rest Stroh, der noch in der Scheune liegt – worauf wartest du, ehe du es bindest?‹
›Morgen soll es gebunden werden.‹
›Was wir vorrätig haben, geht auf die Neige, und du hättest besser getan, es heute zu binden, wie ich dir gesagt hatte! Und der Haufen Gerste, der auf dem Boden liegt und verdirbt! Ich wette, du hast nicht daran gedacht, ihn zu wenden.‹
›Die Kinder habens getan.‹
›Du hättest es selber tun sollen. Wärst du auf dem Boden gewesen, so hättest du nicht an der Tür gestanden.‹
Unterdessen fand sich ein Chirurg ein und dann noch einer und dann ein dritter mit dem ausgeschickten Knaben.
Herr: Nun, so warst du unter Wundärzten wie Sankt Rochus unter Hüten.
Jakob: Der erste war, als der Sohn des Bauern zu ihm kam, nicht zu Hause gewesen, aber seine Frau hatte nach dem zweiten geschickt, und der dritte war mit dem Boten angelangt. ›Ei guten Abend, Gevattern! Treffen wir uns hier?‹ sagte der erste zu den beiden andern. Sie hatten sich beeilt, wie sie nur konnten; es war ihnen warm geworden; sie hatten Durst und nahmen Platz an dem Tisch, der noch nicht abgedeckt war. Die Frau ging in den Keller und holte eine Flasche Wein herauf. Der Mann murmelte zwischen den Zähnen: ›Was Teufel hatte sie aber an der Tür zu schaffen!‹ Man fing an zu trinken, man schwatzte von den Krankheiten des Bezirks, man rechnete alle seine Patienten her. Ich fing an zu stöhnen und bekam zur Antwort: ›Nur einen Augenblick noch Geduld; wir wollen Euch gleich helfen.‹
Als die Flasche ausgetrunken war, forderte man auf Rechnung meiner Kur die zweite, dann eine dritte, dann eine vierte; und bei jeder Flasche wiederholte der Mann seinen ersten Ausruf: ›Aber was Teufel hatte sie an der Tür zu schaffen?‹
Welchen Nutzen hätte nicht ein anderer aus diesen drei Wundärzten gezogen, aus ihrer Unterredung bei der vierten Flasche, aus der Fülle ihrer Heilerfolge, aus Jakobs Ungeduld, aus der bösen Laune des Wirts, aus den Auslassungen der Landäskulape über Jakobs Knie und aus ihren verschiedenen Meinungen!
Den einen hätte er etwa behaupten lassen, Jakob wäre ein Kind des Todes, wenn ihm nicht auf der Stelle das Bein abgenommen würde; den zweiten, man müsse die Kugel und das mit in die Wunde gedrungene Stück Tuch herausziehen und dem armen Teufel das Bein erhalten. Unterdessen hätte man Jakob auf seinem Bett sitzen und mit Bedauern sein Bein betrachten und von ihm Abschied nehmen sehen, wie man es einen von unsern Generälen zwischen Dufouart und Louis tun sah. Der dritte Chirurg hätte beiden zugestimmt, bis es zwischen ihnen zum Streit gekommen und man von Beleidigungen zu Tätlichkeiten übergegangen wäre.
Ich erlasse euch all das, was man in den Romanen, in der alten Komödie und im gesellschaftlichen Umgange antrifft.
Als ich den Wirt über seine Frau ausrufen hörte: ›Was Teufel hatte sie denn an der Tür zu schaffen?‹, fiel mir Molières Harpagon ein, wo er von seinem Sohne sagt: ›Aber was hatte er denn auf dieser Galeere zu suchen!‹ Ich sah ein, daß es nicht hinreicht, wahrheitsliebend zu sein, sondern daß man auch spaßhaft sein muß und daß man deshalb ewig sagen wird: ›Aber was hatte er denn auf dieser Galeere zu suchen?‹, hingegen der Ausruf meines Bauern: ›Aber was hatte sie denn an der Tür zu schaffen?‹ nie zum Sprichwort werden wird.
Doch Jakob verfuhr mit seinem Herrn nicht so zurückhaltend und schonend wie ich mit meinen Lesern. Er überging nicht den geringsten Umstand, selbst auf die Gefahr, ihn ein zweites Mal einzuschläfern. War es auch nicht der geschickteste, so war es zum mindesten der stärkste von den drei Wundärzten, der Herr über den Patienten blieb.
›Nun werden wir‹, höre ich meine Leser ausrufen, ›wohl alle Amputationswerkzeuge auskramen, schneiden und brennen sehen und Augenzeugen einer chirurgischen Operation sein müssen!‹ Wie ich merke, wäre das also nicht nach dem Geschmack meiner Leser. Nun, so wollen wir über die chirurgische Operation wegschlüpfen. Aber ihr werdet Jakob doch wenigstens seinem Herrn zu sagen erlauben, wie ers auch wirklich tat: "Ach, Herr, was für eine schreckliche Sache ists doch, ein zerschmettertes Knie wieder einzurichten!" und seinem Herrn, ihm wie oben zu antworten: "Geh, Jakob, du scherzest."
Aber für alles Geld der Welt möchte ich meinen Lesern den Umstand nicht verschweigen, daß Jakobs Herr kaum diese ungezogene Antwort gegeben hatte, als sein Pferd zu stolpern anfing und fiel, er selbst aber sich mit dem Knie sehr hart an einen spitzigen Stein stieß. Er schrie, als ob er an einem Spieß steckte: "Ich bin des Todes! Ich habe das Knie gebrochen!"
Obgleich Jakob die beste Haut von der Welt war und zärtlich an seinem Herrn hing, so möchte ich doch wohl wissen, was auf dem Grunde seiner Seele vor sich ging; wenn auch nicht im ersten Augenblick, so doch wenigstens hernach, als er sich davon überzeugt hatte, daß dieser Sturz keine bösen Folgen haben würde und ob er sich einer kleinen Anwandlung von Schadenfreude über einen Vorfall erwehren konnte, der seinen Herrn darüber belehrte, was es heiße, sich am Knie verwunden.
Noch über einen andern Umstand, Leser, möchte ich gern von dir Aufschluß haben: nämlich ob es seinem Herrn nicht lieber gewesen wäre, wenn er sich an einer andern Stelle als am Knie, wenn auch ein wenig ernstlicher, verwundet hätte, oder ob er gegen die Scham nicht empfindlicher war als gegen den Schmerz?
Als der Herr sich von seinem Falle und von seiner Angst ein wenig erholt hatte, schwang er sich wieder in den Sattel und gab seinem Pferde fünf- oder sechsmal derb die Sporen, so daß es wie der Blitz mit ihm davonrannte. Eben das tat Jakobs Gaul; denn es herrschte zwischen beiden Tieren dieselbe Vertraulichkeit wie zwischen ihren Reitern. Es waren zwei Paar Freunde. Als die beiden Pferde atemlos wieder in ihren gewöhnlichen Schritt kamen, sagte Jakob zu seinem Herrn: "Nun, Herr, was denken Sie davon?"
Herr: Wovon?
Jakob: Von einer Wunde am Knie.
Herr: Ich bin deiner Meinung: sie ist eine der schmerzlichsten.
Jakob: An Ihrem Knie?
Herr: Nein, nein, an deinem Knie, an meinem Knie, an allen Knien der Welt!
Jakob: Lieber Herr! Sie haben das Ding nicht recht überlegt. Seien Sie überzeugt, wir bedauern niemand als uns selbst.
Herr: Possen!
Jakob: Ach, wenn ich nur meine Gedanken so von mir geben könnte, wie ich sie denke! Aber dort oben steht es geschrieben, daß ich die Dinge zwar im Kopf habe, aber daß mir die Ausdrücke und Worte dazu nie in den Mund kommen sollen.
Hier verwickelte sich Jakob in eine sehr spitzfindige und vielleicht sehr wahre Metaphysik. Er suchte seinem Herrn begreiflich zu machen, daß dem Wort Schmerz keine Vorstellung entspräche und daß es nicht eher eine Bedeutung zu haben anfange als in dem Augenblick, da es unser Gedächtnis an eine schon gehabte Empfindung erinnert.
"Bist du schon einmal in die Wochen gekommen?" fragte ihn sein Herr.
"Nein", gab Jakob zur Antwort.
"Glaubst du, daß es große Schmerzen macht, ein Kind zur Welt zu bringen?"
"Allerdings."
"Bedauerst du die Weiber in Kindsnöten?"
"Von Herzen."
"Also bedauerst du doch zuweilen noch sonst jemand als dich selbst."
"Ich bedaure den oder die, welche ich die Hände ringen, sich die Haare ausraufen und wimmern und jammern sehe, weil ich aus Erfahrung weiß, daß man dies alles nicht tut, ohne zu leiden. Aber was die eigentümlichen Schmerzen einer niederkommenden Frau betrifft, so beklage ich sie nicht, denn ich weiß nicht, wie sie tun – Gott sei Dank! Doch um wieder auf ein Leiden zu kommen, das wir alle beide kennen, auf die Geschichte meines Knies, welches durch Ihren Fall nun Ihr eignes geworden ist ..."
Herr: Nein, Jakob! Auf die Geschichte deiner Liebesabenteuer, die durch meine Leiden zu der meinigen geworden ist.
Jakob: Ich war nun verbunden und fühlte ein wenig Linderung. Der Wundarzt hatte sich wieder wegbegeben, und meine Wirtsleute hatten sich zu Bett gelegt. Ihre Schlafkammer war von der meinigen nur durch Bretter mit großen Spalten abgesondert, die man mit Löschpapier und bunten Bildern verklebt hatte. Ich schlief nicht und hörte die Frau zu ihrem Manne sagen: ›Laß mich zufrieden! Ich habe nicht Lust zu schäkern. Ein armer, unglücklicher Mensch, der vor unserer Tür im Sterben liegt ...‹
›Frau, du kannst mir das nachher sagen.‹
›Nein, du sollst nicht! Wenn du nicht aufhörst, so stehe ich auf. Es macht mir kein Vergnügen, wenn ich das Herz voll habe.‹
›Oh, wenn du dich so sehr bitten lassen willst, so wirst du am Ende zu kurz kommen.‹
›Ich tue es nicht, um mich bitten zu lassen; aber du bist manchmal so hart ... so ... so ...‹
Nach einer ziemlich kurzen Pause nahm der Mann das Wort und sagte: ›Frau, gesteh jetzt nur, daß du uns durch ein sehr übel angebrachtes Mitleid in eine Verlegenheit gesetzt hast, aus der es fast unmöglich ist, wieder herauszukommen! Das Jahr ist schlecht; kaum können wir das Nötigste für uns und unsere Kinder bestreiten. Das Korn ist so teuer, der Wein nicht geraten. Ja, wenn es noch zu arbeiten gäbe! Aber die Reichen schränken sich ein, und die armen Leute können nichts verdienen. Auf einen Tag Arbeit kommen vier, an denen es nichts zu tun gibt. Niemand bezahlt, was er schuldig ist; die Gläubiger sind so hart, daß man darüber verzweifeln möchte. Und bei solchen Zeiten nimmst du einen Unbekannten, einen Fremdling auf, der uns nun so lange auf dem Halse liegen wird, wie es Gott und dem Wundarzt gefällig ist! Und der wird gewiß nicht eilen, ihn zu kurieren; denn diese Herren ziehen die Krankheiten gern so sehr in die Länge, wie sie nur können. Der Mensch hat nicht einen Heller im Vermögen; er wird uns doppelte und dreifache Kosten machen. Sage, Frau! Wie willst du es anfangen, ihn loszuwerden? Sag, rede, führe mir deine Gründe an!‹
›Läßt sich denn vernünftig mit dir sprechen?‹
›Du sagst, ich wäre mißgelaunt, ich zankte. Habe ich denn keinen Grund dazu? Gestern war im Keller noch etwas Wein vorrätig; der Himmel weiß, was aus dem werden wird! Die Wundärzte tranken schon gestern abend mehr als wir und unsere Kinder in einer Woche. Und wer soll den Wundarzt bezahlen, der gewiß nicht um nichts und wieder nichts hierhergekommen sein will?‹
›Ja, du hast vollkommen recht, und weil es uns so knapp und spärlich geht, machst du mir ein Kind, als ob wir ihrer nicht schon genug hätten.‹
›Oh, nicht doch!‹
›O ja, ich weiß ganz gewiß, daß ich schwanger werde.‹
›Das sagst du immer.‹
›Es ist jedesmal richtig gewesen, wenn mir das Ohr nachher juckte; und jetzt juckt es mir stärker als jemals.‹
›Dein Ohr weiß nicht, was es will.‹
›Rühr mich nicht an! Laß mein Ohr! Laß es doch, Mann! Bist du verrückt im Kopf? Es wird dir übel bekommen.‹
›Nein, nein! Seit der Johannisnacht hats für mich nichts mehr gegeben.‹
›Du wirst so lange machen, bis ... Und dann nach einem Monat brummst du mit mir, als ob es meine Schuld gewesen wäre.‹
›Nein, nein!‹
›Und in neun Monaten ist es noch schlimmer.‹
›Nein, nein!‹
›Du bists also, ders gewollt hat!‹
›Ja, ja!‹
›Wirst du's auch nicht vergessen? Wirst du auch nicht sprechen, wie du all die andern Male gesprochen hast?‹
›Nein, nein!‹
Und so geschah es denn, daß unter nein, nein und ja, ja dieser Mann, der so böse auf seine Frau war, weil sie einem Gefühle von Menschlichkeit nachgegeben hatte ...
Herr: Genau dieselbe Betrachtung habe auch ich angestellt.
Jakob: Daß dieser Mann nicht sehr konsequent war, ist gewiß; aber er war jung und seine Frau hübsch, und nie macht man mehr Kinder als zur Zeit der Not, des Mangels.
Herr: Es ist wahr, niemand arbeitet mehr an der Bevölkerung als die armen Leute.
Jakob: Ein Kind mehr macht ihnen nichts aus; die Mildtätigkeit anderer muß sie ernähren. Und dann ist es ja das einzige Vergnügen, das man umsonst hat; man tröstet sich bei Nacht gratis für die Leiden des Tages. Bei dem allen hatte der Mann mit seinen Bemerkungen doch recht. Während ich das zu mir selbst sagte, empfand ich einen heftigen Stich im Knie und rief aus: ›Ach, mein Knie!‹ Und der Mann rief aus: ›Ach, Frau!‹ Und die Frau rief aus: ›Ach, Mann! Aber ... aber ... der Fremde!‹
›Ja, und der Fremde?‹
›Wenn er was gehört hat!‹
›Mag er doch!‹
›Ich getraue mich morgen nicht, ihm ins Gesicht zu sehen.‹
›Und warum denn? Bist du nicht meine Frau? Bin ich nicht dein Mann? Hat ein Mann seine Frau, hat eine Frau ihren Mann um nichts und wieder nichts?‹
›Ah! Ah!‹
›Was gibts? Was fehlt dir?‹
›Mein Ohr!‹
›Nun gut, dein Ohr?‹
›Es juckt mich noch ärger denn je.‹
›Schlaf! Es wird schon vergehen.‹
›Ich kann nicht. Ach, mein Ohr, mein Ohr!‹
›Mein Ohr, mein Ohr! Das ist leicht gesagt.‹
Ich mag Ihnen nicht entdecken, was zwischen beiden vorging; aber als die Frau noch verschiedene Male leise und hastig: ›Mein Ohr, mein Ohr!‹ wiederholt hatte, stammelte sie zuletzt in abgerissenen Silben mit erlöschender Stimme: ›Mei...n O...hr!‹, und ich weiß nicht, was im Anschluß an dies ›Mei...n O...hr!‹, vereint mit dem darauffolgenden Stillschweigen, die Vorstellung in mir erweckte, daß ihr Ohrjucken auf irgendeine Weise zur Ruhe gekommen war. Das machte mir Vergnügen. Und ihr erst!
Herr: Jakob, leg die Hand aufs Herz und schwöre mir, daß es nicht diese Frau ist, in die du dich verliebt hast!
Jakob: Ich schwöre.
Herr: Desto schlimmer für dich!
Jakob: Desto schlimmer oder desto besser! Sie glauben wahrscheinlich, Herr, daß Weiber mit einem solchen Ohr gern Gehör geben?
Herr: Ich glaube, daß es dort oben so geschrieben steht.
Jakob: Und ich glaube, es ist noch dabei geschrieben, daß sie nicht lange einem und demselben Gehör geben und mehr oder minder geneigt sind, auch einem andern das Ohr zu leihen.
Herr: Das wäre wohl möglich.
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Und nun gerieten sie in einen Streit ohne Ende über die Weiber. Der eine behauptete, sie wären gut, der andere, sie wären böse – und beide hatten recht; der eine, sie wären dumm, der andere, sie wären geistvoll – und beide hatten recht; der eine, sie wären falsch, der andere, sie meintens aufrichtig – und beide hatten recht; der eine, sie wären geizig, der andere, sie wären freigebig – und sie hatten beide recht; der eine, sie wären häßlich, der andere, sie wären schön – und beide hatten recht; der eine, sie wären geschwätzig, der andere, sie wären verschwiegen; der eine offenherzig, der andere verstellt; der eine unwissend, der andere aufgeklärt; der eine sittsam, der andere ausschweifend; der eine töricht, der andere gescheit; der eine groß, der andere klein – und beide hatten recht.
Indem sie so miteinander disputierten und durch die ganze Welt hätten reisen können, ohne einen Augenblick damit aufzuhören und ohne einerlei Meinung zu werden, überfiel sie ein Ungewitter und nötigte sie, ihren Weg nach ...
›Wohin?‹
Wohin? – Leser, deine Neugier ist recht lästig! Was Teufel hast du davon? Wenn ich dir gesagt hätte, sie hätten ihren Weg nach Pontoise oder nach Saint-Germain, nach Unsrer Lieben Frau zu Loreto oder nach Sankt Jakob zu Compostela genommen, würdest du deswegen um ein Haarbreit weitergekommen sein? Doch wenn du darauf bestehst, will ich dir sagen, daß sie ihren Weg nach – ja, warum nicht! –, nach einer ungeheuren Burg nahmen, an deren Frontispiz man die Worte las: ›Ich gehöre niemandem und gehöre jedermann. Du warst schon darin, ehe du hineinkamst, und wirst noch darin sein, wenn du schon wieder hinaus bist.‹
›Gingen sie denn in diese Burg?‹
Nein; denn entweder war die Aufschrift falsch, oder sie waren schon darin, ehe sie hineinkamen.
›Aber wenigstens gingen sie doch heraus?‹
Nein; denn entweder war die Aufschrift falsch, oder sie waren noch darin, als sie schon wieder hinaus waren.
›Und was machten sie darin?‹
Jakob sagte, was dort oben geschrieben stand, sein Herr, was ihm beliebte. Und sie hatten beide recht.
›Was trafen sie da für Gesellschaft?‹
Eine gemischte.
›Was sprach man?‹
Einige Wahrheiten und viele Lügen.
›Gab es Leute von Verstand darunter?‹
Wo gibt es deren nicht? Aber es gab auch verwünschte Frager darunter, die man wie die Pest floh. Was aber Jakob und seinen Herrn am meisten ärgerte, während sie darin auf und ab spazierten ...
›Man spazierte also darin auf und ab?‹
Ja, wenn man nicht saß oder lag. Was aber Jakob und seinen Herrn am meisten ärgerte, waren an die zwanzig Unverschämte, die sie darin antrafen, die sich der besten, prächtigsten Zimmer bemächtigt hatten, wo es ihnen trotzdem fast immer zu eng vorkam und die dem gemeinen Recht und dem wahren Sinne der Aufschrift zuwider behaupteten, die Burg sei ihnen erb- und eigentümlich vermacht. Mit Hilfe einer Anzahl Taugenichtse, die in ihrem Sold standen, hatten sie eine große Anzahl anderer Taugenichtse in ihrem Sold davon zu überzeugen gewußt, und diese waren immer bereit, für ein kleines Stück Geld den ersten zu hängen oder zu morden, der es wagte, jenen zu widersprechen. Indes wagte man das zu Jakobs und seines Herrn Zeit doch bisweilen.
›Ungestraft?‹
Es kommt drauf an.
Die Leser werden sagen, ich schweife auf gut Glück umher, und weil ich nicht wisse, was ich mit meinen beiden Reisenden anfangen solle, so nehme ich meine Zuflucht zur Allegorie, dem gewöhnlichen Hilfsmittel unfruchtbarer Köpfe. Ich will ihnen meine Allegorie und alle die Schätze aufopfern, die ich daraus hätte ziehen können; ich will meinen Lesern alles zugestehen, was ihnen beliebt; aber ich bedinge mir aus, daß sie mich mit aller weiteren Schikane über Jakobs und seines Herrn letztes Nachtlager verschonen. Sie mögen nun eine große Stadt erreicht und die Nacht bei gefälligen Mädchen zugebracht haben oder bei einem alten Freund eingekehrt sein, der sie auf das beste bewirtet hat; oder bei Bettelmönchen, wo sie um Gotteswillen schlecht beherbergt und schlecht gepflegt worden sind; oder in dem Hause eines Großen, wo es ihnen mitten unter all dem, was überflüssig und entbehrlich ist, an allem Notwendigen gebrach; oder sie mögen diesen Morgen aus einem großen Gasthofe abgereist sein, wo man sie ein schlechtes Abendessen auf silbernen Schüsseln und ein Nachtlager zwischen damastenen Vorhängen auf feuchten, faltigen Tüchern sehr teuer bezahlen ließ; oder gastfreundlich bei einem auf den Zehnten angewiesenen Dorfpfarrer aufgenommen sein, der eilends die Hühnerställe seiner Pfarrkinder brandschatzte, um ihnen einen Eierkuchen und ein Hühnerfrikassee vorzusetzen; oder sie mögen sich in einer reichen Bernhardinerabtei an vortrefflichem Weine berauscht, üppig geschmaust und den Magen gehörig verdorben haben – denn wenn das alles meinen Lesern auch gleich möglich dünken mag, so war Jakob dieser Meinung nicht, da für ihn nur das wirklich war, was dort oben geschrieben stand. Von wo meine Leser sie aber auch abreisen lassen mögen, soviel ist gewiß, daß beide noch keine zwanzig Schritte geritten waren, als der Herr, nachdem er vorher, wie er es zu tun pflegte, eine Prise Tabak genommen hatte, zu Jakob sagte: "Nun, Jakob, und deine Liebesgeschichte?"
Statt zu antworten, rief Jakob aus: "Zum Teufel mit meiner Liebesgeschichte! Habe ich nicht vergessen ..."
Herr: Was denn?
Jakob kehrte, ohne zu antworten, alle seine Taschen um und befühlte sich überall – aber vergebens. Er hatte seinen Geldbeutel unter dem Kopfkissen seines Bettes liegenlassen und kaum seinem Herrn dies gestanden, als dieser ausrief:
"Auch ich wollte, daß deine Liebesgeschichte beim Kuckuck wäre! Ich habe meine Uhr am Kamin hängenlassen."
Jakob ließ sich nicht lange bitten. Er kehrte sogleich um und ritt in langsamem Schritt zurück; denn er übereilte sich niemals.
›Nach dem ungeheuren Schloß?‹
Nein, nein! Unter allen den mancherlei möglichen Nachtlagern, die ich meinen Lesern oben aufgezählt habe, mögen sie sich eins aussuchen, das zu den gegenwärtigen Umständen am besten paßt.
Unterdessen setzte sein Herr immer seinen Weg fort. Herr und Diener sind also getrennt, und ich weiß nicht, welchem von beiden ich den Vorzug geben und wen ich begleiten soll. Lieber Leser! Willst du Jakob folgen, so sieh dich wohl vor; denn das Suchen nach dem Beutel und der Uhr könnte so lange dauern und so verwickelt werden, daß er geraume Zeit nicht zu seinem Herrn, dem einzigen Vertrauten seiner Liebesgeschichte, zurückkehren möchte; und dann gute Nacht, Jakobs Liebesgeschichte! Willst du ihn aber allein den Beutel und die Uhr suchen lassen und seinem Herrn Gesellschaft leisten, so würde das wohl recht höflich und artig von dir sein, aber du würdest im höchsten Grade Langeweile haben. Du kennst diesen Schlag Menschen noch nicht: Er hat wenig Ideen im Kopf; und sagt er ja zuweilen etwas Gescheites, so kommt es von Wiedererinnerung oder Eingebung. Er hat Augen wie du und ich, aber man weiß die meiste Zeit nicht, ob er sieht; er schläft nicht und wacht ebensowenig; er lebt so in den Tag hinein; das ist seine gewöhnliche Verrichtung.
Dieser Automat setzte also seinen Weg fort und sah sich von Zeit zu Zeit um, ob Jakob nicht wiederkäme. Er stieg vom Pferde und ging zu Fuß, setzte sich wieder auf, ritt eine Viertelstunde, stieg von neuem ab und setzte sich auf die Erde, wobei er den Zügel seines Pferdes an den Arm hängte und den Kopf auf beide Hände stützte. Als er dieser Positur überdrüssig war, stand er auf und schaute aus, ob er Jakobs nicht gewahr würde; doch kein Jakob war zu sehen. Nun ward er ungeduldig, und ohne recht zu wissen, ob er etwas sage oder nicht, brach er in die Worte aus: "Der Spitzbube! Der Galgenvogel! Der Taugenichts! Wo bleibt er? Was macht er? Braucht er so viel Zeit, einen Beutel und eine Uhr wiederzuholen? Ich will ihn totprügeln; ja gewiß, totprügeln will ich ihn!" Und nun suchte er seine Uhr in der Achseltasche, wo sie nicht steckte, und geriet vollends aus aller Fassung; denn er wußte nicht, was er ohne seine Uhr, ohne Tabaksdose und ohne Jakob anfangen sollte. Das waren die drei großen Hebel seines Lebens, welches er damit zubrachte: Tabak zu nehmen, nachzusehen, wieviel die Uhr sei, und Fragen über Fragen an Jakob zu richten. Jetzt hatte er seine Uhr nicht mehr und war bloß auf seine Dose angewiesen, die er jede Minute auf- und zumachte, wie ich zu tun pflege, wenn ich Langeweile habe; denn der Überrest von Tabak, der des Abends in meiner Dose bleibt, steht im genauen Verhältnis zum Vergnügen oder im umgekehrten zur Langeweile meines verlebten Tages. Ich bitte dich, lieber Leser, dich mit dieser der Geometrie entlehnten Art zu sprechen zu befreunden, da ich sie präzise finde und mich ihrer häufig bedienen werde.
Nun, Leser, hast du den Herrn satt, und willst du, weil sein Diener nicht wiederkommt, daß wir ihn aufsuchen? Der arme Jakob! In dem Augenblick, da wir von ihm sprechen, rief er schmerzbewegt aus: "So stand es also dort oben geschrieben, daß ich an einem Tage für einen Straßenräuber angesehen, beinahe in ein Gefängnis gesperrt und beschuldigt werden sollte, ein Mädchen verführt zu haben."
Als er sich mit langsamen Schritten dem Schlosse – nein, dem Orte des letzten Nachtlagers näherte, ging einer der hausierenden Kleinhändler, die man Galanteriekrämer zu nennen pflegt, bei ihm vorbei und rief ihm zu: "Herr Baron! Ist nichts gefällig? Schnallen, Gürtel, Uhrketten, hochmoderne Dosen, Ringe, Petschafte als Uhranhänger und eine Uhr! O Herr Baron! Eine Uhr, eine schöne goldene Uhr, ziseliert, mit doppeltem Gehäuse, fast neu ..."
Jakob gab zur Antwort: "Ich suche wohl eine Uhr; aber das ist nicht die deinige ...", und setzte seinen Weg immer im Schritt fort. Indem er so weiterritt, glaubte er dort oben geschrieben zu erblicken, daß die Uhr, die ihm dieser Mann angeboten hatte, seines Herrn Uhr sein könnte. Er ritt also zurück und sagte zu dem Galanteriekrämer: "Hör er, Freund, zeige er mir einmal die Uhr mit dem goldenen Gehäuse; vielleicht gefällt sie mir."