James Bond 25: Der Mann von Barbarossa - John Gardner - E-Book

James Bond 25: Der Mann von Barbarossa E-Book

John Gardner

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Beschreibung

James Bond wird von seinem alten Erzfeind, dem KGB, beauftragt, eine bis dato unbekannte Terroristengruppe aufzuhalten. Diese Gruppe fordert die Verurteilung eines angeblichen Nazi-Kriegsverbrechers und scheut sich dabei nicht, über Leichen zu gehen. Zusammen mit einem internationalen Agententeam versucht Bond, die wahren Motive der Gruppe herauszufinden. Doch als ihm die Wahrheit dämmert, ist es fast schon zu spät ...

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JAMES BOND

DER MANN VON BARBAROSSA

von

JOHN GARDNER

Ins Deutsche übertragenvon Anika Klüver und Stephanie Pannen

Die deutsche Ausgabe von JAMES BOND – DER MANN VON BARBAROSSA

wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern,

Übersetzung: Anika Klüver und Stephanie Pannen;

verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;

Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat André Piotrowski; Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik;

Cover Artwork: Michael Gillette. Printausgabe gedruckt von

CPI Morvia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice.

Printed in the Czech Republic.

Titel der Originalausgabe: JAMES BOND – THE MAN FROM BARBAROSSA

German translation copyright © 2017, by Amigo Grafik GbR.

Copyright © Ian Fleming Publications Limited 1991

The moral rights of the author have been asserted.

Die Persönlichkeitsrechte des Autors wurden gewahrt.

The Ian Fleming logo and the Ian Fleming signature are both trademarks owned by the Ian Fleming Estate, used under licence by Ian Fleming Publications Ltd.

JAMES BOND and 007 are registered trademarks of Danjaq LLC,

used under license by Ian Fleming Publications Limited. All Rights Reserved.

Print ISBN 978-3-86425-859-6 (Dezember 2017)

E-Book ISBN 978-3-86425-908-1 (Dezember 2017)

WWW.CROSS-CULT.DE·WWW.IANFLEMING.COM

Für Ed & Gretchen,die beide wissen, was es bedeutet,ein Doppelleben für ihr Land zu führen

INHALT

Prolog

1. Hawthorne

2. Fallen Timbers

3. Erste Besprechung in London

4. Frosch im Auge

5. Unsicherheit

6. Letzte Besprechung

7. Vier Wände

8. Stepakows Banda

9. Likos kleines Arrangement

10. Tochter des Regiments

11. Hôtel de la Justice

12. Tod mit allem Drum und Dran

13. Der Mann von Barbarossa

14. Der Huscarl

15. Steine und Knochen

16. Der Blues in der Nacht

17. Der Tod von 007

18. Scamps und Scapegoats

19. Im Holzschuppen

20. Der Schwimmchampion

21. Minsk Fünf

Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal.

Ein schroffer Hang – der eine unbehauene Grabstein.

Mir ist angst.

Jewgeni Jewtuschenko: Babij Jar

BABYN JAR

Sie kamen auf ordentliche und geregelte Weise, die Juden von Kiew. Sie waren nervös, aber nicht besonders ängstlich – noch nicht, denn die Aushänge, die überall in der Stadt verteilt worden waren, hatten lediglich besagt, dass man sie umsiedeln würde. Sie kamen mit dem, was sie tragen konnten. Sie kamen zu Hunderten, Männer, Frauen und Kinder. Sie kamen hoffnungsvoll. Sie kamen mit sich und Gott im Reinen. Sie kamen unvorbereitet. Sie kamen, wie sich herausstellen sollte, mit berechtigter Angst. Sie kamen an die Ecke Melnik- und Dokteriwski-Straße, genau wie es ihnen gesagt worden war.

Hitlers Invasion der Sowjetunion, unter dem Codenamen Unternehmen Barbarossa, hatte erst drei Monate und sieben Tage zuvor begonnen, am 22. Juni 1941. Nun war der 29. September des gleichen Jahres – das Jahr, in dem Stalin alle Warnungen vor einer Nazi-Invasion in den Wind schlug, weil er sie für einen Plan der Engländer hielt, um einen Keil zwischen Russland und Deutschland zu treiben.

Zehn Tage zuvor hatte das XXIX. Armeekorps und die 6. deutsche Armee die stolze Stadt Kiew überrannt, die Hauptstadt der Ukraine, vor der Revolution bekannt als heiliges Kiew, denn die Stadt befand sich am Ort der ersten christlichen Kirche Russlands.

Nun kamen die Juden, wie sie angewiesen worden waren, reihten sich in ordentlichen Schlangen und marschierten langsam die Melnik-Straße entlang auf den alten jüdischen Friedhof und die trostlose und bedrohliche Babyn-Jar-Schlucht zu.

Die Männer, die sie umgaben, gehörten dem Sonderkommando 4a an, bestehend aus Mitgliedern der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdiensts, zusammen mit der SSEinsatztruppe C und einem Aufgebot des Polizei-Bataillons 9, unterstützt vom Polizei-Bataillon 305 und Einheiten der ukrainischen Hilfspolizei.

Als sie sich der Schlucht näherten, wurde die Schar jüdischer Menschen durch Stacheldraht zusammengedrängt. Sie mussten ihre Wertgegenstände abgeben, sich dann nackt ausziehen und in Zehnergruppen auf den Rand der Schlucht zugehen.

Dort wurden sie von den Einheiten des SD, der SiPo und der SS erschossen. Sobald die ersten Schüsse fielen, schrie die Menge ängstlich auf, aber diejenigen, die damit beauftragt waren, die Menschen voranzutreiben, zeigten keine Gnade.

Sie verschlossen ihre Ohren vor den hysterischen Schreien der Frauen und Kinder, verschlossen ihre Augen vor dem schrecklichen Anblick, verschlossen ihre Gedanken vor allem außer ihrer Aufgabe. Wie in einem Schlachthof zerrten sie Kinder, Mütter mit Säuglingen und Greise zur Schlucht. Ihre Opfer waren nackt und weinten, viele beteten.

Am Ende des Tages wurden die Leichen mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt und die Todesschwadronen kehrten zu ihren Baracken und Sonderrationen Wodka zurück.

Zwei Tage lang gab es nichts als Blut, gebrochene Knochen, zerrissenes Fleisch und das ewige Knattern der Maschinenpistolen. Nach diesen zwei Tagen waren dreiunddreißigtausendsiebenhunderteinundsiebzig Juden an diesem wilden, trostlosen und entsetzlichen Ort ermordet worden. Heutige Besucher dieser grauenhaften Stelle schwören, man könne noch immer das Geschrei und das Flehen hören, das achtundvierzig Stunden lang die Luft erfüllt hatte, nur unterbrochen vom Lärm der Schüsse.

Der Anstifter dieses unfassbaren Verbrechens gegen die Menschlichkeit, SS-Standartenführer Paul Blobel, wurde 1948 zum Tode verurteilt. Er wurde am 8. Juni 1951 in der Strafanstalt Landsberg gehängt. Während des Gerichtsverfahrens fiel mehrfach der Name von Blobels Stellvertreter, SS-Unterscharführer Josif Woronzow. Er war es, so sagte man, der die Männer, Frauen und Kinder in Zehnergruppen zur Schlucht von Babyn Jar und in ihren Tod getrieben hatte.

Was Woronzows Verbrechen noch abscheulicher machte, war der Umstand, dass er selbst Ukrainer war, der sich 1941 während der Frühphase von Unternehmen Barbarossa der SS ergeben hatte und danach zu einem der vielen ausländischen Rekruten geworden war, die der Waffen-SS dienten. Nach Kriegsende hatten viele Organisationen und Einzelpersonen erfolglos nach dem Mann gesucht. Es war bekannt, dass er irgendwann im Sommer 1942 unter dem berüchtigten SS-Kommandanten Franz Reichsleitner im polnischen Vernichtungslager nahe der Stadt Sobibór gedient hatte, wo viele Hunderttausend Juden in die Gaskammern geschickt worden waren.

Als dem polnischen Untergrund schließlich ein Aufstand in Sobibór gelang, entging Josif Woronzow der Gefangennahme. Jahre später, im Jahr 1965, während der Ermittlungen gegen elf SS-Offiziere, die im Lager gedient hatten, kamen weitere Informationen über den ukrainischen Wendehals ans Licht. Es gab sogar Hinweise darauf, dass er mithilfe der Spinne oder Odessas nach Nordamerika entkommen war, den Organisationen, die so bewandert darin waren, ehemalige SS-Offiziere in tadellose Bürger zu verwandeln. Doch für all das gab es keine handfesten Beweise.

Sein Name landete auf den Listen gesuchter Kriegsverbrecher, doch er wurde niemals gefunden.

Bis zum Dezember 1990 hörte man nichts mehr von Josif Woronzow.

HAWTHORNE

Die Stadt Hawthorne, New Jersey, ist weniger als eine Stunde vom Zentrum Manhattans entfernt, und doch würde ein Fremder, der dort wie durch Magie gelandet wäre, es für eine Kleinstadt im nördlichen England halten.

Die Straßen sind natürlich breiter als die in Lancashire, Yorkshire oder Tyne and Wear, aber die kleinen Reihenhäuser sehen genauso aus wie jene, die man in Gemeinden wie Bolton oder Blackburn finden würde.

Eine von Hawthornes beliebtesten Gaststätten ist ein einstöckiges italienisches Restaurant namens Ossie’s, benannt nach seinem Besitzer. An den meisten Abenden ist es voll und die große dunkle Gestalt von Ossie bahnt sich ihren Weg zwischen den Tischen hindurch, nimmt Bestellungen auf, plaudert mit den Stammgästen und bietet das, was er und seine Gäste als das beste italienische Essen in den USA ansehen.

Am Mittwoch, dem 26. Dezember 1990, begrüßte er einen seiner treuesten Gäste mit einem freundlichen, fast mitfühlenden Lächeln, denn der alte Joel Penderek aß mindestens viermal die Woche im Ossie’s. Bis zum letzten September war Joe, wie man ihn allgemein nannte, zusammen mit seiner Frau Anna nur ein wöchentlicher Besucher gewesen. Doch dann war Anna, die in ihrem ganzen Leben nicht einen Tag krank gewesen war, am Labor Day so plötzlich gestorben, dass es das glückliche und geordnete Leben des alten Joe vollkommen aus der Bahn geworfen hatte. Gerade hatte sie noch gebacken und geplaudert, dann war sie plötzlich tot. Der Arzt hatte gesagt, dass es ein heftiger Herzinfarkt gewesen sei und dass er Anna bereits des Öfteren wegen ihres Übergewichts und des erhöhten Cholesterinspiegels gewarnt habe.

Doch das half Joe Penderek kein bisschen. Er hatte Anna 1946 auf dem Schiff kennen- und lieben gelernt und sie geheiratet, sobald beide die Bestätigung bekommen hatten, dass sie von der Einwanderungsbehörde akzeptiert worden waren.

Joe war neunundzwanzig Jahre alt gewesen, als er nach Amerika gekommen war, Anna siebenundzwanzig, und beiden war klar, dass sie Glück gehabt hatten. Sie sprachen selten über ihre Erfahrungen in Europa, aber diejenigen, die Zeit mit ihnen verbrachten, wussten, dass es sich bei ihnen um russische Juden handelte, die aus einem der Nazi-Konzentrationslager gerettet worden waren. Danach hatten sie ein paar Monate in einem der alliierten DP-Lager verbracht, bevor sie von einem mitfühlenden amerikanischen Major einer Gruppe ausgewählter Überlebender zugewiesen wurden, die in die USA geschickt werden sollten. Anna hatte ihrer Nachbarin Debbie Mansell erzählt, dass ihre ganze überlebende Familie nach Russland geschickt worden und der Kontakt abgebrochen war. Joels Verwandte waren alle in den Lagern umgekommen. Es war schlimm und grausam, aber schließlich hatte niemand behauptet, dass das Leben fair sei.

Nach einem Jahr Ehe hatte Joe, der bis dahin als Tagelöhner gearbeitet hatte, eine gute Anstellung in einer örtlichen Baufirma gefunden und war mit den Jahren zum Vorarbeiter und schließlich Bauleiter aufgestiegen, gefolgt von einem Ruhestand mit angemessener Pension. Nun war er zu einer traurigen, verlorenen Gestalt geworden, die sich immer mehr zurückzog, als diktiere ihm ein innerer Stolz, dass ein Mann in der Lage sein sollte, allein zu existieren, sobald seine Lebenspartnerin für immer gegangen war.

Also blieb er für sich, nickte denjenigen, die sich mit ihm anfreunden wollten, ein halbherziges »Danke, aber nein, danke« zu und verließ sich immer stärker auf seine Rituale, zu denen es eben gehörte, viermal die Woche im Ossie’s zu essen. Andere Gäste blieben an seinem Tisch stehen und wechselten ein paar Worte mit ihm, blieben jedoch selten länger, denn der alte Mann schien seine alten Freundschaften regelrecht zu verabscheuen. Zum ersten Mal fiel den Leuten auf, dass der große, einst muskulöse Mann einen gehetzten Ausdruck in den Augen hatte. Es war ein Blick, der besagte: »Vorsicht, kommt nicht näher, denn ich bin ein Mann, der der Welt verloren gegangen ist. Ein Mann, der ins Leid geboren wurde.« Das faltige Gesicht schien ebenfalls von diesem Blick in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. Die ledrige Haut war rissig, als sei eine plastische Operation schiefgelaufen, sie spannte sich über die Wangenknochen, während die Lippen von einem unaufhörlichen Zittern geplagt waren. Die Leute sagten, dass er gar nicht mehr wirke wie der alte Joel Penderek, den sie ihr ganzes Leben gekannt und geliebt hatten. Dies war nur noch ein Schatten jenes Mannes.

Niemand hatte Joel während der Feiertage gesehen – die in den USA, anders als die Völlerei im Vereinigten Königreich, nur bis zum ersten Weihnachtsfeiertag gingen –, aber am Abend des 26. Dezembers nahm Penderek ein gutes Mahl ein, trank eine kleine Karaffe seines bevorzugten Rotweins, beglich seine Rechnung und verließ das Restaurant gegen einundzwanzig Uhr durch den Seiteneingang. Es war das letzte Mal, dass ihn irgendjemand sehen sollte, auch wenn ihn niemand als vermisst meldete. Bis zum folgenden Abend, als sich Debbie Mansell Sorgen machte, weil sie den ganzen Tag nichts von ihrem Nachbarn gehört und niemand die Fensterläden geöffnet hatte. Das war seltsam, denn normalerweise hörte sie das Radio des alten Mannes jeden Tag.

Als die örtliche Polizei die Tür aufbrach, erwartete man, eine Leiche zu finden. Stattdessen war Joel Pendereks Haus fast ungewöhnlich aufgeräumt, kaum ein Gegenstand nicht an seinem Platz, das Bett gemacht, die Küche sauber, ohne herumstehendes Kochgeschirr, und im Briefkasten ein Haufen Werbung.

Niemandem war etwas Seltsames aufgefallen, und so war es auch geplant gewesen. Es konnte nie richtig geklärt werden, was am Mittwochabend geschehen war, aber eigentlich waren die Fakten ganz einfach. Der alte Mann war über den Parkplatz des Restaurants gegangen, hatte seinen Mantelkragen aufgestellt und sich seine Strickmütze über die Ohren gezogen. Es war ein blau-weißes Ding, das er wie ein Ehrenabzeichen trug, denn er wurde im Winter nie ohne es gesehen.

Der leicht schwerhörige Joe sperrte mit der dicken Mütze seine Umgebungsgeräusche komplett aus, sodass er das Auto, das zwischen den anderen geparkten Wagen herausfuhr, erst bemerkte, als es direkt neben ihm war. Das Fenster auf der Fahrerseite stand offen und der Mann am Steuer rief: »Hey, Kumpel. Können Sie uns sagen, wo es zur Parmelee Avenue geht?« Er schwenkte eine Straßenkarte. Joe zog sich die Mütze vom Kopf und murmelte: »Was haben Sie gesagt?«

Dann sprang ihn ein weiterer Mann von hinten an, der Kofferraum des Wagens sprang auf und in weniger als dreißig Sekunden war das Auto einfach nur ein weiteres Paar Rücklichter auf dem Weg nach Manhattan, jedoch mit einem bereits bewusstlosen Joel Penderek im Kofferraum, denn ein ehemaliger Sanitäter hatte ihm eine Spritze durch drei Schichten Kleidung in den rechten Arm gejagt.

Niemand hätte ahnen können, dass die Entführung eines alten Mannes in New Jersey der Auftakt zu einem Drama von internationalen Ausmaßen sein würde. Oder dass es der erste Schritt eines genialen Plans war, der ganze Nationen erschüttern würde. Ein vermisster alter Mann, und das Schicksal der freien Welt stand auf dem Spiel.

Selbst nachdem man wusste, dass er verschwunden war, verband ihn keiner seiner Bekannten in Hawthorne mit der großen Nachrichtenmeldung, die am Freitagmorgen publik wurde.

Sie kam über die großen Nachrichtenagenturen und wurde von den meisten Tageszeitungen aufgegriffen, während die größten Fernsehsender sie als dritten Aufmacher brachten. Wenn die russische Regierung es unter Verschluss hätte halten wollen, wäre es ihr nicht gelungen, denn die Waage der Gerechtigkeit, wie sie sich nannte, sorgte dafür, dass alle Nachrichtenagenturen den Text genau zur gleichen Zeit wie der Kreml bekamen. Die Botschaft war kurz und knapp auf den Punkt gebracht.

Kommuniqué Nummer eins: Im Juni vor fünfzig Jahren wurde die jüdische Bevölkerung Kiews brutal in Babyn Jar ermordet. Der Drahtzieher ist schon vor langer Zeit gerichtet worden, aber sein Stellvertreter, Josif Woronzow, ein Mann russischer Herkunft, konnte nie gefasst werden. Doch jetzt haben wir den Verbrecher Woronzow, der sich als Bürger der Vereinigten Staaten ausgegeben hat. Wir verwahren ihn sicher irgendwo in Osteuropa und sind bereit, ihn den Behörden zu übergeben. Der neue Geist, der sich in unserem geliebten Land verbreitet, verspricht wahre und vollständige Gerechtigkeit. Wir fordern die Regierung auf, Woronzow einen vollständigen und unvoreingenommenen Prozess zu machen. Die Regierung muss beweisen, dass sie immer noch bereit ist, vergangenes Unrecht wiedergutzumachen. Wir werden den Verbrecher übergeben, sobald wir sicher sind, dass er ein Gerichtsverfahren erhält, das der freien Presse weltweit zugänglich ist. Die Regierung hat eine Woche Zeit, um unsere Forderungen zu erfüllen.

Unterzeichnet war es einfach mit Waage der Gerechtigkeit, auf Russisch Tschuschi Prawosudia.

Niemand schien von dieser Waage der Gerechtigkeit gehört zu haben, aber die Weltpresse war schnell zur Hand mit Informationen über Babyn Jar. Und sie sah diesen Vorfall als Gelegenheit, den wahren Geist von Perestroika und Glasnost zu beweisen. Gerichtsverfahren waren im alten russischen Imperium oftmals nicht mehr als Schauprozesse gewesen oder geheim gehalten worden. Doch mit Glasnost konnte die Regierung nun ihre Neutralität beweisen, indem sie den Mann, der für den Tod so vieler russischer Juden verantwortlich gewesen war, zur Rechenschaft zog.

Die Presse bemerkte ebenfalls, dass das Kommuniqué eine unspezifische Drohung zu enthalten schien, indem sie den Behörden eine Frist gesetzt hatte, um sich bereit zu erklären, einen Massenmörder anzuklagen.

Der Kreml verkündete, dass man die ganze Angelegenheit noch einmal überprüfen und eine Antwort veröffentlichen würde, und zwar noch vor der festgelegten Frist der Waage der Gerechtigkeit, wer auch immer diese Gruppe sein mochte.

Es war keine riesige Schlagzeile, aber es gab genug Interesse, um die Sache am Leben zu erhalten.

Niemand, nicht einmal die Medien, wussten von den Dilemmas hinter den politischen Kulissen. Sie hatten keine Ahnung von der kontrollierten Panik, die die Waage der Gerechtigkeit innerhalb des KGB verursacht hatte, oder vom plötzlichen und beunruhigenden Interesse des israelischen Mossad, genauso wenig wie von den vielen Nachrichten, die zwischen dem Dserschinski-Platz und dem britischen Geheimdienst in London hin- und hergeschickt wurden.

Wenn die Presse von der Verwirrung Wind bekommen hätte, hätte die Geschichte schnell die meisten anderen Themen von den Titelseiten verdrängt, und die gründlichen Journalisten hätten sich tief in die geheimen Zirkel vergraben, die in allen Ländern immer noch existierten.

In London wurden die vollständigen Fakten erst am zweiten Januar weitergegeben, sechs Tage nach dem ersten Kommuniqué der Waage der Gerechtigkeit. Aber sobald der Ball ins Rollen gekommen war, verselbstständigte sich Operation Fallen Timbers, wie sie bezeichnet wurde.

FALLEN TIMBERS

James Bond vermisste die alten Methoden, besonders wenn es um das Archiv ging. Er fand, dass es etwas Handfestes und Ehrliches hatte, mit seinem Laufzettel ins Archiv zu gehen, den Zettel gegen eine Akte in einem dicken Ordner einzutauschen, die Akte auszuleihen, sie zu lesen und sie dann einer der netten jungen Damen zurückzugeben, die für den geregelten Ablauf der Abteilung sorgten.

All das war verschwunden, als der Service sein Ablagesystem digitalisiert hatte. Die netten jungen Damen waren Geschichte, und auch wenn Bond mit Computersystemen vertraut war, fiel es ihm schwer, Informationen, die auf ein paar Tastaturbefehle hin aus dem Nichts aufzutauchen schienen, das gleiche Vertrauen zu schenken. Er betrachtete es irgendwie als billigen Zaubertrick. Er mochte Illusionisten, schließlich gehörten Taschenspielertricks zu seinem Job, aber ihm missfiel die billige Straßenvariante. Diese Tricks konnte man üblicherweise für ein paar Pfund kaufen, und das war wohl kaum die richtige Art, den britischen Geheimdienst zu leiten.

Das waren seine Gedanken, während er an einem der abscheulich grellen und hygienischen Arbeitsplätze des Archivs saß.

Bond war erst seit Anfang Dezember wieder im aktiven Dienst, nachdem er von den Verletzungen genesen musste, die er sich während seines letzten Einsatzes in den Vereinigten Staaten zugezogen hatte. Seitdem hatte sich alles stark verändert. Nun, zu Beginn des neuen Jahres, verspürte er keinerlei Verlangen, zu seinen europäischen Lieblingsorten zurückzukehren, bis das Spiel der Nationen zu einer Art Status quo zurückgekehrt war. Er glaubte an die Veränderungen, die vor sich gingen, aber nicht, dass die Welt den Tod des Kommunismus gesehen hatte. Er schien momentan sogar damit zufrieden, an seinem Schreibtisch zu sitzen und Papierkram zu erledigen, auch wenn das wahrscheinlich nicht lange anhalten würde.

Er erreichte die Arbeitsstationen über Ms Vorzimmer. Moneypenny, die persönliche Sekretärin, deren Sicherheitsfreigabe ans Stratosphärische zu grenzen schien, hatte ihn angerufen und mitgeteilt, dass ihr beider Herr und Meister etwas hatte, das 007 lesen sollte. Es kam nicht einmal zu seinem obligatorischen Gespräch mit M. Moneypenny reichte ihm mit ihrem wie üblich schmachtenden Blick einen kleinen blauen Zettel – Blau war die Archivfarbe für die strenge Geheimhaltungsstufe und höher –, auf dem zwei Worte standen: Fallen Timbers.

»Wir sind diesen Monat bei Schlachten.« Moneypenny schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Lucknow, Marne, Somme, Arnem, Blenheim. Fallen Timbers. Sie haben wahrscheinlich noch nie davon gehört, aber es war eine Schlacht. Jede Menge Angriffswut.«

Bond hob eine Augenbraue und schmunzelte. »Aber doch nicht für mich, hoffe ich, Penny?«

Sie stieß ein gespieltes Seufzen aus, nahm den blauen Zettel zurück und steckte ihn mit schrecklicher Endgültigkeit in einen kleinen Schreibtischschredder. »Gegen Sie zu kämpfen könnte sich lohnen, denke ich.« Sie seufzte erneut, gefolgt von einem kleinen Schmollmund. Bond beugte sich über den Schreibtisch und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Sie sind wie eine Schwester für mich, Penny«, sagte er lächelnd. Er wusste, dass ihn ihre Bemerkung darüber, dass die Codenamen gerade Schlachten waren, wissen lassen sollte, dass die Akte geheim war. Neu. Kein alter Fall, der zum Spielen herausgezogen worden war, während Moskau und der alte Ostblock ihre diversen Todeszuckungen durchlebten.

»Ich fühle mich aber gar nicht schwesterlich.« Moneypenny hatte noch nie ein Geheimnis aus ihrer tiefen Leidenschaft für Bond gemacht.

»Ach, kommen Sie schon, Penny. Wir wollen die Sache mit Inzest nicht noch schlimmer machen.« Mit einem Augenzwinkern verließ er das Büro.

An der Anmeldung des Archivs gab Bond seine Passnummer ein, gefolgt von den Worten Fallen Timbers. Der unpersönliche Monitor sagte ihm, dass er warten sollte, dann informierte er ihn darüber, dass die Akte für ihn freigegeben war. Sekunden später begann der Drucker damit, Blätter auszuspucken. Insgesamt waren es siebzig, und auf der Titelseite prangten die üblichen Chiffren und der Betreff »Die Waage der Gerechtigkeit«, mit Querverweis zu Josif Woronzow.

Die ersten zehn Seiten waren Hintergrundinformationen: Details über Woronzows Vergangenheit und die kürzliche Entführung eines Mannes namens Joel Penderek aus irgendeinem obskuren Kaff in New Jersey an, so nahm man an, einen namenlosen Ort in Osteuropa. (Es waren auch Fotos dabei, was entweder bedeutete, dass jemand seine Hausaufgaben gemacht hatte oder dass die Bilder bereits seit einiger Zeit im Archiv gewesen waren.) Dann folgten einige knappe Informationen über die Organisation, die sich die Waage der Gerechtigkeit nannte. Diese letzten Details waren äußerst vage, wenn nicht sogar widersprüchlich. Aber das eigentlich Interessante kam erst zum Schluss. Er erhielt zwei unterschiedliche Berichte. Einen vom KGB, der ein wenig durcheinander und unentschlossen klang, der zweite vom israelischen Geheimdienst, dem Mossad, der sich knapp, auf den Punkt und sachlich las. Bond überlegte, welcher Bericht zutreffender war, denn zerfahrene Unentschlossenheit konnte in der Geheimdienstwelt ein Deckmantel für Klarheit sein.

Es dauerte eine Stunde, um die Akte zu lesen und zu verdauen. Danach wurde das dünne bedruckte Papier an der Tür geschreddert und die Schnipsel wanderten in einen Behälter, der innerhalb der nächsten halben Stunde geleert und der Inhalt verbrannt werden würde. Bond kehrte gedankenverloren zu seinem Schreibtisch zurück und bat Moneypenny, ihrem Chef mitzuteilen, dass er den Anweisungen gefolgt war.

Es gab keine Wartezeit, nach nicht mal zehn Minuten saß Bond auf einem der neuen modernen Chromstühle, die M nach einer Renovierung in seinem Büro stehen hatte. Ihm waren die Veränderungen in Ms Allerheiligstem sofort aufgefallen, als er sich wieder zum Dienst zurückgemeldet hatte. Er hatte sich gefragt, ob die neue Einrichtung die beträchtlichen Veränderungen in der Welt, jenseits ihrer surrealen Existenz im anonymen und hässlichen Hochhaus am Regent’s Park, dem Hauptquartier des Service, widerspiegelte.

Das Zimmer hatte seine alte nautische Erscheinung verloren. Selbst die Gemälde großer Seeschlachten waren von den Wänden verschwunden, ersetzt durch langweilige Aquarelle. Ms neuer Schreibtisch aus Stahl und Glas war sehr ordentlich, mit großen transparenten Eingangs- und Ausgangsablagen, drei verschiedenfarbigen Telefonen, von denen eines aussah, als sei es ein Requisit eines Science-Fiction-Films, und ein gläserner Aschenbecher von der Größe einer Vogeltränke, in dem der Admiral seine stinkende Pfeife abgelegt hatte.

»Diese Stühle sind verdammt unbequem«, knurrte M, ohne von den Papieren aufzusehen, die er gerade durcharbeitete. »Das Arbeitsministerium behauptet, dass sie bewegungsintensiver seien, wenn das überhaupt ein richtiger Ausdruck ist und nicht nur ein weiterer Anschlag auf die englische Sprache. Es bedeutet, dass sie so entsetzlich unbequem sind, dass man zwischendurch immer wieder aufstehen muss. Eine Minute noch, 007. Die Bilder sind interessant.«

Bond verstand das als Aufforderung, also erhob er sich wieder und ging zu einem der Aquarelle. Es war eine flache Landschaft, die in Deutschland oder irgendwo in den Fens sein konnte. Als er die Signatur des Künstlers entdeckte – R. Abel –, schnappte er überrascht nach Luft.

»Nett, oder?«, brummte M, den Kopf immer noch über den Text gebeugt, während sein goldener Füllfederhalter die Zeilen entlangwanderte.

»Der Colonel Abel?«, fragte Bond. Rudolf Abel war einer der erfolgreichsten russischen Spione der fünfziger Jahre gewesen, der Mann, den die Amerikaner schließlich für Gary Powers eingetauscht hatten, den berühmten Piloten, dessen U-2-Spionageflugzeug über der Sowjetunion abgeschossen worden war und der westlichen Allianz dadurch allerhand Ärger eingebracht hatte.

M legte schließlich seinen Füller hin. »Oh ja. Genau der. Hab sie von Walter in Washington gekauft. Hat hart verhandelt, aber sie sind hier, um mich daran zu erinnern, wie die Dinge damals waren und wie sie heute sind, wenn Sie verstehen. Setzen Sie sich, 007.« Walter war ein legendärer ehemaliger Archivar und es wurde gemunkelt, dass seine Wohnung mit raren Erinnerungsstücken an den Kalten Krieg vollgestopft war.

»Was halten Sie von Fallen Timbers?« M starrte ihn an.

»Es handelt sich um eine Schlacht, soviel ich weiß.« Bond kehrte zur Unbequemlichkeit des bewegungsintensiven Stuhls zurück.

M brummte erneut. »Yankees. Nach der Revolution. Eine Schlacht gegen die Maumee-Indianer in Ohio. So was lernt man heutzutage nicht mehr in englischen Schulen.«

»Ich glaube, das war noch nie so.« Bond setzte sich aufrecht hin und ihm wurde klar, dass der Stuhl erträglicher war, je gerader man saß, worin wahrscheinlich sein Hauptzweck bestand.

»Fallen Timbers jedenfalls. Was denken Sie?«

»Die Moskauer Zentrale scheint wegen einer relativ einfachen Angelegenheit ziemlich nervös zu werden. Ein alter Kriegsverbrecher. Alte Geschichte. Ist dieser Penderek wirklich dieser Kerl?«

»Es scheint so. Die Israelis hingegen behaupten, dass er es nicht sein kann.«

»Sie liegen normalerweise richtig, wenn es um Kriegsverbrecher geht. Die Israelis haben ein gutes Gedächtnis, Sir.«

»Stimmt. Sie haben uns einen ihrer besten Leute geschickt, um uns auf den aktuellen Stand zu bringen. Er ist sehr gut und wir haben ihn in den inneren Kreis gelassen. Sehen Sie, wir haben eine Anfrage aus Moskau bekommen. Ziemlich außergewöhnlich, wenn man die Vergangenheit betrachtet. Sie sagen, sie brauchen zwei Männer, die russisch sprechen. Ich denke, Sie und der Israeli könnten passen. Ihr Russisch ist doch noch auf der Höhe, 007?«

»Soweit ich weiß, Sir.«

»Gut. Es besteht die Möglichkeit, dass Sie und der Israeli reingehen und sich das mal ansehen müssen. Könnte interessant sein, mal für Moskau zu arbeiten, nach all diesen Jahren, die wir in konkurrierenden Weingütern geschuftet haben.«

»Wohl eher Destillerien.« Bond lächelte, sah aber sofort, dass M nicht amüsiert war. »Können Sie mir mehr über die Theorie der Israelis sagen?« Ihm wurde bewusst, dass er nur Fragen stellte, um Zeit zu schinden. Die Vorstellung, zusammen mit einem Mossad-Agenten zum KGB geschickt zu werden, kam Bond ziemlich seltsam vor.

»Leider nein. Nur das, was in der Akte steht.« M reinigte seine Pfeife mithilfe eines Metallräumers, der mehr Aufsätze zu haben schien als ein Schweizer Taschenmesser. »Sie sind sich vollkommen sicher, wissen Sie? Wenn sie die Wahrheit sagen, beschatten die Israelis Woronzow seit fast drei Jahren. Er hat sich in Florida verkrochen. Aber wenn dem so ist, hat diese Waage der Gerechtigkeit den Falschen erwischt. Die Frage ist, ob sie absichtlich aufs falsche Pferd gesetzt haben.«

»Warum sollten sie, Sir?«

M runzelte die Stirn und zuckte untypisch für ihn mit den Schultern. »Woher zum Teufel soll ich das wissen? Ich habe keine Kristallkugel, werfe keine Runen, kann keine Eingeweide lesen oder wahrsagen. Ich weiß nicht mehr als Sie. Wahrscheinlich hat der Kerl vom Mossad mehr Ahnung, aber mein Instinkt sagt mir, dass die Leute, die es wirklich wissen, in Moskau schmoren. Sie werden es wahrscheinlich aus denen herausbekommen, wenn Sie es versuchen. Schließlich scheinen sie etwas über die Waage der Gerechtigkeit zu wissen, etwas, das sie uns voraushaben.«

»Und unser Mann vom Mossad?«

»Peter. Will Pete genannt werden. Pete Natkowitz. Finden Sie es übrigens nicht auch seltsam, dass der KGB die Amis nicht dazugeholt hat? Schließlich wurde dieser Verdächtige Penderek direkt aus ihrem Zuständigkeitsbereich entführt.«

»Vielleicht will Moskau lieber mit uns spielen …«

»Mit uns und den Israelis. Seltsame Bettgenossen, oder? Ich hätte gedacht, die Amerikaner würden in irgendeiner Weise dazugeholt werden.«

»Beim KGB kann man sich nie sicher sein, Sir. Das war schon immer so. Was ist mit dem Mossad-Mann, Natkowitz? Wann lerne ich ihn kennen?«

M stopfte gerade seine Pfeife und war vollkommen in seinem obskuren Ritual verloren. »Natkowitz? Wann immer es Ihnen passt. Er ist seit vierundzwanzig Stunden hier. Der Stabschef kümmert sich um ihn. Spielt seinen Babysitter, wie man früher sagte. Genau genommen ist er mit ihm an der Helford-Mündung und zeigt ihm, wie wir in flachen Gewässern operieren.« Der Service betrieb immer noch eine kleine Anlage an der Helford-Mündung, wo Auszubildende mit dem Gerätetauchen, geheimen Wasserlandungen und anderen Dingen in dieser Richtung vertraut gemacht wurden. Sie war seit den dunklen Tagen des Zweiten Weltkriegs dort und bis jetzt hatte niemand daran gedacht, die Einrichtung zu schließen.

»Macht er sich die Füße nass?«

»Wer, Tanner?«

»Nein, der Israeli. Tanner hat schon Schwimmhäute zwischen den Zehen. Wir haben den Kurs damals gemeinsam absolviert. Das ist länger her, als ich mich erinnern mag.«

M nickte. »Ja, ich glaube, der Stabschef sagte etwas davon, Mr Natkowitz ein bisschen Meerwasser schmecken zu lassen. Mal sehen, ob sie schon zurück sind.« Er begann an der Konsole des Sci-Fi-Telefons zu hantieren, als hätte er das umfangreiche Handbuch, das zweifellos mitgeliefert worden war, gelesen und verstanden. Gemächlich drückte M einen Knopf, dann sprach er wie in einen Anrufbeantworter. »Stabschef«, sagte er.

Aus dem eingebauten Lautsprecher drang das Klingeln einer internen Anlage, gefolgt von einem Klicken und Bill Tanners ruhiger Stimme. »Stabschef.«

In Ms Gesicht erschien ein seltenes Lächeln. »Tanner. M hier. Würden Sie unseren Freund hochbringen?«

»Aye, aye, Sir.« Tanner benutzte in Ms Gegenwart gern Marineausdrücke. Jemand hatte sogar schon gehört, wie er das Büro seines Vorgesetzten als »Tageskabine« bezeichnet hatte. Mal amüsierte den gewitzten alten Admiral Tanners Eigenart, manchmal nicht.

M starrte weiter das Telefon an. »Ich bin generell kein Freund von technischen Spielereien, aber die hier ist verdammt clever. Man muss nur den Namen der Person sagen, mit der man sprechen will, und die Maschine sucht eigenständig die Nummer heraus und verbindet einen. So clever wie ein abgerichteter Affe, was?«

Ein paar Minuten später stand Tanner in der Tür und schob einen kleinen, gedrungenen Mann mit aschblonden Haaren und hellen Augen in den Raum. Irgendwie musste Bond an die Ratte aus Der Wind in den Weiden denken.

»Pete Natkowitz. James Bond.« Tanner deutete bei der Vorstellung zwischen ihnen hin und her. Bond streckte seine eigene Hand aus und bekam einen unerwartet festen Händedruck, der ihn fast zusammenzucken ließ. Aus der Nähe hatte Natkowitz nichts mehr von einer Ratte an sich. Aber genauso wenig wirkte sein Auftreten israelisch. Seine Gesichtsfarbe erinnerte an einen rotwangigen Gutsherrn, genau wie seine Kleidung – eine einfache Arbeitshose, ein kariertes Hemd mit Krawatte, die irgendwie militärisch wirkte, und ein zweireihiges Jackett aus Harris-Tweed. Er wäre in einem englischen Dorfpub nicht weiter aufgefallen, und Bond dachte sich, dass es nichts gab, was so täuschen konnte wie eine Tarnung, die zur körperlichen Erscheinung passte.

»Der berühmte Captain Bond. Ich habe schon viel über Sie gelesen.« Seine Stimme war sanft und hatte den leichten Einschlag eines Akzents, den man für gewöhnlich mit einem britischen Börsenmakler assoziieren würde. Das Lächeln war strahlend, die Zähne eindeutig gebleicht. Schließlich fügte er hinzu: »Natürlich hauptsächlich in streng geheimen Dokumenten, aber es war alles positiv. Es ist mir ein Vergnügen, Sie zu treffen.«

Bond musste sich zurückhalten, denn sein Instinkt drängte ihn, Spielchen zu spielen oder sein Gegenüber aufzufordern, endlich einen Blick in die Akten des Mossads werfen zu können. Stattdessen lächelte er nur und fragte, ob Natkowitz Helford gefallen hätte.

»Oh, es gibt nichts Schöneres, als in kleinen Booten herumzuschaukeln.« Natkowitz warf Tanner einen Seitenblick zu und Bond kam sofort zur Sache. »Man will also, dass wir beide für die Russen arbeiten, Mr Natkowitz.«

»Pete«, sagte er und sein Lächeln ließ den Raum erstrahlen wie das Feuerwerk am Guy-Fawkes-Day oder dem Vierten Juli, je nachdem, auf welcher Seite des Atlantiks man stand. »Jeder nennt mich Pete, und ja. Ja, ich habe den Auftrag bekommen, ins alte Ödland zu gehen. Sollte interessant werden.«

Bill Tanner hustete und warf M einen Blick zu, der besagte: »Haben Sie ihnen schon die schlechten Neuigkeiten mitgeteilt?«

M räusperte sich, was oftmals ein Vorbote unangenehmer Nachrichten war. »Mr Natkowitz«, begann er. »Ich habe keinen Einfluss auf Ihre Entscheidungen, aber James zuliebe muss ich Sie beide auf die Gefahren und Ihre Rechte in der Angelegenheit hinweisen, die wir Fallen Timbers nennen.«

In der langen Pause, die folgte, fiel Bond auf, dass sein alter Chef ihn beim Vornamen genannt hatte. Das tat er im Allgemeinen nur dann, wenn ein väterlicher Rat folgte, meistens darüber, dass er auf der Hut sein sollte.

»James«, fuhr M fort, den Blick auf seinen Schreibtisch gerichtet. »Ich muss sagen, dass dieser Einsatz auf freiwilliger Basis erfolgen muss. Sie können sich vorher jederzeit anders entscheiden und niemand wird Ihnen das übel nehmen. Hören Sie mich einfach an und sagen Sie dann, wie Sie sich entschieden haben.« Er sah auf und richtete seinen Blick direkt auf Bond. »Wir sind der Meinung, dass das, was wir von Ihnen beiden verlangen, verdammt gefährlich sein könnte. Außerdem ist Moskau in einer unverschämten Eile. Ein Schnellschuss, wenn Sie mich fragen. Aber andererseits hat jeder guten Grund, nervös zu sein. Sie haben das Baltikum. Amerika und wir – wie auch Sie, Mr Natkowitz – haben die Iraker.«

Bond runzelte die Stirn und wollte etwas sagen, doch M hob eine Hand. »Hören Sie mich zuerst an.« Seine Lippen verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln. »Wir werden Ihnen sagen, was wir wissen, und Mr Natkowitz hier wird Ihnen sagen, was er weiß. Es ist nicht viel und sehr lückenhaft.« Eine weitere Pause, während der das einzige Geräusch von außerhalb des Gebäudes kam. Ein Flugzeug im Landeanflug auf Heathrow. Plötzlich hatte Bond Bilder einer Katastrophe vor Augen, Trümmer und Leichen flogen ihm lebhaft durch den Kopf. Diese albtraumhafte Vorstellung war so deutlich, dass er sich bewusst wieder auf das konzentrieren musste, was M gerade sagte.

»Das Verschwinden eines alten Mannes in New Jersey, gefolgt von diesem rätselhaften Kommuniqué dieser Leute, die sich selbst die Waage der Gerechtigkeit nennen, scheint in Moskau eine unnatürliche Besorgnis ausgelöst zu haben. Sie bitten um zwei Agenten, die die Waage der Gerechtigkeit aufspüren und diesen Penderek befreien sollen. Genauer gesagt haben sie um zwei Mitglieder unseres Geheimdienstes gebeten, die gut russisch sprechen. Die Tarnung wird in situ zur Verfügung gestellt. Sollten Sie annehmen, habe ich eingewilligt, denen nicht mitzuteilen, dass Mr Natkowitz zu einem Ehrenmitglied des SIS gemacht wurde. Ich muss zugeben, dass ich die ganze Sache sehr misstrauisch betrachte. Alte Gewohnheiten sitzen tief, und es geht mir einfach gegen den Strich, dass meine Leute mit ihren Leuten reden, wie man heutzutage in Geschäftskreisen zu sagen pflegt.

Schließlich, und da liegt der Hund begraben, sagt Moskau, um es richtig zu machen, müssen Sie unter ihrer Leitung operieren, da es ein Auftrag ist, den keiner ihrer Leute machen kann. Darüber hinaus will man Sie am liebsten schon seit gestern in Moskau haben, oder etwas realistischer, noch heute Abend. Es ist alles mehr oder weniger übers Knie gebrochen, aber es könnte tatsächlich von großer Wichtigkeit für die fortgesetzte Freiheit und Stabilität der Welt sein. Konnten Sie mir folgen?«

»Nicht wirklich, Sir.« Bond hatte bereits die Alarmglocken hinter den hyperrealistischen Katastrophenbildern gehört, die er nicht aus dem Kopf bekommen konnte.

ERSTE BESPRECHUNG IN LONDON

Die Holiday Avenue ist die vielleicht exklusivste Straße in der kleinen Stadt Holiday an der Route 19, ein paar Meilen nördlich von Tampa, Florida. Es ist eine Seitenstraße, flankiert von luxuriösen Boutiquen, dazwischen penibel gepflegte Rasenflächen, Palmen und Büsche.

Die meisten dieser Häuser sind sichtbar vor Einbrüchen geschützt. Die Fenster sind geschmackvoll verriegelt und verräterische rote Kästen oder Aufkleber lassen zufällige und nicht ganz so zufällige Passanten wissen, dass sie durch diese oder jene Sicherheitsfirma oder dieses oder jenes System geschützt werden.

In dieser angenehmen, wohlhabenden Sackgasse gehören die Häuser pensionierten Ärzten, Anwälten oder ehemaligen Bankern von der Ostküste. Diese guten Menschen genießen den Herbst ihres Lebens im milden Klima, abgeschirmt von der Sonne durch eine wohldurchdachte Neuanordnung der Großzügigkeit der Natur, von der Armut durch ihre eigene Voraussicht und von möglichen Einbrechern durch elektronische Geräte, die innerhalb von Sekunden das nächste Polizeirevier alarmieren.

Die Bewohner der Holiday Avenue leben stille, wenn auch reiche Leben. Sie nehmen an den gleichen Cocktailpartys teil, treffen sich im gleichen »Country«-Club – eine entschuldbare Fehlbezeichnung in diesem Teil von Florida – und entspannen in ihren abgeschiedenen Pools. Dort schwimmen sie täglich ihre Runden, auch wenn dieser Winter einer der kältesten seit Beginn der Aufzeichnungen war. Die Zitrusfrüchte an den Bäumen sind von einer Eisschicht umgeben, ein Vorbote der bevorstehenden Härten.

An diesem speziellen Nachmittag, während die meisten älteren Bewohner der Holiday Avenue gerade ein leichtes Mittagessen zu sich nahmen oder ein Schläfchen hielten, parkte ein FedEx-Transporter vor Hausnummer 4188, einem Haus im spanischen Stil, mit weißem Stuck und rotem Dach, fast ganz verborgen durch geschickt platzierte Palmen und Bäume.

Der FedEx-Bote stieg mit einem großen Paket aus seinem Transporter, warf einen Blick auf sein Klemmbrett und ging durch den Vorgarten zur massiven Eichenholztür. Er klingelte, und während er das tat, hielt ein zweiter kleinerer Transporter fast lautlos direkt hinter dem ersten. Während der FedEx-Fahrer wartete, betrachtete er die Rasensprenger, das brandneu wirkende Anwesen und die schmiedeeisernen Gitter, die die Fenster schützten. Er klingelte erneut und hörte ein ungehaltenes Brummen hinter der Tür.

Schließlich wurde sie von einem großen, grauhaarigen Mann geöffnet. Er war älter, hatte aber noch kein Fett angesetzt. Seine absolut aufrechte Haltung deutete darauf hin, dass der Mann beim Militär gewesen war und immer noch großen Wert auf Gesundheit und körperliche Fitness legte. Seine Augen waren hinter einer dunkel getönten Brille verborgen und er trug teure Designerjeans sowie ein Freizeithemd, das bestimmt um die zweihundert Dollar gekostet hatte. Er blieb im Schatten des Hauses und wirkte bereit, seinem Besucher jederzeit die Tür vor der Nase zuzuschlagen.

»Paket für Liebermann.« Der FedEx-Bote lächelte. »Ich bräuchte eine Unterschrift, Sir.« Er klemmte sich das Paket unter den linken Arm, während er sein Klemmbrett und einen Stift hochhielt.

Der ältere Mann nickte und warf einen Blick auf das Paket, als wäre er neugierig, von wem es stammte. Er streckte die Hand nach dem Stift aus, und in diesem Moment stiegen zwei Männer in schwarzer Montur aus dem Laderaum des Transporters aus und näherten sich lautlos dem Haus. Dabei achteten sie darauf, außerhalb der Sichtlinie zu bleiben.

Gerade als Mr Liebermann das Klemmbrett in einer Hand und den Stift in der anderen hielt, verschob der FedEx-Fahrer das Paket leicht unter seinem linken Arm. Es war ein rechteckiges Paket, etwa fünfundvierzig Zentimeter lang. Seine rechte Hand bewegte sich unter das Paket, das er wie eine Waffe hob.

Ein »Plopp« erklang. Nicht mehr. Kein Knall, nichts Auffälliges. Einfach nur ein Ploppen. Wenn es jemand gehört hatte, würde es keine Beunruhigung auslösen.

Das Ploppen war von einer kleinen Luftpistole im Paket verursacht worden, der Lauf durch eine perfekt sitzende Spannvorrichtung an Ort und Stelle gehalten, der Kolben und Abzug zugänglich durch ein sauber geschnittenes Loch in der Unterseite. Liebermann ließ den Stift und das Klemmbrett fallen und hielt sich seine Schulter, wo ihn ein Beruhigungspfeil wie eine Biene gestochen hatte.

Er sagte nichts und schrie auch nicht auf, als sich das starke Beruhigungsmittel in seinem Blutkreislauf verteilte, ihn erst lähmte und dann in eine tiefe Bewusstlosigkeit stürzte. Als er zu Boden ging, fingen ihn die beiden Männer aus dem FedEx-Wagen auf. Der Bote hob seinen Stift und sein Klemmbrett auf und schloss dann die Tür. Als er wieder an seinem Wagen war, hatten die beiden anderen Männer Mr Liebermann bereits hinten verstaut.

Der FedEx-Wagen fuhr langsam davon, doch das kleinere Fahrzeug verblieb. Seine Insassen suchten die Straße ab, ob dieser kleine Gewaltakt von einem neugierigen Nachbarn bemerkt worden war. Aber die rechtschaffenen Bewohner der Holiday Avenue rührten sich nicht. Der einzige Beobachter schien ein müder Hund zu sein, der unter einem Baum zwischen den Hausnummern 4188 und 4190 döste. Der Hund öffnete ein Auge, schloss es wieder, streckte sich und schlief weiter.

Und doch hatte jemand anderes das ganze Drama mitverfolgt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte ein älteres Ehepaar namens Lichtman die ganze Sache gesehen und ergriff verzweifelte Maßnahmen. Niemand kannte die Lichtmans besonders gut. Sie waren ein Paar, das unter sich blieb, und in den zwei Jahren, seit sie das Haus gekauft hatten, war in der Nachbarschaft viel über die gut aussehenden jungen Männer getratscht worden, die sie besuchten und über Nacht blieben, manchmal sogar bis zu einer Woche. Mrs Goldfarb, die über alles und jeden Bescheid wusste, war eine der wenigen Menschen, denen es gelang, die Lichtmans in ihr Heim zu locken, zum Mittagessen, und sie sagte den anderen, dass die Lichtmans sieben Söhne und fünfzehn Enkel hatten, die dauernd zu Besuch kamen.

Asher Lichtman war in genau diesem Augenblick am Telefon und sprach mit einem seiner »Söhne«. Er beschrieb ihm, was vorgefallen war, und gab ihm die Kennzeichen des FedEx-Wagens und des kleineren Fahrzeugs durch, das immer noch vor Nummer 4188 stand.

Sie hatten Nummer 4187 nun schon seit zwei Jahren als Wachposten benutzt. Tatsächlich hatten gerade alle angespannt auf den Befehl gewartet, Liebermann zu ergreifen. Doch jetzt war ihnen die Zielperson direkt unter der Nase weggeschnappt worden.

Nach fünf Minuten fuhr auch der andere Transporter davon. Der Beifahrer sprach dabei schnell in ein Mikrofon.

Markus Liebermann sollte an diesem Abend bei einer kleinen Dinnerparty in Nummer 4172 sein, die die Rubinsteins gaben, damit ein paar ihrer Freunde ihren Sohn Adam, einen Psychiater, kennenlernten, der gerade auf Kurzbesuch bei seinen Eltern war. Nun würde Adam Mr Liebermann nicht kennenlernen, und auch wenn er es niemals erfahren sollte, verpasste er nicht viel.

Natkowitz benötigte zwei Diaprojektoren und einen großen Computermonitor von der Art, die Softwarehersteller auf Messen benutzten. Sie alle waren in einen der sicheren Besprechungsräume umgezogen, die nicht durch Richtmikrofone abgehört werden konnten und wanzenfrei waren. Sie befanden sich zwölf Meter unter der Erde in einem großen Keller. Die Hälfte dieses Kellers bestand aus einer Tiefgarage, der Rest waren Besprechungsräume wie dieser.

Der Raum ähnelte dem Vorführraum einer Filmgesellschaft. Die Wände waren nackt und ohne ablenkende Bilder, die Sessel weich, bequem und festgeschraubt. In der Armlehne des Sessels, der für M reserviert war, befand sich eine kleine Konsole mit farbigen Telefonen. Abgesehen von Bond und Natkowitz, M und Bill Tanner befand sich eine weitere Person im Raum, und zwar der Mann, den alle nur als »Schreiber« bezeichneten. Sein richtiger Name war Brian Cogger, ein Künstler, was das Fälschen von Dokumenten anging, hauptsächlich Ausweise und kleine Dinge für die Hosentasche wie Quittungen, die für viele Agenten das innere Grundgerüst ihrer Tarnung bildeten. Es war ein Hinweis darauf, dass sich M bereits entschieden hatte, was den Einsatz in Moskau anging. Die Tätigkeit des Schreibers war eine aussterbende Kunst, und doch war er ein beschäftigter Mann und seine Anwesenheit deutete darauf hin, dass seine Talente benötigt werden würden.

Bond überlegte, ob sie aus alter Gewohnheit diese Vorsichtsmaßnahmen ergriffen oder ob es immer noch Anlass zu glauben gab, der alte Ostblock und der sowjetische Geheimdienst hätten sich nicht geändert und könnten ein Sicherheitsproblem darstellen. Schließlich entschied er für sich, dass die Welt der Geheimdienste weiter nach ihren eigenen Regeln spielen würde, egal was die Politiker sagten. So war es sicherer.

Die Tarnung des herzlichen, dilettantischen Gutsherrn, die Natkowitz in Ms Büro präsentiert hatte, schien von ihm abzufallen, sobald er sie über den Stand des Mossad bezüglich dieser Angelegenheit zu unterrichten begann. Es war, als würde man einer Schlange bei der Häutung zusehen, denn Bond hatte das Gefühl, dass der Mann ihnen nun seine wahre Natur zeigte. Hier war der echte Pete Natkowitz – ein absolut fähiger Geheimagent, alle nötigen Daten und Fakten zur Hand.

Zuerst beschäftigte er sich mit der Frage der Identität. Dabei nutzte er vergrößerte Fotos von Joel Penderek, die er existierenden Bildern des SS-Unterscharführers Josif Woronzow aus dem Jahr 1941, während seiner Zeit bei der Waffen-SS-Sonderbrigade, gegenüberstellte.

Natkowitz sprang zwischen diesen beiden Fotos und einer Kopie von Woronzows Einträgen aus den SS-Akten hin und her.

»Wie Sie sehen können, stimmt die Größe in etwa«, sagte er. Sein lang gezogener Akzent änderte sich zu einer prägnanteren Sprechweise.

»Im Jahr 1941 etwa 1,85 m laut der SS, und Joel Penderek hat ungefähr die gleiche Größe 1946, wenn man der US-Einwanderungsbehörde Glauben schenkt. Das Alter stimmt auch. Woronzow wurde am 19. Januar 1917 geboren, während die Einwanderungsbehörde den 19. November 1916 angibt, was ihn zu einem Skorpion macht, falls sich jemand von Ihnen für derartige Dinge interessiert. Und es macht ihn außerdem ein paar Monate älter als Woronzow, aber das ist noch im Rahmen.

Wenn die Waage der Gerechtigkeit, wie wir in Tel Aviv vermuten, jemanden finden wollte, der diesem Mann aufs Haar gleicht, haben sie ihre Hausaufgaben gemacht.« Er nahm seinen Zeigestock zur Hand und tippte erst auf das linke Foto, dann auf das rechte. »Wie Sie sehen, besteht selbst in relativ hohem Alter eine Ähnlichkeit. Achten Sie besonders auf die Nase, die Augen, das Kinn und die Stirn. Deutliche Ähnlichkeiten. Oberflächlich betrachtet könnte man Joel Penderek für Josif Woronzow halten.« Er lächelte wissend und deutete mit seiner rechten Hand – eine schnelle Bewegung mit gespreizten Fingern. »Jemand will, dass wir diese beiden für die gleiche Person halten. Aber bei genauerer Betrachtung sind sie das nicht.«

Er begann die offensichtlichen Kennzeichen aufzuzählen. Woronzow hatte eine winzige Narbe, die sich von unterhalb der Lippe über sein Kinn zog, die Folge eines Unfalls in der Kindheit, der mit scharfen kleinen Milchzähnen und einem Sturz im Haus seines Vaters in der Ukraine zu tun hatte. Es gab Vergrößerungen beider Fotos in den entsprechenden Abschnitt. Auf dem Bild des jungen Woronzow war sie zu sehen, während sie beim alten Penderek fehlte.

Wieder wandte er sich den Details der SS-Akte und dem gegenübergestellten Profil der Einwanderungsbehörde zu. Eine Narbe auf Woronzows rechtem Oberschenkel wurde in der Liste von Pendereks unveränderlichen Kennzeichen von 1946 nicht erwähnt. Außerdem war 1939 im Gorky-Universitätskrankenhaus in Charkiw noch eine Blinddarmoperation durchgeführt worden.

»Woronzows Vater war praktischer Arzt, der an der Universität Anästhesiologie lehrte und ein Günstling Stalins gewesen sein soll. Jedenfalls entkam er Stalins Großem Terror, und unser psychologisches Profil von Josif deutet darauf hin, dass er sowohl antisemitisch als auch ambivalent gegenüber der Art und Weise war, wie die Dinge in der USSR während der Naziinvasion– Barbarossa – geregelt wurden. Das ließ ihn zu einem idealen Kandidaten für die SS-Rekrutierung werden, oder zumindest denkt das unser Seelenklempner.

Der amerikanische INS, der Immigration and Naturalization Service, scheint die Narbe der Blinddarm-OP entweder übersehen zu haben oder sie war einfach nicht da. Dreimal dürfen sie raten.«

Natkowitz erwähnte weitere Widersprüche, dieses Mal detaillierter, mithilfe eines Computerprogramms, das die Fotos in dreidimensionale Köpfe verwandelte. Jemand hatte alle über die beiden Männer verfügbaren Maße eingegeben, und das Ergebnis zeigte die wahrscheinlichen Knochenstrukturen, die große Unterschiede aufwiesen.

»Die hübschen Bilder?«, fragte Bond.

»Was ist mit ihnen?« Niemand außer Pete Natkowitz wagte es zu antworten.

»Offensichtlich haben wir alle Woronzows Akte bekommen, aber was ist mit Penderek? Über ihn wurde ebenfalls eine Akte geführt? Weiß der Mossad etwas, das wir nicht wissen?«

»James, Sie alter Zweifler. Nein, niemand hatte eine Akte über Penderek, abgesehen vom INS, der Passkontrolle und dem FBI, das im Schlafzimmer des armen alten Kerls eine große Schachtel voller Schnappschüsse gefunden hat. Das FBI hat sie uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Wir haben sie alle bekommen, einschließlich jener wunderbaren Leute, denen wir die Gulag-Arbeitslager, die Irrenhäuser für politisch Andersdenkende, die schnelle Kugel in den Hinterkopf im Keller des KGB-Hauptquartiers und Ermutigungen zum Verrat innerhalb von Familien zu verdanken haben, während sie jeden potenziellen Verräter umschmeichelten.«

»Kommen Sie schon, Pete«, unterbrach Bond. »Wir alle haben doch schon jemanden umschmeichelt, besonders Ihr eigener Geheimdienst …«

»Nicht so wie der KGB«, blaffte Natkowitz. Also behielt Bond seine Gedanken für sich, während der Israeli fortfuhr: »Über den echten Woronzow haben wir tatsächlich eine dicke Akte.«

Natkowitz fuhr sich durchs Haar. »Und beschuldigen Sie uns nicht, Familienfehden anzuheizen, wenn ich sage, dass der Mossad bekanntermaßen eine große Anzahl von Teilzeitagenten auf der ganzen Welt beschäftigt. Einer davon hat uns auf Woronzows Spur gebracht. Ein Zufall, wie so oft. Eine alte Dame, deren Namen ich für mich behalte, hat vor etwa vier Jahren in einem Winn Dixie in Tampa eingekauft. Sie ging von den Konserven zur Tiefkühlabteilung und dort war er. Er stand mit dem Rücken zu ihr und suchte sich gerade eine Fertigmahlzeit aus.

Fragen Sie gar nicht erst, ob sie ihn allen Ernstes anhand seines Rückens identifiziert hat, James. Diese alte Dame hat eine spezielle Beziehung zu Josif Woronzow. Sie hat Sobibór überlebt und in diesem Vernichtungslager war Woronzow ihr persönlicher Folterer gewesen. Sie schwört, dass sie ihn überall wiedererkennen würde. Verstehen Sie, er hat sie vergewaltigt, und zwar nicht einmal, sondern an die achthundert Mal in acht Monaten. Offenbar waren es diese Vergewaltigungen, die unsere Informantin am Leben erhalten haben. Es gefiel ihm, wie sie sich wehrte, und all die Jahre später erkannte sie ihn wieder, an der Art, wie er stand, wie er seine Schultern und seinen Kopf hielt.

Schließlich drehte er sich um und sie sah sein Gesicht. Es war ohne jeden Zweifel ihr Peiniger, also folgte sie ihm, fand seine Adresse heraus und alarmierte uns. Wir haben ein paar Leute hingeschickt.« Er machte eine kleine amüsierte Geste, indem er seine rechte Schulter vorwärts schob und seinen Kopf auf eine Weise drehte, die bei einer anderen Person Schüchternheit suggeriert hätte. »Ich muss diskret sein. Diese Leute hätten eigentlich nicht da sein sollen, aber sie machten sich nach Tampa auf und beschatteten ihn. Son et lumière. Alles. Und jetzt schauen Sie.« Auf dem Bildschirm erschien ein neues Foto neben der offiziellen Schwarz-Weiß-Aufnahme der SS.

Die Israelis hatten das geheim aufgenommene Bild so zugeschnitten, dass es zu dem anderen passte. Und sie hatten es aufgrund des Winkels und der Art ausgewählt, wie der alte Mann direkt in die Kamera blickte. Es war ein perfekter Vorher-nachher-Vergleich. Das Alter hatte den Ukrainer nicht schwächer werden lassen, er war verhältnismäßig gut gealtert. Es war eindeutig, sogar noch bevor Natkowitz die computerbearbeiteten Modelle, die INS-Daten und einen äußerst privaten ärztlichen Bericht präsentierte. Die Narben waren alle da und niemand konnte bezweifeln, dass es sich um ein und denselben Mann handelte.

»Und Ihr Dienst tat nichts?« Es war M, der die Frage aussprach, die sich alle stellten, obwohl er die Antwort bereits kannte.

Natkowitz machte eine weitere Geste, dieses Mal, indem er eine Hand hob, als würde er ein unsichtbares Objekt in die Höhe werfen. »Es ist schwierig«, sagte er leise. »Sie wissen, wie schwierig es sein kann. Er nennt sich jetzt Liebermann. Als er in die USA einreiste, kam er als Österreicher jüdischer Herkunft. Wir hatten Einsicht in die Dokumente und sie waren nicht alle gefälscht. Markus Liebermann war tatsächlich Österreicher. Der Sohn eines Bankangestellten. Die gesamte Familie kam im polnischen Lager Chelmno um. Es war eine Angewohnheit der SS, alles wiederzuverwenden, selbst die Ausweise und Schuhe der Toten. Josif Woronzow wurde zu Markus Liebermann durch die Spinne, die Organisation, die so erfolgreich ihre Mörder aus Europa schmuggelte. Wissen Sie, wie viele Kriegsverbrecher Asyl bekamen dank der Papiere und Leben derjenigen, die sie umgebracht hatten? Ich sage es Ihnen, es sind viel mehr, als wir jemals fangen konnten. Wenn ich in New York oder Florida bin, frage ich mich oft, ob dieses nette ältere Ehepaar, das ich in einem Restaurant oder am Strand sehe, in Wirklichkeit Albträume in ihren Köpfen beherbergt und sich darüber ins Fäustchen lacht, wie leichtgläubig die Amerikaner gewesen sind.«

»Sie wussten also von diesem Mann, und doch tat niemand etwas?« Bond wiederholte Ms Frage.

»Wir machten Fotos. Wir bereiteten eine Anklage vor. Unsere amerikanischen Freunde setzten sich bei den Behörden ein. Wissen Sie, wir sind uns gerne sicher, dass wir gewinnen werden, wenn wir jemanden wie ihn identifizieren. So viele sind uns durchs Netz gegangen und es gibt junge Männer an der Macht, die es einfach nicht verstehen. Sie sagen: ›Natürlich war es eine schlimme Zeit, dieser Holocaust. Sechs Millionen Juden ermordet, aber das war damals. Heute müssen wir vergeben und vergessen. Wir sind jetzt alle Freunde. Sehen Sie sich nur die Japaner und Deutschen an. Welchen Sinn hat es, einen alten Mann oder eine alte Frau anzuklagen, die in ihrer Jugend lediglich Befehle ausgeführt haben?‹ Diese Leute verstehen es einfach nicht.«

»Die Schwierigkeit lag also darin, Anklage gegen Mr Liebermann zu erheben?«, fragte Bill Tanner.

»Sagen wir einfach, es wurde uns gegenüber angedeutet, dass eine Auslieferung von Liebermann höchst unwahrscheinlich sei, genauso wie seine Bloßstellung.«

»Sie haben die Sache also fallen lassen?«, fragte Bond.

»Nicht ganz. Es gibt gewisse Möglichkeiten, und uns stehen Mittel zur Verfügung, die denen nicht ganz unähnlich sind, die die Waage der Gerechtigkeit beim armen unschuldigen Penderek angewandt hat.«

Wie aufs Stichwort summte das kleine rote Telefon an Ms Ellbogen. Er meldete sich mit leiser, zurückhaltender Stimme, dann sah er zu Natkowitz. »Ein Mann namens Michael scheint zu wissen, dass Sie hier sind, Mr Natkowitz. Ergibt das Sinn?«

Der Israeli nickte. »Das wissen nur drei Personen. Michael ist eine davon. Er möchte mit mir sprechen?«

»Nein, ich soll Ihnen etwas mitteilen.« Langsam legte M den Hörer auf.

»Also?«

»Er sagt, Sie würden es verstehen, wenn ich sage, dass Rachel fort ist.«

Pete Natkowitz blieb einen Moment lang wie erstarrt stehen und schnappte nach Luft. Dann entspannte er sich. Ernst sagte er: »Markus Liebermann ist verschwunden, meine Herren. Etwas ist katastrophal schiefgegangen. Ich sollte mit Tel Aviv sprechen, aber diese beunruhigende Neuigkeit sollte unter uns