James Bond: KALT - John Gardner - E-Book

James Bond: KALT E-Book

John Gardner

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Beschreibung

Die Aufklärung einer Flugzeugkatastrophe wird für James Bond zur Besessenheit. Eines Nachts stürzt Flug 229 über dem Washington Airport ab. 435 Passagiere kommen ums Leben, doch nur ein einziges Todesopfer bedeutet Bond etwas: die Principessa Sukie Tempesta, eine einstige Geliebte, mit der er immer noch befreundet ist. Die Suche nach Sukies Mördern stellt sich als der komplizierteste und anspruchsvollste Auftrag in Bonds Karriere heraus. Über Kontinente hinweg folgt Bond einer schwachen Spur ins Herz einer fanatischen Gesellschaft, mörderischer als jede Terroristengruppe. Ihr Codename ist KALT, die Kinder der allerletzten Tage.

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INHALT

BUCH EINS – Kaltfront 1990

1. Das Unglück

2. Ein Köder

3. Anrufbeantworter

4. Ein kalter Schauer

5. Zusammenkunft

6. Ein schwacher Trost

7. Ein Judaskuss?

8. In der Villa Tempesta

9. Flucht nach vorn

10. Entführung

11. Friedhof

12. In luftiger Höhe

13. Wasserballett

14. Zwischenspiel

BUCH ZWEI – Die KALT-Verschwörung 1994

15. Eine Stimme aus der Vergangenheit

16. Kleiner Kreis

17. Zimmer 504

18. Aufbruch

19. Lazarus

20. Haarscharf

21. Antifreeze

22. Sterben wie ein Gentleman

23. Hochzeitsglocken

24. Der große Tag

25. Tontaubenschießen

26. Auf ins Gefecht

Über den Autor

Dieses Buch ist dem Team von Glidrose Publications (den Eigentümern des literarischen Copyrights an James Bond) gewidmet, die mir ihr Vertrauen und so viel Unterstützung und Beistand geschenkt haben, seit sie mich vor sechzehn Jahren als Nachfolger für Ian Fleming ausgewählt haben.

BUCH EINS

Kaltfront

1990

Das Unglück

Zulu-Zeit war der militärische Begriff für die Westeuropäische Zeit, auch Greenwich-Zeit genannt. Sie wurde von den NATO- und Koalitionsstreitkräften auf der ganzen Welt im Einsatz verwendet, unabhängig von Faktoren wie der Sommerzeit. Es war die Zeit, die auch vom Secret Intelligence Service, dem MI6, verwendet wurde, und an diesem Abend war es kurz nach 17:00 Uhr Zulu-Zeit am Dienstag, den 20. März 1990, als sich das Unglück ereignete.

In dem hohen, anonymen Gebäude mit Aussicht auf den Regent’s Park bereitete sich eine Schicht von Sekretärinnen und Büroangestellten auf das Ende des Arbeitstags vor. James Bond, reizbar wie immer, wenn er nicht im Einsatz war, setzte gerade seine Unterschrift unter die letzte Seite eines Memos, als das rote Telefon, sein direkter Draht zu Ms Büro, anfing zu klingeln.

»Bond«, meldete er sich.

Ms Assistentin, die treue Moneypenny, am anderen Ende klang erschüttert und in Tränen aufgelöst. »Der Bradbury-Airlines-Flug nach Dulles. Er ist bei der Landung explodiert, James. Ich … ich hatte einen Freund an Bord. Ich … Bitte kommen Sie hoch.«

M hatte ein Video laufen, als eine rotäugige Moneypenny ihn durch die Tür ließ. Das Video, das bald darauf in der ganzen Welt zu sehen sein würde, aufgenommen von einem lokalen Sender für einen zweiminütigen Werbespot, der an CNN verkauft werden sollte, zeigte die Ankunft des Jungfernflugs von Bradbury Airlines auf dem Washingtoner Flughafen Dulles International, etwa vierzig Minuten vom Zentrum von Washington D. C. entfernt. Schreckliche, grausame und erschütternde Bilder.

Die Boeing 747-400, Flug BD 299, glitt über die Bäume hinweg und setzte auf der Landebahn 19L auf. Die schwarz-weiß-goldene Lackierung von Bradbury Airlines glitzerte in der Sonne – eine Bilderbuchlandung an einem Bilderbuchtag.

Das Hauptfahrwerk setzte sanft auf der Landebahn auf, dann kam der schreckliche Anblick. Zuerst schien eine Feuer- und Rauchwolke aus dem Flugzeug zu schlagen, direkt hinter dem Cockpit. Das Feuer breitete sich nach hinten aus und eine zweite Explosion durchschlug die Kabine nahe den Tragflächen, dann folgte eine letzte Detonation kurz vor dem Heck. Ein Flügel riss komplett ab, der Rest der Boeing schoss wie ein obszönes Feuerwerk die Landebahn hinunter und verstreute dabei brennende Wrackteile und Menschen.

Bond stellte fest, dass er während dieser entsetzlichen Sekunden nicht geatmet hatte, und wusste, dass sein Gesicht bleich sein musste, als M sich vom Bildschirm abwandte. »Was glauben Sie, wie sie das gemacht haben, James?« In seiner Stimme schwang eine Mischung aus Wut und Schock mit, die Bond die Sprache verschlug. Als er seinen alten Chief ansah, glaubte er, Tränen in seinen Augen schimmern zu sehen.

»Wie …?«

»Sehen Sie es sich noch einmal an.« M spulte das Band zurück und spielte es in Zeitlupe ab. M kommentierte das Gezeigte, was Bond an die gebrochene Stimme des Nachrichtensprechers erinnerte, die er so oft in dem Filmmaterial gehört hatte, das die letzten Momente des Luftschiffs Hindenburg dokumentierte.

Bond überlegte, dass bei der Hindenburg-Katastrophe erstaunlicherweise nur sechsunddreißig von zweiundneunzig Passagieren ums Leben gekommen waren. Was er gerade gesehen hatte, musste fast vierhundert Menschen zerrissen oder verbrannt haben. Er war schockiert und angewidert von diesem offensichtlichen Akt der mutwilligen Zerstörung.

»Also, wie, James? Wenn das Ihr Job gewesen wäre, wie hätten Sie es angestellt?«

Bond schüttelte den Kopf. »In Heathrow? Das ist unmöglich. Die Sicherheitsvorkehrungen sind strenger als meine alten Lehrer in Eton.«

»Und wie hätten Sie sie umgangen? Denn irgendjemand hat genau das zustande gebracht.« Der alte Mann klang wütend und fassungslos.

»Ich hätte …«, setzte Bond an, dann surrte die Gegensprechanlage auf Ms Schreibtisch und Moneypennys Stimme erklang. »Ich habe die Liste, die Sie wollten, Sir.«

M sagte ihr, sie solle sie hereinbringen, und Bond bemerkte, dass ihre Augen rot waren und ihr Auftreten noch zurückhaltender als sonst.

»Armes Mädchen.« M überflog die Papiere, die sie ihm gebracht hatte, als sie wieder aus dem Zimmer war. »Ein alter Freund von ihr war einer der Flugbegleiter auf Flug BD 299.« Er hielt inne, als wollte er noch etwas sagen, schien es sich dann aber anders zu überlegen. »Sie wollten mir gerade erzählen, wie Sie den Sprengstoff angebracht hätten, James.«

Dass er Bond mit Vornamen ansprach und nicht mit 007, signalisierte, dass er in einer fast väterlichen Stimmung war. Es zeigte auch, wie viel Vertrauen er in ihn setzte.

»Ich müsste wissen, wie lange das Flugzeug zwischen den Flügen tatsächlich am Boden war. Woher es bei seinem letzten Flug gekommen war. Wer die Wartung durchgeführt hat. All die üblichen Dinge.«

»Sie wollen also das Pferd von hinten aufzäumen?« M war stolz auf seine Sprichwörter.

»Ganz genau, Sir. Nur so wird ein Schuh draus«, spielte Bond das Spiel mit.

Fast augenblicklich wandte sich M jedoch wieder dem ernsten Thema des Unglücks zu. »Und wenn Sie der verrückte Bombenleger wären, wie hätten Sie die Sache in Angriff genommen?«

»Ich vermute, die erste Bombe befand sich in den Toiletten direkt hinter dem Cockpit und dass die im hinteren Bereich, in der Nähe des Hecks, ähnlich platziert war, während die Explosion in der Mitte des Flugzeugs sich bei den Besatzungsplätzen und der Bordküche zwischen der Business- und der Economy-Klasse ereignet hat. Es sei denn, Bradbury hatte eine andere Anordnung in ihrer 747.«

»Unwahrscheinlich, auch wenn die Flugzeuge neu sind. Bradbury hat nur zwei gekauft, soweit ich weiß. Die gesamte Flotte besteht aus zwei 747, fünf 737, zwei Learjets, einem Paar Airbus 340 und vier Short 360 für Pendlerflüge in Großbritannien.«

»Nun, dort würde ich den Sprengstoff platzieren. Das wäre meine Vermutung.«

»Und wie wurde er gezündet?«

Bond runzelte die Stirn. »Es könnte ein Knopf vor Ort in Dulles gewesen sein …«

»Sie meinen, eine Fernzündung?«

Er nickte und M forderte ihn leise auf, es auszusprechen. »Ja oder nein, James.«

»Wird das hier aufgezeichnet, Sir?«

»Ja.« Ganz sachlich, als wäre es die normalste Sache der Welt. »Und weiter? Welche andere Methode?«

»Die Explosionen sind in dem Moment ausgelöst worden, als das Fahrwerk die Landebahn berührte. Ich würde sagen, eine Art Auslösemechanismus, wie ein sehr ausgeklügelter Quecksilberschalter, der so eingestellt war, dass die Bomben aktiviert wurden, sobald die Räder auf der Landebahn in Dulles aufsetzten.«

»Und was würden Sie verwenden? Welche Art von Sprengstoff?«

»Irgendeinen guten Plastiksprengstoff. Semtex, C4, was auch immer. Aber da ist noch etwas, was mich stört, Sir. Niemand hat erwähnt, dass Harley Bradbury an Bord war.«

»Das war er nicht.«

»Warum nicht? Der Mann ist ein großer Selbstdarsteller. Er war bei jedem Jungfernflug seit der allerersten Maschine dabei.«

Harley Bradbury war ein Paradebeispiel für den britischen Selfmade-Multimillionär. Im Alter von zweiundvierzig Jahren schien er aus dem Nichts gekommen zu sein. In Wirklichkeit war er zu seinem Vermögen gekommen, indem er Restposten von Büchern zu einem Bruchteil ihres Preises aufgekauft und sie an öffentliche und private Bibliotheken geliefert hatte. Dann war sein erster großer Erwerb gefolgt, ein kleiner Verlag, den er durch eine hohe Kreditaufnahme vor dem Untergang gerettet hatte. Das war 1982 gewesen. 1990 besaß er bereits drei Verlage, eine Kette von Geschäften, die Musik-CDs verkauften, eine Plattenfirma und eine Fluggesellschaft. Bradbury war eine der großen Erfolgsgeschichten der Achtzigerjahre. Er hatte die Strecke Heathrow-Dulles gegen viele Versuche, sie zu verhindern, durchgesetzt. Es sollte ein großer Tag für Bradbury werden.

»Warum nicht?«, wiederholte Bond. »Warum war er nicht an Bord?«

»Planänderung in letzter Minute. Es scheint, dass er nur wenige Stunden vor dem Abflug von BD 299 zu einem wichtigen Treffen in sein Hauptquartier gerufen wurde. Er ist mit einer der Short 360 seiner eigenen Linie geflogen.«

»Zum Hauptquartier von Bradbury Airlines?«

M nickte. »Birmingham. Dort unterhält er seine Flotte.«

»Wegen der niedrigeren Flughafengebühren?«

»So scheint es. Heathrow ist äußerst teuer.«

Nach einer kurzen Pause fragte Bond, ob er etwas für M tun sollte.

Es herrschte Schweigen, während beide Männer ins Leere starrten. Das schreckliche Bild des Flugzeugs, das aufsetzte und dann explodierte, lief wieder und wieder vor ihrem geistigen Auge ab.

»Ursprünglich dachte ich, Sie könnten Bradbury und diejenigen, die die Fluggesellschaft finanziert haben, von hier aus überprüfen.« M räusperte sich und schüttelte den Kopf, als wollte er die Bilder des Unglücks verscheuchen. »Ich habe meine Meinung geändert. Alle Aasfresser sind auf dem Weg nach D. C. – nach Dulles.« M warf wieder einen Blick auf die Papiere, die Moneypenny hereingebracht hatte. »Das Go-Team des NTSB ist bereits dort, ebenso die FAA und Vertreter von Boeing und ALPA. Das FBI hat natürlich auch ein Team vor Ort.« Das NTSB war die amerikanische Behörde für Transportsicherheit, das National Transport Safety Board. Die Organisation hatte immer ein sogenanntes Go-Team parat, das für jede größere Katastrophe bereitstand. Die FAA war die Luftaufsichtsbehörde Federal Aviation Administration und ALPA, die Pilotenvereinigung Airline Pilots’ Association, hatte immer einen Vertreter am Ort eines schweren Absturzes.

»Da der Flug von hier kam und es sich um eine britische Fluggesellschaft handelt«, fuhr M fort, »schnüffeln auch Leute hier herum.«

»Wer genau?«

»Nun, Bradbury selbst mit ein paar seiner leitenden Mitarbeiter. Ein Team aus Farnborough natürlich und ein paar Leute von unserer Schwesterbehörde, weil es sich anscheinend um einen Terroranschlag handelt.« Mit Farnborough meinte M das Aircraft Research Establishment, jenes außergewöhnliche Team von Luftfahrtwissenschaftlern, das noch für jeden Flugzeugabsturz die Ursache gefunden hatte. Das ARE war maßgeblich dafür verantwortlich gewesen, diejenigen ausfindig zu machen, die 1988 den Anschlag auf Pan Am 103 über Lockerbie in Schottland geplant und durchgeführt hatten. Ihr Schwesterdienst war natürlich der Security Service, der auch oft als MI5 bezeichnet wurde. »Es wird auch ein Mitglied der British Airline Pilots’ Association anwesend sein …«

»Und vermutlich jemand aus unserer eigenen Abteilung, um die Leute vom MI5 in Schach zu halten.«

»Natürlich.«

»Und ich bin die erste Wahl?«

»Das waren Sie.« M blickte unter seinen buschigen grauen Augenbrauen hervor. »Jetzt könnte es allerdings ein Problem geben.«

»Ein Problem?«

»Es gibt keinen einfachen Weg, das zu sagen, James. Moneypenny ist nicht die Einzige, die bei dieser Katastrophe einen Freund verloren hat. Auch eine alte, enge Freundin von Ihnen ist ums Leben gekommen.«

Bond verzog keine Miene. »Wer?«

M seufzte. »Sie hat immer noch an ihrem Titel und Namen festgehalten, obwohl ihr Mann schon lange tot ist. Tempesta. Sukie Tempesta.«

Der Schock traf Bond mit einer Mischung aus plötzlicher Trauer und Unglauben. Principessa Sukie Tempesta war tot. Er hatte viele Gefahren mit diesem goldenen Mädchen geteilt, viele Gefahren und auch eine Menge Liebe. In seinen Gedanken sah er sie ganz deutlich vor sich: die rote Haarmähne und ihre Angewohnheit, sich widerspenstige Strähnen aus dem Gesicht und ihren braunen, violett gesprenkelten Augen zu pusten. Wie jeder, der von einem plötzlichen Tod erfuhr, konnte er es nicht fassen und seine Gedanken überschlugen sich. Ihr Mädchenname war Susan Destry gewesen. Er erinnerte sich an anzügliches Bettgeflüster, ihr Lachen und die Worte »Destry reitet wieder«.

Sukie war im Kloster erzogen worden und hatte aus einer Laune heraus auf eine Anzeige geantwortet. So war sie das Kindermädchen für die Enkelkinder von Principe Pasquale Tempesta geworden, dem Oberhaupt einer altangesehenen italienischen Familie. Er war über achtzig gewesen, als sie ihn geheiratet hatte. »Eine Zweckehe«, hatte Sukie es genannt und der ganze Clan hatte die Hochzeit herbeigesehnt. Hauptsache, der alte Mann war glücklich. Bond hatte sie in einer Situation voller Gefahr und Gewalt kennengelernt, die sich über mehrere turbulente Wochen hingezogen hatte.

Er konnte sie jetzt ganz deutlich sehen, die schlanke Gestalt mit den umwerfenden Beinen und dem schrulligen Sinn für Humor. Tot? Sukie Tempesta tot? Das schien unmöglich.

Er bemerkte, dass M ihn mit den Augen eines Inquisitors ansah. »Ich hätte Sie gern dabeigehabt, James«, sagte er schließlich, »aber ich fürchte, dass Sie zu befangen sein könnten.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Sir. Wenn Sukie bei diesem Albtraum ums Leben gekommen ist, wird mich das umso entschlossener machen.«

»Ja, aber schaffen Sie es, distanziert zu bleiben? Gerade Sie kennen die Probleme, die persönliche Rachefeldzüge mit sich bringen.«

»Ich komme schon zurecht, Sir.« Noch während er sprach, fragte sich Bond, ob das der Wahrheit entsprach.

»Guter Mann. Lassen Sie mich ein paar Anrufe tätigen. Danach werde ich Sie gründlich informieren können.«

Er wartete darauf, bis sein alter Chief die Telefone bearbeitet hatte, und eine halbe Stunde später wurde er in die Situation eingewiesen, mit der er konfrontiert werden würde. Eine VC-10 des Lufttransportkommandos sollte an diesem Abend Lyneham mit einer Reihe anderer Personen verlassen und direkt zur Absturzstelle in Dulles fliegen. Gegen Ende der Besprechung sagte M, dass sie auch Bradbury und sein eigenes Team mitnehmen würden. »Sie sind mein einziges definitives Nein, was eine Kontaktaufnahme angeht«, sagte er zu Bond. »Ich möchte nicht, dass wir dem Security Service in die Quere kommen. Halten Sie also Abstand zu Bradbury und seinen Leuten. Haben Sie verstanden?«

Bond nickte, und als die Besprechung beendet war, ging er zurück in seine Wohnung in der King’s Road und wartete darauf, von dem MI5-Wagen abgeholt zu werden, der ihn nach Wiltshire und Lyneham bringen sollte.

Später am Abend ging er an Bord der alten VC-10 – immer noch das wichtigste Transportflugzeug der Royal Air Force –, ließ sich auf einem Sitz im hinteren Teil nieder und schlief prompt ein.

Er wurde von einem WRAF-Flugbegleiter geweckt, der ihm Frühstück anbot und sagte, dass sie in einer Stunde landen würden. Während der Mahlzeit sah er sich um und identifizierte seine Mitreisenden: zwei Männer, die wie Spezialisten aussahen – offensichtlich vom Aircraft Research Establishment –, ein Mann und eine Frau, die ein paar Reihen vor ihm saßen und beide wie Chamäleons mit dem Hintergrund verschmolzen – mit Sicherheit der Security Service –, ein großer, silberhaariger Mann mit klaren Augen, der zweifellos von der BALPA war, und ganz vorne die unverwechselbare Gestalt von Harley Bradbury, begleitet von vier Assistenten und Sekretärinnen sowie dem Vizepräsidenten von Bradbury Air. Die Gruppe steckte die Köpfe zusammen, als bespräche sie, wie sie mit der Katastrophe umgehen sollte. Bond wusste, dass dies für Bradbury ein finanzielles Desaster bedeuten würde, und war sehr froh, dass M ihm den Befehl gegeben hatte, sich von der Gruppe fernzuhalten. Er mochte Finanzleute ungefähr so sehr wie Politiker, die auf seiner Liste vertrauenswürdiger Personen ziemlich weit unten standen.

Beim Landeanflug auf Dulles konnte er einen kurzen Blick auf das Wrack erhaschen. Die Ermittler bewegten sich um das Wrack herum und die Einsatzfahrzeuge waren an strategischen Punkten aufgestellt.

Das Flugzeug kam auf der anderen Seite des Außenterminals zum Stehen, von wo aus die klobigen »Shuttlebahnen« zu den Hauptterminalgebäuden fuhren. Ein paar mobile Treppen wurden in Position gefahren und Sekunden später kamen zwei Männer in die Hauptkabine.

Der eine war von der britischen Botschaft, der andere machte keine Angaben zu seiner Position, hatte aber die Ausstrahlung einer Autoritätsperson. Bond hielt ihn für den wahrscheinlichen Leiter des Untersuchungsteams. Beide waren sachlich und kurz angebunden. Auf alle Zoll- und Einwanderungskontrollen würde verzichtet werden und aus Rücksicht auf einige Personen an Bord würden sie an einer Stelle halten, wo weder Presse noch Öffentlichkeit Gesichter erkennen oder Fotos machen könnten. Diejenigen, die nicht unmittelbar an der Absturzstelle zu tun hatten, würden mit Bussen in ein Hotel in der Nähe des Flughafens gebracht. Das Team von ARE und die Gruppe von Mr Bradbury würden direkt an den Unglücksort gebracht werden. Um halb vier am Nachmittag würden im Hotel eine allgemeine Besprechung und ein Informationsaustausch stattfinden.

Bond, der Vertreter der BALPA und die beiden Agenten des Security Service wurden über die hintere Treppe in einen Mannschaftsbus verfrachtet, der schnell in Richtung Flughafenausgang fuhr. Bond schenkte den Leuten vom MI5 ein, wie er meinte, entwaffnendes Lächeln, stellte sich vor und schüttelte ihnen die Hand. »Boldman«, stellte er sich vor. »James Boldman.«

»Ja, das wissen wir.« Der Mann erwiderte den Händedruck halbherzig, während die Frau nur lächelte und sagte: »Mr und Mrs Smith. John und Pam Smith.« Sie hatte strähniges dunkelblondes Haar und trug eine Omabrille. Ihr knöchellanges, unförmiges Kleid war unter einem schwarzen Mantel verborgen, der aussah, als käme er aus einem Oxfam-Laden, und ihre Schultern waren mit Schuppen übersät.

Der Kapitän der BALPA nickte ihnen der Reihe nach zu und sagte, er sei »Mercer, Edward Mercer«.

»Eine große, glückliche Familie«, sinnierte John Smith, als der Fahrer laut hupte, weil ein Auto plötzlich vor sie zog.

Im Hotel hielt sich Bond zurück, um die anderen zuerst einchecken zu lassen. Die Rezeption war verlassen, als er eine seiner Boldman-Kreditkarten zückte und das Formular ausfüllte.

»Ein langes Fax ist für Sie gekommen, Sir.« Die attraktive junge Schwarze, die am Schalter saß, schob ihm einen Umschlag zu. »Ich werde einen Pagen rufen, der Sie zu Ihrem Zimmer bringt, und wenn ich etwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen.«

Auf dem Namensschild an ihrer Uniform stand Azeb. »Vielen Dank, Azeb. Ich denke, ich finde mein Zimmer auch allein, und ich reise mit leichtem Gepäck.« Er hob seinen Kleidersack und die Aktentasche, um sie ihr zu zeigen, während er sich wegdrehte.

Er hatte gerade die Aufzüge erreicht, als eine Stimme ihm sanft ins Ohr flüsterte. »James. James, da bist du ja. Ich warte schon seit Montagmorgen. Wo bist du gewesen?«

Er drehte sich um und starrte sie verwirrt an.

»James, was ist denn los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Ich habe sofort einen Flug gebucht, als ich deine Nachricht erhalten habe«, sagte Principessa Sukie Tempesta.

Ein Köder?

»Meine Nachricht …?« Bond suchte verzweifelt nach einer Erklärung. »Ich denke, wir sollten nach oben gehen und das unter vier Augen besprechen, Sukie.«

»Was für eine originelle Idee: Ich ändere alle meine Pläne – was mir zufällig das Leben rettet – und du willst nach oben gehen und das besprechen.«

Er machte einen Schritt auf sie zu. »Sukie, es ist erst vier Jahre her, dass wir mit SPECTRE aneinandergeraten sind. Das hier könnten dieselben Leute gewesen sein und du weißt, wie brenzlig das sein kann. Ich denke, wir sollten jetzt darüber reden. Du könntest in großer Gefahr sein. Ich habe dir keine Nachricht geschickt, und das macht mir Sorgen.«

»Du hast keine …?«, setzte sie an, aber Bond packte sie am Oberarm und schob sie in den Aufzug.

Sein Zimmer war ein zweckmäßiger Schuhkarton aus dem zwanzigsten Jahrhundert. »Wenigstens hast du ein Entertainmentsystem.« Sukie deutete auf den Fernseher und ihr Lächeln erwärmte sein Herz, wie jedes Mal, wenn sie zusammen waren.

»Dem Himmel sei Dank, dass du am Leben bist.« Er ließ den Kleidersack und das Handgepäck auf den Boden fallen. »Woher hast du eine Nachricht von mir, Sukie? Oder noch wichtiger, was stand in der Nachricht?«

»Ich habe sie im Dorchester bekommen. Ich habe sie noch.« Sie kramte in der großen weißen Lederumhängetasche, die zu ihrem schweren Wintermantel passte. Der Verschluss der Tasche war ein großes goldenes T, das mit einem S verschlungen war.

Er nahm ihr den Umschlag ab und bemerkte, dass die Adresse mit Schreibmaschine geschrieben war: An Principessa Tempesta, bei ihrer Ankunft im Dorchester Hotel. Darin befand sich ein Blatt schweres Papier mit einer einfachen, getippten Nachricht:

Sukie, meine Liebe,

du könntest in großer Gefahr sein. Versuche nicht, Kontakt aufzunehmen, sondern verlasse London und fliege so schnell wie möglich nach Washington D. C. Wenn du kannst, sofort. Buche dir ein Hotel und halte auf allen Flügen, die aus London kommen, nach mir Ausschau. Ich sollte es innerhalb von vierundzwanzig Stunden schaffen, aber reise sofort ab. Verlasse London so schnell wie möglich.

Wie immer,

Dann seine Unterschrift, die nicht ganz richtig war, aber gut genug, um Sukie zu täuschen.

»Das war ich nicht.« Er hielt sich knapp. »Du hast das für echt gehalten?«

»Natürlich.« Sie machte einen kleinen gespielten Knicks. »Ich würde deinen Rat niemals missachten, James, das weißt du doch.«

»Und du hast die Nachricht bekommen, als du im Dorchester eingecheckt hast.«

»Ja, das habe ich doch schon gesagt.«

»Wann war das?«

»Sonntagabend. Ich bin nicht mal auf mein Zimmer gegangen. Ich bin einfach zurück nach Heathrow gefahren und habe den ersten Flug nach Dulles genommen. Du rufst und ich eile.«

»Aber sicher doch. Warum hast du dieses Hotel genommen?«

»Habe ich nicht. Ich habe im Hilton eingecheckt, aber ich bin die meiste Zeit in der Ankunftshalle geblieben. Es war Glück, dass ich dich am Ende gefunden habe. Ich habe zufällig ein Gespräch mitbekommen, dass ein Flugzeug der Royal Air Force angekommen ist. Ein paar Fahrer haben sich darüber unterhalten, sie wirkten sehr unsicher. Einer von ihnen hat erwähnt, dass einige Passagiere des RAF-Flugs in diesem Hotel absteigen würden. Also bin ich hierhergedüst, um zu warten und zu sehen, ob du zu der Gruppe gehörst, und genau so war es.«

Er merkte, dass etwas nicht stimmte. Der Ausdruck in ihren Augen, eine bestimmte Bewegung, eine Geste. Seine Intuition hatte es erfasst, aber die Bedeutung konnte er noch nicht richtig greifen.

»Du hast ein Auto?«, fragte er.

»Ich habe einen Lexus gemietet, sobald ich hier angekommen war.«

»Unter deinem echten Namen?«

»Mein Name ist alles, was ich habe.«

»Ist dir klar, dass wir ein verdammt ernstes Problem haben?«

»Das kommt mir in der Tat alles ziemlich ungewöhnlich vor.«

»Das ist so, als würdest du sagen, Perrier schmeckt wie Krug-Champagner.«

»Tut es das nicht?«

»Sukie, hast du irgendeine Verbindung zu Harley Bradbury?«

»Die Familie, ja.«

Da war es wieder und dieses Mal erkannte er es deutlich: eine Verschlagenheit in den Augen, an die er sich aus der Zeit, die sie in der Vergangenheit miteinander verbracht hatten, nicht erinnern konnte.

»Meinst du deine Familie oder die Tempestas?«

»Meine Stiefsöhne, ihre Frauen und die Hunderte von Schwestern, Cousinen und Tanten. Die Tempestas, natürlich. Sie haben mit Harley zu tun, ja.«

»Du hast also eine persönliche Einladung bekommen, beim Jungfernflug nach D. C. dabei zu sein.«

»Genau so ist es gelaufen. Ich habe es dir schon mal gesagt, James. Die Tempestas, meine Stiefsöhne und ihre Frauen, kommen selten weiter als bis zur Via Appia. Abgesehen von Venedig für den Karneval natürlich, dem Haus in der Nähe von Pisa und ihren kleinen Ausflügen in die USA. Wir hatten alle Einladungen, aber ich kümmere mich um die öffentlichen Auftritte der alten Familienfirma. Dafür bin ich bekannt.« Sie lachte ein wenig. Es war nicht die Art von Lachen, an die er sich vom letzten Mal erinnerte, als sie zusammen gewesen waren, aber das konnte auch einfach eine falsche Erinnerung sein. Dennoch hatte er ein ungutes Gefühl dabei. Sie wirkte nervös und unsicher.

»Und du bist am Sonntag direkt aus Rom nach London gekommen?«

»Aus Paris. Ich habe letzten Freitag und Samstag in Paris verbracht. Am Sonntag bin ich nach London geflogen und sofort hierhergeeilt, als ich deinen Brief bekommen habe.« Wieder dieses Lachen und eine untypische Handbewegung: Ihr Zeigefinger wickelte einige Haarsträhnen auf. Eine kindliche Geste. Er hatte schon gesehen, wie kleine Kinder das taten, normalerweise verbunden mit einem Lutschen am Daumen. Es war, als wäre Sukie Tempesta in den letzten vier Jahren großem Stress ausgesetzt gewesen.

»Also, am Sonntagabend hast du die Nachricht bekommen, dass du verschwinden musst, dass du nach D. C. fliegen und dort warten sollst?«

»Genau.«

»Und am Sonntagabend waren die Einzigen, die wussten, dass sich am Dienstag eine Tragödie ereignen würde – dass Harley Bradburys Flug 299 in die Luft gesprengt werden würde –, die Leute, die für diesen Terroranschlag verantwortlich waren. Übrigens warst du nicht die Einzige, die den Flug verpasst hat. Harley hat ihn auch abgesagt. Und dein Name stand immer noch auf der Passagierliste.«

»Ich habe nicht abgesagt, ich bin einfach nicht aufgetaucht.« Sie war aus ihrem Mantel geschlüpft, unter dem ein maßgeschneiderter weißer Anzug zum Vorschein kam.

Bond nickte. »Das wurde wahrscheinlich nicht weitergegeben. Aber die wichtigste Frage ist: Warum sollte jemand versuchen, dich in einen anderen Flug zu setzen, indem er sich als ich ausgibt? Denn genau das ist passiert, Sukie.«

»Das ist mir schon klar.« Sie erschauderte sichtlich. »Davon bekomme ich eine Gänsehaut.«

»Aber wie konnten diese Leute denken, dass sie damit durchkommen würden? Dachten sie, dass die Möglichkeit besteht, dass ich tatsächlich hier auftauche? Übrigens, wo warst du, als das Flugzeug in Stücke gesprengt wurde?«

Sukie hatte sich in der Nähe des Fensters gesetzt. Jetzt lehnte sie sich zurück und schlug ihre langen, schönen Beine übereinander, wobei sie immer noch mit ihrer Haarsträhne spielte und ihre Augen fast schon lauernd hin und her zuckten. Auch schien sie ein wenig blass geworden zu sein. »Ich war da. Drüben am Außenterminal. Ich habe es gesehen …« Ihre Augen schimmerten jetzt feucht und in ihrer Körpersprache war echte Verzweiflung zu erkennen – eine bestimmte Bewegung tief in ihren Augen. »Ich bin noch nicht darüber hinweg, James. Es war furchtbar. Absolut furchtbar. Gestern Abend, als der letzte Flug aus Großbritannien ankam und du nicht an Bord warst, bin ich zurück ins Hotel gegangen. Ich konnte nicht schlafen, bis ich eine Beschreibung und Zeichnungen angefertigt hatte. Vielleicht haben sie ja darauf gesetzt, dass du eben nicht kommen würdest, was die ganze Sache noch unheimlicher macht.«

Er ging zu ihr, beugte sich zu ihr hinunter und schloss sie in seine Arme, wobei sie sich an ihn schmiegte wie ein kleines Kind, das sich von seiner starken Präsenz trösten ließ.

Zuerst war sie starr und angespannt, er konnte fast die Angst spüren, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Dann löste sie sich schließlich von ihm und führte ihn zum Bett. »Es ist zu lange her, mein lieber James«, flüsterte sie.

Er war sich unsicher. Er wollte nicht, dass es so schnell ging, obwohl er in der Vergangenheit ihr Liebhaber gewesen war. Aber sie war hartnäckig, und dann war sie wild und leidenschaftlich, als hätte der Sex eine Droge in ihrem Körper freigesetzt, die sie verwandelte und einen anderen Menschen aus ihr machte. Wieder fragte er sich, was in den vergangenen Jahren passiert war. Später, nachdem sie miteinander geschlafen hatten, fragte sie ihn, was seiner Meinung nach los sei.

»Ich bin hier, um genau das herauszufinden. Es versteht sich von selbst, dass ich mir gewaltige Sorgen um dich mache. Jemand hat dich davon abgehalten, mit Bradbury Airlines zu fliegen, und dich hierhergeschickt, wobei ich als Köder benutzt wurde – wenn das nicht zu arrogant klingt.«

»Warum sollte das arrogant sein? Es ist allgemein bekannt, dass wir, seit wir uns zum ersten Mal getroffen haben, immer mal wieder angebändelt haben. Ich mache mir auch Sorgen. Um ehrlich zu sein, habe ich große Angst. Jemand wollte, dass ich nicht an Bord dieses Flugs bin.« Sie hielt plötzlich inne, als hätte sie fast etwas ausgeplaudert, das er nicht hören sollte.

»Und wer auch immer das war, muss gewusst haben, was passieren würde, konnte aber nicht wissen, dass ich innerhalb weniger Stunden nach dem Vorfall hier sein würde – wenn man den Tod von fast fünfhundert Menschen als Vorfall bezeichnen kann. Was ist mit deinen Stiefsöhnen? Du hast gesagt, sie kannten Harley Bradbury.«

»Ja.«

»Wie tief haben sie mit ihm beziehungsweise Bradbury Airlines unter einer Decke gesteckt?«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Ich glaube, eine der Ehefrauen hat mit ihm unter der Decke gesteckt.« Wieder dieser verschmitzte Blick.

»Wortwörtlich?«

»Gibt es noch eine andere Art?«

»Welche der Ehefrauen? Die von Luigi oder die von Angelo?«

»Die von Luigi. Die schöne Giulliana.«

»Gibt es dafür Beweise?«

»Das letzte Mal, als Harley sie in Rom besucht hat, sollte Giulliana für ein paar Nächte bei ihrer Mutter bleiben. Stattdessen habe ich sie mit ihm aus dem Cardinal kommen sehen. Du kennst das Cardinal, klein, aber fein. Auf der Via Giulia. Ich dachte, das sei eine recht eigenwillige Wahl. Sie schienen sich ziemlich nahezustehen, und das, zwei Tage bevor er in ihrem Palazzo erwartet wurde.« Das gleiche Lachen wie zuvor. Ein Lachen, das er von ihrem früheren Ich nicht kannte.

»Du hast niemandem davon erzählt?« Er machte sich Sorgen um sie. Er fragte sich, ob es ein schwerwiegendes Problem zwischen ihr und dem Rest der Familie Tempesta gab.

»James, wofür hältst du mich? Luigi ist drei und Angelo etwa ein Jahr älter als ich. Sie haben mich unheimlich unterstützt. Der Nachlass meines verstorbenen Mannes wurde aufgeteilt: zwei Drittel an mich und ein Drittel an seine Söhne, plus die Unternehmen. Sie haben das akzeptiert, aber ich werde mich nicht in Familienskandale einmischen. Bitte, kommst du mit mir zurück nach Italien? Um sie zu treffen?«

»Ja, ich komme mit dir nach Rom. Ich unterstütze dich. Wenn du mir Tipps und Hinweise gibst, wenn ich die Brüder Tempesta treffe.«

»Dazu müssten wir in die Toskana fahren. Sie sind im Moment alle dort. Es ist eine Art Familientradition. Von März bis nach Ostern.«

»Okay, dann komme ich mit dir nach Pisa.«

»Nur wenn ich so lange hierbleiben kann wie du.«

»Abgemacht. Hunger?«

»Auf etwas Teures vom Zimmerservice.«

Er rief den Zimmerservice an und bestellte zwei Hühnersalate, Kaffee und einen halbwegs vernünftigen Chardonnay – den besten auf einer fragwürdigen Weinkarte.

»Du bist fies geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe, James.« Sukie zog einen gespielten Schmollmund. »Ich wollte etwas Teures.«

Er reichte ihr die Speisekarte des Zimmerservices. »Sieh doch selbst. Du hast etwas Teures bekommen.«

Er erinnerte sich an das Fax, das man ihm bei der Ankunft gegeben hatte, holte den Umschlag aus seiner Tasche, schlitzte ihn mit dem Daumen auf und begann, die Seiten durchzusehen. Die ersten drei Seiten enthielten die Passagierliste und bei einigen Namen wurde er stutzig. »Mein Gott«, sagte er laut, »wer auch immer das getan hat, hat gerade das halbe Who’s who ausgeschaltet.« Es waren drei sehr bekannte Schauspieler an Bord gewesen, sieben Politiker, jeweils drei von beiden Parteien und ein Unabhängiger. Einer der Politiker war ein Kabinettsminister. Außerdem waren drei populäre Bestsellerautoren und zwei weitere hochangesehene Persönlichkeiten aus der Literaturszene dabei.

»Was?«, fragte sie, als er seufzend am Ende der Liste angelangt war.

»Dein Name und der von Harley Bradbury stehen beide noch auf der Liste«, sagte er. Dann las er die Namen der anderen prominenten Passagiere vor und sie stieß immer wieder leise Töne aus, wenn sie einen Namen wiedererkannte.

»James, das wusste ich nicht. Das sind ein halbes Dutzend Leute, die ich kannte. Freunde von mir. Oh … oh Gott, James … ich wusste es wirklich nicht …« Sie fing an zu schluchzen und machte sich auf den Weg ins Bad, als der Zimmerservice an die Tür klopfte.

Der Kellner sprach kaum Englisch, verstand aber das Trinkgeld, das Bond ihm in bar zusteckte.

Er klopfte an die Badezimmertür und rief Sukies Namen.

»Mir geht’s gut. Bin gleich wieder da.« Ihre Stimme war leise und zitterte noch immer.

Er richtete das Mittagessen auf dem Rollwagen an und widmete sich dann wieder den gefaxten Dokumenten. Es gab noch eine Seite, auf der die Bewegungen des Flugzeugs in den vierundzwanzig Stunden vor seinem letzten Flug aufgeführt waren. Er überflog sie und hielt dann inne, um sie genauer zu lesen, wobei sich seine Lippen zu einem langen, leisen Pfiff schürzten.

Blass und zittrig kam sie zurück ins Zimmer. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er sie für eine sehr zerbrechliche junge Frau gehalten. Ihr Anblick verstärkte seine Sorge um sie.

»Sukie, geht es dir wirklich gut?«

»Ich komme schon darüber hinweg.« Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln, das sich in ihren Augen nicht widerspiegelte. »Es ist nur … ein Schock. Ich kannte so viele von diesen Leuten.« Aber das war noch nicht alles. Er merkte es an ihren neuen nervösen Angewohnheiten, dem ängstlichen Lachen und ihrer fast schon unruhigen Art.

Er ermutigte sie, etwas zu essen, und fragte sie beim Kaffee, ob sie immer noch bei ihm übernachten wollte, hier in diesem Hotel. Das heiterte sie ein wenig auf. »Mir wäre es lieber, wir übernachten gemeinsam.«

»Das lässt sich einrichten«, sagte er mit einem Blick auf seine Uhr. »Ich habe um halb vier eine Besprechung. Warum gehst du nicht zurück ins Hilton und bringst deine Sachen hierher?«

»Kann ich nicht zur Besprechung mitkommen?«

»Dein Freund Harley wird dort sein und wir könnten Ärger mit den NTSB-Leuten bekommen, wenn ich mit dir da reinmarschiere.«

Sie fuhren mit dem Aufzug nach unten in die Hauptlobby, die bis auf die Rezeptionistin menschenleer war.

Er nahm Sukie am Ellbogen und führte sie zur Rezeption.

»Azeb«, sagte er auf seine charmante Art. »Das ist Principessa Tempesta aus Rom. Die Principessa wird ein paar Tage hier bei mir bleiben. Sie wird ihr Gepäck holen und bei mir einziehen, während ich in einer Besprechung bin. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie dafür sorgen würden, dass sie so viel Hilfe und Unterstützung wie möglich bekommt.«

Die Rezeptionistin mit dem Namen Azeb sah Sukie erstaunt an. »Sie sind eine echte Prinzessin?«

»Na ja, eine Art Prinzessinwitwe. Eine kleine italienische Adelsfamilie. Sehr unbedeutend.«

»Ja, Mr Boldman, ich werde dafür sorgen, dass es der Prinzessin gut geht.«

»Danke, Azeb.« Sie drehten sich um, um wegzugehen, aber sie war noch nicht fertig. »Was ist eine Prinzessinwitwe?«, fragte sie.

»So etwas wie die Königinmutter.« Sukie warf der Empfangsdame ein Lächeln zu. Für einen Moment war sie wieder die alte Sukie, an die er sich mit großer Zuneigung erinnerte. Es liegt an den Tempesta-Stiefsöhnen, dachte er. Da liegt das eigentliche Problem begraben.

Sie sagte, dass sie in etwa einer halben Stunde zurück sein würde, als sie in den Lexus stieg. Sie ließ das Fenster herunter und sah für einen Kuss auf, dann fuhr sie davon, eine Hand zum vorläufigen Abschied erhoben.

Vom Hotel aus blickte man durch einen kleinen Sichtschutz aus Bäumen auf die riesigen Parkplätze, die sich vor dem Hauptterminal des Dulles Airports ausbreiteten, einem Gebäude aus Glas und Beton, das wie eine moderne Version eines Zelts aus dem sechzehnten Jahrhundert aussah, das man für einen König am Rand eines Schlachtfelds errichtet hätte. Die Romantik des Reisens war schon lange erloschen, dachte Bond. Stattdessen gab es nur noch eine Einöde aus Parkplätzen, Fast-Food-Läden und wartenden, gestressten Passagieren.

Als er in die Lobby zurückkehrte, hielten drei Kleinbusse mit den Teams des NTSB, der FAA und der anderen Organisationen, die von der Absturzstelle kamen, vor dem Hotel. Als die Insassen vorbeifuhren, hatten alle denselben Ausdruck in den Augen: einen Blick voller Schock, Abscheu und nicht zuletzt Angst.

Diese Leute hatten das Wrack aus nächster Nähe gesehen und das zeigte sich in ihren Gesichtern und ihrer Körpersprache. Kurz stellte Bond sich die letzten Sekunden in diesem Flugzeug vor, wie es aufsetzte und die Erleichterung umging, dass die lange Reise vorbei war. Dann der Lärm und die Hitze der Feuerbälle, die in der Kabine explodierten, die Lungen versengten und die Körper verschlangen. Er betete, dass es für die Passagiere schnell vorbei gewesen war.

Anrufbeantworter

Der IIC – wie sie den Leiter des amerikanischen NTSB-Teams nannten – war ein breitschultriger Mann mit einer sanften, fast väterlichen Stimme. Er hatte kurz geschnittenes graues Haar und verkündete allen, die ihn noch nicht kennengelernt hatten, dass sein Name Jack Hughes sei. »Aber die meisten Leute bei NTSB nennen mich Pop.« Ein Lächeln breitete sich von seinem Mund über sein ledriges Gesicht aus und setzte sich schließlich in seinen dunkelblauen Augen fest, die aussahen, als hätte er in den rund fünfzig Jahren seines Lebens alles gesehen, was es an Katastrophen, Schmerz, Trauer und – paradoxerweise – Glück zu sehen gab.

Alle hatten die Gelegenheit bekommen, sich frisch zu machen und umzuziehen, bevor sie sich im Konferenzbereich des Hotels versammelt hatten, einer Reihe von wenig einladenden Räumen, die von der Hauptlobby über eine Rolltreppe zu erreichen waren.

Bond hatte sich bereits als Jim Boldman vom britischen Auslandsdienst bei »Pop« Hughes und dem ranghöchsten Mitglied des Farnborough-Trios, Bill Alexander, vorgestellt. Für Mr und Mrs Smith – die behaupteten, die Antiterrorabteilung des Innenministeriums zu vertreten, was die Leute genauso wenig täuschte wie seine eigene Tarnung als Mitglied des Auslandsdiensts – hatte ein Nicken gereicht.

Er hatte endlich den echten Namen von »Mr Smith« herausgefunden – Peter Janson, der früher in der Überwachungsabteilung des MI5 tätig gewesen war. Nach einigen schnellen und schlampigen Kursen galt er jetzt als Experte für terroristische Operationen in jener Organisation, die von den zu Scherzen aufgelegten Mitgliedern der Welt der Geheimdienste als Global Terror, Inc. bezeichnet wurde.

»Mrs Smith« blieb ein Rätsel. Sie war eine unscheinbare, blasse junge Frau mit einem Lachen, das eher schrill als glockenhell war.

Das NTSB-Team unter Pop Hughes bestand aus einer ernst dreinblickenden, dünnen Blondine, die auf den unpassenden Spitznamen Twinkle hörte, einem Wunderkind mit dicken Brillengläsern, das auf den Namen Moan hörte, und einem zweiten Mann, der wie Hughes aussah und ihm als Greg Welles vorgestellt wurde.

Die beiden Special Agents des FBI waren in der Spionage- und Terrorismusabwehr ausgebildet: Special Agent Eddie Rhabb, ein harter, selten lächelnder und wortkarger Typ, und Barney Newhouse, eine Art lässiger Typ von nebenan.

Als Bond sich im Raum umsah, dachte er, dass die Leute von Boeing und die beiden Kapitäne der Airline Pilots’ Association alle gute Geheimdienstler abgegeben hätten, denn sie schienen mit dem Hintergrund zu verschmelzen und wären von niemandem eines zweiten Blicks gewürdigt worden.

Hughes fragte Harley Bradbury und seine Mitarbeiter, ob sie zu Beginn der Besprechung etwas sagen wollten, aber Bradbury – normalerweise ein extrovertierter Mann voller Charme – fragte, ob er bis zum Ende der Besprechung warten könne.

Alle Anwesenden wirkten und klangen erschüttert von dem, was sie auf dem Flugplatz gesehen hatten, und Hughes begann mit einer sachlichen Zusammenfassung.

»Ich möchte Ihnen die Fakten darlegen und sagen, wo wir jetzt stehen. Wie die meisten von Ihnen wissen, haben wir den Flugdatenschreiber und den Stimmenrekorder des Cockpits geborgen. Die Daten werden im Hauptquartier gesichtet und die Ergebnisse werden an das Team in Farnborough weitergeleitet, das einen Teil der harten Arbeit in Großbritannien übernehmen wird. Im Wesentlichen haben wir auch die Position und die Bauart der vier Bomben – nicht drei, wie wir ursprünglich dachten – festgestellt, die diese Katastrophe verursacht haben. Eine war in der Steuerbordtoilette direkt hinter dem Cockpit versteckt, die zweite im Besatzungsbereich und der Bordküche zwischen der ersten und der Business-Klasse. Wir glauben, dass dieser zweite Sprengsatz mit einem dritten verbunden war, der sich unter einer Wartungsluke in der Hauptkabine befand. Der letzte befand sich – wie jeder, der das Band gesehen hat, recht schnell feststellen konnte – in einer der hinteren Toiletten. Ich möchte nun Special Agent Rhabb bitten, einige Bemerkungen zum Hergang zu machen.«

Rhabb stand auf und sah sich mit einer leicht aggressiven Haltung im Raum um. Er erinnerte Bond an einen Stier, der seinen Kopf senkte, bevor er angriff. »Bei der Untersuchung der Wrackteile in der vergangenen Nacht wurden die vier Detonationsorte identifiziert«, begann er. »Das war nicht schwierig, denn das Team von Mr Hughes konnte die Trümmer sehr schnell kartieren. Wir haben die ganze Nacht unter Lichtbögen gearbeitet und in der Nähe der kartierten Bereiche die Überreste von mindestens zwei Magnetspulen gefunden. Außerdem haben wir in der Nähe von zwei der Fundstellen Metallfragmente und verkohltes Wachspapier sichergestellt. Unsere Labore haben den Typ des verwendeten Sprengstoffs identifiziert. Es handelt sich nicht um das übliche Semtex, den bevorzugten Sprengstoff des internationalen Terrorismus. Der Sprengstoff, der in den vorderen und hinteren Bomben verwendet wurde, war Comp D – Composition D.«

Er hielt inne, um sich noch einmal im Raum umzusehen und die Neuigkeit sacken zu lassen. »Wie die meisten von Ihnen wissen, ist Comp D ein Produkt, das hier in den Vereinigten Staaten hergestellt wird und nicht leicht erhältlich ist. Das FBI führt derzeit mithilfe des ATF eine landesweite Suche durch, um festzustellen, ob irgendwo Mengen davon vermisst werden.

Die Magnetspulen deuten darauf hin, dass die Geräte vor Ort aktiviert wurden. Das heißt, es gab einen Fernzünder, der von irgendwo hier in Dulles aus betätigt wurde. Das bestätigen auch die Berichte, die mich kurz vor dieser Besprechung erreicht haben. Anscheinend hat der Stimmenrekorder im Cockpit vor der ersten Explosion ein elektronisches Heulen aufgezeichnet, das den Kapitän und den Zweiten Offizier des Flugzeugs gewarnt hat. Das Heulen ist deutlich zu hören und die letzten Worte des Kapitäns waren: ›Was zum Teufel ist das?‹ Unmittelbar nach diesen Worten folgte die erste Explosion und das elektronische Heulen deutet darauf hin, dass ein ferngesteuertes Gerät aktiviert wurde. Die Frage ist nun, wie und wann der Sprengstoff an Bord gebracht und verkabelt wurde.«

Rhabb blickte sich erneut um, als wollte er jemanden herausfordern, die Antwort zu geben.

Bond hob langsam die Hand und stand auf, während er sprach. »Sie haben diese Informationen mit ziemlicher Sicherheit schon oder werden sie sehr bald erhalten.« Er hielt die letzte Seite des Faxes hoch, das auf ihn gewartet hatte. »Aber London hat mir Informationen über die Bewegungen des Flugzeugs in den vierundzwanzig Stunden vor der Tragödie gefaxt. Am Montag hat dieses Flugzeug – Zulu zwei vier – einen Pauschalflug von der Bradbury-Basis in Birmingham zur kanarischen Insel Teneriffa gemacht. Es war etwa zwei Stunden am Boden und sammelte die Passagiere eines Flugs von vor zwei Wochen ein, bevor es nach Birmingham zurückkehrte, wo es um kurz vor siebzehn Uhr ankam. Offenbar wurde das Flugzeug in den Wartungshangar von Bradbury gebracht, wo es einem kompletten Landecheck unterzogen wurde. Dieser Check war kurz nach zweiundzwanzig Uhr abgeschlossen und das Flugzeug blieb bis acht Uhr morgens im Hangar, dann wurde es herausgeholt und nach Heathrow geflogen, wo es um elf Uhr wieder abflog. Nach meinem Kenntnisstand wurde Zulu zwei vier während eines Zeitraums von zehn Stunden nicht bewacht. Ich nehme an, dass Sie die notwendigen Informationen von Bradbury Airlines erhalten können. Außerdem hat der britische Security Service nach meinem Kenntnisstand bereits Ermittler in Birmingham, die den Hangar und die Personen überprüfen, die innerhalb dieser zehn Stunden Zugang hatten, in denen die Sprengsätze hätten angebracht werden können und wahrscheinlich auch wurden …«

Smith, beziehungsweise Janson, unterbrach ihn, offensichtlich verärgert darüber, dass Bond die Informationen vorweggenommen hatte. »Ich habe die gleichen Informationen, Mr Hughes«, erklärte er. »Ich kann auch bestätigen, dass der Security Service vor Ort ist – mit Unterstützung der Polizei – und die nicht von der Hand zu weisende Möglichkeit untersucht, dass die Sicherheitsmaßnahmen unterlaufen wurden. Sie sind davon überzeugt, dass die Sprengsätze während dieses Zeitfensters an Bord gebracht wurden.«

Falls noch irgendjemand Zweifel an der wahren Natur von »Smiths« Arbeitsbeschreibung gehabt haben sollte, wurden diese durch seine kleine Rede ausgeräumt.

»Wissen wir, ob in Heathrow weitere Sicherheitskontrollen durchgeführt wurden?«, fragte Hughes und in seiner Stimme schwang eine gewisse Schwermut mit.

»Das wird gerade untersucht«, begann Smith.

»Unwahrscheinlich«, sagte Bond gleichzeitig.

Eine unangenehme Stille breitete sich aus, dann fragte Pop Hughes erneut, ob Harley Bradbury einen Kommentar abgeben wolle.

»Wir haben hier ein Problem.« Bradburys gewohnter Charme war zu spüren, aber jeder, der genau hinsah, sah