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GRAUSAME WILLKÜR Alex Cross ist routiniert im Lösen von Kriminalfällen. Aber diesmal befindet er sich selbst im Fadenkreuz … Und er hat es scheinbar mit einem Untoten zu tun: Der Mörder Gary Soneji, den Alex vor mehr als zehn Jahren hat sterben sehen, hat Alex Cross‘ Partner niedergeschossen und ist nun hinter ihm her. Ist Soneji doch am Leben? Ist es sein Geist? Als Cross der ersten Spur folgt, die nicht ins Jenseits führt, wird bald klar: Nichts ist so verstörend wie die Wirklichkeit. "Ich wollte ja nur mal ganz kurz rein lesen. Nur ganz kurz. Aber das ist ja gar nicht möglich. Der Start ist so rasant, so spannend und so fesselnd, das ich meinen Reader gar nicht zur Seite legen mag." (CWPunkt auf lovelybooks.de) GEFAHR AM AIRPORT Alarmstufe Rot am Londoner Airport. Ein Geiseldrama bringt den gesamten Flugverkehr zum Erliegen. Die Ex-Militärs Captain Matt Bates und Chaz Shoeman sind mittendrin - und die Einzigen, die eine Katastrophe verhindern könnten. Denn die Terroristen drohen, eine chemische Bombe zu zünden, die alles Leben in London auslöschen würde … IM FADENKREUZ DES JÄGERS Die Familie nebenan hat ein düsteres Geheimnis … Die Idylle in der amerikanischen Kleinstadt wird jäh gestört. Mitten in der Nacht ziehen neben Ex-Cop Ronald Temple neue Nachbarn ein. Warum verlassen sie tagsüber nie das Haus? Wer ist der dunkel gekleidete Fremde, der bei ihnen ein und aus geht? Ronalds Ermittlerinstinkte sind geschärft. Wird im Haus nebenan ein Terroranschlag geplant? Niemand nimmt die Warnungen des Rentners ernst, bis es zur Katastrophe kommt …
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Seitenzahl: 388
James Patterson
James Patterson Bookshots - Teil 1-3
IMPRESSUM
BookShots erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg The BookShots Name and logo are a trademark of JBP Business, LLC. Copyright © 2017 by HarperCollins Germany GmbH Deutsche Erstveröffentlichung Titel der englischen Originalausgabe: Cross Kill Copyright © 2016 by James Patterson Erschienen bei: BookShots, London, part of the Penguin Random House Group. James Patterson has asserted his right to be identified as the author of this Work. Redaktion: Veronika Weiss Umschlaggestaltung: Birgit Tonn Umschlagmotiv: Carlos Caetano / Shutterstock E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 9783959677004 Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Ein später Wintersturm näherte sich Washington, D.C., an diesem Märzmorgen, und mehr Leute als üblich warteten in der Cafeteria der St. Anthony of Padua Catholic School in der Monroe Avenue im Nordosten der Stadt.
„Falls Sie einen kleinen Wachmacher brauchen, bevor Sie essen: Kaffee ist in den Kannen dort drüben“, rief ich der Warteschlange vor der Essensausgabe zu.
Hinter einem der Tresen sagte mein Partner John Sampson: „Wenn Sie Pfannkuchen oder Eier und Würstchen wollen, kommen Sie zuerst zu mir. Müsli, Haferflocken und Toast finden Sie am Ende des Tresens. Früchte auch.“
Es war früh, Viertel vor sieben, und wir hatten bereits fünfundzwanzig Leute in der Cafeteria mit einem Frühstück versorgt, die meisten davon waren Mütter und Kinder aus der umliegenden Nachbarschaft. Wenn ich richtig gezählt hatte, warteten vierzig weitere im Gang, während immer mehr von draußen hineinströmten, wo bereits die ersten Schneeflocken fielen.
Das alles hier war die Idee meiner über neunzigjährigen Großmutter. Sie hatte ein Jahr zuvor den Jackpot in der D.C.-Lotterie abgeräumt und wollte sichergehen, dass die Unglücklichen einen Teil ihres Glücks abbekamen. Sie hatte sich mit der Kirche zusammengetan und das Hot-Breakfast-Programm ins Leben gerufen.
„Gibt es auch Donuts?“, fragte ein kleiner Junge, der mich an meinen jüngeren Sohn, Ali, erinnerte.
Er hielt sich an seiner Mutter fest, einer verstörend dürren Frau mit wässrigen Augen, die sich ständig im Genick kratzte.
„Heute keine Donuts“, sagte ich.
„Was soll ich dann essen?“, beklagte sich der Junge.
„Ausnahmsweise einmal etwas, das gut für dich ist“, antwortete seine Mom. „Eier, Bacon und Toast. Nicht diesen ganzen Schoko-Krispies-Scheiß.“
Ich nickte. Mom sah aus, als wäre sie von irgendetwas high, aber sie wusste, was ordentliche Ernährung war.
„Das ist doch scheiße“, sagte ihr Sohn. „Ich will ’nen Donut. Ich will zwei Donuts!“
„Geh weiter“, sagte seine Mom und schob ihn auf Sampson zu.
„Ein bisschen viel für eine Kirchenkantine“, sagte der Mann hinter ihr. Er war Ende zwanzig und trug Baggy-Jeans, Stiefel von Timberland und einen großen, grauen Winterparka.
Mir wurde klar, dass er mit mir sprach, und ich sah ihn verwundert an.
„Kugelsichere Weste?“, fragte er.
„Oh“, entgegnete ich und zuckte mit den Schultern um den Körperschutz unter meinem Hemd zurechtzurücken.
Sampson und ich sind Detectives in der Abteilung für schwere Verbrechen im Washington D.C. Metropolitan Police Department. Direkt nach unserer Schicht in der Suppenküche würden wir zu einem Team stoßen, das eine Drogengang hochnahm, die in den Straßen um die St. Anthony’s Schule herum operierte. Es war bekannt, dass Mitglieder der Gang von Zeit zu Zeit die kostenlosen Frühstücke an der Schule in Anspruch nahmen, also hatten wir beschlossen, mit Rüstung zu erscheinen. Nur für den Fall.
Das erzählte ich ihm allerdings nicht. Auch wenn ich ihn nicht als irgendeinen bekannten Gangster erkannte, sah er durchaus so aus, als könnte er dazugehören.
„Ende nächster Woche steht mein physischer Eignungstest an“, sagte ich. „Ich muss mich an das Gewicht gewöhnen, wenn ich fünf Kilometer laufen will, während ich das trage.“
„Ist es mit der Weste heute heißer oder kälter?“
„Wärmer. Immer.“
„Ich brauche eine davon“, sagte der Mann, und ein Zittern durchfuhr seinen Körper. „Ich bin aus Miami, wissen Sie? Ich muss verrückt gewesen sein, dass ich unbedingt hier hochkommen wollte.“
„Weshalb sind Sie hierhergezogen?“, fragte ich.
„Uni. Ich bin Erstsemester an der Howard.“
„Sie sind nicht im Essensprogramm?“
„Ich bekomme kaum meine Studiengebühren zusammen.“
Mit einem Mal sah ich ihn in einem ganz anderen Licht. Ich wollte es ihm gerade sagen, als plötzlich Schüsse ertönten und Menschen zu schreien anfingen.
Ich zog meine Dienstwaffe und kämpfte mich durch die flüchtende Menge. Zwei weitere Schüsse waren zu hören, und mir wurde klar, dass sie von drinnen kamen, aus der Küche hinter Sampson. Mein Partner hatte es ebenfalls erkannt.
Sampson wirbelte herum, weg von den Rühreiern und dem Bacon, und zog seine Waffe, während ich über den Tresen sprang. Wir teilten uns auf und pressten uns links und rechts der großen Küchentür gegen die Wand. In beide Flügel der Schwingtür waren kleine Bullaugen eingelassen.
Während ich die Menschen ignorierte, die noch immer aus der Cafeteria flüchteten, lehnte ich mich vor und riskierte einen kurzen Blick in die Küche. Rührschüsseln waren von den Edelstahlflächen gestoßen worden und hatten Mehl und Eier auf dem Betonboden verteilt. Nichts regte sich, und ich konnte niemanden in der Küche entdecken.
Sampson wagte einen längeren Blick von der anderen Seite aus. Beinahe augenblicklich verzog er das Gesicht.
„Zwei verwundet“, zischte er. „Die Köchin, Theresa, und eine Nonne, die ich noch nie gesehen habe.“
„Wie schlimm?“
„Theresas weiße Schürze ist völlig mit Blut bedeckt. Die Nonne wurde anscheinend ins Bein getroffen. Sie sitzt gegen den Ofen gelehnt und hat eine große Blutlache unter sich.“
„Oberschenkelarterie?“
Sampson wagte noch einen Blick. „Es ist eine Menge Blut.“
„Gib mir Deckung“, sagte ich. „Ich schleiche mich rein, um sie zu holen.“
Sampson nickte. Ich ging in die Hocke und warf mich mit der Schulter gegen die Tür, die nach innen aufschwang. Während ich halb damit rechnete, dass irgendein unsichtbarer Schütze das Feuer eröffnen würde, rollte ich mich hinein. Ich rutschte durch eine glibberige Spur von zwei Dutzend zerbrochenen Eiern und fand erst auf dem unversehrten Boden zwischen zwei Küchentresen Halt.
Hinter mir trat Sampson mit erhobener Waffe in den Raum, auf der Suche nach einer möglichen Bedrohung.
Aber niemand schoss. Niemand bewegte sich. Und ich konnte kein Geräusch vernehmen außer den keuchenden Atem der Köchin und der Nonne, die links von uns auf der anderen Seite des Tresens neben einem großen Backofen lagen.
Die Augen der Nonne waren weit aufgerissen und ihr Blick wirkte verwirrt. Der Kopf der Köchin hing schlaff nach unten, aber ihr Brustkorb hob und senkte sich.
Ich kroch unter dem Küchentresen hindurch zu den Frauen und schnallte meinen Gürtel ab. Die Nonne wich vor mir zurück, als ich die Hand nach ihr ausstreckte.
„Ich bin Polizist, Schwester“, sagte ich. „Mein Name ist Alex Cross. Ich muss Ihnen einen Druckverband an Ihrem Bein anlegen, oder Sie könnten sterben.“
Sie blinzelte, nickte aber dann.
„John?“, fragte ich, während ich die ernste Schusswunde an ihrem Unterschenkel betrachtete. Ein nadeldünner Strahl Blut schoss bei jedem Herzschlag in die Luft.
„Direkt hinter dir“, sagte Sampson. „Ich behalte die Lage im Auge.“
„Melde es“, erwiderte ich, während ich den Gürtel um den Oberschenkel der Nonne legte und ihn fest zuschnürte. „Wir brauchen zwei Krankenwagen. Schnell.“
Die kleine Blutfontäne stoppte. Ich hörte, wie mein Partner am Funkgerät sprach.
Die Lider der Nonne begannen zu flattern und schlossen sich immer weiter.
„Schwester“, sagte ich. „Was ist passiert? Wer hat auf Sie geschossen?“
Sie schlug die Augen auf und starrte mich an, für einen Moment völlig desorientiert, bevor ihr Blick an mir vorbeiwanderte. Sie riss die Augen auf, und die Haut über ihren Wangen spannte sich vor Grauen.
Ich packte meine Waffe und wirbelte herum, während ich das Visier hob. Sampson hatte mir den Rücken zugewandt, das Funkgerät am Ohr, die Waffe gesenkt. Dann sah ich die Tür am hinteren Ende der Küche. Sie stand offen und führte in eine große Vorratskammer.
Ein Mann kauerte kampfbereit im Türrahmen. In seinen überkreuzten Händen hielt er zwei vernickelte Pistolen, eine davon zielte auf Sampson, die andere auf mich.
Bei all der Ausbildung, die ich all die Jahre über erhalten hatte, sollte man meinen, dass ich dem ersten Instinkt eines erfahrenen Cops gefolgt wäre, der einem bewaffneten Angreifer gegenübersteht; dass mein Hirn Mann mit Waffe! registriert und ich augenblicklich auf ihn geschossen hätte.
Doch für den Bruchteil einer Sekunde hörte ich nicht auf das Mann mit Waffe!, denn ich war zu gelähmt von der Tatsache, dass ich den Mann kannte und dass er schon seit langer, langer Zeit tot war.
Im selben Augenblick feuerte der Mann beide Waffen ab. Bei einer Entfernung von weniger als zehn Metern traf mich die Kugel so hart, dass ihre Kraft mich zurückwarf. Mein Kopf schlug auf dem Betonboden auf, und alles wurde dunkel. Ich fühlte mich, als rauschte ich wirbelnd einen schwarzen Abfluss hinab. Dann ertönte ein dritter Schuss. Und ein vierter.
Irgendetwas krachte dicht neben mir zu Boden, und ich kämpfte mich in Richtung dieses Geräuschs, in Richtung Bewusstsein, bis die Dunkelheit sich langsam auflöste, zusammenhanglos und unvollständig, wie ein Puzzle mit fehlenden Teilen.
Fünf, vielleicht sechs Sekunden verstrichen, bevor ich weitere Teile fand und ich wusste, wo ich mich befand und was geschehen war. Zwei weitere Sekunden brauchte es, bis ich erkannte, dass die Kugel direkt in das Kevlar eingeschlagen war, das meine Brust bedeckte. Ich fühlte mich, als hätte man mir mit einem Vorschlaghammer gegen die Rippen geschlagen und kräftig gegen den Kopf getreten.
Im nächsten Augenblick griff ich meine Waffe und suchte nach …
… John Sampson, der ausgestreckt auf dem Boden neben den Spülbecken lag. Sein massiger Körper wirkte zerknüllt, bis er begann, unkontrolliert zu zucken, und ich die Kopfwunde entdeckte.
„Nein“, rief ich, plötzlich hellwach, und strauchelte an seine Seite.
Sampsons Augen waren nach oben gerollt und zitterten. Ich nahm das Funkgerät vom Boden neben ihm, drückte den Sprechknopf und sagte: „Hier spricht Detective Alex Cross. Zehn-Null-Null. Ich wiederhole. Officer angeschossen. Monroe Avenue und Twelfth, Northeast. Kantine der St. Anthony’s Catholic School. Mehrere Schüsse abgefeuert. Wir benötigen augenblicklich Zehn-Fünfzig-Zwei. Ich wiederhole. Mehrere Rettungswagen benötigt, und ein Rettungshubschrauber für einen Officer mit Kopfschuss!“
„Rettungswagen und Streifen sind unterwegs, Detective“, meldete sich die Zentrale. „Ankunft in etwa zwanzig Sekunden. Ich rufe den Hubschrauber. Haben Sie den Schützen?“
„Nein, verdammt. Bringen Sie diesen Hubschrauber her.“
Die Leitung erstarb. Ich legte das Funkgerät weg. Erst dann sah ich wieder den besten Freund an, den ich je gehabt hatte. Er war das erste Kind, das ich kennengelernt hatte, nachdem Nana Mama mich aus South Carolina hier hinaufgebracht hatte und der Mann, mit dem ich aufgewachsen war, der Partner, auf den ich mich öfter verlassen hatte, als ich zählen konnte. Sampsons Zuckungen ließen nach. Sein Blick verschleierte sich, und er schnappte nach Luft.
„John“, sagte ich, als ich mich neben ihn kniete und seine Hand nahm. „Halte durch. Die Kavallerie kommt.“
Er schien mich nicht zu hören und starrte nur mit leerem Blick an mir vorbei zur Wand.
Ich begann zu weinen. Ich konnte nicht aufhören. Ich zitterte von Kopf bis Fuß und wollte den Mann erschießen, der das getan hatte. Ich wollte ihn zwanzig Mal erschießen, wollte die Kreatur ganz und gar zerstören, die von den Toten auferstanden war. Sirenen näherten sich der Schule aus sechs Richtungen. Ich wischte mir die Tränen ab und drückte Sampsons Hand, bevor ich mich zwang aufzustehen und zurück in die Cafeteria zu gehen, wo gerade die ersten Streifenbeamten hereinstürmten, gefolgt von zwei Rettungssanitätern, deren Schultern mit schmelzenden Schneeflocken bedeckt waren.
Sie fixierten Sampsons Kopf, schoben ihn auf eine Unterlage und hoben ihn dann auf eine Trage. Innerhalb von sechs Minuten war er in Decken eingehüllt und transportbereit. Draußen schneite es heftig. Sie warteten hinter der Vordertür der Schule auf den Hubschrauber und legten ihm eine Infusion ans Handgelenk.
Sampson wurde erneut von Krämpfen geschüttelt. Der Gemeindepfarrer, Fred Close, kam zu uns herüber und spendete ihm die Sterbesakramente.
Aber mein Kumpel hielt noch durch, als der Hubschrauber landete.
Wie betäubt folgte ich ihnen in einen tobenden Schneesturm. Wir mussten unsere Augen bedecken, um uns unter dem blendenden Schneehagel, den der Propeller uns entgegenblies, hinweg zu ducken und Sampson an Bord zu bringen.
„Wir übernehmen von hier an!“, rief mir einer der Rettungsflieger zu.
„Auf keinen Fall werde ich von seiner Seite weichen“, gab ich zurück, kletterte neben den Piloten und zog den zweiten Helm über. „Los geht’s.“
Der Pilot wartete, bis die Sanitäter die hinteren Türen geschlossen hatten und die Trage fest verzurrt war, bevor er die Drehzahl des Rotors beschleunigte. Wir gewannen an Höhe, und erst da erkannte ich, dass ich durch den herumwirbelnden Schnee beobachten konnte, wie sich Menschen vor den Absperrungen versammelten, die um die Schule und die Kirche aufgestellt worden waren.
Wir drehten uns in der Luft und flogen zurück über die Twelfth Street, während wir über der Menschenmenge immer weiter emporstiegen. Ich blickte durch die Schneewirbel nach unten und sah, wie die Leute unter dem Luftdruck des Hubschraubers ihre Köpfe duckten. Alle, mit Ausnahme eines einzelnen männlichen Gesichts, das direkt zu dem Rettungshubschrauber hinaufblickte, ohne dem prasselnden, stechenden Schnee um ihn herum Beachtung zu schenken.
„Das ist er!“, sagte ich.
„Detective?“, fragte der Pilot, dessen Stimme knarzend über das Funkgerät in meinem Helm ertönte.
Ich zog das Mikrofon nach unten und fragte: „Wie kriege ich Kontakt zur Zentrale?“
Der Pilot beugte sich herüber und legte einen Schalter um.
„Hier spricht Detective Alex Cross“, sagte ich. „Wer ist der zuständige Detective auf dem Weg nach St. Anthony’s?“
„Ihre Frau. Chief Stone.“
„Stellen Sie mich zu ihr durch.“
Fünf Sekunden verstrichen, in denen wir beschleunigten und aufs Krankenhaus zujagten.
„Alex?“, meldete sich Bree. „Was ist passiert?“
„John hat’s schwer erwischt, Bree“, antwortete ich. „Ich bin bei ihm. Riegel die Schule ab, vier Blocks in jede Richtung. Veranlasse eine umfassende Suche in sämtlichen Häusern. Ich habe den Schützen gerade auf der Twelfth Street gesehen, einen Block westlich der Schule.“
„Beschreibung?“
„Es ist Gary Soneji, Bree“, sagte ich. „hol dir über Google sein Bild und schick es jedem Cop in der Gegend.“
Es folgte Schweigen in der Leitung, bevor Bree mitfühlend fragte: „Alex, bist du in Ordnung? Gary Soneji ist schon seit Jahren tot.“
„Wenn er tot ist, habe ich gerade einen Geist gesehen.“
Der Wind warf uns ordentlich herum, und in dem Schneetreiben konnten wir kaum etwas erkennen, während wir versuchten, den Helipad auf dem Dach des George Washington Medical Centers anzufliegen. Am Ende setzten wir auf dem Parkplatz neben der Notaufnahme auf, wo uns ein Team von Schwestern und Ärzten erwartete.
Eilig schoben sie Sampson hinein und schlossen ihn an Monitore an, während Dr. Christopher Kalhorn, ein Neurochirurg, mit einem Tupfer etwas Blut zur Seite wischte und die Wunden am Kopf untersuchte.
Die Kugel war in einem flachen Winkel in Sampsons Schädel eingedrungen, etwa fünf Zentimeter über der Nasenwurzel. Ausgetreten war sie dicht neben seiner linken Schläfe. Diese zweite Wunde war etwa so groß wie eine Murmel, allerdings klaffend und mit gezacktem Rand, als wäre die Kugel ein Hohlspitzgeschoss gewesen, die beim Durchstoßen des Knochens in kleine Teile zerbrochen und auseinandergeflogen war.
„Intubieren wir ihn, dazu Propofol sowie ein Eisbad und einen Kühlhelm“, ordnete Kalhorn an. „Kriegen Sie seine Temperatur unter dreiunddreißig Grad, machen Sie ein CT und bringen Sie ihn in den OP. Das Team wartet dort auf ihn.“
Die Notärzte und Schwestern setzten sich in Bewegung. Kurz darauf hatten sie einen Beatmungsschlauch in Sampsons Luftröhre gesteckt und rollten ihn davon. Kalhorn drehte sich um und wollte gehen. Ich zeigte ihm meine Dienstmarke und hielt ihn zurück.
„Das ist mein Bruder“, erklärte ich. „Was sage ich seiner Frau?“
Dr. Kalhorns Miene wurde düster. „Sagen Sie ihr, wir tun alles Menschenmögliche, um ihn zu retten. Und sagen Sie ihr, sie soll beten. Sie ebenfalls, Detective.“
„Wie sind seine Chancen?“
„Beten Sie“, wiederholte er, trotte davon und verschwand.
Ich blieb zurück in einem verlassenen Behandlungsraum der Notaufnahme, und blickte hinunter auf das dunkle Blut, das die Gazeballen befleckte, mit denen sie Sampsons Kopf gesäubert hatten.
„Sie können hier nicht bleiben, Detective“, erklärte mir eine der Schwestern mitfühlend. „Wir brauchen den Platz. Bei dem Sturm gibt es überall in der Stadt Verkehrsunfälle.“
Ich nickte, drehte mich um und ging davon, ohne zu wissen wohin oder was ich dort tun sollte.
Ich ging hinaus in den Wartebereich der Notaufnahme, wo zwanzig Leute saßen. Sie starrten auf meine Pistole, das Blut auf meinem Hemd und auf das schwarze Loch dort, wo Sonejis Kugel mich getroffen hatte. Ich scherte mich nicht darum, was sie dachten. Ich wollte nicht …
Hinter mir hörte ich das Whoosh, mit dem die automatischen Türen sich öffneten.
Eine ängstliche Stimme rief: „Alex?“
Ich wirbelte herum. Billie Sampson stand dort in pinkfarbener Krankenhauskleidung und einem Daunenmantel. Sie zitterte am ganzen Leib von der Kälte und der Furcht vor etwas noch viel Schrecklicherem. „Wie schlimm ist es?“
Billie ist OP-Schwester, es hatte also keinen Zweck, sich vage zu halten. Ich beschrieb ihr die Verletzung. Zuerst schlug sie ihre Hand vor den Mund, doch dann schüttelte sie den Kopf. „Es ist schlimm. Er hat Glück, dass er noch lebt.“
Ich nahm sie in den Arm und sagte: „Er ist ein kräftiger Mann. Aber er wird deine Gebete brauchen. Er wird all unsere Gebete brauchen.“
Billies Kraft verließ sie. Sie drückte ihr Gesicht an meine Brust und begann zu wimmern und zu schluchzen, während ich sie noch fester an mich zog. Als ich den Kopf hob, schauten die Menschen im Warteraum voller Sorge herüber.
„Lass uns hier verschwinden“, sagte ich leise und führte Billie hinaus auf den Gang und zur Kapelle.
Wir gingen hinein, und glücklicherweise war sie leer. Es gelang mir, Billie so weit zu beruhigen, dass ich ihr erzählen konnte, was in der Schule und danach vorgefallen war.
„Sie haben ihn in ein künstliches Koma versetzt und kühlen seinen ganzen Körper runter.“
„Um die Schwellung und die Blutung zu stoppen“, sagte sie und nickte.
„Und die Neurochirurgen hier sind die besten. Er ist jetzt in ihren Händen.“
„Und in Gottes Hand“, sagte Billie und schaute zu dem Kreuz an der Wand der Kapelle. Sie löste sich von mir und ging auf die Knie.
Ich gesellte mich zu ihr, und wir hielten uns an den Händen, während wir um Gnade beteten.
Stunden vergingen wie Tage, während wir vor der Chirurgie-Abteilung warteten. Bree traf kurz vor Mittag ein.
„Irgendwas Neues?“, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
„Billie“, sagte Bree und schloss sie in die Arme. „Wir finden heraus, wer John das angetan hat. Das verspreche ich dir.“
„Ihr habt Soneji nicht gefunden?“, fragte ich ungläubig. „Wie konnte er entwischen, wenn ihr das Gebiet abgeriegelt habt?“
Meine Frau sah zu mir rüber und musterte mich. „Soneji ist tot, Alex. Du hast ihn selbst getötet.“
Mir klappte der Unterkiefer herunter, und ich blinzelte einige Male. „Heißt das, du hast sein Bild nicht rausgegeben? Du hast nicht nach ihm gesucht?“
„Wir haben nach jemandem gesucht, der aussieht wie Soneji“, verteidigte sich Bree.
„Nein“, gab ich zurück. „Er war weniger als zehn Meter von mir entfernt und sein Gesicht wurde angestrahlt. Er war es.“
„Dann erkläre mir, wie ein Mann, der sich vor deinen Augen vollständig aufgelöst hat, mehr als ein Jahrzehnt später wieder auferstehen kann“, verlangte Bree.
„Ich kann es nicht erklären“, erwiderte ich. „Ich … vielleicht brauche ich etwas Kaffee. Wollt ihr auch einen?“
Sie schüttelten die Köpfe. Ich stand auf und ging in Richtung Krankenhauskantine, während in mir alte Erinnerungen aufstiegen.
Ich hatte Gary Soneji ins Gefängnis gebracht, nachdem er eine Reihe von Entführungen und Morden begangen hatte, die meine Familie bedrohten. Etliche Jahre später war Soneji entkommen und hatte angefangen, Gebäude in die Luft zu jagen. Er hatte einige davon gesprengt und etliche Leute dabei ermordet, bevor wir ihn in New York City fanden. Wir hatten Soneji bis in die Grand Central Station gejagt, wo wir fürchteten, dass er eine weitere Bombe explodieren lassen würde. Stattdessen hatte er sich ein Baby gegriffen.
Soneji hatte das Baby hochgehalten und mich angeschrien: „Das hier ist noch nicht das Ende, Cross. Ich mache Sie fertig, sogar aus dem Grab, wenn es sein muss.“
Dann hatte er das Neugeborene nach uns geworfen. Jemand hatte es gefangen, aber Soneji war in das gewaltige Netz verlassener Tunnel unter Manhattan geflohen. Schließlich fanden wir ihn dort unten. Soneji griff mich in der Dunkelheit an und schlug mich nieder. Er hätte mich beinahe getötet, als es mir gelang, auf ihn zu schießen. Die Kugel zerschmetterte seinen Kiefer, zerfetzte ihm die Zunge und trat durch seine Wange wieder aus.
Soneji strauchelte von mir weg, wurde von der Dunkelheit verschluckt. Dabei musste er vornübergekippt und der Länge nach auf den felsigen Tunnelboden aufgeschlagen sein. Der Aufprall löste eine kleine Bombe in seiner Tasche aus. Der Tunnel explodierte in einem Ball aus weißen, heißen Flammen.
Als ich ihn erreichte, stand Soneji lichterloh in Flammen, hatte sich zusammengekrümmt und schrie. Es dauerte einige Sekunden, bis er verstummte. Ich stand dort und sah zu, wie Soneji brannte. Ich sah, wie er zusammenschrumpelte und zu einem Stück schwarzer Kohle wurde.
Aber so sicher wie meine Erinnerung war, so sicher war ich, dass ich Gary Soneji an diesem Morgen gesehen hatte, den Bruchteil einer Sekunde, bevor er versucht hatte, mir ins Herz zu schießen und Sampson den Kopf wegzublasen.
Ich mache Sie fertig, sogar aus dem Grab, wenn es sein muss.
Sonejis Hohn hallte noch in meinen Ohren, nachdem ich meinen Kaffee geholt hatte.
Nach einigen Schlucken beschloss ich, dass ich davon ausgehen musste, dass Soneji immer noch tot war. Was hatte ich also gesehen? Ein Double? Einen Betrüger?
Ich nahm an, dass es möglich war, so etwas durch plastische Chirurgie zu erreichen, aber die Ähnlichkeit war so makellos gewesen, von dem schmalen, rötlichen Schnurrbart zu dem dünnen Haar bis hin zum durchgeknallten, amüsierten Ausdruck auf dem Gesicht.
Er war es, dachte ich. Aber wie?
Das hier ist noch nicht das Ende, Cross.
Ich hatte Soneji so deutlich gesehen, dass ich um meinen Verstand fürchtete.
Das hier ist noch nicht das Ende, Cross.
Ich mache Sie fertig, sogar aus dem Grab, wenn es sein muss.
„Alex?“
Ich zuckte zusammen und ließ beinahe meinen Kaffee fallen. Bree kam den Flur entlang auf mich zugelaufen und wirkte äußerst argwöhnisch.
„Er hat die Operation überstanden“, sagte sie. „Er ist auf der Intensivstation, und der Arzt wird in einigen Minuten mit Billie sprechen.“
Wir hielten beide Billies Hand, als Dr. Kalhorn schließlich zu uns kam. Er wirkte ausgelaugt.
„Wie geht es ihm?“, fragte Billie, nachdem sie sich vorgestellt hatte.
„Ihr Mann ist ein außergewöhnlicher Kämpfer“, sagte Kalhorn. „Er ist während der OP einmal gestorben, aber wir konnten ihn wieder zurückbringen. Abgesehen von dem Schaden, den die Kugel angerichtet hat, mussten wir uns um Knochen- und Kugelsplitter kümmern. Weniger als zwei Zentimeter weiter links, und einer dieser Splitter hätte eine Hauptarterie getroffen, dann würden wir jetzt ein anderes Gespräch führen.“
„Also wird er überleben?“, fragte Billie.
„Das kann ich Ihnen nicht versprechen“, erklärte Kalhorn. „Die nächsten achtundvierzig bis zweiundsiebzig Stunden werden die schwerste Zeit für ihn werden. Er hat eine schwere Kopfverletzung erlitten, ein massives Trauma seines oberen linken Schläfenlappens. Wir haben ihn in ein künstliches Koma versetzt und werden das so lange aufrechterhalten, bis die Schwellung des Gehirns merklich zurückgeht.“
„Wenn er aufwacht, wie ist Ihre Prognose angesichts der Verletzung, die Sie gesehen haben?“, fragte ich.
„Ich kann Ihnen nicht sagen, wer er sein wird, falls er aufwacht“, entgegnete der Neurochirurg. „Das liegt in Gottes Hand.“
„Können wir ihn sehen?“, fragte Bree.
„Warten Sie noch eine halbe Stunde“, bat Kalhorn. „Im Augenblick kümmern sich etliche Leute um ihn und versuchen, ihm zu helfen.“
„Ich danke Ihnen, Doktor“, sagte Billie und versuchte, nicht wieder zu weinen. „Dass Sie ihn gerettet haben.“
„Es war mir eine Ehre“, erwiderte Kalhorn und tätschelte ihren Arm. Dann schenkte er Bree und mir ein Lächeln, bevor er wieder in der Intensivstation verschwand.
„Schaden in seinem oberen linken Schläfenlappen“, wiederholte Billie.
„Er ist am Leben“, sagte ich. „Konzentrieren wir uns vorerst darauf. Um alles andere kümmern wir uns, wenn es so weit ist.“
Bree hielt ihre Hand und sagte: „Alex hat recht. Wir haben ihm mit Gebeten durch die Operation geholfen, und nun beten wir dafür, dass er aufwacht.“
Doch vierzig Minuten später schien Billie immer noch unsicher, als wir uns Schutzmasken, Handschuhe und Kittel überstreiften und den Raum betraten, in dem Sampson lag.
Die Schlitze seiner geschlossenen Augen waren durch die Schwellung kaum zu sehen. Sein Kopf war in einen Verband gewickelt wie in einen Turban, und es führten so viele Schläuche in ihn hinein, und um ihn herum piepten und klackerten so viele Monitore und Geräte, dass er von der Hüfte an aufwärts eher einer Maschine als einem Menschen glich.
„Oh, Jesus, John“, sagte Billie, als sie an seinem Bett stand. „Was haben sie dir angetan?“
Bree streichelte Billie den Rücken, als ihr erneut Tränen in die Augen traten. Ich blieb nur einige Minuten, bis ich es nicht mehr ertrug, Sampson so zu sehen.
„Ich komme wieder“, sagte ich den Frauen. „Heute Abend, bevor ich heimfahre um zu schlafen.“
„Wo willst du hin?“, fragte Bree.
„Soneji jagen“, antwortete ich. „Es ist das, was John gewollt hätte.“
„Da draußen tobt ein Blizzard“, erwiderte Bree. „Und die Dienstaufsichtsbehörde wird deinen Bericht über die Schießerei hören wollen.“
„Im Augenblick schere ich mich einen Dreck um die Dienstaufsichtsbehörde“, sagte ich auf dem Weg zur Tür. „Und ein Blizzard ist die Art von chaotischer Situation, für die Gary Soneji lebt.“
Bree war nicht glücklich, seufzte aber und deutete auf eine Einkaufstüte, die sie mitgebracht hatte. „Du wirst deinen Mantel brauchen, deinen Hut und Handschuhe, wenn du auf Soneji-Jagd gehst.“
Draußen heulte ein Blizzard, ein klassischer Nordoststurm, mit peitschendem Nassschnee, der bereits zwanzig Zentimeter hoch lag. Schon die Hälfte reichte, um Washington D.C. derart lahmzulegen, dass man überlegte, die Nationalgarde zu rufen.
Georgetown war ein Parkplatz. Ich stapfte zur Foggy Bottom Metrostation, ignorierte meine eiskalten Füße und durchlebte in meinen Gedanken die alten Zeiten mit John Sampson. Kennengelernt hatte ich ihn nur wenige Tage nachdem ich mit meinen Brüdern nach D.C. gezogen war. Unsere Mutter war tot, und mein Vater, ihr Mörder, war verschwunden und vermutlich auch nicht mehr am Leben.
John wohnte bei seiner Mutter und seiner Schwester. Sein Vater war in Vietnam gefallen. Damals besuchten wir dieselbe fünfte Klasse. Er war zehn Jahre alt und groß für sein Alter, schon damals. Doch das war ich auch.
Daraus ergab sich eine natürliche Rivalität zwischen uns, und anfangs hatten wir nicht viel füreinander übrig. Ich war schneller als er, was ihm nicht gefiel. Er war stärker als ich, was mir nicht gefiel. Die unvermeidliche Schlägerei, die wir gegeneinander anzettelten, endete unentschieden.
Wir wurden drei Tage vom Unterricht suspendiert. Nana Mama schleifte mich zum Haus der Sampsons, damit ich mich bei John und seiner Mutter dafür entschuldigte, dass ich als Erster zugeschlagen hatte.
Ich folgte ihr unglücklich. Als er ebenso gequält an der Tür erschien, sah ich die aufgeplatzte Lippe, den Bluterguss auf seiner rechten Wange und lächelte. Er sah die Schwellungen um meine beiden Augen und lächelte zurück.
Wir hatten beide unsere Treffer gelandet. Wir hatten beide gewonnen. Und damit war alles in Butter. Der Krieg war vorbei und der Grundstein für die längste Freundschaft meines Lebens gelegt.
Ich nahm die Metro in die Stadt und ging durch den Schnee zurück zur St. Anthony’s. Ich versuchte, nicht an Sampson auf der Intensivstation zu denken, mehr Maschine als Mensch. Doch das Bild kam immer wieder zurück, und jedes Mal fühlte ich mich schwächer, als würde ein Teil von mir sterben.
Vor der Schule standen noch immer Streifenwagen der Metro Police sowie zwei Übertragungswagen vom Fernsehen. Ich zog meine Mütze tiefer ins Gesicht und schlug den Kragen meines Mantels hoch. Ich wollte nicht mit irgendwelchen Reportern über diesen Fall sprechen. Jemals.
Ich zeigte dem Streifenbeamten an der Vordertür meine Marke und ging nach hinten in die Cafeteria und in die Küche.
Pfarrer Close erschien in der Tür zum Büro. Er erkannte mich wieder.
„Ihr Partner?“
„Er hat einen Gehirnschaden, ist aber am Leben“, antwortete ich.
„Also ein weiteres Wunder“, sagte Pfarrer Close. „Schwester Mary Elliott und Theresa Ball, die Köchin, sie sind ebenfalls noch am Leben. Sie haben sie gerettet, Dr. Cross. Wenn Sie nicht dort gewesen wären, fürchte ich, wären sie alle drei gestorben.“
„Ich denke nicht, dass das stimmt“, erwiderte ich. „Aber danke, dass Sie es sagen.“
„Haben Sie eine Idee, wann ich meine Cafeteria und meine Küche zurückbekomme?“
„Ich frage bei der Spurensicherung nach, aber gehen Sie davon aus, dass Ihre Schüler morgen eine Brottüte mitbringen und in ihren Wohnräumen essen müssen. Wenn ein Polizist in die Schießerei verwickelt war, sind die Spezialisten von der Kriminaltechnik wirklich detailversessen.“
„Das sollten sie auch sein“, antwortete Pfarrer Close. Er dankte mir erneut und kehrte in sein Büro zurück.
Ich ging weiter in die Cafeteria und stand dort einen Augenblick in dem leeren Raum, während in der Küche Stimmen zu hören waren, und erinnerte mich an die ersten Schüsse und daran, wie ich reagiert hatte.
Ich ging zu den großen Schwingtüren hinüber und tat dort dasselbe. Schließlich entschied ich, dass wir sauber nach Vorschrift gehandelt hatten, und ging wieder durch die Türen.
Ich schaute dorthin, wo wir die Köchin und die Nonne verwundet aufgefunden hatten, und dann zu der Stelle, an der der sterbende Sampson gelegen hatte, bevor ich meine Aufmerksamkeit dem Vorratsraum widmete. An diesem Punkt hatten wir alle Vorschriften zum Fenster hinausgeworfen. Rückblickend hätten wir den Rest des Gebäudes sichern sollen, bevor wir uns den Verletzten widmeten. Doch es hatte nach einer Blutung der Oberschenkelarterie ausgesehen, und …
Drei Kriminaltechniker verrichteten in der Küche noch ihre Arbeit. Barbara Hatfield, eine alte Freundin, stand mitten in der angrenzenden Speisekammer. Sie entdeckte mich und kam zu mir herüber.
„Wie geht es John, Alex?“
„Er hält durch“, sagte ich.
„Wir sind alle ziemlich erschüttert. Und es gibt da etwas, das du sehen solltest. Etwas, weswegen ich dich später ohnehin anrufen wollte.“
Sie brachte mich in den Vorratsraum, dessen Regale vom Boden bis zur Decke reichten und vollgestopft mit Nahrungsmitteln und Küchengeräten waren. An der hinteren Wand stand ein großer, glänzender Industrie-Gefrierschrank.
Die Worte, die in zwei Reihen über die Vorderseite des Gefrierschranks gesprüht worden waren, ließen mich mitten in der Bewegung erstarren.
„Nicht wahr?“, sagte Hatfield. „So hab ich auch reagiert.“
Am nächsten Morgen erwachte ich um vier Uhr nachts, schlich aus dem Bett, ohne Bree aufzuwecken. Mit drei Stunden Schlaf machte ich mich daran, das fortzuführen, womit ich am Abend zuvor beschäftigt gewesen war. Ich holte mir eine Tasse Kaffee und ging in den dritten Stock hinauf, in mein Arbeitszimmer, wo ich mich meinen Akten über Gary Soneji gewidmet hatte.
Ich lege Akten zu all meinen großen Fällen an, doch Soneji hatte den dicksten Ordner. Genauer gesagt waren es sechs, alle prall gefüllt. Ich hatte meine Recherche nachts um ein Uhr beendet, als ich gerade Notizen durchgesehen hatte, die ich während der damaligen Entführung des Sohns des US-Finanzministers und der Tochter einer berühmten Schauspielerin aufgezeichnet hatte.
Ich versuchte, mich zu konzentrieren, mir die Details wieder in Erinnerung zu rufen. Doch nach zwei Absätzen begann ich zu gähnen, trank Kaffee und dachte an John Sampson.
Allerdings nur kurz. Mir war klar, dass es ihm nicht helfen würde, wenn ich neben seinem Krankenbett saß. Ich war ihm eine größere Hilfe, wenn ich den Mann suchte, der ihm eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. Also las ich und las noch einmal und notierte mir lose Fäden, zurückgelassene Fährten, denen Sampson und ich über die Jahre gefolgt waren, die aber nirgendwo hingeführt hatten.
Nach einer Stunde stieß ich auf ein altes Schaubild eines Familienstammbaums, den wir und die US Marshals von Sonejis Familie zusammengestellt hatten, nachdem er aus dem Gefängnis geflohen war.
Während ich ihn überflog, wurde mir bewusst, dass wir den Marshals die Jagd nach dem Flüchtigen überlassen hatten. Ich entdeckte etliche Namen und Verwandte, mit denen ich nie zuvor gesprochen hatte, und schrieb sie nieder.
Ich gab die Namen in Google ein und sah, dass zwei von ihnen noch immer unter den Adressen lebten, die auf dem Stammbaum notiert waren. Wie lange war das her? Dreizehn Jahre? Vielleicht vierzehn?
Andererseits hatten Nana Mama und ich über dreißig Jahre in unserem Haus an der Fifth gewohnt. Von Zeit zu Zeit schlagen Amerikaner wirklich Wurzeln.
Ich schaute auf meine Uhr, sah, dass es bereits nach fünf war, und fragte mich, ab wann ich wohl ein paar Anrufe erledigen konnte. Nein, dachte ich dann, diese Art von Gespräch führte man lieber persönlich. Das Arbeitszimmer hatte ein Mansardenfenster. Ich ging hinüber, stieß es auf und schaute hinaus.
Zu meiner Überraschung regnete es in Strömen, und die Luft war erheblich wärmer. Der meiste Schnee war verschwunden. Damit war es besiegelt. Ich würde losfahren, sobald es hell genug war, um etwas zu sehen.
Auf meinem Weg zurück zum Schreibtisch erwog ich, wieder nach unten zu gehen um zu duschen, fürchtete jedoch, Bree aufzuwecken. Ihr Job als Leiterin der Ermittlungsabteilung der Metro Police war stressig genug, auch ohne den Druck eines angeschossenen Polizisten.
Ich versuchte, mich wieder in die Soneji-Akte zu vertiefen, rief aber stattdessen ein Foto auf meinem Computer ab. Ich hatte es am Nachmittag zuvor aufgenommen. Es zeigte den Gefrierschrank und die aufgesprühten Wörter, die der Schütze zurückgelassen hatte.
CROSS KILL
Lang lebe Soneji!
Ganz offensichtlich war ich das Ziel gewesen. Und warum auch nicht? Soneji hasste mich ebenso sehr wie ich ihn.
Hatte Soneji erwartet, dass Sampson bei mir sein würde? Die zwei Pistolen, die er abgefeuert hatte, sprachen dafür. Ich schloss die Augen und sah ihn dort, im Türrahmen, die Arme überkreuzt, die linke Pistole auf mich gerichtet, die rechte auf Sampson.
Irgendetwas störte mich. Ich nahm wieder die Akte zur Hand und blätterte herum, bis ich meine Erinnerung bestätigt hatte. Soneji war Linkshänder, was erklärte, weshalb er die Arme überkreuzt hatte, um zu schießen. Er hatte mit seiner sicheren Hand auf mich gezielt. Ihm war egal gewesen, was mit John geschah, solange ich nur starb.
Deshalb hatte Soneji auf die Körpermitte geschossen, schlussfolgerte ich, und fragte mich, ob sein Schuss auf Sampson danebengegangen war, ob er John nur versehentlich in den Kopf getroffen hatte.
Linkshändig. Es musste Soneji sein. Aber es konnte nicht Soneji sein.
Frustriert schaltete ich den Computer aus, packte meine Notizen zusammen und schlich zurück ins Schlafzimmer. Ich schloss die Tür zum Badezimmer hinter mir ohne ein Geräusch. Nachdem ich geduscht und mich angezogen hatte, versuchte ich, leichtfüßig wieder herauszukommen, brachte jedoch eine Bodendiele zum Knarren.
„Ich bin wach, Mister Mucksmäuschenstill“, sagte Bree.
„Ich muss nach New Jersey“, erwiderte ich.
„Was?“ Sie setzte sich im Bett auf und knipste das Licht an. „Warum?“
„Um mit einigen Verwandten von Soneji zu sprechen. Ob er sich gemeldet hat.“
Bree schüttelte den Kopf. „Er ist tot, Alex.“
„Aber was ist, wenn die Explosion, die ich in dem Tunnel gesehen habe, von Soneji ausgelöst wurde, während er an irgendeinem Obdachlosen vorbeikam, der dort unten lebt?“, fragte ich. „Was, wenn es gar nicht Soneji war, den ich verbrennen gesehen habe?“
„Du hast nie einen DNS-Test der Überreste angeordnet?“
„Dazu gab es keine Veranlassung. Ich sah ihn sterben. Ich habe ihn identifiziert, also hat das niemand überprüft.“
„Mein Gott, Alex“, antwortet Bree. „Ist das möglich? Wie sah das Gesicht des Schützen aus?“
„Wie Soneji“, erklärte ich voller Frust.
„Nun, sah sein Kiefer aus wie Sonejis? Seine Zunge? Hat er irgendetwas gesagt?“
„Er hat keinen Ton von sich gegeben. Aber sein Gesicht?“ Ich runzelte die Stirn und dachte darüber nach. „Ich weiß es nicht.“
„Du sagtest, das Licht war gut. Du sagtest, du hast ihn deutlich gesehen.“
War das Licht wirklich so gut gewesen? Auch wenn ich etwas unsicher wurde, schloss ich dennoch die Augen und versuchte, mir weitere Details in Erinnerung zu rufen und mich deutlicher darauf zu fokussieren.
Ich sah Soneji dort stehen, im Türrahmen zur Speisekammer, die Arme überkreuzt, das Kinn angezogen und … er sah mich direkt an. Er hatte auf Sampson geschossen ohne überhaupt zu zielen. Sein eigentliches Ziel war wirklich ich.
Und sein Kiefer? Ich spielte die Erinnerung erneut ab und noch einmal, bevor ich es sah.
„Da war etwas“, sagte ich und fuhr mit meinen Fingern die linke Seite meines Kinns entlang.
„Ein Schatten?“, fragte Bree.
Ich schüttelte den Kopf. „Eher eine Narbe.“
Drei Stunden später hatte ich die I-95 für die Route 29 verlassen, die parallel zum Delaware River verlief. Bei der Fahrt flussaufwärts wurde mir plötzlich bewusst, dass ich nicht weit vom East Amwell Township entfernt war, wo 1932 das Baby des Piloten Charles Lindbergh entführt worden war.
Gary Soneji war von dem Lindbergh-Fall besessen gewesen. Er hatte ihn studiert, als er sich darauf vorbereitet hatte, den Sohn des Finanzministers, den verstorbenen Michael Goldberg, sowie Maggie Rose Dunne, die Tochter einer berühmten Schauspielerin, zu entführen.
Mir war schon vorher auf einer Karte aufgefallen, wie dicht East Amwell bei Rosemont lag, dem Ort, an dem Soneji aufgewachsen war. Aber erst als ich durch die winzige gemeindefreie Ortschaft fuhr, wurde mir klar, dass Soneji seine ersten Jahre weniger als fünf Meilen vom Entführungsort des Lindbergh-Babys entfernt verbracht hatte.
Rosemont selbst war idyllisch und voller Bäume, mit Mauern aus Steinen, die sich mit klitschnassen, grünen Feldern abwechselten.
Ich versuchte, mir Soneji als Kind in dieser dörflichen Gegend vorzustellen, versuchte mir vorzustellen, wie er das Verbrechen des Jahrhunderts entdeckte. Er hätte nicht viel auf die Polizisten gegeben, die den Lindbergh-Fall bearbeitet hatten. Nein, Soneji hätte sich ganz auf die Informationen versteift, die es zu Bruno Hauptmann gab, den Berufsverbrecher, der dafür verurteilt und hingerichtet worden war, dass er das kleine Baby geraubt und ihm den Schädel eingeschlagen hatte.
Mein Kopf quoll über vor Erinnerungen daran, wie ich zum ersten Mal Sonejis Apartment betreten und etwas gesehen hatte, das im Grunde ein Schrein für Hauptmann und die Lindbergh-Entführung gewesen war. In Texten, die wir damals gefunden hatten, fantasierte Soneji davon, Hauptmann zu sein, nur Tage bevor der Mörder geschnappt wurde, als die ganze Welt voller Spekulationen und ganz fixiert auf das Mysterium gewesen war, das er in Bewegung gesetzt hatte.
„Dreiste Verbrecher verändern die Geschichte“, hatte Soneji geschrieben. „Dreiste Verbrecher bleiben in Erinnerung, lange nachdem sie fort sind, was mehr ist als das, was man über die Polizisten sagen kann, die sie jagen.“
Ich fand die Adresse in der Rosemont Ringoes Road und parkte den Wagen auf dem Standstreifen neben der Einfahrt. Der Sturm war zu einem Nieselregen abgeklungen, als ich vor einer grauweißen Schindelhütte ausstieg, die hinter ein paar Pinien stand.
Der Vorgarten wirkte karg und war übersät von nassen Piniennadeln. Die Treppe hatte Risse und neigte sich zur Seite, sodass ich mich am Eisengeländer festhalten musste, um zu klingeln.
Kurze Zeit später bewegte sich einer der Vorhänge. Ein paar Sekunden später wurde die Tür geöffnet und gab den Blick auf einen kahlköpfigen Mann frei, der in den Siebzigern sein musste. Er stützte sich auf einen Stock, und ein Atemschlauch verlief unter seiner Nase.
„Peter Soneji?“
„Was wollen Sie?“
„Ich bin Alex Cross. Ich bin …“
„Ich weiß, wer Sie sind“, schnappte Gary Sonejis Vater eisig. „Der Mörder meines Sohnes.“
„Er hat sich selbst in die Luft gesprengt.“
„So haben Sie es erzählt.“
„Kann ich mit Ihnen reden, Sir?“
„Sir?“, wiederholte Peter Soneji und lachte ätzend. „Jetzt heißt es ‚Sir‘?“
„Soweit ich weiß, hatten Sie nie etwas mit den Verbrechen Ihres Sohnes zu tun“, sagte ich.
„Erzählen Sie das den Reportern, die all die Jahre über vor meiner Tür erschienen sind“, gab Sonejis Vater zurück. „Die Dinge, die sie mir vorgeworfen haben. Der Vater eines Monsters.“
„Ich werfe Ihnen nicht das Geringste vor, Mr. Soneji“, sagte ich. „Ich bin lediglich hergekommen, um ein paar unbeantwortete Fragen zu klären.“
„Bei allem, was im Internet über Gary steht, sollte man meinen, dass es keine unbeantworteten Fragen mehr gibt.“
„Es sind Fragen aus meinen persönlichen Unterlagen“, erklärte ich.
Sonejis Vater musterte mich mit einem langen Blick, bevor er sagte: „Lassen Sie es ruhen, Detective. Gary ist schon lange tot. Soweit es mich betrifft, machen Sie’s gut.“
Er versuchte, mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen, doch ich hielt ihn auf.
„Ich kann den Sheriff rufen“, protestierte Peter Soneji.
„Nur eine Frage, dann verschwinde ich“, sagte ich. „Wie kam es, dass Gary so besessen von der Lindbergh-Entführung wurde?“
Zwei Stunden später fuhr ich durch die Außenbezirke von Crumpton, Maryland, und rang noch immer mit der Antwort, die Sonejis Vater mir gegeben hatte. Sie schien mir neue Einblicke in die Gedankenwelt seines Sohnes zu bieten, aber ich konnte noch immer nicht erklären, wie oder warum.
Ich fand die zweite Adresse. Das Farmhaus war früher fröhlich gelb gewesen, aber nun blätterte die Farbe ab und war von schwarzem Moder durchzogen. Jedes Fenster war mit der Art von Eisengittern bedeckt, die man in Großstädten sah.
Als ich durch den Vorgarten zur Vorderveranda ging, scheuchte ich einige Tauben auf, die ich aus dem verdorrten Unkraut vertrieb. Irgendwo hinter dem Haus hörte ich eine seltsame Stimme sprechen.
Die Veranda war mit mehreren alten Maschinen vollgestellt, wie etwa einer Drechselbank. Ich musste um die Geräte herumgehen, um gegen eine Stahltür zu klopfen, die drei Türriegel besaß.
Ich klopfte ein zweites Mal und erwog, das Haus zu umrunden und dorthin zu gehen, wo ich die seltsame Stimme gehört hatte. Doch da öffneten sich die drei Riegel einer nach dem anderen.
Die Tür wurde aufgezogen und eine dunkelhaarige Frau in den Vierzigern zeigte sich. Sie hatte eine spitze Nase und stumpfe, braune Augen. Sie trug einen einteiligen, schmierigen Arbeitsoverall von Carhartt und hielt eine Art Sturmgewehr mit großem gebogenem Magazin im Anschlag.
„Hausierer, Sie stehen uneingeladen auf meinem Eigentum“, sagte sie. „Ich habe ausreichend Gründe, Sie an Ort und Stelle abzuknallen.“
Ich zeigte ihr meine Dienstmarke und meinen Ausweis und sagte: „Ich bin kein Hausierer. Ich bin Polizist. Ich hätte vorher anrufen sollen, aber ich hatte keine Nummer.“
Statt sie zu beruhigen, erregte sie diese Information nur noch mehr.
„Was will die Polizei an der Tür der süßen Ginny Winslow? Einen Waffenliebhaber schikanieren?“
„Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen, Mrs. Soneji“, entgegnete ich.
Sonejis Witwe zuckte bei dem Namen zusammen und wurde fuchsteufelswild. „Mein Name wurde ganz legal in Virginia Winslow geändert, schon vor sieben Jahren, und ich kann Garys Gestank immer noch nicht loswerden. Wie heißen Sie? Zu wem gehören Sie?“
„Alex Cross“, antwortete ich. „Aus D.C. …“
Ihre Miene wurde eisig. „Jetzt erkenne ich Sie. Ich erinnere mich, Sie waren im Fernsehen.“
„Jawohl, Ma’am.“
„Sie haben nie mit mir gesprochen. Nur die US Marshals. Als würde ich gar nicht existieren.“
„Jetzt bin ich hier, um zu reden“, gab ich zurück.
„Zehn Jahre zu spät. Verschwinden Sie von meinem Grundstück, bevor ich vom zweiten Zusatzartikel Gebrauch mache und …“
„Ich habe heute Morgen Garys Vater besucht“, unterbrach ich sie. „Er sagte mir, wie es zu Garys Besessenheit mit der Lindbergh-Entführung kam.“
Sie runzelte die Stirn. „Und was sagt er?“
„Garys Dad meinte, dass sie, als Gary acht war, in einem Laden für gebrauchte Bücher waren, und während der Vater die Regale ablief, fand sein Sohn eine zerfledderte Ausgabe von True Detective Mysteries, ein Magazin mit Kriminalfällen aus den 1930er-Jahren. Er hat sich hingesetzt und es gelesen.“
Den Finger weiterhin am Abzug ihres halbautomatischen Gewehrs zuckte Virginia Winslow mit den Schultern. „Na und?“
„Als Mr. Soneji Gary fand, saß sein Sohn auf dem Boden des Buchladens, das Magazin im Schoß, wo er fasziniert auf ein Bild der Autopsie des Lindbergh-Babys starrte, das die Kopfwunde in allen schrecklichen Details zeigte.“
Sie sah mich mit offenem Mund an, als würde sie sich an etwas erinnern, das sie verängstigte und entsetzte.
„Was haben Sie?“, fragte ich.
Der Gesichtsausdruck von Sonejis Witwe wurde wieder streng. „Nichts. Überrascht mich nicht. Ich hab ihn öfter erwischt, wie er Fotos von Autopsien ansah. Er sagte immer, dass er ein Buch schreiben würde und sie als Recherche betrachtete.“
„Sie haben ihm nicht geglaubt?“
„Ich habe ihm geglaubt, bis meinem Bruder Charles auffiel, dass Gary sich immer freiwillig meldete, um das Wild auszuweiden, das sie gejagt haben. Charles erzählte mir, dass es Gary gefiel, seine Hände in die warmen Gedärme zu schieben, sagte, er mochte das Gefühl, und erzählte mir, wie Gary fröhlich zu strahlen begann, wenn er es tat.“
„Auch das wusste ich nicht über Gary“, sagte ich.
„Worum geht es hier überhaupt?“, fragte Virginia Winslow, die mich jetzt neugierig musterte.
„In D.C. wurde ein Polizist angeschossen“, erklärte ich. „Der Schütze war jemand, auf den Garys Beschreibung passt.“
Ich erwartete, dass Sonejis Witwe skeptisch reagieren würde. Doch stattdessen sah sie wieder verängstigt und entsetzt aus.
„Gary ist tot“, sagte sie. „Sie haben ihn getötet, oder nicht?“
„Er hat sich selbst umgebracht“, erwiderte ich. „Hat die Bombe hochgehen lassen, die er trug.“
Ihre Aufmerksamkeit flatterte zu den Bodendielen. „Im Internet steht was anderes.“
„Was steht im Internet?“
„Dass Gary am Leben ist“, sagte sie. „Unser Sohn, Dylan, sagt, er habe es online gesehen. Gary ist tot, oder? Bitte sagen Sie mir, dass es so ist.“
Die Art, wie sie ihr Gewehr umklammerte, verriet mir, dass sie es hören musste, also sagte ich: „Soweit ich es weiß, ist Gary Soneji tot, und das schon seit mehr als zehn Jahren. Aber jemand, der ihm verdammt ähnlich sieht, hat gestern auf meinen Partner geschossen.“
„Was?“, stieß sie aus. „Nein.“
„Es ist nicht er“, bekräftigte ich. „Ich bin mir so gut wie sicher.“
„So gut wie?“, wiederholte sie, bevor ein Telefon weiter hinten im Haus zu klingeln begann.
„Ich … ich muss da rangehen“, sagte sie. „Arbeit.“
„Was für Arbeit?“
„Ich bin Maschinenbauerin und Waffenschmiedin. Mein Vater hat mir das beigebracht.“
Sie schloss die Tür, bevor ich etwas erwidern konnte. Die Riegel wurden einer nach dem anderen zugeschoben.
Ich wäre beinahe gegangen, doch dann erinnerte ich mich an die Stimme, die ich auf meinem Weg zur Tür gehört hatte, und ging um das Farmhaus herum. Dort sah ich eine kleine, verlassene Scheune, um die Dutzende Tauben herumflogen.
Ich hörte jemanden in der Scheune reden und ging hinüber.
Klick-a-ti-klack. Klick-a-ti-klack.
Tauben stoben auf und wirbelten durch das Scheunentor.
Dort gab es ein schmutziges Fenster. Ich ging hinüber und warf einen Blick ins Innere der Scheune. Durch den Dreck sah ich den sechzehnjährigen Dylan Winslow, der neben einem Taubenschlag stand und ins Leere starrte.