Jazz in der Schule - Toralf Schrader - E-Book

Jazz in der Schule E-Book

Toralf Schrader

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Beschreibung

Diplomarbeit aus dem Jahr 2012 im Fachbereich Musik - Sonstiges, Note: 1,0, Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden, Veranstaltung: Dipl.-Musikpädagogik Jazz/Rock/Pop, Sprache: Deutsch, Abstract: Zunächst gilt es, die musikalische Erscheinung namens „Jazz“ im Kapitel 2 hinsichtlich seiner definitorischen, musikwissenschaftlichen und musiktheoretischen Seite zu beleuchten. [...] Bevor es darum gehen kann, Jazz für den Unterricht zu erschließen, wird die Frage zu klären sein, welchen Nutzen sein pädagogisch-didaktischer Einsatz für die Schüler und damit letztlich auch den Lehrer/die Lehrerin bringt. Schließlich zeitigt es wenig Erfolg, etwas lehren zu wollen, dessen Sinn sich für die eigene Praxis nicht erschließt. Kapitel 3 fasst die Entwicklungen der Jazzdidaktik bis heute zusammen, fragt nach den pädagogischen, teilweise zutiefst persönlichen Bedingungen zur Vermittlung von Jazz und stellt einige eher didaktische oder methodische Konzepte unterrichtlichen Handelns vor, die versprechen, für diesen Unterrichtsgegenstand besonders hilfreich zu sein, bzw. speziell für ihn entwickelt wurden. Da sich der größte Teil der Arbeit mit theoretischen Überlegungen beschäftigt, werden schlussendlich im vierten Kapitel eine Reihe von praktischen Umsetzungsmöglichkeiten der genannten Theorien und des Jazz allgemein vorgestellt. Die Erarbeitung von Lernmaterial kann von den dort vorgestellten Lehrwerken ausgehen, muss sie aber freilich nicht. Mittlerweile gibt es eine Fülle gut aufbereiteter Literatur zum Jazz, wobei freilich eingestanden werden muss, dass es noch immer zu wenige Schulbücher gibt, die dieses Thema für interessierte Lehrkräfte adäquat, ansprechend und aktuell behandeln. Da die Improvisation als möglicher Unterrichtsgegenstand gerne außen vor gelassen wird, bekommen die Betrachtungen hierzu ein eigenes Teilkapitel. Denn so komplex die Improvisation von außen betrachtet auch sein mag, so gewinnbringend ist sie für den Musikunterricht. Da ihre faszinierenden Aspekte nicht einfach kognitiv erfasst werden können, ohne sie praktisch auszuführen, wird eine Reihe von Autoren vorgestellt werden, die hierzu "Inspiration" liefern können. Die Ausführungen in dieser Arbeit beziehen sich sämtlich auf den Musikunterricht in den Sekundarstufen I und II. Zwar liegt das Augenmerk in erster Linie auf dem Unterricht an Gymnasien - so auch in den zitierten Rahmenrichtlinien und Lehrplänen - doch können die Überlegungen, Forschungen und Schlussfolgerungen ebenso gut in den Realschulen Beachtung und Anwendung finden.

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Inhaltsverzeichnis:

 

1. Vorwort

2. Der thematische Rahmen

2.1. Was ist Jazz? Eine kurze Paraphrasierung

2.2. Welchem Zweck kann Jazz im Schulunterricht dienen?

3. Zur Didaktik und Methodik des Jazz im Musikunterricht

3.1. Geschichte und Gegenwart der Jazzdidaktik

3.2. Pädagogische Bedingungen für den Einsatz von Jazz im Musikunterricht

3.3. Didaktisch-methodische Konzepte zur Vermittlung musikalischer Kenntnisse und Fertigkeiten anhand von Jazz

3.3.1. Handlungs- und schülerorientierter Unterricht

3.3.2. Das integrative Konzept

3.3.3. Klassenmusizieren

3.3.4. Aufbauender Musikunterricht

4. Jazzthemen im Musikunterricht

4.1. Zur Improvisation

4.1.1. Begriffsklärung und Bedeutung der Improvisation für den Musikunterricht

4.1.2. Möglichkeiten der Vermittlung

4.2. Die Einbettung von Jazz in den Musikunterricht anhand exemplarischer Beispiele (Geschichte, Theorie, Harmonik, Improvisation)

5. Zusammenfassung

6. Literaturverzeichnis

1. Vorwort

Jazz ist ein Phänomen, welches im Musikunterricht an allgemein bildenden Schulen für gewöhnlich recht stiefmütterlich behandelt wird. Warum ist das so? Entweder der Lehrkraft fehlen die nötigen Informationen, um Jazz zu vermitteln, oder es fehlt das Interesse am Unterrichtsgegenstand. Vorbehalte finden sich leicht und mit wenig Energieaufwand. Wohlgemerkt Vorbehalte, keine Argumente, denn argumentieren lässt sich mit ihnen nicht. Stimmt es denn, dass Jazz - ebenso wie die Improvisation übrigens - im Unterricht schwer zu lehren ist? Ist diese Musik hinsichtlich der Lernzielerfüllung nicht ergiebig genug? Lässt sie sich wirklich nicht an die zentralen Unterrichtsinhalte der so genannten "klassischen" Musik anbinden? Dass einzig das fehlende Interesse von Seiten der Lehrkraft als Argument Geltung haben kann - und von der pädagogischen Seite betrachtet, nicht einmal dieses - die übrigen Vorwände sich indes widerlegen lassen, wird sich im Folgenden zeigen. Allerdings kann es nicht darum gehen, in defensiver Haltung auf noch immer vorhandene Kontaktschwierigkeiten im Dreieck Lehrer - Stoff - Schüler einzugehen. Diese werden sich am Rande klären. Im Zentrum der Arbeit steht vielmehr die Frage, welche Voraussetzungen vorhanden sein müssen, um Jazz im Unterricht zu vermitteln.

Zunächst gilt es, die musikalische Erscheinung namens „Jazz“ im Kapitel 2 hinsichtlich seiner definitorischen, musikwissenschaftlichen und musiktheoretischen Seite zu beleuchten. Das ist nötig, um ein zwar verkürztes, aber dennoch weitgehend einheitliches Bild zu haben, vor dessen Hintergrund die weiteren Ausführungen stattfinden können. Unterschiedliche inhaltliche Sichtweisen wären hier hinderlich. Bevor es darum gehen kann, Jazz für den Unterricht zu erschließen, wird die Frage zu klären sein, welchen Nutzen sein pädagogisch-didaktischer Einsatz für die Schüler und damit letztlich auch den Lehrer/die Lehrerin bringt. Schließlich zeitigt es wenig Erfolg, etwas lehren zu wollen, dessen Sinn sich für die eigene Praxis nicht erschließt. Kapitel 3 fasst die Entwicklungen der Jazzdidaktik bis heute zusammen, fragt nach den pädagogischen, teilweise zutiefst persönlichen Bedingungen zur Vermittlung von Jazz und stellt einige eher didaktische oder methodische Konzepte unterrichtlichen Handelns vor, die versprechen, für diesen Unterrichtsgegenstand besonders hilfreich zu sein, bzw. speziell für ihn entwickelt wurden. Da sich der größte Teil der Arbeit mit theoretischen Überlegungen beschäftigt, werden schlussendlich im vierten Kapitel eine Reihe von praktischen Umsetzungsmöglichkeiten der genannten Theorien und des Jazz allgemein vorgestellt. Die Erarbeitung von Lernmaterial kann von den dort vorgestellten Lehrwerken ausgehen, muss sie aber freilich nicht. Mittlerweile gibt es eine Fülle gut aufbereiteter Literatur zum Jazz, wobei freilich eingestanden werden muss, dass es noch immer zu wenige Schulbücher gibt, die dieses Thema für interessierte Lehrkräfte adäquat, ansprechend und aktuell behandeln. Da die Improvisation als möglicher Unterrichtsgegenstand gerne außen vor gelassen wird, bekommen die Betrachtungen hierzu ein eigenes Teilkapitel. Denn so komplex die Improvisation von außen betrachtet auch sein mag, so gewinnbringend ist sie für den Musikunterricht. Da ihre faszinierenden Aspekte nicht einfach kognitiv erfasst werden können, ohne  sie praktisch auszuführen, wird eine Reihe von Autoren vorgestellt werden, die hierzu "Inspiration" liefern können.

Die Ausführungen in dieser Arbeit beziehen sich sämtlich auf den Musikunterricht in den Sekundarstufen I und II. Zwar liegt das Augenmerk in erster Linie auf dem Unterricht an Gymnasien - so auch in den zitierten Rahmenrichtlinien und Lehrplänen - doch können die Überlegungen, Forschungen und Schlussfolgerungen ebenso gut in den Realschulen Beachtung und Anwendung finden. Lediglich der Umfang der Unterrichtsinhalte bedürfte einer Anpassung. Wenn von Lerninhalten die Rede ist, so ist damit sämtliches im Unterricht vermitteltes Fakten- und Handlungswissen gemeint. Soweit es nicht anders angegeben ist, kreisen alle angesprochenen Konzepte und Begriffe um den "Schulmusikunterricht", bzw. den Musikunterricht an allgemein bildenden Schulen.

2. Der thematische Rahmen

 

2.1. Was ist Jazz? Eine kurze Paraphrasierung

 

Bevor es darum gehen kann, seine didaktisch-pädagogische Seite zu beleuchten, sei an dieser Stelle zunächst das heterogene Phänomen "Jazz" umrissen. Es handelt sich hierbei um ein Genre, welches im Laufe seiner nunmehr deutlich über 100 Jahre währenden Geschichte eine Entwicklung im Zeitraffer durchlief. Während bspw. die europäische Musik über ungleich mehr Zeit für ihre Evolution verfügte und dabei im Wandel von Zeiten, Nationen und Formen musikalischer Praxis eine Vielzahl von Gattungen hervorbrachte, war der Jazz aufgrund der "kurzen" Kommunikations- und Reisewege des 20. Jahrhunderts verhältnismäßig raschen Wandlungen unterworfen. Die technische Revolution hatte nicht nur die Bewegungen von Menschen und Informationen beschleunigt, sondern erlaubte späteren Generationen, sich mittels zeitgenössischer Musikaufnahmen ein Bild von der Geschichte des Jazz zu machen. Sie können und konnten unabhängig von jedweder Historiographie urteilen. So ist sein Bild nicht plastisch und abgeschlossen, sondern befindet sich in fortwährender Umgestaltung. Für seine musikalische Entwicklung spielten indes neben den technischen auch soziokulturelle Bedingungen eine herausragende Rolle: Jazz war als Tanz- und Unterhaltungsmusik entstanden und musste im Gegensatz zur so genannten "klassischen" Musik auf (fürstliches oder staatliches) Mäzenatentum verzichten. Daher war er dem hektischen Pulsschlag seiner Zeit ebenso wie die übrigen Moden unterworfen. Das war er umso mehr, da sich in den Jahren während oder kurz nach der Jahrhundertwende die Räder der Maschinen schneller zu drehen begannen, Amerika am Anfang seiner globalen Führungsrolle stand und selbst in Europa die "Ismen"[1] einander die Klinke in die Hand drückten. Es handelte sich um nichts weniger als das Morgengrauen der Moderne und der Jazz war ihr Chronist. Das ewig Neue wurde zum Paradigma der demokratischen Masse. Das Publikum fällte die Entscheidung über Erfolg oder Misserfolg einer musikalischen Bewegung. Gerade diese Wurzeln waren entscheidend für die Fähigkeit des Jazz, sich stets neu zu erfinden - ein Baum, der heute noch frische Triebe hervorbringt. Sobald er jedoch das Wachsen und Verzweigen einstellt, wird er historisch und hört auf, lebendige Musikgeschichte zu sein, ganz gleich ob die Gründe hierfür politischer (Änderung der Staatsform), soziokultureller (Aussterben der letzten Jazzfans[2]) oder musikalischer Natur sind (Konservierung von Bestehendem statt dessen Revitalisierung) .

 

Über die ethymologische Herkunft des Begriffs "Jazz" herrscht Uneinigkeit. Eine letztgültige Herleitung seiner Entstehung ist nicht mehr möglich. Gleichwohl gibt es einige interessante Spuren zu seinen terminologischen Quellen, bspw. seine mutmaßliche "Herkunft von abgeänderten Personennamen (,Jasbo')"[3] oder aus in der Umgangssprache verwendeten Ausdrücken mit sexueller Konnotation, die in Verbindung zu seinen tanzmusikalischen Ursprüngen stehen könnten.[4] Erstmals belegt ist das Wort "Jazz" für die Jahre zwischen 1913 und 1915. Seit ca. 1917 gilt es dann als etabliert, was nicht zuletzt mit der Popularität der seinerzeit bekannten "Original Dixieland Jass Band" zusammenhängt.[5] Im Gegensatz zur Glanzzeit in den USA der 1930er und folgenden Jahre wird sein Name heute nicht mehr gleichbedeutend mit "Populärmusik" verwendet. Vielmehr gibt es eine Fülle teilweise nebulöser Definitionen. Manche betrachten ihn als improvisierten, in seinem Zentrum kreativen Ausdruck des individuellen Musikers.[6] Andere wiederum beschreiben ihn vereinfachend als eine Melange aus afrikanischen Elementen und europäischen Musikformen.[7] Zumindest über seine Herkunft herrscht mittlerweile weitgehend Einigkeit. Seinen unmittelbaren Ausgang nahm er zum einen aus den Spirituals und Worksongs der afroamerikanischen Sklaven - von rudimentären Rhythmusinstrumenten abgesehen gehörten sie zur rein vokale Musikausübung - und zum anderen aus dem Ragtime und dem Blues des ausgehenden 19. Jahrhundert als Formen instrumentaler, bzw. instrumental-vokaler Musikpraxis[8].

 

Die Themen reichten folglich von geistlich-erbaulichen bis säkular-profanen Inhalten. In New Orleans entwickelte sich dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts die erste regionale Ausprägung einer Musik, die Jazz genannt wurde. In der Swing-Ära der 30er Jahre erreichte sie den Gipfel ihrer Popularität, wurde mit der Entstehung des Bebop zu einer Musik voll künstlerischen Anspruchs und nahm schließlich mit dem Aufkommen des Free Jazz avantgardistische Züge an. Diese und die folgenden Stile des Jazz besitzen ihre charakterbildenden Merkmale im Vorhandensein ausfüllender Improvisation und der ihnen eigenen Vitalität und Spontaneität, häufig ternärer Rhythmisierung (swing) und einer Individualität von Sound und Instrumentenbehandlung, welche den Musiker als Individuum auszeichnet.[9] Überhaupt unterschied sich der Jazz erheblich von den auch in Amerika übernommenen Traditionen der europäischen "Klassik" und ihr verwandten musikalischen Strömungen, indem er in typisch afrikanischer Weise auf oralen Tradierungsmustern basierte und sowohl seine Produktion wie Rezeption grundlegend emotional-motorischer Natur war. Er widersprach damit der artifiziell technisch-virtuosen Musizierpraxis weißer Mittel- und Oberschichten. Allerdings änderte sich das bereits in den 1920er Jahren mit der Etablierung des Solisten in den Bands, um dann später im Bebop mit dem Möglichsten an Instrumentenbeherrschung in den Mittelpunkt der Soloimprovisation zu rücken.[10]

 

Die musiktheoretischen Betrachtungen zum Jazz dauern bis heute an und sind bei weitem nicht abgeschlossen. So erschienen seit 1951 eine Reihe von Aufsätzen zum Thema in deutschsprachigen Jazz- und Musikzeitschriften wie bspw. in "Jazz-Podium", "Jazzthetik", der "Neuen Musikzeitung" oder der "Neuen Zeitschrift für Musik".[11] Da die musikwissenschaftliche Forschung anhält, kann jede Jazzgeschichtsschreibung nur unter Vorbehalt zitiert werden, doch gibt es deckungsgleiche Punkte. Es gilt als weitegehend unstrittig, dass die Spezifika seiner Rhythmik afrikanischen Ursprungs sind: Die ternäre Auffassung des "Swing"[12], die Bedeutung der sonst üblicherweise "leichten" Zählzeiten auf 2 und 4, die ausgiebige Nutzung von Synkopen; auch die fruchtbare Zusammenführung kubanisch-lateinamerikanischer Rhythmen (und Instrumente) mit dem Jazz seit den 1940er Jahren unter der Federführung von Dizzy Gillespie fällt unter diesen Punkt. In den karibischen und südamerikanischen Regionen gab es aufgrund des Sklavenhandels ebenfalls afrikanische Musiktraditionen. Als ursprünglich afrikanisch gelten neben den rhythmischen Besonderheiten die bluenotes, deren Tonhöhe nach europäischen Standards nicht genau festgelegt ist. Der Einsatz von Harmonien, die Gestaltung von Melodien, die Form und die verwendeten Instrumente gingen hingegen vorrangig auf europäischen Einfluss zurück.[13] Eine Ausnahme für den letzten Punkt bilden insbesondere das Banjo aus dem Süden der USA, dessen westafrikanische Wurzeln auf das Halam[14] zurückgehen,[15] und das kubanisch-lateinamerikanische Perkussionsinstrumentarium, welches seit den Anfängen des Latin Jazz hinzukam (mittlerweile freilich um weitere traditionelle Instrumente aus Afrika und anderen Erdteilen bereichert).[16]

 

Wie bereits angedeutet standen am Anfang der Jazzentwicklung die Worksongs der afroamerikanischen Sklaven. Im so genannten Participatory Style wurden sämtliche Themenkomplexe ihrer Lebensrealität reflektiert, seien es die Unfreiheit und Unterdrückung, Liebe und Leiden, Arbeitsalltag und Tod, Hoffnung und Verzweiflung. Teilweise geschah dies in geradezu satirisch-zynischer Form:

 

"We raise de wheat / Dey gib us de corn;/ We bake de bread,/ Dey gib us de cruss;/ We sif de meal,/ Dey gib us de huss;/ We peal de meat/ Dey gib us de skin;/ An dats de way/ Dey takes us in."[17]

 

Hier wird auf scheinbar fatalistische Weise die Situation leibeigener Sklaven in bitterem Sarkasmus reflektiert - und dennoch schwelt ein zorniger Unterton, entzündet und genährt vom Funken der Erkenntnis erlittener Ungerechtigkeiten. Musikalisch interessant ist das interaktive Element dieser nur per oraler Tradition reglementierten Liedform: Das Call-And-Response-Prinzip. Ein "leader" gibt den Text vor, welcher dann von den übrigen "Sängern" (chorus) wiederholt wird. Der Participatory Style half bei der Herausbildung von Ragtime, Blues und frühem Jazz und spielt bis heute in der improvisatorischen Praxis eine Rolle (bspw. bei Solopassagen zwischen Drums und Band). Seine Ursprünge liegen ohne Zweifel in den kultischen Stammesgesängen Afrikas oder um körperliche und monotone Arbeitsabläufe zu rhythmisieren und damit erträglicher zu machen. Zweck und Form hatten sich über die Jahrhunderte und Tausende von Kilometer nicht verändert, Sprache und Status indes umso deutlicher.[18]

 

Eine weitere Quelle, aus der sich die Anfänge des Jazz speisten, war der Ragtime. Auch er lässt sich zeitlich nicht auf ein exaktes Jahr fixieren, man hat sich gemeinhin jedoch auf das ausgehende 19. Jahrhundert als Entstehungszeitraum geeinigt. Erstmals zu hören war er in den Bars von Memphis und St. Louis. Ragtime als virtuoser Klavier- und Kompositionsstil[19] mit seiner Vielzahl von überraschenden harmonischen Wendungen, seinem durchgehenden Beat und seinen Synkopierungen war eine Novität und etwas ureigen (afro-)amerikanisches, wofür nicht zuletzt das europäischen Interesse an ihm spricht. Erik Satie, Paul Hindemith und Igor Strawinsky ließen sich von der westlichen Exotik dieser Musik beeinflussen.[20]Ein schwarzer Autor schrieb in seiner Biografie: "It was music that demanded physical response, patting of the feet, drumming of the fingers, or nodding of the head in time with the beat."[21]Es war zweifellos diese quasi sinnliche "Physis", die europäische Komponisten faszinierte. [22]

 

Als dritte und vermutlich bedeutsamste Wurzel, aus welcher der Jazz erwuchs, gilt der Blues. Etliche Musiker entwickelten von hier aus neue, wegweisende Konzepte, u.a. Louis Armstrong, Charlie Parker oder Ornette Coleman.[23] Er entwickelte sich wie der Ragtime in der zweiten  Hälfte des 19. Jahrhunderts vorwiegend aus den Worksongs ehemaliger Sklaven in den Südstaaten und fand bis zur Jahrhundertwende seine dominierende Form: 12 Takte, unterteilt in viertaktige Verse - ca. 2 Takte pro Textzeile, die übrigen 2 Takte zur instrumentalen Ergänzung - und Themenkomplexe wie alltägliche Nöte, Geldmangel, Wanderschaft, harte Arbeit und Liebe, worin sich wiederum die Nähe zum Participatory Style zeigt (Inhalt der Texte, Call-And-Response zwischen Gesang und Instrument(en)). Als weiteres typisierendes Merkmal setzte sich die Bluesskale durch, mit ihrer leicht erniedrigten dritten und siebenten Stufe, den so genannten blue notes. Frühe Interpreten waren wandernde Musiker, die von Ort zu Ort reisten und ihren Lebensunterhalt mit musikalisch unterlegten Geschichten bestreiten mussten. Erstmals im öffentlichen Druck erschien ein Blues im Jahre 1912. Die erste Plattenaufnahme stammt von Mamie Smith und wurde 1920 aufgezeichnet. Die 1920er Jahre wurden dann auch zum Jahrzehnt des Blues und v.a. seine weiblichen Interpreten erlangten Ruhm, allen voran Bessie Smith, Ida Cox und Ma Rainey. Später trugen (singende) Gitarristen wie Muddy Waters, John Lee Hooker oder B.B. King den Blues in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.[24]