Jede Familie hat ein Schaf - Steffen Klemmt - E-Book

Jede Familie hat ein Schaf E-Book

Steffen Klemmt

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Beschreibung

In seiner unverkennbaren eigenen Art und Sprache erzählt uns Steffen die Geschichte seines Lebens, wie er in Ostdeutschland aufwuchs, zum Uhrmacher ausgebildet wurde und sich in der Theaterszene wiederfand, dann seine atemberaubende Flucht in den Westen, seine bayrische Sozialisierung im Münchner Barmilieu der 1990er, seine Reisen und tiefe Verbindung mit östlicher Kultur und schließlich einer Neuorientierung, die, durch Krankheit geprägt, das Äußere nach innen verlegt, aber dadurch nicht an Originalität und Abenteuer einbüßt. Das vorliegende Werk beschreibt mit schonungsloser Ehrlichkeit die Entwicklung und den Reifeprozess eines liebenswerten Menschen, dessen Anderssein nicht allein, aber auch nicht zuletzt, in seiner Sexualität Ausdruck findet.

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Inhaltsverzeichnis

Wer bin ich

Wenn du das Glück hast, anders zu sein, bleib so!

Hier entlang...

Wer willst du sein?

Wacker für Frieden und Sozialismus

Ohne Tabus

Hoch hinaus

Abenteuer

Und nun?

Sie wünschen?

Der Flug in die Freiheit

Zwischen den Welten

Angekommen

Die große weite Welt

Umzug ins Paradies

Die Verwandlung

Schon wieder

Muss ich das mögen?

Die besondere Liebe

Danke Welt, dass du auf mich wartest

Mann, sei entspannt und überlebe!

Nachschlag

Es bleibt mysteriös

Schluss

Warnung

Wer bin ich

Der sollte schreiben...

Das hörte ich immer wieder.

Wenn man das so sagt, mache ich das halt.

Mir wurde sowieso schon von verschiedenen Seiten Egoismus unterstellt, da ich die Ereignisse meines Lebens noch nicht der Öffentlichkeit mitgeteilt habe, die Anfänge, die Kindheit und Jugend in der ehemaligen DDR, die Flucht von dort oder die Reisen, die ich unternahm, das bunt gewürfelte Berufsleben, meine Liebesbeziehungen und großen Enttäuschungen, sowie am Schluss, die letzten Jahre, der Umgang mit meinen gesundheitlichen Herausforderungen, meinem Krebs und dem Schlaganfall nebst Nachwirkungen. Ich möchte euch nur erzählen, was einem alles passieren kann.

Ich weiß nicht genau, wie ich anfangen soll.

Ich schreibe einfach drauf los und reihe ein paar Sätze aneinander, noch weiß ich nicht, was dabei rauskommt. Vielleicht wird es so chaotisch, wie ich es bin.

Die Menschen um mich herum waren immer der Meinung, mein Leben sei einfach und es sehe so aus, als liefe bei mir alles glatt, fast schon spielerisch. Ich bin meistens gut drauf und recht lebensfroh, manchmal frech und richtig zickig, aber auch mal unausgeglichen. Ich kann ausflippen, und wenn, dann richtig. Es gelingt mir manchmal sogar auch, ein wenig witzig zu sein.

Wer es sich mit mir verscherzt, hat es sich mit mir verscherzt. Ist man lieb zu mir, bin ich es auch, manchmal bis zur Selbstaufgabe.

Es gibt Leute in meinem Umfeld, die mich beim ersten Kennenlernen überhaupt nicht mochten. Im Laufe von wenigen Tagen ist aus der sich entwickelnden Sympathie jedoch manchmal sogar eine längere Freundschaft entstanden. Es gibt natürlich auch die andere Seite, dass welche schnell weggerannt sind, weil sie mit meiner Art nicht zurechtkamen. Obwohl es scheint, als würde ich zeitweise leichtfüßig durch das Leben schweben, hatte ich die Möglichkeit, mich durch große Berge von Extremsituationen wühlen zu dürfen. Danke dafür, ohne diese würde ich mein Leben wahrscheinlich nicht so genießen können. Herausforderungen sind doch erst die Würze des Lebens, sie sind wie die Prise Salz auf dem Frühstücksei.

Es war bisher und ist, glaube ich, noch immer sehr interessant und speziell, ich war mal hier und mal da, habe sehr vieles ausprobiert, es war immer was los, manchmal unkontrolliert, aber auch leichtsinnig, riskant und verrückt.

Verrücktheiten sind doch die spannendsten Dinge, die man tun kann, finde ich. Ich bin glücklich, anders zu sein.

Es gab schon Menschen, die mich als seltsam bezeichneten, eine Ehre für mich.

Es gibt aber auch Konstanten in meinem Leben.

Zum Beispiel wohne ich schon lange ganz treu beim selben Vermieter und bin schon viele Jahre brav am gleichen Arbeitsplatz.

Die größte Nichtbeständigkeit ist mein Privatleben. Ich sollte endlich anfangen, darüber nachzudenken, was meine Fehler sind, dass ständig Beziehungen auseinander gehen und ich verlassen werde.

Nur wenige Beziehungen habe ich beendet, einmal ging es um Drogen und zweimal um Prostitution. Ich gehöre zu der Generation, die zunächst versucht zu reparieren und nicht gleich wegwirft. Ich nehme an, dass ich mich oft zu schnell verliebe und die Zeit des Testens stets blind überspringe.

Ich habe etliche tiefe psychische Krisen durchlebt und war manchmal im dunkelschwarzen Keller.

Manche Erlebnisse haben mich so mitgenommen, dass ich mitunter Mühe hatte, meinen Humor zu erhalten – oder Sarkasmus?

Ich glaube, wenn der vergeht, sollte ich ganz schnell in die Box hüpfen.

***

Ich weiß gar nicht, wie man ein Buch schreibt, ich habe es noch nie gemacht. Zwar habe ich schon immer viele Briefe geschrieben, auch sehr lange. Als ich für längere Zeit im Ausland lebte, hatte ich regelmäßigen und intensiven Briefkontakt mit meiner Mutter. Einmal habe ich eine komplette Toilettenpapierrolle vollgeschrieben und einmal einen reichlichen Meter Tapete.

Einer Freundin schrieb ich irgendwann einen um die sechzig Seiten langen Brief, in drei Etappen. Ich saß dazu mit Stift und Papier in verschiedenen Cafés in Asien und wurde schief als Exot begutachtet, man schreibt doch nicht mehr mit der Hand.

Als Kind und Jugendlicher hatte ich mehrere Briefpartner in verschiedenen Ländern. Zum Beispiel gehörten Brieffreundschaften in die Sowjetunion zum guten Ton eines Thälmannpioniers und FDJ-lers, das war Pflicht, schon um die russische Sprache zu üben, die war neben Staatsbürgerkunde das Wichtigste. Es war notwendig, den großen sozialistischen Bruder zu verstehen. Ich hatte aber auch Kontakte nach Guinea-Bissau, mit denen ich mein Englisch praktizieren konnte.

Viele Probleme meines Lebens habe ich schon immer in längeren Berichten verarbeitet. Das zeigt schon mal, dass ich schreiben kann, na gut, jetzt probiere ich es halt mal mit einem Buch.

Aber schreibt man die Ereignisse chronologisch oder sortiert man sie nach Themen?

Wie macht man das, nennt man die Personen beim Namen, die hier und da ihren Aufritt haben werden, oder nimmt man Pseudonyme? Soll sich der Beschriebene wiedererkennen? Vor einigen Jahren war ich zum Beispiel zu einem hundertsten Geburtstag eingeladen, ein Paar, mit dem ich sehr gut befreundet bin, feierte gemeinsam ihren Runden. Als sich die vielen Gäste näherkamen und man sich langsam kennenlernte, kam die Frage einer jungen Frau, woher ich die beiden kenne und in welcher Beziehung ich zu ihnen stehe. Ich erzählte, wie es war, dass wir uns am Theater kennengelernt und dort viele Jahre zusammengearbeitet hatten. Sie wollte mehr wissen und ich erzählte mehr. Plötzlich sagte sie, dass sie mich schon kenne. Sie hatte ein Buch gelesen, in welchem eine ähnliche Person beschrieben war. Ich ließ sie etwas ausführlicher berichten. Ich war's, aber bin ich wirklich ein so unsympathischer Typ? Sollte ich darüber nachdenken?

Ein anderer wollte nach Erscheinen sogar den Verlag verklagen, auch er wurde ausgesprochen seltsam und in seinen Augen negativ beschrieben. Sie taten es dort als künstlerische Freiheit ab und da wir nicht beim richtigen Namen genannt wurden, könnten sie nichts machen, außerdem müssten wir uns an die Autorin wenden. Ich war irgendwann mit ihr bekannt gewesen.

Weil ich unbedingt dieses Buch in meiner Sammlung brauchte, ich aber dieser Verfasserin keinen einzigen Cent zukommen lassen wollte, hatte ich es beim Verlassen einer großen Buchhandlung irgendwann wie ganz zufällig noch in meiner Hand. Wie kann denn so etwas passieren?

Das ist nicht mein Stil, doch hier konnte ich nicht anders. Genau wie einige Jahre später in einer anderen Situation, es musste sein, dass plötzlich etwas mir gehörte.

Noch heute fühle ich mich unschuldig.

Ich werde geschlechtsneutral schreiben. Jeder darf die folgenden Zeilen lesen.

Auch halte ich beim Telefonieren das Telefon noch ans Ohr und nicht vors Gesicht, ich bin noch alte Schule.

Also, wagen wir uns auf eine Wanderung durch ein halbes Jahrhundert. Ich hoffe, ihr werdet mich bis zum Schluss begleiten und diesen Ausflug nicht bereuen.

Bewusst sage ich nicht, genießt es.

Kommt einfach mit.

Wenn du das Glück hast, anders zu sein, bleib so!

Hier entlang...

Um mich annähernd zu verstehen, muss ich ganz am Anfang beginnen, am Montag zehn vor zwölf.

An einem Frühlingsmittag kam ich auf die Welt geploppt. Das passierte in einem kleinen Krankenhaus in den Oberlausitzer Hügeln. Meine Mutter erzählte, dass alle ihre vier Geburten recht flott verliefen. Ich bin das zweite von den vier Kindern. Ich wollte zurück, wahrscheinlich sah ich schon voraus, dass mich da draußen ziemlich viel Trubel erwartete. Ich hatte recht. Ich fühlte mich sehr wohl in dieser warmen, feuchten und sicheren Blase. Plötzlich wurde der Stöpsel gezogen und es blendete mich ein grelles Licht. Als Begrüßung gab es gleich einen erschreckend kräftigen Klatsch auf meinen damals noch putzigen Popo. Das war nicht sehr freundlich. Sollte mein Leben so beginnen? Ich habe meinen Missmut darüber gezeigt und sehr laut geschrien, das klappte schon mal sehr gut. Was hätte ich sonst machen sollen, Schimpfworte habe ich erst später heimlich gelernt. Mein Vater erzählte mir, dass ich als Kind sehr häufig geweint habe. Heute sage ich, nicht ohne Grund.

Ich habe ihn extra angerufen und über meine Kindheit ausgefragt.

Das mit dem Klaps war keine einmalige Sache, aus diesem entwickelte sich Haue, wie man das als Kind so sagt. In den ersten Lebensjahren habe ich sie häufig über mich ergehen lassen müssen. Ich erinnere mich zum Glück nicht an alle. Einige sind jedoch in mein Gedächtnis eingebrannt.

Ich werde die meisten Begebenheiten auch nur anschneiden und lasse Etliches bewusst weg. Was bringt es im Nachhinein? Ich möchte nur erzählen, nicht anklagen. Die Ereignisse meiner Kindheit haben mich sehr stark geprägt und sicher einige Charakterzüge herausbilden lassen.

Eine sehr große Frage, die mich seit jeher bewegt, ist, warum mein älterer Bruder nicht richtig auf meine Ankunft vorbereitet wurde.

Auch er kam irgendwann an und alle um ihn herum haben sich gefreut. Er bekam drei Jahre die größte Aufmerksamkeit, die man erfahren kann, wenn man das erste Kind einer jungen Ehe ist.

Plötzlich war Schluss damit und ohne Vorwarnung wurde er nicht mehr mit dieser Intensität bedacht und war nicht mehr der Mittelpunkt. Die Beachtung ging von heute auf morgen auf den gerade frisch gelandeten kleinen Menschen über. Auch dieser war willkommen. Dummerweise war aber ich dieser Knabe und musste es ausbaden.

Von Anfang an hatte ich keinen guten Stand bei meinem großen Bruder und das zeigte er mir meine ganze Kindheit hindurch deutlich. Machte man mir zum Beispiel ein Geschenk und er wollte es, bekam es aber nicht, nahm er es mir häufig weg oder machte es kaputt, so schnell er konnte. Ich kann mich noch an eine Eisenbahn erinnern, ich war sehr glücklich. Damals war sie schon eine Rarität, eine, die man mit einem Schlüssel aufziehen musste und die Zuggeräusche machte. Die wollte er unbedingt, aber da ich sie bekommen hatte, warf er sie einfach aus Wut an die Wand und sie sprang unreparierbar auseinander. Jetzt hatte niemand mehr etwas davon.

Unsere Eltern waren selten aus oder übers Wochenende weg. Doch einmal wollten sie zu einer Feier außerhalb bei Verwandten und planten, über Nacht zu bleiben. Eine Nachbarin sollte ab und zu nach uns schauen. Im Laufe des Abends warf mein Bruder einen Teil meiner Habseligkeiten einfach zum Fenster hinaus und sperrte mich aus. Ich habe schließlich bei der Nachbarin übernachtet. Anfänglich habe ich noch gewartet, mehrmals geklingelt und gehofft, er würde mich wieder reinlassen.

Es gibt manches zu erzählen über Hänseleien und mehr.

Im Nachhinein habe ich das Gefühl, dass ihn schon meine Anwesenheit provozierte.

Wie kann man als Kind schon so unbeliebt sein? Doch ich konnte ja nichts dafür, dass ich da war, ich habe mich ja nicht selbst gemacht. Jedoch hätte ich mich ganz genau so zusammengebastelt. Ich bin inzwischen mit dem Produkt sehr zufrieden.

Die Kalenderblätter fielen, ich hatte zu wachsen und mich auf die vielen Überraschungen vorzubereiten, die auf mich warteten.

Manchmal fühle ich Wehmut, wenn ich Familien sehe, wo Geschwister Geschwister sind, sich unterstützen, helfen und gemeinsam durch dick und dünn gehen, wo ein Bruder auch ein Freund sein kann. Ich kenne eine ganze Reihe solcher Familien persönlich.

Leider hatten meine Eltern nicht immer die Kontrolle. Sie haben sehr viel gearbeitet und wir mussten uns oft selbst um uns kümmern. Sie arbeiteten im Schichtbetrieb. Beide waren in der Textilindustrie beschäftigt, die in dieser Gegend verbreitet war, und haben an der Herstellung von Decken und Auslegeware, meist für den Export in den Westen, mitgearbeitet. Am Morgen lief es genauso ab, wie bei den Familien in manchen amerikanischen Soaps, Stress, Kinder wecken, was nicht immer einfach war, Kampf ums Bad, hektisches Frühstück. Einmal hatte ich keine Lust aufzustehen. Mutti war schon mehrmals ins Zimmer gekommen. Unter der Bettdecke lugte ein vermeintlicher Ellenbogen heraus, sie schlug mit der ganzen Kraft ihres Körpers darauf, ich schreckte schreiend auf und es stellte sich heraus, dass sie meine Nase traf, die jetzt ohne Unterlass blutete. Ich hatte frei. Meine Schwester bekam ein Entschuldigungsschreiben für meine Lehrerin mit, dass es mir nicht gut ginge, nichts über die geschlagene Nase. Das tat meiner Mutter natürlich wahnsinnig leid, doch erst Tage später konnten wir darüber lachen, es hat sehr lange weh getan und geblutet.

Die Schule war ganz in der Nähe.

Auch die Schulzeit ist mir in keiner sehr guten Erinnerung, ich war der Jüngste in der Klasse und das hat man mir mehrfach gezeigt. Bei einem Klassentreffen fragte mich eine ehemalige Lehrerin, ob ich mich erinnern könne, dass sie mich mehrmals nach Hause begleiten musste, weil man mich mal wieder verprügeln wollte.

Eine Mitschülerin fand zum Beispiel heraus, dass ich ein Geheimnis hatte, und erzählte das in der Schule, nach dem Motto, trallala, ich weiß etwas. Unsere Eltern haben zusammengearbeitet. Bis zur Pubertät habe ich noch ins Bett gepinkelt. War das der Stress der ersten Jahre? Auf jeden Fall war es ein guter Grund für noch mehr Beschimpfungen. Mit meiner nächtlichen Feuchtigkeit hatte mein Bruder auch sehr große Probleme, was er mich manchmal spüren ließ. Ein anderer hatte mehr Glück, er war beliebt und keiner wusste von seinem Problem. Wir trafen uns einmal zufällig beim Arzt und verstanden uns danach recht gut. Wäre es einer von den mir nicht wohlgesonnenen Jungs gewesen, hätte er mir zur Seite stehen können und mein Leben in der Klasse wäre friedlicher verlaufen, schon aus Angst, die anderen könnten etwas über ihn erfahren.

Ich war ruhig und ein richtiges hasenfüßiges Lämmchen.

Mein Bruder war nicht unbeteiligt, wenn man mal auf dem Nachhauseweg von der Schule hinter der kleinen Bibliothek auf mich wartete. Mitunter waren auch Typen aus seiner Klasse dabei. Ist es nicht so, wenn man verdroschen werden soll, zu sagen, lasst mich in Ruhe oder ich sage es meinem großen Bruder. Das wäre schön gewesen. Mir fällt nichts ein, was ich mit einem Bruderverhältnis verbinden kann.

Ich kann nicht sagen, warum das alles so passierte. Wahrscheinlich auch, weil ich es mit mir machen ließ. Vielleicht war ich ja auch manchmal frech, ich weiß es nicht mehr.

In meiner Klasse war es nicht immer spaßig, mitunter hat man mir einfach so mit dem Buch auf den Kopf geschlagen oder nur so geboxt. Wenn ich bei bestimmten Mitschülern vorbeigelaufen bin, wurde mir manchmal ein Bein gestellt, sodass ich gestolpert bin, meine Sachen wurden mir auch mehrfach weggenommen und teilweise kaputtgemacht. Einer nahm mir zum Beispiel während einer Schulstunde meinen Füllfederhalter weg, damals noch mit echter Tinte, hat ihn zerbrochen und auf mich gespritzt. Das sind nur einige Beispiele.

Irgendwann habe ich mich das erste Mal gewehrt und einen Mitschüler, der gerade etwas gegen mich ausheckte, geschlagen. Er bekam einen Teil der angestauten Wut ab. Ich bin über mich sehr erschrocken. Selbst mir tat es weh.

Seitdem war es etwas ruhiger. Warum habe ich nicht schon eher gemerkt, dass ich mit meinen Händen mehr machen kann, als sie nur in den Hosentaschen zu verstecken?

Die Zeit des furchtsamen, verängstigten Lammes war vorbei, ich hatte meinen Schafspelz abgelegt, zumindest in der Schule. Nein, ich wurde zu keinem Wolf, ich war noch immer sehr feige.

Ich hatte nur wenige Freunde in der Klasse. Schon damals

bin ich spazieren gegangen und habe gern gelesen. Trotzdem war ich, so oft es ging, draußen und habe mit den

Nachbarkindern gespielt und herumgetobt.

Ich war nur zu wenigen Klassentreffen und wenn, gab es nur wenige ehemalige Mitschüler, mit denen ich mich wirklich unterhalten habe. Bei einem nicht lange nach der Wende bin ich nach der Wanderung von der Schule zum Veranstaltungsort, einer kleinen Sportgaststätte, nach kurzer Zeit wieder gegangen. Die meiste Zeit habe ich mit einem Lehrer und einer ehemaligen Mitschülerin gesprochen. Wenige Jahre zuvor bin ich illegal von Ost nach West geflohen. Ich weiß nicht, ob sie vielleicht damit nicht zurechtkamen, es war die Umbruchzeit.

Irgendwann war wieder eines geplant und da am selben Abend ein guter Freund seinen runden Geburtstag feierte, war mir dieser wichtiger.

Es gibt nur zwei Damen, ich wollte gerade Mädchen schreiben, aus meiner Schule, zu denen ich noch regelmäßigen Kontakt habe. Der Lehrer, den ich manchmal besucht habe, ist leider unlängst verstorben.

Ich war ein durchschnittlich guter Schüler. Vielleicht hätte ich ohne diese Behandlung in den ersten Schuljahren besser sein können. Sport und die naturwissenschaftlichen Fächer waren nichts für mich. Deutsch, die Fremdsprachen Russisch und Englisch sowie Musik, Kunsterziehung, Geografie und Geschichte mochte ich, sogar Staatsbürgerkunde.

Zu Hause hatte ich oft Angst, Angst vor meinem Bruder.

Eines Tages schickte meine Schwester den Kleinen aufgeregt in die Waschküche. Er rannte schreiend, um die Mutter zu holen. Mit einem Messer in der Hand wollte mir der Ältere mal wieder in aller Deutlichkeit auf seine spezielle herzliche Art seine Liebe zeigen. Mutter stellte sich zwischen uns. Diese Situation wäre fast eskaliert. Noch heute erinnert sich mein jüngerer Bruder an diese Situation. Er war damals fünf. Die Kleinen tun mir im Nachhinein sehr leid, sie mussten eine Reihe von Vorfällen, die sich zwischen meinem älteren Bruder und mir ereigneten, beobachten, die sicher auch ihr Leben beeinflusst haben.

Das Ungewolltsein als kleiner Bruder zieht sich durch meine ganze Kindheit und ich denke nicht gern daran zurück, manchmal kommen mir jedoch einige Vorkommnisse sehr deutlich ins Bewusstsein. Manche Begebenheiten begleiten mich wie düstere Schatten durch mein Leben, noch heute. Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt, dass wir nie Freunde geworden sind, auch nicht als Erwachsene. Wenn wir uns mal bei einer Familienfeier sehen, reden wir zwar miteinander, doch sagen wir nur wenig, wir kennen uns gar nicht wirklich.

Es wurde noch schlimmer, als er anfing Alkohol zu mögen.

Mein Bruder begann, sehr oft und viel zu trinken

Das Trinken verstärkte seine Konflikte mit mir noch mehr.

Ich war noch sehr jung, als man ihn an einem Winterabend in zerfetzten Sachen dreifach blau nach Hause brachte, stinkbesoffen, da sagt man doch blau, blaugeschlagen und blaugefroren. Er war im Jugendclubhaus und danach in eine Prügelei verwickelt gewesen und man ließ ihn im Schnee liegen. Es war traurig anzusehen, wie meine Mutter geweint und sich um ihn bemüht hat.

***

Mein Bruder hat Jahre später ungefähr einhundertsechzig Kilometer vom Wohnort meiner Eltern geheiratet. Da sie Geschenke für das junge Paar hatten, war es doch logisch, so empfanden es jedenfalls meine Eltern, dass ich sie mit dem Trabbi, den mein Vater im Tele-Lotto gewann, zur Feier fuhr und sie nicht mit viel Gepäck und mehrfachem Umsteigen den Zug nehmen mussten. Mein Bruder wollte mich dort bei Ankunft vor der Tür stehen lassen. Ich hatte sowieso geplant, recht bald weiterzufahren und bei einem Freund in der Nähe zu übernachten. Da gab es bei dem jungen Glück schon einen Streit. Seine Angetraute bat mich herein, ich hatte ihre Schwiegereltern gebracht, sollte wenigstens zum Essen bleiben und durfte, wie auch am nächsten Tag beim Abholen meiner Eltern, zum Nachmittagskaffee neben meinem Bruder sitzen, Ironie. Ich glaube, dass meine Schwägerin manchmal über unser Verhältnis traurig war.

Viele Jahre später, als ich in Problemen feststeckte, habe ich mit einem Psychologen dieses unausgeglichene Verhältnis zum Ältesten durchgearbeitet und analysiert. Er wühlte sehr tief in meiner Kindheit und es war für mich sehr emotional. Auch er vertrat die Meinung, dass dies ein Versäumnis von Anfang an war.

Es ist mir bis heute unklar, wieso mein Bruder so mit mir umgehen konnte.

Doch wem soll ich diese Frage stellen?

***

Ich trinke auch gern mal, aber Alkohol bekam in meinem Leben keinen zu großen Stellenwert. Ich kann mich noch jetzt an jedes Mal erinnern, wo ich wirklich besoffen war. Meine Mutter amüsierte sich einmal köstlich, als ich eines nachts von einem Polterabend in der Nachbarschaft das erste Mal angetrunken nach Hause kam. Ich war sehr lustig, habe viel gekichert, musste mich aber dann doch übergeben, aber ich habe das Becken getroffen. Mein Bruder meist nicht, er hat es häufig nicht einmal gefunden. Noch heute bin ich ein Genusstrinker. Ich mag es zum Beispiel, am Strand zu sitzen und zum Sonnenuntergang ein Bierchen oder einen Cocktail zu trinken. Zum Abendessen gehört ab und zu ein Glas Rotwein, manchmal danach auch ein Kräuter, einer, der nur wenige Meter vom Elternhaus entfernt gebrannt wird. Beim Oktoberfest habe ich schon nach einem halben Bier einen Kreuzblick.

Die Eltern haben sehr selten getrunken, höchstens zu Feierlichkeiten ein Gläschen pappsüßen Wein oder ein kleines Eierlikörchen aus dem Waffelbecher.

Meistens trinken die Väter mit ihren Söhnen das erste Bier. Bei uns lief das andersherum. Ich habe meinen Vater, als ich schon erwachsen war, auf unser erstes gemeinsames Bier eingeladen.

Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, dass mein Vater angesäuselt und lustig von einer Betriebsveranstaltung nach Hause kam. Ah, da fällt mir gerade ein, dass ein Freund und ich mit ihm, als ich schon nicht mehr bei meinen Eltern lebte, eine Eierlikörparty gemacht haben und er in meiner Wohnung übernachten musste. Er konnte mit seinem Moped nicht mehr nach Hause fahren.

Auch habe ich nie geraucht. Klar habe ich probiert, wie fast jeder mal. Unser praktischer Unterricht, Einführung in die sozialistische Produktion, fand im Nachbarort statt. Man konnte über Felder dorthin laufen. Da sehr viele rauchten, ließ ich mir einmal auf dem Rückweg meine erste F6 geben, warf sie nach sofortigen Hustenanfällen gleich wieder weg und zertrampelte sie wie Rumpelstilzchen. Das wars fast schon mit dem Rauchen. Während meiner Theaterzeit habe ich mir aber zum Ritual gemacht, bei jeder Premierenfeier ein Vanilletabakpfeifchen vor mich hin zu pusten, ich fand das witzig, andere sagten, das habe Stil. Klar habe ich hin und wieder gepafft, auch in Asien die Nelkenzigaretten, dort waren sie gegen Mückeninvasionen hilfreich. Diese habe ich auch manchmal, als ich schon in München lebte, aus Spaß angezündet, um in Bars einen Platz zu bekommen.

Manche empfanden den Gestank als unerträglich und rannten davon. Als ich zur Armee eingezogen wurde, waren viele Nichtraucher dabei. Bei der Entlassung war ich aus unserer Abteilung der einzige.

Selbst Drogen hatten bei mir keinen Erfolg. Ein Freund wollte mich unbedingt in dieses Milieu entführen und hat mir verschiedene Sachen auch ohne mein Wissen gegeben. Er kam damit bei mir nicht an, ich habe es meist gemerkt. Manchmal war er verwundert, dass nichts von dem, was er mir heimlich gab, funktionierte. Er hat regelmäßig Stärkeres genommen. Soll er, ich nicht.

***

Eine Sache wollte ich jedoch probieren, unbedingt. Während meiner Asienzeit bei einer großen Strandparty haben sehr viele die sogenannten Magic Mushrooms gegessen und waren richtig gut drauf, wie man sagt, high. Ich sagte einem balinesischen Freund, dass ich das auch versuchen möchte. Er bereitete mir am verabredeten Tag ein Omelett aus vielen Eiern und diesen Pilzen. Schon während des Essens wurde mir schummrig. Ich konnte noch meine Taschen ausräumen und meinem Bekannten alles zur Aufbewahrung geben, rechtzeitig, plötzlich wurde mir so schlecht, dass ich Mühe hatte, meinen Magen drin zu behalten. Ich war wirklich kaputt, es ging mir elendig miserabel und auch am nächsten Tag lag ich nur im Bett. Wie ich dahin kam, weiß ich nicht, die Kopfschmerzen zertrümmerten mir fast die Schädeldecke. Trotzdem, ich wollte es wissen, bei dieser Feier am Strand hatte keiner derartige Probleme. So wiederholten wir das Spiel nach einer Woche. Ich bekam wieder dieses verzierte Omelett. Nach der reichlichen Hälfte musste ich pinkeln, es ging mir gut. Der Weg zum Örtchen verlief schon etwas leichtfüßig, gefühlt ohne Bodenberührung. Als ich mich dort im Spiegel sah, fing ich an zu lachen wie ein Irrer, ich sah ganz anders und verschoben aus, mein Kopf war winzig klein und sehr weit weg. Auch als ich an mir herunterschaute, stimmten die Proportionen nicht mehr, ich hatte meterlange, ganz dünne Arme und weit am Ende putzige Minihände. Mein Lachkrampf wurde so stark, dass ich mit dem Rücken an der Wand nach unten rutschte und schließlich auf dem vollgepissten Fußboden saß. Durch mein lautes Gekicher kam mein Bekannter herein um zu schauen, was mit mir passiert ist. Draußen sind wir schließlich durch den Sand geschwankt. Er war clean und hat sich nur um mich gekümmert, so war es vereinbart.

Plötzlich fing alles an, sich langsam und sacht um mich herum zu drehen, es funkelten bunte Lichterstrudel, die gemütlich schneller wurden, in sämtlichen Farben, Formationen und Größen, ein Feuerwerk aus Harmonie und Frohsinn. Die unzähligen Sterne tanzten, es war wahre Liebe, ein bisher verborgenes Gefühl, all meine Sinne waren beseelt, waren in Freudenstimmung. Ich fühlte mich schweben in Sorglosigkeit, ich war mitten im Nirgendwo und hatte mich in die Lüfte erhoben. Ich war eine Wolke, ein tanzender Papierdrache an einer Schnur, ohne die ich sicher auf ewig im Firmament verschwunden wäre. Ich hüpfte tänzelnd übers Meer, die Wellen streiften kitzelnd meine Füße. Die Melodien waren betörend, kleine Glöckchen, die zart durch das farbenfrohe Leuchten klangen und schüchtern lauter wurden, leise Gesänge, die mich umfingen wie liebende Arme und als sanftes Echo widerhallten. Raum und Zeit hatten sich aufgelöst. Mein federleichter Körper wurde umhüllt mit dezenten Düften aus süßen Rosenblättern und Lavendel. So soll es bleiben, das ist das wahre Glück. Nie war ich so frei.

Das war es also, was die anderen glücklich machte.

Leider kommt man irgendwann wieder zurück.

Den Fehler, den sie bei mir beim ersten Mal gemacht haben, war, mir nicht zu sagen, dass ich zum Hauptgang viel Wasser trinken sollte.

Trotz der wunderschönen Halluzinationen in der heißen Tropennacht am Strand, die mir einen Wahnsinnstripp bescherten, einmal reicht. Am nächsten Morgen ging es mir sehr gut, kein Rausch, keine Kopfschmerzen, es war die richtige Dosis gewesen. Daher bezeichnete man sie also als magisch. Aber diese Pilze sind äußerst giftig.

Bei den sogenannten Vollmondpartys an verschiedenen Stränden gibt es immer wieder unerfreuliche Zwischenfälle und Vergiftungen. Wieso isst man auch Pilze, die auf Kuhscheiße wachsen? Selbst schuld.

***

Das Verhältnis zu meiner Schwester war gut, von Anfang an, sie ist ein knappes Jahr jünger als ich. Ich kann sagen, dass wir Geschwister waren. Das hat sich jedoch auch geändert. Als sie volljährig wurde, hat sie sich von der Familie abgewendet und losgesagt. Das hat mich als Neunzehnjährigen sehr getroffen und war äußerst schmerzhaft.

Sie stellte mich vor die Wahl, mich zwischen ihr und unseren Eltern zu entscheiden. Natürlich habe ich mich für die Eltern entschieden. Es lief nicht alles rund bei uns, aber das heißt nicht, dass ich mich gegen meine Eltern stelle. In anderen Familien wurde geschlagen, bei uns wurde geschimpft, oh ja, manchmal heftig und laut. Doch davon habe ich keinen Schaden mitbekommen, dass ich manchmal etwas verkorkst bin, hat andere Ursachen.

Nur einmal hat mir mein Vater mit dem Gürtel den Arsch versohlt. Ich hatte einen Tadel von der Schule mit nach Hause gebracht und unter dem Bett liegend seine Unterschrift auf diesem Schreiben nachgemacht. Dabei hat mich mein Bruder erwischt und verpetzt, herzlichen Dank noch.

Die nächsten Male habe ich besser aufgepasst.

Ab sofort bist du für mich gestorben, war die Reaktion meiner Schwester.

Aber trotzdem, warum sollte ich mich gegen die Eltern entscheiden? Sie haben getan, was sie damals konnten, und haben versucht, uns vier Kindern zu ermöglichen, was ging. Wir konnten uns keine großen Sprünge leisten. Auch hatten wir nicht immer den neuesten Schrei an Klamotten, zum Beispiel trugen wir nie echte Jeans, aber wir bekamen ja auch keine Westpakete wie andere. Bei uns hießen sie Niethosen, ein Abklatsch der Jeans, damals noch Made in GDR, nicht aus China. Wir hatten genügend zu essen, waren gepflegt, sauber und regelmäßig beim Friseur und Zahnarzt. Ich bin damals lieber zum Zahnarzt gegangen, heute mag ich beides nicht. Während meiner Kindergartenzeit hat mir ein Friseur einmal ins Ohr geschnitten.

Wollten wir etwas Besonderes haben, mussten wir es uns erarbeiten. So habe ich in den großen Ferien Briefe und Zeitungen ausgetragen und mir auf diese Art einen Kassettenrekorder verdient.

In jungen Jahren habe ich begonnen, Klavierunterricht zu nehmen. Es hat mir sehr großen Spaß gemacht und ich war gut, meinte mein Lehrer. Er sagte, dass ich täglich üben müsste, doch dazu bräuchten wir zu Hause ein Klavier. Das konnten mir meine Eltern zum Beispiel nicht bieten. Ich verstand es, wir hätten auch gar nicht den Platz dafür gehabt. Der Lehrer empfahl mir Akkordeon spielen zu lernen, irgendwie sagte mir das nicht zu. So wurde es für ganz kurze Zeit Flöte, die mich nicht befriedigte.

Ich liebe Musik. Schon früh entdeckte ich die Schönheit mancher klassischen Stücke.

Ganz entgegengesetzt dazu mag ich aber auch Schlager, lacht nicht. Schon als Vierzehnjähriger war ich zu Konzerten eines französischen Chores, der durch die Konzerthallen der DDR tourte. Ich konnte ihn mehrmals erleben und habe auch mit einigen Jungs zu sprechen versucht, was sehr lustig war bei dieser Sprachbarriere. Dabei lernte ich auch andere im Osten bekannte Sänger persönlich kennen. Diesen Chor habe ich erst vor wenigen Jahren wiedergefunden und es ist zu einem Ritual geworden, jährlich zur großen Weihnachtsgala nach Paris zu fliegen.

Einmal wollte ich unbedingt einen bei Damen sehr beliebten, heute würde man sagen, Schnulzensänger, erleben. Es war am Internationalen Frauentag. Ich war fast der einzige männliche Gast, ungefähr vierzehn, abgesehen von den Herren der Security, die dringlichst notwendig waren. Die Frauen sind fast durchgedreht, solchen Wahnsinn habe ich bisher noch nie erlebt. Es wurde gekreischt, Tränen flössen, ein kompletter Zoo an Plüschtieren und straußweise Blumen flogen auf die Bühne. Ich fand es einfach nur lustig. Ich konnte mich gar nicht auf den Sänger konzentrieren.

Inzwischen hat sich mein Musikgeschmack sehr erweitert und auch die harten Sachen drehen sich auf dem Plattenteller. In diesem Punkt bin ich kein Softie mehr. Momentan befinde ich mich in der Phase beruhigender Meditationsmusik.

Solange ich in der Neubauwohnung bei meinen Eltern lebte, hatten wir keinen Fernseher, doch wenn wir mal eine Sendung sehen wollten, waren wir gern gesehene Gäste bei Nachbarn, natürlich nicht alle auf einem Haufen. Ich war befreundet mit einem Jungen aus einer unteren Klasse. Ihm habe ich in Russisch geholfen. Dort war ich mitunter zum Fernsehen. Diese Familie hat mich auch manchmal zu Ausflügen mitgenommen.

Um die Abende auch ohne TV auszufüllen, wurde in unserer Familie viel gespielt, Mensch ärgere dich nicht, Halma, Mau Mau und so ’n Zeug. Ich mochte es gar nicht, es gab oft Streit und schlechte Verlierer. Seither spiele ich nicht gern und weigere mich noch heute, an Spieleabenden bei Freunden teilzunehmen.

Die Wochenenden verbrachten wir oft im Schrebergarten, wie man ihn damals hatte. Meine Mutter war gelernte Gärtnerin und die Eltern liebten ihre Gemüse- und Blumenbeete. Ich sage ehrlich, dass ich damals an Gartenarbeit wenig Freude hatte, besser, ich mochte sie absolut nicht. Die Beeren naschte ich jedoch gern, meist heimlich. Wenn du Beeren willst, musst du auch arbeiten. Zum Glück konnte mich Muttern nicht immer beobachten. Zur Erdbeerzeit war ein großer Teil des Grundstücks eine regelrechte Oase. Dass ich im Garten so faul war, gefiel meinen Eltern überhaupt nicht. Heute wäre das bestimmt anders. Bei einem längeren Asienaufenthalt Jahre später besuchte ich eine Familie und half dort zum Beispiel auf dem Reisfeld.

Die viele Hausarbeit war so aufgeteilt, dass auch wir Kinder mit ran mussten, regelmäßigen Küchendienst hatten, den Hausflur wischen mussten oder die Wäsche für die Maschine zu sortieren hatten, das empfand ich als besonders widerlich. In den ersten Jahren gab es noch einen Waschraum im Keller, dort stand ein großer Kessel, der mit Holzscheiten geheizt werden musste, daneben die Waschmaschine. Auf die Wäscheschleuder mussten wir uns immer setzen, damit sie nicht davon sprang. Das hat mir großen Spaß gemacht, da saß ich gern. Auch hatte jeder mal Schuhputzdienst. Derjenige stand dann mit einer Reihe von Schuhen vor der Haustür, hat geputzt und gewienert. Die Hausarbeiten liefen zwischen uns Kindern nie friedlich ab, es gab stets sehr viel Streit.

Ich glaube, dass meine Mutter bei uns das Steuer in der Hand hatte. Wenn Zeit blieb, hat sie gern gelesen und Handarbeiten gemacht.

Jedoch war es überwiegend der Vater, der bei uns gestrickt und gestickt hat. Das hat er auch uns Kindern beigebracht. Mir macht das Alleinleben in diesem Punkt kein Problem, ich kann einiges selbst reparieren und Knöpfe annähen. Ich konnte auch mal stricken, habe es aber schon lange nicht mehr probiert. Mein Vater hat in meiner Klasse sogar den Handarbeitsunterricht gegeben. Auch hat er Tischdecken und Kissenbezüge bestickt und verkauft, die waren sehr beliebt. Bei uns wurde viel gebügelt, fast alles, auch Unterwäsche, die man sowieso nicht sah, in meinen Augen schon immer der größte Blödsinn. Ich liebte es, meine Hosen selbst zu bügeln, so richtig krass auf Bruch, messerscharf, manche waren unten ganz weit und oben so eng, dass sich deutlich die Poritze und die Vorderseite abzeichneten. Absichtlich habe ich die Unterhosen weggelassen, wenn ich diese Hosen anzog. Ich fühlte mich sexy, würde ich jetzt sagen. Ich weiß nicht, warum mir das so gefiel. Man trug es damals so. Mein jüngerer Bruder nannte sie Schlenkerhosen, ein alberner Begriff. Heute würde man diesen Style als idiotisch bezeichnen. Vielleicht ist es auch schon wieder in Mode, da bin ich nicht so auf dem Laufenden.

Einmal in der Woche stellte man sich in der Kaufhalle in einer langen Schlange an und wartete, bis man an der Reihe war, um frisches Fleisch zu bekommen.

Gab es exotische Früchte, bekam man diese abgezählt. Mutter hat dann meistens zwei von uns losgeschickt, wir durften uns dort nicht kennen.

In den ganz frühen Kindertagen durfte ich manchmal mit der Milchkanne frische Milch im Milchladen holen oder das warme Brot vom Bäcker, welches ich meist schon auf dem Nachhauseweg angeknabbert habe, es wurde geschimpft.

Die Eltern haben gut gekocht, dabei haben sie sich ergänzt. Schon als Kind aß ich ihnen die frisch geschälten Zwiebeln weg, erzählte mir einst meine Mutter, die mag ich heute noch viel lieber als Äpfel. Ich konnte mir bei meinen Eltern einiges noch heute Hilfreiches abgucken. Eines meiner Lieblingsgerichte sind Kartoffelpuffer. Wollte uns Mama eine Freude machen, schälte und hobelte sie einen riesigen Berg Kartoffeln. Das war harte Handarbeit, man brauchte viel, um sechs Mägen zu füllen. Aber sie tat es hin und wieder, sie liebte ihre Familie. Wenn ich meinen Vater besuche, kann ich mir noch heute diese Delikatesse wünschen.

Bei einem Sonntagsessen gab es einst eine lustige Begebenheit. Meinem Bruder sprang beim Schnitzelschneiden das halbe davon vom Teller. Wir suchten alle sehr lange auf allen Vieren danach, überall, unterm Sofa, den Schränken, und fanden es nicht wieder. Erst Tage später, als meine Mutter mal wieder bügelte, steckte es in der Hemdtasche, frisch gewaschen und weichgespült, wie neu, man brauchte es nur noch warmbügeln.

Wenn Mutter den Küchenofen anheizte, dass er fast glühte und mehrere Brote aufschnitt, wussten wir, es gibt einen Gaumenkitzler. Sie röstete scheibenweise das Brot auf der verkohlten Herdplatte und strich sehr dick Butter darauf, dass sie tropfte. Wir mussten uns Scheibe für Scheibe anstellen.

***

Manchmal sind wir ins Kino gegangen.

Seit ich zurückdenken kann, war dies ein Ort, an dem ich mich sehr wohl und sicher gefühlt habe. Ich habe unzählige Filme gesehen. Der Eintritt kostete für Kinder fünfundzwanzig Pfennig. Sonntags, wenn nichts anderes geplant war, war mein Kinonachmittag. Die Angestellten kannten mich nach kurzer Zeit und ihnen gefiel meine fröhliche Art. Eines Tages war die Kartenabreißdame krank und ich durfte für sie einspringen, dafür konnte ich das Geld behalten und den Film vom Angestelltenplatz ansehen, ich war sehr stolz. Damit ging es los, ich begann, so oft sich die Möglichkeit ergab, zunächst bei Kindervorstellungen die Eintrittskarten zu kontrollieren, und konnte alle Filme, ohne Eintritt zu zahlen, sehen.

Nach einigen Jahren fragte mich der Vorführer, ob ich mir nicht mal die Filmvorführmaschinen anschauen wollte, die waren riesig und respekteinflößend, die alten Ernemann. Ich war begeistert und habe, mittlerweile war ich schon dreizehn, die Funktionen und das Bedienen kennengelernt, sodass ich ihn auch später vertreten konnte. Spannend war, dass das Licht mit zwei Kohlestäben erzeugt wurde, die man ständig nachregulieren musste. Erst viel später im Physikunterricht habe ich das Prinzip des Lichtbogens verstanden. Kino war für mich Freiheit, ich konnte mich in eine Fantasiewelt verziehen und entdeckte mich in mancher Figur auf der Leinwand. Auch sah ich schon in frühen Jahren Filme, die erst ab achtzehn zugelassen waren, es gab in manchen Streifen sehr viel Haut und oft noch mehr zu sehen, mitunter viel viel mehr. Einige waren sehr freizügig, mich schon damals anturnend. Dadurch begann meine Aufklärung. Na ja, Aufklärung, ich sah Dinge, die ich noch nicht sehen durfte, es war sehr schön für mich, ich habe diese Szenen wahnsinnig genossen. Doch ist es im echten Leben wirklich so? Manchmal vertrat ich den Chef, nur um manche dieser Filme mehrmals zu sehen.

Es gab Wochenenden, an denen wir mit kleineren mobilen Vorführmaschinen zu Freiluftvorstellungen fuhren oder Hintergrundfilme bei Veranstaltungen und Konzerten, auch bei großen Bands, wie zum Beispiel den Puhdys, zeigten. Später haben mich zeitweise andere Kinos der Umgebung ausgeliehen, wenn ein Vorführer ausfiel. Ich hatte einen Platz gefunden, wo ich glücklich sein konnte.

Unser kleines Städtchen liegt in einem Tal zwischen zwei bewaldeten Bergrücken. In diese Wälder verschlug es mich schon als Heranwachsender sehr oft. Damals waren die Wälder noch sauber. Gab es weniger Müll oder waren die Menschen anders? Ganz in unserer Nähe gibt es einige Fischteiche, wo man Schwäne beobachten kann, noch jetzt. Dort habe ich manchmal vor mich hin geträumt, auch um den Schulalltag zu vergessen, dort hatte ich meine Ruhe.

Wenn ich heute in die alte Heimat fahre, unternehme ich jedes Mal mindestens eine Wanderung, zum Beispiel zu den Wirtshäusern, die sich als beliebte Ausflugsziele im Wald und auf den Hügeln verbergen. Ich mag das dunkle Bier, in der Gegend gebraut, eines muss immer sein, das ist Tradition.

Im Familienurlaub waren wir nicht oft. Wir Kinder hatten ja jeden Sommer für einige Wochen unser Kinder-Ferienlager, vom Betrieb der Eltern organisiert. So bekamen sie auch mal eine Pause von uns, ich glaube, die einzige im Jahr.

Einmal wurde ich jedoch nach den ersten Tagen wieder nach Hause geschickt. Jede Nacht hatte ich ins Bett gemacht. Ich glaube, dass ich meinen Eltern mit diesem Problem sehr viel Ärger gemacht habe. Es tut mir leid. Deshalb waren wir auch oft beim Arzt. Aber jetzt hatte ich meine Eltern das erste Mal in meinem Leben für mich allein. In diesem Fall hatte Bettnässer zu sein etwas Gutes. Wir drei machten mehrere wunderschöne Tagesausflüge. Ich weiß gar nicht, ob es gut für meine Eltern war, dass ich nach Hause kam, sie brauchten doch selbst etwas Erholung und hatten dafür extra ein paar Tage von der Arbeit freigenommen. Ich jedenfalls habe es genossen und sie ganz anders als sonst erlebt, sie mich sicherlich auch.

Einmal bekam mein Vater als Auszeichnung für seine gute Arbeit im Volkseigenen Betrieb eine Reise für Frau und zwei Kinder in ein FDGB-Hotel im Thüringer Wald. Meine Schwester und ich durften mit, zwei Wochen. Es gefiel uns dort sehr gut. Wir gingen viel spazieren. Mich faszinierten die stattlichen Bäume, die größer waren als die, die ich bisher kannte.

Ich weiß noch, dass dort ein junger vietnamesischer Hotelangestellter einen großen Eindruck bei mir hinterlassen hat, wir spielten manchmal Tischtennis und er erzählte von seiner Heimat. Mich hat sein Andersaussehen fasziniert. Er war schön. Ich war vierzehn. Die Adresse aus Hanoi, die er mir aufschrieb, besitze ich noch, das Original. Vielleicht rührt schon von daher mein Interesse an den asiatischen Kulturen.

Selten haben wir Geschwister uns zusammengetan und gegen die Eltern etwas ausgeheckt. Einmal jedoch, kurz vor Weihnachten, sie waren beide auf Nachmittagsschicht, haben wir so lange nach den Schlüsseln der verschlossenen Schränke gesucht, überall, bis wir sie zwischen den BHs meiner Mutter fanden. Um die Geschenke, die wir suchten, haben wir uns auch gleich gestritten, fast geprügelt, und am nächsten Tag den Eltern gesagt, wer was haben will, wie dumm waren wir. Die Weihnachtsfeiertage liefen bei uns wie bei vielen Familien ab, außer dass wir nicht in die Kirche gegangen sind. Wir Kinder mussten mittags ein Bad nehmen und wurden dann ins Kinderzimmer geschlossen. Als wir wieder freigelassen wurden, gab es in der Küche traditionell Würstchen mit Kartoffelsalat. Dann wurden wir in das weihnachtlich erleuchtete und duftende Wohnzimmer geführt. Ich empfand es in den ersten Jahren als Wunder. Der festlich geschmückte Weihnachtsbaum war vorher noch nicht da gewesen. In den ersten Jahren dachte ich, der Weihnachtsmann hat einen dicken Sack und bringt die Geschenke jedem Kind persönlich, die lagen jedoch schon unter dem Baum. Er war bestimmt am Nachmittag heimlich da, als wir schliefen. Aber wieso hat er die Geschenke vorher im Schrank der Eltern aufbewahrt? Das war mir ein Rätsel. Einmal bekam ich Ski, der Weihnachtsmann hatte sich sicher vertan. Das war selbst für ihn rausgeschmissenes Geld. Ich glaube, ich habe sie nur einmal benutzt. Schon damals war mir Sport gleichgültig.

Plätzchen haben wir meist gemeinsam gebacken, die gab es nach der Bescherung. Beim Backen wurde oft heftig darum gestritten, wer die Schüssel auslecken durfte.

Zu dieser Zeit gab es noch echte und lange kalte Winter. Manchmal lag meterhoher Schnee. Wir wohnten im Erdgeschoss. Einmal türmte er sich so hoch, dass die Hälfte der Fenster verdeckt war und wir nicht aus der Tür kamen. Im Wohnzimmer stand ein großer Kachelofen. Der wurde täglich geheizt, jeder war mal dran. Verspätete sich einer damit, blieb es den halben Tag kalt in der Bude. Jeden Herbst kam dafür ein großer Laster und schüttete uns Briketts vor die Tür. Aus Kinderaugen war es der Mount Everest, den wir Eimer für Eimer abtragen und in den Keller bringen mussten. Zum Glück fand mein Vater irgendwann einen Weg, dass wir die Kohlen nur noch zum Kellerfenster hineinzuwerfen brauchten. War einer zu faul, wurde ihm angedroht, dass er nicht ins warme Zimmer durfte.

Im Bad gab es eine Gasheizung, an welcher ich mir zweimal, jeweils am Heiligabend, den Hintern so verbrannt habe, dass ich tagelang Striemen auf den Backen hatte und nicht richtig sitzen konnte.

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Wenige Jahre nach dem ersten Ultimatum meiner Schwester stellte sie mir abermals die Frage, sie oder Familie, ich solle mich endlich entscheiden. Schon Jahre zuvor verließ sie die elterliche Wohnung. Sie muss mir aufgelauert haben und erwischte mich nach einer Probe am Theater in einem Café, mit einem kleinen Kind, wahrscheinlich mein Neffe, den ich nie kennenlernen durfte. Mein Weg war klar. Aber für sie starb ich noch einmal. Ich wusste nicht, dass man es mehrmals kann. Inzwischen sind viele Jahre vergangen und wenn mein jüngerer Bruder, der noch Kontakt zu ihr hat, nicht manchmal ihren Namen nennen würde, würde ich nicht mehr an sie denken. Ich traf sie erst ungefähr dreißig Jahre später zur Trauerfeier unserer Mutter wieder. Dort ließ sie mir ausrichten, dass sie solchen Dreck wie mich in der Familie nicht möchte. Okay, so sei es. Sie konnte meinen Lebensstil nicht mit ihrem Weltbild vereinbaren. Sie ist eine strenge Anhängerin der Glaubensgruppe der Zeugen Jehovas geworden. Am Beerdigungstag hat sie allen Verwandten den Wachtturm überreicht und sie später mit Missionierungsbriefen beballert, auch mich. Bei keinem hat sie sich damit beliebt gemacht. Jeder soll seinem Glauben folgen, es gibt ja mehrere Richtungen, die Auswahl ist groß. Es sollte aber niemand penetrant überredet werden.

Sicherlich, sie ist meine Schwester, und es ist egal, dass wir uns irgendwann in derselben Gebärmutter geräkelt haben, wir müssen uns nicht lieben. Wer nicht will, den sollte man auch nicht dazu zwingen, und sie zeigte nicht nur einmal, dass sie sich entschieden hat und keinen Kontakt zu mir möchte.

Übrigens, Zeit heilt keine Wunden, man denkt nur seltener daran. Ich habe anfänglich mehrfach versucht, Gespräche mit ihr zu führen, vergeblich. Irgendwann gewöhnt man sich daran. Dazu muss man nicht nachtragend sein und auch wenn man verstanden hat, dass man vergeben sollte, vergessen geht nicht und jetzt gehört sie nicht mehr dazu, zumindest nicht zu mir.

Es muss nicht jeder mein Freund sein.

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Ich war schon sieben Jahre alt, als meine Eltern feststellten, dass unsere Familie noch nicht groß genug war, und es kam der Nachzügler, mein kleiner Bruder. Kleiner Bruder, ha, er ist auch schon um die fünfzig. Ich weiß gar nicht richtig, was wir für ein Verhältnis hatten. Ich weiß nur, dass ich ihm manchmal die Windeln wechseln musste, das fand ich eklig. Wenn ich irgendwann Kinder bekommen sollte, nehme ich sie erst, wenn sie nicht mehr scheißen. Auch habe ich ihn oft in den Kindergarten gebracht und wieder abgeholt.

Seit meinem achtzehnten Geburtstag verbrachte ich nur noch wenig Zeit zu Hause, da war er elf. An seine Kinderzeit und Jugend kann ich mich nicht mehr richtig erinnern, die gingen an mir irgendwie vorbei. Er ist jedoch der einzige meiner Geschwister, zu dem ich noch heute hin und wieder Kontakt habe, wir schreiben uns manchmal über die sozialen Netzwerke oder treffen uns, wenn ich mal wieder bei meinem Vater bin. Sehr selten besuchen wir uns. Unternommen haben wir nie etwas gemeinsam, zumindest fällt mir nichts ein.

Ich finde, dass auch wir uns nicht richtig kennen, wobei er tiefere Einblicke in mein Leben hat als ich in seines.

Ich war ihm sicher kein guter Bruder.

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Trotz der unschönen Erlebnisse, meiner Kindheit sagte mir meine Mutter, dass ich ein lustiges Dickerchen war, sie hat mich sehr gern gekitzelt, wobei ich jedes Mal schallend Tränen lachen musste. Damals war mein Wunsch, einmal durch Totkitzeln zu sterben. Inzwischen habe ich ein Buch über Todesqualen im Mittelalter gelesen und will es nicht mehr. Ich machte gern Witze und sagte manchmal bei Familienfeiern Gedichte auf. In meiner Verwandtschaft mochte man mich recht gern. Auf jeden Fall habe ich sehr oft Cousins und Cousinen besucht, es gibt viele davon. Irgendwann habe ich in den Sommerferien mit meinem Moped alle Familien abgeklappert, ich wollte alle direkten Verwandten kennenlernen. Ich weiß nicht genau, wie viele Geschwister mein Vater hatte. Ich glaube mich zu erinnern, dass er einmal sagte, dass seine Mutter achtzehn Kinder in sich trug. Mehr Details kenne ich nicht. Sie ist sehr früh, mit fünfundvierzig, gestorben. Direkte Cousins und Cousinen väterlicherseits waren wir reichlich dreißig. Wenn ich heute alle zusammenzählen wollte, fast alle haben Kinder und auch schon Kindeskinder, es ginge nicht. Manche trifft man bei Familienfeiern. Zu wenigen habe ich noch Kontakt. Bei einigen finde ich es sehr schade, dass wir uns so weit voneinander entfernt haben.

Unsere Mutter ist bei einer Pflegefamilie aufgewachsen. Diese Familie und einige Verwandte kannten wir und besuchten sie manchmal im Nachbardorf.