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Nicht jedes Pferd hat das Glück, mit Geduld und sanfter Hand an ein Leben als Reittier gewöhnt zu werden. Viele Pferde erfahren schon in den ersten Lebensjahren Gewalt und werden dem Menschen gegenüber misstrauisch, manche sind sogar nahezu unreitbar. Mark Rashid zeigt einen Weg, mit diesen Pferden umzugehen, ihre Sichtweise zu verstehen und für jedes Tier ein individuell passendes Training zu entwickeln. Das neue Buch vom sympathischen Horseman aus Colorado ist praktischer Ratgeber und zugleich unterhaltsamer Lesestoff für Pferdefreunde.
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Seitenzahl: 336
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Der richtige Titel
Seit beinahe 25 Jahren bin ich in der extrem glücklichen Lage, Bücher über meine Erfahrungen mit Pferden schreiben zu können, die die Leute weltweit sehr zu schätzen wissen. Bis heute erstaunt es mich, dass die Menschen die Dinge, die ich in meinen Büchern mitteile, nicht nur hilfreich sondern auch interessant finden und ich bin wirklich dankbar, so viele Pferdemenschen in ihrer Entwicklung unterstützen zu können.
Beinahe von Beginn an hatte ich den Eindruck, dass es zu den interessantesten Bereichen des Bücherschreibens gehört, einen Titel für das Buch zu finden. Man stellt es sich relativ leicht vor, einen Titel für ein Buch zu bestimmen und manchmal ist dem auch so, aber manchmal kann es eine ziemliche Auseinandersetzung sein. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: bei meinem ersten Buch Considering the Horse (Deutscher Titel: Der auf die Pferde hört) fiel der Titel relativ leicht. Genau genommen wusste ich ihn bereits vor der Gliederung des Buches.
Der Titel, den ich ersonnen hatte, war ohne Untertitel gedacht. Der Verlag bestand darauf, einen Untertitel hinzuzufügen, denn sie hatten den Eindruck, dass ohne Untertitel niemand wissen würde, was in dem Buch zu erwarten war und es sich sonst nicht verkaufen würde. Ich war nicht wirklich der gleichen Meinung. Ich – als jemand, der grundsätzlich an Pferden interessiert ist – hatte das Gefühl, dass die Worte „Considering the Horse“ genug seien, um meine Neugier zu wecken und das Buch in die Hand zu nehmen, aber schlussendlich bin ich nur ein Pferdemensch und niemand, der beruflich Bücher verlegt. Der Verlag war auch nicht glücklich mit dem Wort considering (Deutsch: in Anbetracht). Sie mochten die ing-Form nicht, das Partizip Präsens. Sie fanden das Wort consider (Deutsch: Berücksichtige) entschiedener und daher wollten sie, dass der Titel Consider the Horse lautet.
Obwohl dies mein erstes Buch war, fand ich mich in der Position wieder, die Tatsache verteidigen zu müssen, dass das Buch keine Darstellung meiner Person war, sondern meine Gesamtphilosophie beschrieb, sowohl mit Pferden als auch generell im Leben. Ich erläuterte, dass die Worte „Berücksichtige das Pferd“ eine Forderung implizierten, als würde ich den Menschen vorschreiben, was sie tun sollten – etwas, was ich sowohl bei Menschen als auch bei Pferden zu vermeiden versuche – und was ich auch wirklich in diesem Buch niemals tat. Demgegenüber repräsentiert considering ein aktives Bestreben und Engagement.
Ob Sie es glauben oder nicht: dies wurde eine wochenlange Diskussion zwischen dem Verlag und mir und schlussendlich sagte ich, falls sie auf der Verwendung des Wortes consider statt considering bestünden, müsse ich mich aus dem Geschäft zurückziehen. Schließlich lenkten sie ein und danach kamen wir gut voran. Ehrlich gesagt, da das Buch so beliebt wurde, hatte der Verlag gar kein Problem damit, mich die Titel der folgenden sechs Bücher, die wir gemeinsam herausbrachten, beinahe allein auswählen zu lassen.
Nun zu diesem Buch, 25 Jahre später: „Finding the missed path –The art of restarting horses“. Weil das Wort „Neuanfang“ (restarting) im Titel vorkommt, kann man zu Recht vermuten, dass das Buch einige konkrete Ideen bieten wird, wie man mit einem Pferd umgeht, das in der Vergangenheit einen unglücklichen Umgang erfahren hat. Obwohl dies sicherlich stimmt, hatte ich das Gefühl, dass gerade dieses Buch mehr sein sollte als nur eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für das Training eines Pferdes, mit dem begonnen wurde.
Wenn Sie schon eines oder mehrere meiner Bücher gelesen haben, wissen Sie wahrscheinlich schon, dass ich kein „Schritt-für-Schritt“-Typ bin. Es fällt mir wirklich schwer, Bedienungsanleitungen zu lesen, insbesondere bei Pferdebüchern, deswegen werde ich so ein Buch sicher nicht schreiben können. Außerdem: Wenn es um Pferde geht, die sich so schwer tun, dass sie einen Neuanfang benötigen, stelle ich oft fest, dass gerade ein solches Trainingsprogramm die Schwierigkeiten erst hervorgerufen hat.
Dennoch muss ich zugeben, dass dieses Buch doch mehr Schritt-für-Schritt Informationen enthält als alle meine früheren Bücher, obwohl ich versucht habe, diese Informationen dem Leser so angenehm wie möglich zur Verfügung zu stellen. Damit meine ich, dass einige Schritte zwar in bestimmten Situationen eine bestimmte Reihenfolge haben können, in der ich sie bearbeite, aber dass dies niemals in Stein gemeißelt ist und immer etwas angepasst, hinzugefügt oder weggelassen werden kann – das hängt davon ab, wie das Pferd sich zeigt.
Darüber hinaus habe ich versucht, in diesem Buch einige Gründe darzulegen, warum ein Pferd überhaupt einen Neuanfang benötigt, wann ein solcher Neustart notwendig ist und auch, wann er nicht notwendig ist. Ich habe auch einige Dinge hinzugefügt, die zu berücksichtigen oder zu untersuchen sind und äußere Einflussfaktoren darstellen, die vielleicht unerwünschtes Verhalten hervorrufen – Dinge, die vielleicht letztendlich überhaupt nichts mit Training zu tun haben. Es gibt ein Kapitel über Trainings-Hilfsmittel, die ich verwende und nicht verwende und ich gehe auf die Unterschiede der Dynamik zwischen Hauspferden und Wildpferden ein und welchen Einfluss diese Dinge haben.
Ich habe auch in einem Kapitel Gedanken über die Idee des Respekts in Bezug zu Pferden hinzugefügt, denn hier habe ich leicht unterschiedliche Ansichten als vielleicht andere Trainer heutzutage.
Eine leichte Veränderung gegenüber meinen anderen Büchern ist auch, dass Fotos zu sehen sind, die genau diese Situation zeigen, über die ich spreche. Viele dieser Fotos beziehen sich auf eine problematische kleine Stute namens Lily, die ich von Anfang bis Ende neu gestartet habe; ein Prozess, den Crissi und ich fast vollständig in Echtzeit dokumentieren konnten. Wir konnten ebenfalls das Einfangen eines Mustanghengstes festhalten, der nicht wollte, dass ihm jemand näherkommt und ihn berührt.
Daher werden Sie ohne Zweifel nach der Lektüre sehen können, dass die Kunst im Prozess des Neustartens nicht nur darin besteht, zu wissen, was man wann und warum tun sollte, sondern dass man auch versteht, dass ein „Neustart“ vielleicht auch angewendet werden kann, bevor das Pferd überhaupt unter dem Sattel geht, so wie es bei dem Mustang der Fall war.
Ich möchte nochmals Danke sagen, dass Sie mir die Ehre und das Privileg gestatten, an Ihrem Weg als Pferdemensch teilhaben zu dürfen und wie bei all meinen Büchern hoffe ich, dass Sie beim Lesen genauso viel Vergnügen haben werden wie ich beim Schreiben hatte.
Alles Gute, Mark Rashid
KAPITEL 1
Der Einstieg
„Werden Sie ihn herumscheuchen?” fragte die Frau, als wir beide außerhalb des Auslaufs standen und ihrem Fuchswallach zuschauten, wie er hektisch am gegenüberliegenden Zaun auf und ab lief.
„Ihn scheuchen?“ fragte ich, ein wenig überrascht über ihre Frage. „Nein.“
„Jeder Trainer, der zu ihm in den Auslauf geht, will ihn herumscheuchen“, sagte sie mir mit einem Unterton der Verzweiflung in ihrer Stimme. „Sie sagen, er muss lernen, dass es schlecht ist, vom Menschen wegzulaufen und dass Stillstehen eine gute Sache ist.“
„Ich habe nicht die Absicht, ihn zu jagen.“
„Gut“. Sie stütze ihren Fuß auf der untersten Stange der Umzäunung ab. „Es bringt nichts.“
Wir hatten erst kurze Zeit neben dem Auslauf gestanden, aber die Sorge des Wallachs hatte schon viel früher begonnen.
Der Auslauf, in dem er sich befand, war von der Straße aus einsehbar, daher konnte ich bei meiner Anfahrt bereits einen Blick auf ihn werfen. Selbst aus dieser Distanz war deutlich zu erkennen, dass er kein sehr glückliches Pferd war. Er stand in der Mitte des Auslaufs, Kopf hoch, Hals und Körper angespannt, Ohren aufgestellt und Nüstern weit aufgebläht.
Nachdem ich seine Besitzerin getroffen hatte – eine schmale, dunkelhaarige Frau namens Marie – gingen wir auf einer Seite um das Haus herum und folgten einem schmalen Fußweg aus kleinen weißen und grauen Steinen in Richtung Auslauf. Beinahe genau im gleichen Moment, als wir um die Hausecke kamen, sah uns der Wallach, nahm sofort Kurs auf das entfernteste Ende des 15-m-Auslaufs und begann zu laufen. Zu diesem Zeitpunkt waren wir immer noch über 30 m von ihm entfernt.
Der Fußweg, auf dem wir uns befanden, führte genau bis zum Eingangstor des Auslaufs, teilte sich dort und bildete eine etwa 1 m breite Außenbegrenzung in beide Richtungen um den Auslauf. Am entfernteren Ende des Auslaufs, in der Nähe des sich eilig bewegenden Wallachs, gab es ein weiteres Tor, das zu einer 2 m breiten und 10 m langen Allee führte, die zu einer weiteren, nahegelegenen Reitbahn führte – etwa 50 x 70 m groß. Der Pfad mit den kleinen Steinen umrahmte die Allee ebenso wie die große Reitbahn.
„Ich habe ihn etwa vor drei Jahren von den Nachbarn bekommen.“ Sie zeigte auf ein einsames Haus am Ende eines benachbarten Feldes, etwa 500 m entfernt. Ein breiter, weißer Zaun umrandete den gesamten Besitz, etwa 20 Hektar.
„Sie hatten ihn für ihre Tochter angeschafft und er sollte sehr gut trainiert sein“, fuhr sie fort. „Soweit ich es mitbekommen habe, ist sie meist nur aufgestiegen und hat ihn bei jedem Ritt einfach umherlaufen lassen. Einige Monate nach dem Kauf bekamen sie Probleme damit, ihn einzufangen.“
Sie erklärte weiterhin, dass sie ihn eines Tages auf die große Weide gelassen haben und als sie ihn einfangen wollten, hat er sich umgedreht und ist weggerannt. Nachdem sie einige Stunden vergeblich versucht hatte, ihn einzufangen, hat das Mädchen ihr Quad benutzt und ihn solange gejagt, bis er sich kaum mehr bewegen konnte. Von diesem Tag an bis heute war es beinahe unmöglich geworden, ihn einzufangen oder ihm auch nur näherzukommen.
Der Wallach wurde so schwierig, dass die Familie ihn zum Pferdehändler geben wollte, wo er sicherlich ein Fall für den Schlachter geworden wäre. Also zahlte Marie den Schlachtpreis für ihn, nannte ihn Laddy und nahm ihn mit nach Hause. Ich fragte: „Wie haben Sie es geschafft, ihn einzufangen, um ihn hierher bringen zu können?“ „Wir haben ihn im Stall in eine Ecke gedrängt und nach etwa einer Stunde konnte ich ihm ein Halfter anlegen. Danach habe ich ihn nach Hause geführt.“
Sie erzählte, dass nachdem sie mit ihm etwa ein Jahr gearbeitet hatte und geringe Fortschritte zu erkennen waren, sie sich dazu entschieden hätte, Hilfe zu suchen und daher nahm sie ihn mit auf einen Kurs. Sie beschrieb, dass es überraschenderweise gar kein Problem war, den Wallach in den Pferdehänger ein- und auszuladen, nachdem sie in der Lage war ihn einzufangen. Aber auf dem Kurs lief es nicht gut.
„Am ersten Tag scheuchte der Typ ihn mit einem Stecken mit einer Fahne daran lange im Round Pen herum und hat ihn schließlich mit dem Lasso eingefangen“, erinnerte sie sich. „Am nächsten Tag machte er das gleiche. Kurz gesagt, er sagte mir, dies sei ein gefährliches Pferd und ich sollte ihn loswerden, bevor er mich umbringt.“
Wir schauten beide zum Auslauf, wo der Wallach noch immer umherlief, erst in die eine Richtung, dann in die andere, den Kopf so hoch erhoben als sei er ein schwimmender Hund, der seinen Kopf über Wasser halten müsse.
„Seitdem“ fuhr sie fort „hatte ich drei andere Trainer hier, allesamt mit besten Empfehlungen von Menschen, denen ich vertraue. Das erste, was alle gemacht haben, ist in den Auslauf zu gehen und ihn umher zu scheuchen.“ Sie nahm die Baseballkappe ab, die sie trug, fasste ihre schulterlangen Haare in einer Hand zum Pferdeschwanz zusammen und führte sie durch das Loch hinten in der Kappe, bevor sie sie wieder aufsetzte. „Inzwischen hat er so viel Angst vor Menschen, dass selbst ich mich ihm nur schwer nähern kann.“
Ich nahm mir die Zeit zu erklären, dass ich glaubte, dass dies eine jener Situationen war, wo Menschen geglaubt hatten, sie könnten dem Pferd beibringen, sich fangen zu lassen, indem sie ihm zeigten, dass Wegrennen sowohl schwierig als auch unbequem für ihn war. Das Problem hierbei ist, dass diese Art von Training bei jeglichem Pferd nur dann funktioniert, wenn ein Pferd die Möglichkeit hat, gedanklich mit den Geschehen Schritt zu halten. Mit anderen Worten muss das Pferd einen Gemütszustand erreichen können, der zumindest weitgehend frei von Gefahr ist. Dies spielt im Training eine wichtige Rolle, denn ein angsterfüllter Geist – egal bei welchem Tier, inklusive beim Menschen – ist meist unfähig logisch zu denken und daher auch nicht in der Lage, Probleme zu lösen.
Aufgrund aller Dinge, die Marie mir erzählt hatte und die ich bisher wahrgenommen hatte, war Laddy höchstwahrscheinlich nicht in der Lage gewesen einen solchen Gemütszustand zu erreichen, während die Menschen ihn umherscheuchten. Genau genommen schien es eher so zu sein, dass dieses Pferd das, was mit ihm geschah, aus einer komplett anderen Perspektive wahrnahm – nämlich eine Perspektive, die ihm das komplette Gegenteil von der eigentlichen Absicht vermittelte.
„Die meisten Pferde“ sagte ich „genau genommen, beinahe alle Pferde kommen recht schnell auf die Idee. Das ist der Grund, warum so viele Menschen sich auf diese Methode so sehr verlassen: weil die meisten Pferde in einer vorhersehbaren Art und Wiese darauf antworten. Aber ab und zu ist ein Pferd wie dieses hier dabei.“
„Was meinen Sie damit?“
„Er ist ein netter Kerl. Willig und sensibel und es steckt viel Motivation in ihm“, sagte ich ihr. „Ich würde schätzen, beim allerersten Mal, als Ihre Nachbarn Schwierigkeiten hatten, ihn einzufangen, gab es womöglich eine Art Missverständnis. Vielleicht haben sie ihn überrumpelt, näherten sich zu schnell, im falschen Winkel oder vielleicht wollte er einfach nicht gefangen werden. Dieser Teil tut nicht wirklich etwas zur Sache. Bedeutsamer ist die Tatsache, dass die Situation eskalierte, dass die Menschen frustriert waren und selbst als das Pferd möglicherweise ein Anhalten anbot – wovon ich mir recht sicher bin, dass er dies tat – haben die Besitzer dies nicht wahrgenommen, sondern haben weiter Druck ausgeübt.“
Der Wallach zögerte für eine Sekunde, als ein Lieferwagen von UPS den Schotterweg vor dem Haus entlangpolterte. Dann setzte er sich wieder hektisch in Bewegung.
Ich erklärte weiterhin, dass je sensibler das Pferd ist, desto mehr müssen wir achtsam sein, ob es das, wonach wir fragen, nicht bereits versucht anzubieten. Falls wir das Angebot eines sensiblen Pferdes verpassen und weiterfragen – oder, wie in diesem Fall, weiter Druck anwenden – wird das Pferd konfus, was sich sehr schnell in Sorge und dann in Angst verwandelt.
„Es ist so, als hätte man einen Wasserkessel auf der Feuerstelle“, sagte ich. „Wenn das Feuer nicht brennt, kann man problemlos die Hand ins Wasser halten und weiß, dass man sich nicht verbrennen wird. Aber je heißer die Feuerstelle ist, desto heißer und weniger einladend wird das Wasser. Sobald das Wasser zu kochen beginnt, ist es unmöglich, die Hand ins Wasser zu halten.“
„Also müssen wir die Hitze reduzieren?“
„Genau das ist es.“
Es ist wichtig zu wissen, dass alle Fluchttiere und sogar Raubtiere in diesem Fall eine sogenannte „Fluchtdistanz“ haben. Eine Fluchtdistanz (Menschen nennen es manchmal auch Komfortzone) ist eine Grenze um den Körper, innerhalb derer ein Tier in der Lage ist, emotional beschwerdefrei zu sein. Solange eine wahrgenommene Gefahr sich außerhalb dieser Grenze befindet, hat ein Tier im Allgemeinen nicht das Bedürfnis zu flüchten. Sobald diese Grenze jedoch durchbrochen wird, kann das Tier sehr wohl das Bedürfnis nach Bewegung oder Flucht verspüren.
Wenn alles ruhig ist und wir annehmen, dass gerade keine körperlichen Gefahren drohen, beträgt diese Komfortzone oder Fluchtdistanz der meisten Menschen etwa eine Armlänge. Bei den meisten Hauspferden – das bedeutet, Pferde, die Menschen gewohnt sind und regelmäßig Umgang mit ihnen haben – beträgt diese Distanz etwa einige Zentimeter oder Meter Abstand von ihrem Körper.
Im Vergleich dazu hatte jedoch der Wallach in diesem besonderen Fall eine Fluchtdistanz entwickelt, die mindestens 50 Meter in jede Richtung betrug. Die Tatsache, dass Marie und ich außerhalb seines Auslaufs standen, half ihm in keinster Weise, sich in unserer Gegenwart besser zu fühlen. Wir befanden uns immer noch deutlich innerhalb seiner Fluchtdistanz und dies bedeutete für ihn, es gab absolut keine Entlastung.
„Wäre es für Sie in Ordnung, wenn wir ihn in die große Reitbahn laufen lassen?“, fragte ich.
„Ich bin mir relativ sicher, dass Sie ihn nicht einfangen können, wenn Sie ihn dort freilassen“, antwortete Marie mit einem vorsichtigen Unterton in ihrer Stimme.
„Ich mache mir im Moment keine großen Gedanken darum, ihn einzufangen“ erwiderte ich achselzuckend.
Marie zögerte, aber war einverstanden. Sie öffnete die Tore in Richtung der Allee, die die Verbindung zwischen Auslauf und Reitbahn darstellte. Unmittelbar in dem Moment, als die Tore geöffnet waren und sie beiseite trat, raste der Wallach durch den Verbindungsweg in die Reitbahn. Ich schloss das Tor hinter ihm, während er an das südliche Ende der Reitbahn lief. Dann vollzog er eine Wendung in einem großen Bogen und rannte so schnell er konnte zum nördlichen Ende, gefolgt von einem weiteren Bogen und voller Geschwindigkeit wieder Richtung Süden.
Er rannte noch dreimal in voller Geschwindigkeit quer durch die Reitbahn, bevor er einen sorgenvollen Stopp in der Nähe der südöstlichen Ecke einlegte. Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, ging ich in Richtung Reitbahnmitte. Diese eine, einfache Handlung meinerseits ließ den Wallach erst im Schritt, dann im Trab einen kleinen Zirkel gehen, aber er entfernte sich nicht wirklich aus seiner Ecke. Sobald ich in der Lage war, die Reitbahnmitte zu erreichen und ein paar Minuten still dort zu stehen, ging er wieder zu seinem ursprünglichen Platz in der Ecke, hielt an, schaute mich mit hoch erhobenem Kopf und gespitzten Ohren an und schnaubte laut und warnend durch seine Nüstern.
Als ich mich ein wenig nach links (in Richtung Osten) bewegte, quittierte er dies sofort mit einem Trab in die gegenüberliegende Ecke. Als ich mich ein wenig nach rechts (Westen) bewegte, trabte er zurück in die Ausgangsposition. Als ich rückwärts ging, blieb er in seiner ursprünglichen Ecke und als ich wieder zu meinem Platz in der Bahnmitte ging, blieb er ebenfalls an derselben Stelle, trabte aber einen Kreis. Sobald ich mich nur ein oder zwei Schritte über meine Ausgangsposition hinaus vorwärts bewegte, ging er durch und raste zum gegenüberliegenden (nördlichen) Ende der Reitbahn. Sobald er dort ankam, hielt er nicht etwa an, sondern vollzog eine Wendung als großen Bogen und rannte wieder zum südlichen Ende, wobei er immer an der gleichen Stelle langsamer wurde oder anhielt, nämlich in der Nähe der südöstlichen Ecke (vorausgesetzt, ich behielt meine ursprüngliche Position in der Bahnmitte bei und bewegte mich nicht).
Ich wiederholte meine Bewegungen mehrmals, während ich mich immer wieder in der Bahmitte positionierte. Jedes Mal bot Laddy beinahe exakt das gleiche Verhalten dar und er beendete die Bewegung immer an derselben Stelle in dieser südöstlichen Ecke, Kopf hoch erhoben, Ohren aufgestellt und mich anschauend.
Ich bin mir sicher, dass es von außen so aussah, als ob ich nicht mehr machen würde als dieses Pferd durch die Reitbahn schicken und auf eine Art und Weise war dies auch alles, was ich dort tat. Aber viel wichtiger war es, dass ich nach bestimmten Mustern in seinem Verhalten suchte. Insbesondere wollte ich wissen, ob es für ihn von Bedeutung war, immer zum gleichen Platz zurückzukehren, sobald er das Bedürfnis hatte, sich dort wegzubewegen. Und so war es. Aus welchem Grund auch immer fand unser Wallach einen Ruhepol an diesem besonderen Punkt in der südöstlichen Ecke und beschloss, dort ab und zu einen Halt oder eine Pause einzulegen.
Das andere Verhalten, was er gleichsam immer in dieser Ecke zeigte, war anzuhalten und mich anzuschauen. Dies war ein wichtiges Puzzleteil. Indem er anhielt und mich ansah, zeigte er, dass er immer noch genug Neugier besaß, um Kontakt aufnehmen zu wollen, obwohl er verängstigt oder durcheinander war. Dies war ein komplett anderes Verhalten gegenüber dem, was wir im kleinen Auslauf gesehen hatten.
Im Auslauf blieb er soweit von uns entfernt wie er nur konnte und hielt den Kopf über den Zaun, schaute uns nur für ganz kurze Momente zwischendurch an, wurde aber nie an einem bestimmten Punkt ruhiger. In dem kleineren Auslauf befand er sich beinahe immer in einer Dauerbewegung, die mich über seinen Angststatus informierte, der durch unsere Nähe angeheizt wurde und seine Neugier überlagerte. Aber in der größeren Reitbahn, wo er eine Distanz aufbauen und einen Platz finden konnte, wo er sich relativ okay fühlte, konnte er sich ein wenig entspannen, so dass seine Neugier wieder zum Vorschein kam. Der Grund, warum dies so wichtig ist, liegt darin, dass es uns sehr viel über seine emotionale Befindlichkeit mitteilt. Kurz gesagt, er hatte bestimmt Stress, aber nicht so viel, dass er nicht nach einem Ausweg suchte.
Ich meinte damit Folgendes: Wenn ein Pferd – oder auch ein anderes Tier in diesem Fall – sich über eine bestimmte Sache Sorgen macht, sucht es beinahe sofort nach einer Möglichkeit, die Situation zu verbessern, um die Sorge loszuwerden. Für das Pferd ist das sehr einfach. Wenn es sich so nicht gut anfühlt, sucht er nach einem Punkt, wo es sich besser anfühlt. So einfach ist das.
Für Menschen kann die Einfachheit dieses Konzeptes schwer zu verstehen sein. Das liegt hauptsächlich daran, dass ein Mensch oft eine Abfolge von mentalem Denksport absolvieren muss, wenn er sich in einer Situation nicht gut fühlt und dort einen Ausweg finden will. Zunächst müssen wir wissen, warum wir uns nicht gut fühlen mit dieser Sache, die uns gerade nervt. Dann müssen wir uns eine Weile damit herumquälen. Dann müssen wir es vielleicht im Internet nachschauen oder mit einem Freund, dem Geistlichen, unserer Mutter oder dem Nachbarn besprechen, der schon einmal dasselbe Problem hatte.
Bei Pferden ist das nicht so. Wenn ein Pferd sich nicht gut fühlt, will es sich einfach besser fühlen. Und wenn wir ihm helfen können sich besser zu fühlen, dann fühlt es sich wahrscheinlich in Bezug auf uns ebenso besser. Die Frage ist dann: wie helfen wir einem Pferd dabei, sich besser zu fühlen? Also, immer der Reihe nach … Bei diesem Pferd ging es darum, zunächst einen Einstieg zu finden. Hier bestand der Einstieg darin, die Angst, die er fühlte, in Neugier zu verwandeln. Um dies zu erreichen, mussten wir ihm erlauben, sich in der gegebenen Situation so gut wie möglich zu fühlen, so dass er überhaupt neugierig werden konnte.
Das nächste, was passieren musste, bevor wir ihm überhaupt bei der Überwindung seiner Angst helfen konnten, war eine Möglichkeit, uns ihm vorstellen zu können. Nun, ich weiß, das klingt möglicherweise komisch oder ein bisschen neumodisch. Aber tatsächlich ist dem nicht so. Wenn ich sage, wir mussten einen Weg finden, uns vorzustellen, spreche ich dabei über eine der grundlegenden Arten von Vorstellungsrunde zwischen Pferd und Mensch: dem Pferd erlauben, an uns zu schnuppern.
Der Geruchssinn ist ein sehr kraftvolles Werkzeug für Pferde und eines, auf das sie ständig vertrauen, um grundlegende Informationen zu sammeln und zu verarbeiten. Sie verwenden ihre Nüstern, um Freund von Feind zu unterscheiden, einen Partner zu finden, ein Revier zu erkennen, fressbare Pflanzen von giftigen zu unterscheiden, Gefahr wittern oder einschätzen zu können. Pferde, die nicht in der Lage sind, eine Witterung aufzunehmen, wenn sie vor etwas Angst haben, spüren nur eine Verstärkung dieser Angst. Und ich glaube, diese Tatsache hatte einen großen Anteil am Problem dieses Wallachs.
Laddy fühlte sich offenbar von jedem bedroht, der in seine Nähe kam. Aber dadurch, dass er so ängstlich war und sich so übermäßig bewegte, hatte er wahrscheinlich meinen Geruch noch nicht gut aufnehmen können – was ihn zusätzlich beunruhigte. Zu allem Überfluss war er auch noch zu verängstigt, um überhaupt einen Versuch zu starten, nah genug heranzukommen, um Witterung aufzunehmen. Dies war eine echte Zwickmühle.
Dies war der Grund, warum ich sehen wollte, was er in der großen Reitbahn macht, wenn wir ihn laufen lassen. Würde er einfach nur ziellos herumlaufen und nirgendwo Ruhe finden? Oder würde er einen Ort in der Reitbahn finden, der für ihn relative Sicherheit bedeutete, und falls ja, würde er immer wieder dorthin zurückkehren? In unserem Fall hatte er Letzteres bevorzugt, was gut für uns war und was wir hoffentlich zu unserem Vorteil nutzen konnten.
Der Wallach hatte bei mehreren Gelegenheiten fast den gleichen Punkt immer wieder aufgegeben und dann wieder aufgesucht. Dies war jetzt nicht nur ein „sicherer“ Ort für ihn geworden, sondern auch Teil eines Musters. So oft er auch weglief, wohin er auch rannte oder wie weit er sich auch entfernte – er kehrte immer wieder zur gleichen Stelle zurück. Und genau diesen Teil der Information benötigten wir für unseren nächsten Schritt.
Ich bewegte mich aus der Bahnmitte in Richtung südwestliche Ecke – ihm gegenüber. Wie erwartet rannte er beinahe sofort, nachdem ich die Bewegung aufnahm, in Richtung nördliches Ende der Reitbahn. Als er dies tat, drehte ich mich um und ging direkt zu dem Platz, der er gerade verlassen hatte. Der Reitbahn-Zaun bestand aus Metallelementen, und sobald ich den Platz erreicht hatte, wo er gestanden hatte, rieb ich meine Hände am Metall, etwa in Höhe seines Kopfes.
Dann folgte ich meinen Schritten zurück in die Mitte der Reitbahn. Als ich dies machte, rannte er wieder zurück zum südlichen Ende der Reitbahn, vollzog einen großen Bogen als Wende und nahm Kurs auf seinen Platz in der südöstlichen Ecke. Er stoppte direkt dort, wo ich zuvor meine Hände am Zaun gerieben hatte und nachdem er mich mehrere Sekunden sorgfältig beobachtet hatte – womöglich um sicherzustellen, dass ich mich nicht wieder bewegen werde – drehte er sich langsam Richtung Zaun und begann, vorsichtlich den Bereich zu beschnuppern, wo ich meinen Duft hinterlassen hatte. Er bewegte seine Nüstern entlang der oberen Zaunreihe, dann von einer Zaunreihe zur anderen und wieder zurück zur ersten Reihe.
Nach einer Weile drehte er sich um und schaute mich an und zum ersten Mal an diesem Tag entspannte er sich ein wenig. Als er dies tat, verließ ich die Reitbahn. Ich ging zu dem Bereich, wo Marie gestanden und zugeschaut hatte und während ich dem Wallach absichtlich meinen Rücken zuwendete, erklärte ich Marie, was wir zu erreichen versuchten.
„Im Wesentlichen“, erläuterte ich „suchten wir nach einem Weg, wie er das tun konnte, was er die ganze Zeit schon erledigen wollte, aber wozu er aufgrund übergroßer Angst nicht in der Lage war“.
Während ich sprach, sah ich, wie Marie an mir vorbei in Richtung Reitbahn schaute. Ein sanftes Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Meine Güte“ sagte sie im Flüsterton „schau mal!“
Ich drehte mich langsam um, schaute in die Reitbahn und sah, dass Laddy ganz bis in die Mitte der Reitbahn gewandert war. Sein Kopf war gesenkt und er roch an dem Sand, etwa dort, wo ich gestanden hatte. Er scharrte mit dem Huf mehrmals im Sand, behielt den Kopf am Boden und dann hob er ruhig den Kopf und schaute in unsere Richtung.
Marie sagte mir, dass dies das erste Mal war, an das sie sich erinnern konnte, wo er tatsächlich eine Bewegung auf jemanden zu gemacht hat, auch wenn er noch weit vor unserem Standort Halt gemacht hatte und obwohl er wahrscheinlich gar nicht versuchen wollte, bei uns anzukommen. Aber einfach die Tatsache, dass er einen Versuch unternommen hatte, anstatt sich zurückzuziehen war eine große Sache für ihn und etwas, das uns einen Einstieg bot.
Ich schlug vor, dass Marie in den nächsten Tagen bei der Arbeit mit ihm einfach versuchen sollte, das zu wiederholen, was ich getan hatte, um zu schauen, ob sich etwas veränderte. In einer Woche würde ich wiederkommen und ihn dann nochmals anschauen.
Als ich zurückkehrte, war ich freudig überrascht, die offensichtlich schnellen Fortschritte bei Marie und Laddy zu sehen. Sie sagte mir, dass wenige Tage, nachdem ich weg war, sie das gleiche wiederholte hatte, also ihn in die Reitbahn gelassen hatte und ihre Hände dort am Zaun gerieben hatte, wo er gern stehenblieb. Am dritten Tag kam sie wieder dorthin, um mit ihm zu arbeiten und zu ihrer großen Überraschung ging er direkt auf sie zu, als sie in die Reitbahn kam.
Von da an entwickelte sich alles sehr reibungslos und mit Ausnahme einiger kleiner Ausrutscher, die er ohne größere Schwierigkeiten überstand, sah es so aus, dass er sich mit seinem Leben viel besser fühlte. Ich verbrachte nochmals ein wenig Zeit mit ihm an diesem Tag, und obwohl er zu Beginn ein wenig misstrauisch war, dauerte es nicht lange, bis er mir gegenüber auftaute und – ebenso wie Marie – konnte ich ihm bald näherkommen und ihm sogar ein Halfter anlegen und einige Führübungen machen, mit denen er wirklich keinerlei Probleme hatte.
Bei folgenden Besuchen innerhalb der nächsten Monate wurde es immer einfacher, Laddy einzufangen und mit ihm umzugehen, ihn zu satteln und aufzutrensen und sogar zu reiten. Interessanterweise war das Reiten der leichteste Teil der Arbeit, die wir mit ihm unternahmen. Er war tatsächlich sehr sensibel und sehr gut trainiert, aber wir stellten auch sehr früh fest, dass für ihn ein geringer Druck bereits zuviel Druck sein konnte. Demzufolge musste die Arbeit mit ihm darauf abgestimmt werden, dass er mitarbeiten würde, solange er nicht das Gefühl hatte, „angeschrien“ zu werden. Darüber hinaus schien er es wirklich zu genießen, geritten zu werden, sowohl in der Bahn als auch im Gelände auf den vielen Wegen, die sich durch das Grünland rund um Maries Haus schlängelten.
Im Laufe der Jahre habe ich diese Geschichte verschiedenen Personen erzählt und unterschiedliche Reaktionen darauf erfahren. Die häufigste ist ungläubiges Erstaunen, dass so etwas Einfaches wie Sich-einander-Vorstellen, so wie wir es vorbereitet hatten, eine so große Auswirkung auf ein so schwieriges Pferd haben könne. Ich verstehe, dass manche Menschen einen solchen Eindruck gewinnen können. Immerhin wird uns selten beigebracht, dass wir in der Arbeit mit schwierigen Pferden nach einfachen Lösungen suchen können. Im Gegenteil, häufig heißt es, je größer die Probleme sind, desto mehr muss man machen.
Aber die Wahrheit ist, dass besonders dann, wenn ein Pferd problematisch ist, ihm häufig schon zu viel zugemutet wurde oder es unter zu viel Druck stand. Wie ich bereits sagte: wenn das Wasser im Kessel schon kocht, bringt ein weiteres Anheizen keine Abkühlung. Manchmal besteht die Lösung darin, die Hitze erstmal herunter zu schalten. Man muss einen Einstieg finden, der es dem Pferd erlaubt, uns mitzuteilen, was es wirklich braucht anstatt dessen, was wir denken, was es braucht.
Als ich jung war, arbeitete ich für einen alten Pferdemenschen, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, Pferde zu kaufen und zu verkaufen. Es schien nicht viele Auswahlkriterien für die anzukaufenden Pferde zu geben, sie mussten nur günstig sein. Größe, Farbe, Rasse, Temperament und sogar unerwünschtes oder möglicherweise gefährliches Verhalten traten in den Hintergrund gegenüber dem Preis, den er für ein Pferd zahlen musste. Denn umso weniger er zunächst bezahlen musste, umso mehr Gewinnmarge würde verbleiben, wenn er das Pferd später verkaufte. Und verkauft hat die Pferde immer wieder, wenn auch erst nach monatelanger oder manchmal jahrelanger sorgfältiger Arbeit und Umgang mit dem Tier.
Wenn er ein neues Pferd mit nach Hause brachte, stand es üblicherweise zunächst einige Wochen – und manchmal sogar Monate – von den anderen Pferden getrennt und er machte zunächst nicht viel mit dem Pferd außer es zu füttern, zu tränken und den Stall zu misten. Später verstand ich, dass dies eine Zeit war, wo ein Pferd Druck abbauen konnte, besonders wenn das Pferd aus einer nachlässigen oder schlechten Haltung kam. Es war eine Art und Weise, dem Pferd eine Möglichkeit zu geben, sich an seine neue Umgebung anzupassen und sich wieder auszurichten, ohne sich Gedanken um die Anpassung an eine neue Herde, Rangeleien um Futter oder Selbstverteidigung machen zu müssen. Es gab dem Pferd ebenso die Möglichkeit, sich an eine neue Art des Umgangs mit Menschen gewöhnen zu können.
Sobald das Pferd sich in seine neue Umgebung eingewöhnt hatte, begann mein alter Freund damit, mit dem Pferd zu arbeiten, indem er genau darauf achtete, was für dieses spezielle Pferd am wichtigsten war. Für einige Pferde war dies vielleicht etwas sehr Einfaches wie sich einfangen lassen oder sich gut führen lassen. Für andere war es möglicherweise etwas Herausforderndes, wie zum Beispiel unerwünschtes oder gefährliches Verhalten umzulenken oder an bestimmten Aspekten beim Reiten zu arbeiten, die das Pferd offenbar nicht vollständig verstanden hatte.
In jedem Fall wurde das Pferd als Individuum betrachtet und das Augenmerk lag immer darauf, was dieses Pferd zu diesem Zeitpunkt benötigte. Indem er mit den Echtzeit-Bedürfnissen der Pferde umging und ihnen keine Universalmethode aufzwang – so eine Methode, die die individuellen Themen des Pferdes nicht berücksichtigt – war er oft in der Lage, in relativ kurzer Zeit eine Grundlage aus Vertrauen und Verständnis zu entwickeln. Damit war Rehabilitation und schlussendlich auch Training mehr oder weniger reibungslos möglich und es führte schließlich zu einem zuverlässigen und vertrauenswürdigen Pferd für einen nächsten möglichen Besitzer.
Ich erinnere mich nicht daran, dass mein alter Freund zu jener Zeit den Begriff „Neustart“ in Bezug auf seine Arbeit mit den Pferden verwendete. Dennoch könnte man argumentieren, dass er genau dies tat. Denn er nahm Pferde mit offensichtlichem Mangel an Verständnis gegenüber dem, was von ihnen verlangt wurde, und half ihnen die vorhandenen Lücken zu füllen.
Pferde sind den Menschen ganz ähnlich: sofern es Verständnislücken gibt (besonders wenn es um die Basis von grundlegenden Konzepten geht) folgen mit Sicherheit Verwirrung und dadurch Frust, Sorge und sogar Wut. Andererseits, je besser das Grundverständnis ist, desto unwahrscheinlicher ist generelles Durcheinander und Angst und umso leichter fällt das Lernen und Behalten der Information. Dies sorgt wiederum für einen sanfteren Übergang in beinahe allen zukünftigen Lernsituationen.
Paradoxerweise müssen Pferde manchmal nicht wegen Wissenslücken neu gestartet werden, sondern genau wegen des Gegenteils: manche Pferde haben eine gefestigte Meinung über das, was ihre Reiter oder Betreuer ihnen beigebracht haben. Das Problem liegt hierbei darin, dass die Menschen den Pferden unbeabsichtigt Dinge zeigen, die sie eigentlich gar nicht lernen sollten.
Dies passiert normalerweise, wenn unerfahrene Reiter oder Betreuer sich nicht klar ausdrücken, was sie während der Arbeit mit diesem Pferd erreichen wollen oder wenn erfahrene aber inkonsequente Reiter oder Betreuer mit dem Pferd ohne klares Ziel vor Augen arbeiten. In diesen Fällen werden oft widersprüchliche Signale an das Pferd gegeben, die dazu führen, dass das Pferd viele verschiedene „Antworten“ ausprobiert, sobald es Druck verspürt (entweder unter dem Sattel oder am Boden). Weil die Menschen unklare Anforderungen stellen oder das Ziel nicht vor Augen haben, geben sie dem Pferd im falschen Moment nach, was meistens dazu führt, dass das Pferd das Falsche lernt.
Hier ein Beispiel: vor nicht allzu langer Zeit war ein Reiter bei mir, der seinem Pferd zeigen wollte, wie es ruhig neben einer Aufstiegshilfe stehen bleiben kann, während der Reiter aufsteigt. Sein Pferd, ein recht wohlerzogener Mix aus Quarter Horse und Belgischem Kaltblut, konnte ohne Probleme zur Aufstiegshilfe geführt werden und blieb auch ruhig stehen, während der Mann auf die Aufstiegshilfe stieg. Aber als er seinen Fuß in den Steigbügel nahm, begann das Pferd sein Gewicht in vorauseilender Erwartung des Reitergewichtes zu verlagern. Der Reiter, der sah, dass das Pferd sich bewegte, nahm Kontakt am Zügel auf seiner Seite auf, weil er diese Bewegung stoppen wollte. Jedoch führte genau dies dazu, dass das Pferd sich mit der Hinterhand von der Position an der Aufstiegshilfe entfernte. Nachdem er auch dies sah, ließ der Reiter den Zügel wieder nach, nahm gleichzeitig seinen Fuß aus dem Steigbügel und gab dem Pferd damit unbeabsichtigt ein Nachgeben, als es sich von der Aufstiegshilfe weg bewegte (wozu der Reiter selbst zuvor das Signal gegeben hatte).
Der Reiter stieg nun von der Aufstiegshilfe ab, nahm sie hoch und legte sie näher an die neue Position des Pferdes. Dann stieg er wieder auf die Aufstiegshilfe und versuchte es nochmal, wobei exakt dasselbe wieder passierte. Nach nur wenigen Wiederholungen war das Pferd sicher, dass es aus dem Weg gehen sollte, sobald der Reiter neben ihm auf die Aufstiegshilfe stieg.
Genau dieser Reiter sah die Sache aber ganz anders, nämlich als würde das Pferd sich dagegen wehren, dass er aufsaß und dass das Pferd demnach nicht geritten werden wollte, was beides nicht stimmte. Es war einfach ein Missverständnis, sowohl auf Seiten des Pferdes als auch des Reiters, welches durch einige einfache Änderungen aus dem Weg geräumt werden konnte.
Zunächst legten wir dem Pferd einen Führstrick und ein Halfter an, anstatt es auf Trense gezäumt zu lassen. Anschließend – anstatt das Pferd physisch in die Nähe der Aufstiegshilfe zu führen, wie der Reiter es gemacht hatte – brachten wir dem Reiter bei, wie er sich auf die Aufstiegshilfe stellen konnte und das Pferd in eine Richtung längsseits zur Aufstiegshilfe aber dennoch seitlich versetzt bringen konnte. Sobald das Pferd verstanden hatte, wie es sich längsseits aufstellen sollte, brachten wir ihm bei, wie es durch eine Reihe subtiler Bewegungen mit dem Führstrick und einem Schnalzen oder „Küsschen“ durch den Reiter jeweils einen Schritt nach vorn machen konnte, bis es sich in der richtigen Position befand, dass der Reiter aufsitzen konnte. Wir wiederholten dies mehrere Male, bis der Wallach ruhig und nachhaltig in Position neben der Aufstiegshilfe stand.
Dann versuchte der Reiter, seinen Fuß in den Steigbügel zu setzen. Falls das Pferd begann, sich wegzubewegen, wie es zuvor der Fall war, leitete der Reiter das Pferd umgehend ganz zurück auf die Ausgangsposition seitlich versetzt von der Aufstiegshilfe und begann mit dem gesamten Ablauf von vorn. Innerhalb von 15 Minuten hatte der Reiter damit auf eine effektive Weise das Verhalten eliminiert, was er nicht haben wollte und stattdessen ein neues Verhalten eingebaut.
In solchen Situationen nimmt der Reiter manchmal das scheinbar ausweichende Verhalten des Pferdes persönlich und macht entsprechend jedes Mal mehr und mehr Druck, wenn das Pferd sich von der Aufstiegshilfe entfernt, damit es doch stillstehen solle. Als Folge macht sich das Pferd mehr und mehr Sorgen, sobald es nur in die Nähe der Aufstiegshilfe kommt und weigert sich manchmal sogar, wenn es dies tun soll. Dies eskaliert oft zu unerwünschtem Verhalten beider Parteien und bald wird das Pferd als „steht nicht still beim Aufsitzen“ beschrieben – alles aufgrund eines Missverständnisses.
Eine weitere, häufige Situation, bei der oft widersprüchliche Signale gegeben werden, ist, einem Pferd das willige Anhalten unter dem Reiter beizubringen. Viele Pferdeleute können einen der Hauptgrundsätze in der Arbeit mit Pferden gut nachvollziehen, der besagt, dass man bereits den kleinsten „Versuch“ belohnen soll. Wenn also der Reiter dem Pferd das Anhalten beibringen will, erhöht der Reiter einfach den Druck auf dem Zügel, wartet bis das Pferd ein Anhalten anbietet und lässt dann den Druck wieder nach. Auf diese Art und Weise zu arbeiten ist sicherlich keine schlechte Sache. Es sei denn, es fehlen im Moment des Nachgebens einige Bestandteile für ein gutes ganzheitliches Anhalten, nach denen wir suchen.
Ich meine damit Folgendes: Wenn wir von einem ungeübten Pferd ein Anhalten sehen wollen, dies mit Druckaufbau am Zügel anleiten und nachgeben, wenn das Pferd anhält, aber gleichzeitig nicht auf die Gesamtqualität des Anhaltens achten, bringen wir ihm höchstwahrscheinlich zusätzliches, unerwünschtes Verhalten gleichzeitig mit dem Anhalten bei.
Wenn ein Pferd erstmalig das Anhalten lernt, stoppt es in den meisten Fällen auf diese Art seine Bewegung, spannt aber gleichzeitig seinen Kiefer an und bringt Druck oder Anspannung gegen das Gebiss. Wenn wir also in dem Moment nachgeben, sobald das Pferd anhält und sich steif macht, wird es sehr schnell lernen sich beim Anhalten steifzumachen. Und nicht nur das, sondern es wird auch lernen, Druck auf dem Zügel gedanklich mit einem Sich-steif-Machen zu verbinden und bald darauf hält das Pferd nicht nur steif an, sondern wird scheinbar auch nicht mehr willig antworten, wenn es vor anderem Zügeldruck weichen soll. Falls dieses Missverständnis nicht frühzeitig während des Pferdetrainings korrigiert wird, wird das Pferd annehmen, dass ein Sich-steif-Machen das ist, was wir wollen und auch wenn es mühsam und unbequem für das Pferd ist, in dieser steifen Haltung eine Leistung zu erbringen, wird es das Verhalten jedes Mal wiederholen, wenn es Druck am Zügel spürt.
Im schlimmsten Fall wird das Pferd als „hart im Maul“ bezeichnet. Schärfere Gebisse und härtere Hände kommen bald ins Spiel, nur um etwas so Einfaches wie ein Anhalten, eine Wendung oder ein Rückwärtsrichten zu erreichen. Mit einer größeren Kandare steigt auch das Maß des Unbehagens und meist beginnt das Pferd dann, zusätzliches ungewolltes Verhalten zu zeigen, wie z. B. seinen Rücken wegdrücken und seinen Kopf hochwerfen, um etwas Entlastung zu erfahren. Dies veranlasst wiederum den Reiter, mehr Druck und/oder andere Ausrüstung wie Stoßzügel, Ausbinder und Ähnliches zu verwenden, um das gewünschte Verhalten des Pferdes unter Kontrolle zu halten. Natürlich verursacht dies beim Pferd nur noch mehr Unbehagen, was üblicherweise noch mehr unerwünschtes Verhalten hervorbringt und mehr Konflikte zwischen Pferd und Reiter heraufbeschwört und so weiter …
In diesen Beispielen und ebenso in vielen weiteren, die verwendet werden könnten, stammen die Probleme ursächlich vom Unwissen des Menschen darüber, was das Pferd während des Trainings lernt. Es passiert sehr häufig, dass wir meinen, eine Sache beizubringen, aber dass das Pferd tatsächlich gerade etwas völlig anderes daraus mitnimmt. Unglücklicherweise für Pferd und Reiter ist dies meistens die Art von Training, die häufig unerwünschte Trainingsereignisse liefert, die am Ende dazu führen, dass das Pferd später korrigiert werden muss.