Jens. Ein Mann will nach unten - Erlend Loe - E-Book

Jens. Ein Mann will nach unten E-Book

Erlend Loe

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Beschreibung

Stellen Sie sich vor, Angela Merkel zieht bei Ihnen ein! Fvonk staunt nicht schlecht. Seine Einliegerwohnung in einer besseren Gegend Oslos wurde vom norwegischen Staat zwangsgemietet, und sein neuer Untermieter, der eines Abends um eine Tasse Tee bittet, ist kein Geringerer als Ministerpräsident Jens Stoltenberg. Der hat nämlich keine Lust mehr zu regieren. Burnout. Kein Wunder, schließlich hat er einen anstrengenden Job, und die jüngsten Ereignisse haben ihre Spuren hinterlassen. Fvonk und Jens freunden sich an und tun Dinge, die alle Norweger tun: Butterfahrten nach Schweden, Wanderungen durch die Landschaft und Skilanglauf. Als Jens merkt, wie schön das Leben sein kann, vor allem, wenn man einen Freund wie Fvonk hat, will er nicht zurück auf die Regierungsbank. Anfangs hat sein Stab ja Verständnis für ihn, schließlich brauchen wir alle mal eine Pause, aber jetzt reicht's. Jens muss zurück …Ein Buch, so überraschend wie eine Männerfreundschaft!

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Seitenzahl: 221

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Erlend Loe

Jens

Ein Mann will nach unten

Roman

Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Erlend Loe

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

ÜbersetzungMottoKartenKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17
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Diese Übersetzung erscheint mit freundlicher Unterstützung von NORLA, Oslo, wofür sich der Verlag herzlich bedankt. Tusen takk, NORLA.

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»Ich will’s nicht wissen, aber ich will es wissen.

Also sag es und sag es nicht. Hey!«

CARPE DIEM

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1) Eines Sonntags im Januar, an dem nichts passieren wird – damit hat sich Dozent Fvonk schon vor ein paar Stunden abgefunden, seine Tochter zum Beispiel wird doch nicht zum Abendessen kommen, sagte sie am Telefon, sie müsse lernen, für eine Prüfung, hieß es –, wird doch etwas passieren.

 

2) Es ist fast ein Uhr, so hat Fvonk es im Gespür, er müht sich mit dem Spalier ab, das sich oben auf der einen Seite gelöst hat. Die Kletterpflanzen sind schuld, Schnee hat sich auf ihren Blättern und Stielen gesammelt. Mehrere Kilo Schnee, so nimmt Fvonk an, drücken die dünnen Holzsprossen herunter. Sie werden gebogen, verdreht, halten dem Druck kaum mehr stand, dieses Spalier ist ihm ohnehin schon lange ein Klotz am Bein, es war natürlich nicht seine Idee, es anzubringen, er war eher ein Gegner des ganzen Projektes, baute es aber dennoch in ein paar Tagen, pflichtschuldigst vor einigen Jahren, als die Dinge noch mehr oder weniger glattliefen, in einer eher milden Jahreszeit, möglicherweise im Frühling.

 

3) Fvonk hat ein Loch in die Mauer gebohrt, fünf Zentimeter tief, drei Millimeter im Durchmesser, und führt jetzt eine zu diesem Zweck erworbene Plastikhülse ein, einen sogenannten Schraubdübel, wie er auf der Schachtel lesen kann. Er muss diesen Schraubdübel etwas drehen, gegen den Uhrzeigersinn, ganz automatisch, will nur, dass das Dings so sitzt, wie es sitzen muss, damit er das Spalier ein für alle Mal festschrauben kann, doch dreht er den Dübel mit einer bangen Vorahnung ein. Er fürchtet, sich selbst zu betrügen, denn er hat ja die mittlerweile lose Ecke damals auf eben dieselbe Weise festgeschraubt, als er das Spalier seinerzeit baute, vielleicht ist die Mauer nicht stabil genug, befürchtet Fvonk, die Qualität der Mauer, auf die man nicht genügend geachtet hat, als das Haus um die Mitte der 1930er-Jahre gebaut wurde, vielleicht lag es am Materialmangel, man mixte halt zusammen, was man zur Hand hatte, vermutet Fvonk, was auch immer das war, sicher Sand, denkt er, zweifellos Sand und zweifellos auch Wasser und andere Substanzen, denen man Bindekraft zuschrieb, aber was wusste man damals schon, und jetzt hat der Zahn der Zeit 75 Jahre lang sein Werk getan, Frost und Feuchtigkeit, die beiden dunklen Begleiter des Hauseigentümers, haben ihr Werk getan, und bei Hausbesichtigungen wird so etwas bemerkt, oh, sie bekommen es mit, diese Schwangeren bekommen einfach alles mit und auch ihre manipulierten Ehemänner, die sich schon längst der Ansicht angeschlossen haben, dass etwas mehr Platz nichts schaden könnte, ja, die das sogar schon für ihre eigene Idee halten, und ein Haus mit Aussicht, vielleicht sogar mit Aussicht, aber ohne dass die ältere Schwester des Ungeborenen den Schulbezirk wechseln müsste.

 

4) Es geht nicht nur darum, ein neues Loch zu bohren und das Spalier zu befestigen, zugleich muss das alte Loch zugespachtelt und mit exakt dem Farbton der Mauer überpinselt werden, damit es dem schwangeren Auge unmöglich ist zu erkennen, dass dieser kleine Bereich jüngst übermalt wurde, denn wenn die Frage erst einmal aufkommt, ist der Zug abgefahren, dann kann er die Information nicht mehr zurückhalten, etwas zu verschweigen ist eine Sache, eine Information aktiv zurückzuhalten, schon eine ganz andere, das sind schließlich Anwälte, die Ehemänner der Schwangeren sind Anwälte, und Fvonk wäre ihnen gegenüber chancenlos ab dem Moment, ab dem sie die Sache aufs Korn nähmen: Wie lässt es sich in dieser Mauer eigentlich bohren? Ist sie vielleicht ein wenig porös wie so manche Mauern aus den 1930er-Jahren in dieser Gegend? Man darf den Anwälten keinen Anlass geben, die Sache aufs Korn zu nehmen, denn dann sinkt der Preis in Zehntausenderschritten, wenn nicht gar Hunderttausenderschritten, falls man an die schlimmsten Querulanten gerät. Allerdings hat Fvonk keine Verkaufsabsichten, er lebt hier und will weiter hier leben, aber Lebensumstände verändern sich, das hat er selbst schon erlebt, viel braucht es dafür nicht, denkt er, eine kleine Veränderung, wirtschaftlich, gesundheitlich, eine bleibende neue Laune, ein geänderter Zivilstand, Verwicklung in Unkultur, ein Gerichtsverfahren, es kann so vieles sein und es kann so schnell gehen, bisweilen verdammt schnell.

 

5) Ich muss mir selbst treu bleiben, denkt Fvonk, so, wie er es seit Jahren mehr oder weniger kontinuierlich denkt, ich muss mich von Unkultur fernhalten, nie wieder Unkultur, denkt er, nie wieder, und obgleich die Initiative zur Unkultur im Geher- und Fitnessverband selbstverständlich nicht von Fvonk ausgegangen war, wurde er vom Sog mit erfasst, wie alle anderen. Von außen sieht das gar nicht gut aus, das kann er verstehen, für einen nicht eingeweihten und nur durchschnittlich sympathisch eingestellten Blick sieht das gar nicht gut aus. Einige Jahre lang hatte Fvonk eine hohe Stellung in einer Institution, in der Unkultur getrieben wurde, er muss doch von dem Gemauschel gewusst haben, denken die Leute, dem Mitgliedergemauschel, muss er doch, na komm schon, na ja, was heißt schon gewusst, er wird im Laufe der Jahre schon die eine oder andere Bemerkung mitgehört haben, beim Mittagessen vor allem, über Stullenpaketen mit selbst gebackenem Brot und Blaubeermarmelade oder verschiedenem Fischbelag, und von Zeit zu Zeit ausweichende Blicke seiner Kollegen gesehen haben, aber solche Blicke gibt es an jedem Arbeitsplatz. Die Leute haben mit allerlei Dingen zu kämpfen, Krankheit, Erbauseinandersetzungen, Scheidungen, mit allem Möglichen, woher sollte er wissen, was es hier war? Er war ein Enthusiast, das war er, unter anderen Enthusiasten, so dachte er, für Gelddinge hatte er sich nie interessiert, es ging ihm nur darum, die Verbreitung des Sports zu fördern, die Leute zum Gehen zu bringen, Herrgottnochmal, Gehen, das Schönste von allem, Wanderungen, Wettkampfgehen, egal was, aber Hauptsache Gehen, dass es einen derartigen Kuddelmuddel geben würde, das hätte er nie gedacht, wirklich nie, heutzutage gibt es ja in den idealistischsten Organisationen kleine Betrügereien, aber auf einmal ergriff der Präsident des Sportbundes das Wort, Drohungen, Schuldzuweisungen, sie sollten unter Aufsicht gestellt werden, wie Kinder, und am Ende wurde der Verband aufgelöst. Es tut immer noch weh. Und das verflixte Spalier muss befestigt, das alte Loch übermalt werden, bevor die Schwangeren kommen.

 

6) Während Fvonk diesen und anderen Gedanken nachhängt, rollt ein in Deutschland hergestellter, sauberer, schwarz lackierter Wagen mit getönten Scheiben die Einfahrt hoch und bleibt dort mit laufendem Motor stehen. Er sieht offiziell aus, und Fvonk reagiert instinktiv ablehnend, er will nichts mit den Behörden zu tun haben, oder mit der Obrigkeit, mit der schon gar nicht. Nach ein paar Sekunden steigt eine Frau aus, sie ist in den frühen Fünfzigern. Sie hat auf der Rückbank gesessen, und die Tür gibt einen halblauten, rhythmischen Warnton von sich, bim, bim, bim, damit auch ja niemand Zweifel hat, dass sie offen steht. Die Frau schließt die Tür und blickt sich um, als wollte sie prüfen, dass niemand außer Fvonk sie sehen kann, nur sie beide sind hier auf der Bühne, die Frau und Fvonk, freilich gibt es Nachbarn, aber die können sie nicht sehen. Die Einfahrt kann weder von der Straße noch aus den umliegenden Häusern eingesehen werden, jemand hat sie so gebaut, jemand hatte vielleicht etwas zu verbergen, wer weiß, nach so vielen Jahren wird sich das nicht mehr ermitteln lassen, man muss hinnehmen, dass diese Information verloren gegangen ist, man muss das als eines der vielen Geheimnisse des Lebens akzeptieren.

 

7) Die Frau kommt auf Fvonk zu, mit gemessenen, sicheren Bewegungen, wie Machtmenschen sie bisweilen an sich haben, oder Tänzer, aber das ist keine Tänzerin, denkt Fvonk, sie trägt einen Hosenanzug und einen schmalen Schal, eine Brille, hochgestecktes Haar, nein, keine Tänzerin, sie nickt ihm zu, und Fvonk findet, sie ist dünn gekleidet, die friert, denkt Fvonk, arme Frau. Während sie auf ihn zukommt, hat er noch Zeit zu denken, das wird ein neues Kapitel in der demütigenden Geschichte seiner Rolle im Geher- und Fitnessverband, das Wissen von dem Gemauschel ist jetzt bis in Ministeriumssphären gedrungen, und diese stahlgrauen, sozialdemokratischen Augen wollen ihn noch weiter kaltstellen, er soll ganz an den Rand gedrängt werden. Die Frau stellt sich mit einem Namen vor, den er in seiner Nervosität nicht mitbekommt.

Es geht um möblierte Zimmer, sagt die Frau.

Möblierte Zimmer, sagt Fvonk, perplex, möblierte Zimmer, also keine Demütigungen, jedenfalls nicht zwangsläufig, oder fängt sie einfach nur an einem anderen Ende an, wie ein ausgefuchster Folterknecht, er muss die Schachtel mit den Schraubdübeln in den Schnee legen, damit seine zitternde Hand nicht verrät, wie schnell sein Puls geht.

Möblierte Zimmer, wiederholt Fvonk und begreift, dass er sich mit dieser dämlichen Wiederholung bereits jetzt verdächtig macht. Ich habe zwar möblierte Zimmer, in der Tat, sagt er, aber sie sind zurzeit nicht frei, und ich habe auch keine Annonce aufgegeben.

Das ist uns klar, sagt die Frau.

Aha.

Wir benötigen ein möbliertes Zimmer für einen unserer Angestellten und ein anderes für zwei seiner, hm, lassen Sie es mich Freunde nennen.

Ich verstehe, aber es ist nichts frei.

Vielleicht kann ja etwas frei werden?

Wie meinen Sie das?

Ich vertrete wie gesagt den Staat, und der Staat kann zahlen. Ist Ihnen klar, über wie viel Geld er verfügt?

Fvonk sieht sie an, den Hosenanzug, was ist das, denkt er, was kann das sein, bloß keine Unkultur, bitte, dass es bloß keine Unkultur ist.

 

8) Sie sitzen in Fvonks Wohnzimmer. Er hat der Frau Tee und einen Lebkuchen serviert, der Lebkuchen hat seit Weihnachten im Schrank gelegen, sie hat einen Bissen davon genommen, und Fvonk hat Musik angemacht, leise Klaviermusik, vielleicht ein etwas merkwürdiger Impuls, aber jetzt ist es so, und die Frau sitzt auf der Stuhlkante, die Beine etwas schräg nebeneinandergestellt, prinzessinnengleich. Sie hat vorgeschlagen, Fvonk solle den jetzigen Mietern einen überraschend hohen Geldbetrag bieten, damit sie ausziehen, sie hat auch gesagt, die Zimmer müssten renoviert werden, selbstverständlich in enger Abstimmung mit Fvonk, und sämtliche Unkosten würden übernommen, außerdem sollen die Zimmer nur am Weekend benutzt werden, dieses Wort verwendet sie, und zugleich sollen die Mieter Zugang zur Garage erhalten, ebenfalls nur am Weekend, und es müsse ein Direktzugang von der Garage zu den Zimmern geschaffen werden.

Gibt es einen solchen Zugang vielleicht bereits, es ging aus den Plänen nicht hervor, die beim Bauamt erhältlich waren, nein? Nein, dann richten wir ihn ein, das kostet ja nicht die Welt, ein Loch in der Wand und eine Tür, nicht wahr, die Frau lacht, so einfach ist das. Die Miete, die sie anbietet, ist irrsinnig hoch.

Ja, ja, das wäre ja auch noch schöner, sagt die Frau, hier kommen wir an und drängen uns auf, bereiten Ihnen Unannehmlichkeiten, und um die Wahrheit zu sagen, wir rechnen mit Ihrer vollen Diskretion, wir bezahlen für Ihre Zurückhaltung und sind abhängig von Ihrem Verständnis und Ihrer Kooperation, und abgesehen davon hätten wir das gern als rein mündlichen Vertrag, wir mieten die Zimmer, solange wir sie benötigen, und wenn das nicht mehr der Fall ist, erhalten Sie eine Jahresmiete, bar auf die Hand, wenn Sie das wünschen, oder auch per Banküberweisung wie üblich, das entscheiden Sie selbst, und ich denke doch, Sie kennen den Steuersatz für das Vermieten von möblierten Zimmern in einer selbst bewohnten Wohnung, solange der Mietwert der selbst bewohnten Wohnungsanteile höher ist als derjenige der vermieteten?

Fvonk erstarrt, ist das ein Test, denkt er, haben die Gesetze sich geändert, während der Geher- und Fitnessverband abgewickelt wurde, hat es Änderungen im Regelwerk gegeben während seiner schweren Zeit? Was soll er antworten, er weiß nicht, was er antworten soll.

Ich dachte, das ist dann steuerfrei, sagt er irgendwann klopfenden Herzens.

Die Frau ist ein einziges großes Lächeln.

Korrekt, sagt sie fröhlich. Null Steuern. Das bedeutet Geld in der Tasche, Sie können sich alles kaufen, im Grunde alles, was Sie wollen, außer Sex, das ist ja jetzt bei uns verboten, wieder lacht sie, aber es gibt ja so viel anderes.

Sie hält ihm die Hand hin, um den Vertrag zu besiegeln.

Fvonk schlägt ein.

Ich freue mich, dass das geregelt wäre, sagt sie, als sie im Eingang die Schuhe wieder anzieht, wir hatten dieses Haus schon länger im Visier, falls es so weit kommen sollte, es hat ein paar Vorzeichen gegeben, das hat es, er ist zurzeit nicht ganz er selbst.

Wer?

Der, der hier wohnen soll.

Fvonk wartet, ob sie noch etwas über den sagt, der nicht ganz er selbst ist, aber es kommt nichts.

Schöne Lage, sagt sie stattdessen, man überblickt ja die ganze Stadt.

Ja, sagt Fvonk.

Und Ihre Mieter überblicken auch die ganze Stadt.

Ja, sagt Fvonk wieder.

Und den Fjord, sagt die Frau, nicht zu vergessen den Fjord.

Ja, und den Fjord.

 

9) Ein Durcheinander von Gefühlen tobt in Fvonk, als die Frau die Tür aufmacht, um zu gehen, er hat schon lange keine Frau seines Alters mehr im Haus gehabt, sie mag zwar eine etwas unheimliche Frau sein, aber eine Frau ist sie eben doch, auch wurde sie etwas weicher, als sie die Schuhe auszog, sie hat einen anmutigen Gang, das hat Fvonk gleich bemerkt, kommentiert hat er es nicht, aber er kann sie sich ohne Weiteres bei einem Volkslauf vorstellen oder sogar bei einer weniger förmlichen, ja sogar privaten Wanderung, zum Beispiel über die Besseggen oder von Hütte zu Hütte, von Gjendebu nach Memurubu, er sieht, dass sie kräftige Beine hat, die vielleicht nach der Wanderung eine Massage brauchen könnten, nein, halt, er beherrscht sich, das ist unmöglich, närrisch, lächerlich sogar, er wird wütend auf sich selbst, dass er so etwas überhaupt denkt, und mit dem Spalier ist er auch noch nicht fertig, o weh, nein, das ist doch Unfug. Trotzdem berührt er ihre Hand, bevor sie geht. Sie will gerade ihr Handy aus der Tasche des Hosenanzuges nehmen, hält bei der unerwarteten Berührung aber inne und schaut ihn an, als wolle sie ihren Sinnen nicht trauen.

Entschuldigung, sagt sie, haben Sie gerade meine Hand berührt?

Fvonk antwortet nicht.

Wollen Sie etwas von mir?, fragt sie.

Ich mache mir ein wenig Sorgen, ob Sie auch nicht frieren, sagt Fvonk, tragen Sie zuunterst Wolle? Es gibt heutzutage sehr dünne, angenehme Wollstoffe, aber das wissen Sie ja sicher.

Haben Sie mich deshalb berührt? Um über Wolle zu reden?

Fvonk schüttelt den Kopf.

Ich weiß nicht, sagt er, ich weiß nicht, warum ich das getan habe.

Soll ich vielleicht nicht gehen?

Vielleicht.

Brauchen Sie einen Freund, fragt sie, oder Nähe, brauchen Sie Nähe?

Vielleicht, ja, sagt Fvonk. Ein Freund wäre schön. Nähe auch.

Es ist nichts Falsches daran, sich Nähe zu wünschen, sagt die Frau, Nähe ist etwas Schönes, ich nehme sie selbst bisweilen in Anspruch, aber jetzt muss ich gehen, vielleicht ein andermal.

Wer soll hier wohnen, fragt Fvonk, ich finde es seltsam, nicht zu wissen, wer hier wohnen soll.

Das kann ich Ihnen nicht sagen, sagt die Frau, aber es ist eine vertrauenswürdige Person, ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ich ihm, ohne zu zögern oder zu übertreiben, den allerbesten Leumund ausstellen würde. Das Problem ist nur, er ist erschöpft, er braucht ein wenig Ruhe und Schlaf, ja, ich glaube, vor allem Schlaf.

Was ist das, denkt Fvonk, er wittert Unkultur. Am Ende eine Art offener Vollzug für erschöpfte Kriminelle? Soll etwa ein ausgebrannter Meisterdieb in seinen möblierten Zimmern wohnen?

Ich meine, unterliegt er irgendwelchen Einschränkungen?

Einschränkungen, wie man’s nimmt, sagt die Frau, das kommt darauf an, was man darunter versteht.

Was ist mit Unkultur, ist er in Unkultur verwickelt?

Unkultur?

Ich wünsche, nicht mit Unkultur verbunden zu werden, sagt Fvonk, darum frage ich, Unkultur hat mich Jahre meines Lebens gekostet.

Die Frau blickt ihn lange an. Fvonks Gesicht wirkt müder als sein starker, sehniger Körper, in dem viele Hundert Wanderkilometer stecken, es hängt etwas durch, die Augen sind gerötet, erschöpft. Vielleicht fällt ihr das auf. Jedenfalls nimmt sie Fvonks Hand und hält sie in beiden Händen.

Lieber Freund, sagt sie, diese Person, sagt sie, Ihr zukünftiger Weekend-Mieter, gehört zu einer Personengruppe, die viel zu verlieren hätte, würde sie denn mit Unkultur in Verbindung gebracht. Es ist ihm unvorstellbar, an etwas mitzuwirken, das auch nur im Entferntesten daran erinnert.

Ist das wahr, bricht es froh aus Fvonk hervor.

Es ist wahr, sagt die Frau.

Ist das wirklich wahr, fragt Fvonk abermals.

Seine Unterlippe zittert ein wenig.

Sie nickt.

Sie hören von uns.

Sie geht hinaus und die Treppe hinunter, zu dem wartenden Wagen, während sie mithilfe einer Kurzwahltaste eine Nummer wählt, und als sie sich ins Auto setzt, ist sie bereits am Telefonieren.

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10) Fvonk sitzt im Lehnstuhl vor dem großen Fenster, er steht auf und holt sich einen Lebkuchen, setzt sich wieder hin und isst ihn, immer noch erfrischt von dem unerwarteten Besuch, steht wieder auf, holt sich noch einen Lebkuchen, isst auch den. Ihm fällt ein, wie Agnes immer darauf hinweisen musste, dass zu viel Zimt schädlich sein kann, es war ein regelrechter Zwangsgedanke von ihr, einer von mehreren, sie galten nicht nur Lebkuchen, sondern einer Vielzahl von Lebensmitteln. Die letzten sieben, acht Jahre vor ihrem Auszug konnte Agnes nicht an sich halten, wenn jemand in ihrem Beisein Lebkuchen aß, in Zimt ist Cumarin, sagte sie, und Cumarin schädigt die Leber, hast du das nicht gewusst, nein, da siehst du mal, aber vielleicht befindest du dich noch innerhalb dessen, was man als normalen Zimtkonsum bezeichnen kann, und dann ist es vielleicht nicht so schlimm, ich bin lieber vorsichtig und esse überhaupt keine Lebkuchen mehr, aber jeder muss seine eigenen Grenzen setzen.

Fvonk nimmt noch einen Lebkuchen und saugt das Cumarin sorgfältig heraus, während er im Wohnzimmer Kreise zieht, und er weiß, wenn er auf diese Weise im Wohnzimmer Kreise zieht, dann bedeutet das, dass er bald hinausmuss, es sind die Beine, sie wollen gehen, der Körper schüttet irgendeinen Stoff aus, der ihn hinaustreibt, so hat sich das entwickelt, er sollte sich einen Hund zulegen, dann wäre es legitim, viel zu gehen, dann geht man nur mit, man kann den Leuten, denen man begegnet, resigniert zulächeln und sagen, der Hund musste raus, ohne Hund wirkt man etwas merkwürdig, finden die Leute in der Nachbarschaft, denkt Fvonk, aber es hat wohl auch mit dem Tempo zu tun, denn Fvonk geht nicht spazieren und flaniert auch nicht, er schreitet kräftig aus, sogar seine Arme sind aktiv beteiligt, und für viele Leute ist bei den Armen eine Grenze erreicht, denkt Fvonk, wahrscheinlich sollen sie hinabhängen oder die Hände sollen in der Tasche stecken, eventuell sollen die Arme hinter dem Rücken verschränkt sein oder zur Not ein wenig baumeln, aber wenn sie aktiv beteiligt sind, werden sie zur Bedrohung, und wenn jemand einen Hund haben sollte, dann Fvonk, so viel, wie er draußen herumläuft, er könnte sicher auch mit ihm reden, er hat gehört, zwischen Hund und Herrchen entstünden bisweilen Mechanismen, die geradezu an Freundschaft erinnern können, aber es kommt trotzdem nicht infrage, er schafft sich keinen Hund an, vergiss es.

 

11) Es wirkt verstörend, wenn der Mensch, mit dem man zusammenlebt, öfter als nur ausnahmsweise mal über Cumarin redet, dennoch vermisst Fvonk Agnes, irgendwie, oder vielleicht nicht unbedingt sie, jedenfalls nicht zur Gänze, nicht die ganze Agnes, nur Teile, Momente, Situationen, nicht die ganze. Sie hat ihn verraten, das Wort ist nicht zu stark, sie wollte ihn haben, solange er der frohgemute, funktionierende, schnell gehende Fvonk war, aber nicht mehr, als ihn dann die Unkultur traf und er wortkarg und mürrisch wurde, ja schwermütig, nur noch langsam ging, schlich, es kam vor, dass er die Hügel zum Stadion Ullevål zum Geher- und Fitnessverband hinunterschlich, ja hinunterschlurfte, es gab Tage, an denen wollte er nicht aufstehen, und das mochte Agnes nicht leiden, statt ihm zu helfen, setzte sie ihm zu, hoch mit dir, sagte sie zum Beispiel, reiß dich zusammen, so schlimm wird es schon nicht sein, und mit der Zeit stellte sich auch in ihrer Beziehung eine Unkultur ein, nicht nur auf der Arbeit, was ja mehr als genug gewesen wäre, auch in ihrer Beziehung, dabei ist Unkultur aus einer einzigen Richtung schon mehr als genug, und wenn sie aus zweien kommt, wird es unerträglich, aber die Dinge sind nun einmal, wie sie sind, und brauchen so lange, wie sie brauchen, und als Fvonk so lange gebraucht hatte, wie man aus Agnes’ Sicht brauchen sollte, um etwas Schweres zu verwinden, hatte er es immer noch nicht verwunden, und Agnes hatte genug, es war vorbei, sie sagte stopp, wollte nichts mehr von ihm wissen und zog aus, sie hatte im Fernsehen Sendungen darüber gesehen, wie man etwas Traumatisches überwindet, und genau ausgerechnet, dass es ab dem Moment, ab dem man in der Zeitung von Katastrophen, Unfällen und persönlichen Tragödien liest, bis zu demjenigen, wenn am Neujahrsabend oder zu Ostern im Fernsehen die Dokumentarsendungen über den schweren Weg zurück ins Leben kommen, ungefähr zwei Jahre vergehen, höchstenfalls drei.

 

12) An der S-Bahn-Haltestelle Kringsjå Schule schnallt sich Fvonk die Skier unter, läuft über den Sognsvannbach und bergauf in das Netzwerk von Loipen, das ihm einst unübersichtlich erschienen war, das er jetzt aber besser kennt als sein eigenes Gehirn. Zum Vettakollen hoch zieht er das Tempo eher an, anstatt langsamer zu werden, oben angelangt, dreht er sich um, wie immer, dort unten die Stadt, setzt dann seinen Weg über Fuglemyra und Rishøgda fort, läuft dann abseits der Forstwirtschaftsstraße über kleinere Loipen bis zur bewirtschafteten Winteralm Ullevålseter, trinkt drinnen ein Glas Wasser, kauft eine Waffel, es graut ihm ein wenig davor, seine Mieter von den Ereignissen in Kenntnis zu setzen, sie haben sich gut verstanden, es sind angenehme Menschen, beide, dann wieder hinunter, Høgåsen, die drei Seen Øvre Blanksjø, Nedre Blanksjø und Svartkulp und schließlich vorbei am Reichsarchiv.

 

13) Nach knapp zwei Wochen kommt die Hosenanzugsfrau mit Planzeichnungen, Fvonk nickt, keinerlei Anzeichen von Nähe, nichts als Planzeichnungen, ganz kühl, sieht es gut aus, ja, es sieht gut aus, Arbeiter in Arbeitskleidung kommen und gehen, Bohren, Abreißen, Montage eines automatischen Garagentors samt Aussägen eines Lochs zwischen Garage und Keller, infernalischer Lärm, Fvonk muss raus, bergauf, bergauf, Wasser, Waffel, Kopf, Fvonks Kopf, der in allen wachen Stunden die Wechselfälle des Lebens bearbeitet, dann wieder nach Hause, Schreinern, Malen, Fliesenlegen, Kabellegen, Keramik, Möbel.

 

14) Am ersten Weekend geschieht nichts. Fvonk hört Bachs Wohltemperiertes Klavier an, gespielt von Keith Jarrett, danach von Vladimir Ashkenazy, dann wieder Jarrett, er vergleicht Unterschiede und Ähnlichkeiten in Anschlag und Tempi, während er immer wieder zum Fenster geht und auf die Straße schaut, kein Mieter in Sicht, die Stunden verstreichen, was hat das für einen Zweck, möblierte Zimmer zu mieten und dann nicht zu nutzen? Fvonks Wagen steht sinnlos auf der Straße. Sonntagabend fährt er ihn wieder in die Garage und denkt an das Geld, das der Staat sozusagen aus dem Fenster wirft, indem er die Zimmer leer stehen lässt, man möchte ja gern glauben, dass der Staat weiß, was er tut, sonst wird es ja ungemütlich.

 

15) Das nächste Wochenende verläuft ungefähr genauso. Freitagnachmittag Auto raus aus der Garage, Klaviermusik, Aus-dem-Fenster-Schauen, nichts. Auch am Samstag nicht. Am Sonntag kommt Fvonks Tochter zum Abendessen. Sie, Therese, hat schon seit Langem einen Draht zu Tieren, sie hat guten Kontakt zu ihnen, und sie mögen sie, Hunde, denen sie noch nie begegnet ist, reiben sich an ihr, Pferde werden zutraulich, Eichhörnchen laufen nicht so schnell weg wie vor anderen Leuten, findet sie, sie hat einen besonderen Tierverstand, findet sie und sagt es häufig, irgendwie versteht sie, was sie denken und empfinden, aber das würde sie gern systematisieren, mehr darüber lernen, der Sache eine Richtung geben, so hat sie, wie Fvonk sich erinnert, um Weihnachten herum gesagt, aber in Norwegen gibt es offenbar keine Ausbildung zur Tierkommunikatorin, hingegen gibt es eine weitverbreitete Skepsis in diesem Land von Hinterwäldlern, findet Therese, wahrscheinlich muss man nach England, um Universitäten zu finden, die Kurse zum Beispiel in Hundepsychologie anbieten, und jetzt lernt sie Englisch an der Universität von Oslo, um besser für die Sprache gerüstet zu sein, mittels derer sie Kontakt zum Inneren der Tiere finden soll, aber sie hat schon ein paar Wochenendkurse besucht und findet es schwieriger, als sie dachte. Es ist gar nicht einfach, so am Anfang, genau zu unterscheiden, welche Gedanken die eigenen sind und welche die des Hundes, aber das legt sich wohl mit der Zeit, Hauptsache, sie findet eine gute Ausbildungsstätte.

 

16) Abends um elf Uhr am Samstag des dritten Weekends hört Fvonk, wie das Garagentor aufgeht, und schaut aus dem Fenster, als gerade unter ihm der Wagen einfährt, die Garage ist ins Haus integriert wie bei etlichen Häusern aus dieser Zeit in der Gegend. Er sieht nur kurz das Heck des Wagens verschwinden, er ist ebenso schwarz wie das Auto der Hosenanzugsfrau und ebenso verflucht sauber. Diese Leute, denkt Fvonk, legen Wert auf Anonymität. Unauffällig soll es zugehen. Und sauber. Der Wagen verschwindet aus dem Blickfeld, das Tor gleitet wieder zu, was soll Fvonk tun, soll er überhaupt etwas tun, Guten Tag sagen, ein einfaches Willkommensgeschenk überreichen, eine Flasche Wein, eine rote Serviette vorgeblich beiläufig um den Flaschenhals gelegt, nein, das wäre aufdringlich, unprofessionell, er kann nichts, sollte nichts tun, denkt er, auch wenn das schwierig ist, da er instinktiv das Gegenteil will, etwas unternehmen, eine Begegnung provozieren, es ist ja wohl nicht zu viel verlangt, wenn er diesen geheimnisvollen Mieter wenigstens begrüßen will, Diskretion, ja bitte, aber dass er auf diese Weise außen vor gehalten werden soll, da fühlt er sich gekauft und bezahlt, das hat etwas von Prostitution, vielleicht geht er in den Keller und rumort da rum, er kann ja behaupten, er suche seine Schlittschuhe, schließlich ist es Winter und die Leute laufen Schlittschuh, vielleicht kommt der Mieter dann heraus und sie können Hallo sagen, nur ganz kurz, dann kennt er wenigstens das Gesicht, die Stimme, die Stimme ist wichtig, das macht einen großen Unterschied, Fvonk könnte auch anklopfen und um etwas Zucker bitten, er kann sagen, er plane, einen Kuchen zu backen, dagegen kann der Mieter nichts sagen, Fvonk könnte ja durchaus Hobbybäcker sein, oder er bittet um Gewürze, Kreuzkümmel zum Beispiel, oder Kurkuma, das