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Freiheit ist ein Phänomen der Grenze. Sie existiert nur an den äußersten Rändern der psychobiologisch erschlossenen Welt. Freiheit gebiert Transzendenz und braucht Struktur. Kultur und Religion sind Beispiele solcher Strukturen, die den kognitiven Raum erschließen und damit zur freien Welt machen. Sie haben Bedeutung für die Ökologie dieser Welt. Transzendente Triebe sind die wirkmächtigsten Bewegkräfte menschlichen Verhaltens. In Unkenntnis der Natur und Psychodynamik transzendenter Motivation kann der Spielraum freien Verhaltens schwinden. Eine Selbstaufklärung über das Wesen der transzendenten Triebe ist Voraussetzung dafür, dass eigenes Verhalten möglichst frei, vernünftig, human, tolerant und für Mensch wie Natur wohlbringend entwickelt werden kann. Dies sind die Kerngedanken, die in dem vorliegenden Werk systematisch entwickelt werden. Das Buch soll zeigen, wie Freiheit im Spannungsfeld zwischen persönlichkeitsstruktureller und gesellschaftlicher Unfreiheit psychobiologisch funktioniert und welche Bewegkräfte unser Verhalten - bewusst oder unbewusst - antreiben.
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Seitenzahl: 279
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Der Autor
Dr. Ludger Tebartz van Elst ist Arzt, Neurowissenschaftler und Professor für Psychiatrie and Psychotherapie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau.
Er studierte Philosophie und Medizin an den Universitäten Freiburg im Breisgau, Manchester (UK), New York University (NY – USA) und Zürich (Schweiz).
Er ist Stellvertretender Ärztlicher Direktor an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg, Leiter der Sektion für Experimentelle Neuropsychiatrie, Leiter des Forschungsverbunds Freiburg Brain Imaging Center der Universitätsklinik Freiburg und Vorsitzender des Referats Neuropsychiatrie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN).
Seine speziellen klinischen Interessen- und Forschungsschwerpunkte beinhalten die Neurobiologie und Psychotherapie der Entwicklungsstörungen (Autismus, ADHS und Tic-Störungen) sowie der organischen und schizophreniformen psychotischen Störungen. Methodisch fokussiert er sich dabei auf die verschiedenen Methoden der bildgebenden Hirnforschung, der Neuroimmunologie sowie der visuellen Psychophysik und Elektrophysiologie.
Darüber hinaus setzt er sich seit Jahrzehnten intensiv mit Themen der theoretischen Medizin und Philosophie auseinander und geht dabei Fragen der Psychobiologie von Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Verhalten, Freiheit und Motivation nach.
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1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-034665-9
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-034666-6
epub: ISBN 978-3-17-034667-3
mobi: ISBN 978-3-17-034668-0
Franz von Stuck (1863–1928), Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies, Paris, Musée d’Orsay (Copyright © bpk/RMN – Grand Palais/Patrice Schmidt)
»… Dann gebot Gott, der HERR, dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn am Tag, da du davon isst, wirst du sterben.«
Genesis 2,16–17
Die Vertreibung aus dem Paradies ist mehr als eine fromme Legende. Sie symbolisiert den Moment in der Evolution der Menschheit und der Biografie eines jeden Menschen, in dem die psychobiologische Entwicklung zu Bewusstsein, Erkenntnis und Selbstbewusstsein führt. Die Frucht des Baums der Erkenntnis weitet den kognitiven Raum. Freiheit entsteht. Der Mensch erkennt den eigenen Tod, verlässt zwangsläufig das Paradies der kindlichen Unmündigkeit und Unbekümmertheit. Das ist die Geburtsstunde des transzendenten Triebs. Für ein freies, erkennendes, transzendentes Subjekt ist der Weg zurück versperrt.
Für Aufklärung, Vernunft und Toleranz
»Der verdrängte Trieb gibt es nie auf, nach seiner vollen Befriedigung zu streben, die in der Wiederholung eines primären Befriedigungserlebnisses bestünde; alle Ersatz-, Reaktionsbildungen und Sublimierungen sind ungenügend, um seine anhaltende Spannung aufzuheben, und aus der Differenz zwischen der gefundenen und der geforderten Befriedigungslust ergibt sich das treibende Moment, welches bei keiner der hergestellten Situationen zu verharren gestattet, sondern nach des Dichters Worten ›ungebändigt immer vorwärts dringt‹ (Mephisto im Faust, I, Studierzimmer).«
Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920, S. 51)
Vorwort
Einleitung
1 Leben, Verhalten und Motivation
1.1 Was ist Leben?
1.2 Die Bewegkräfte von Leben und Verhalten
1.2.1 Was das Leben bewegt – über die Seele
1.2.2 Der Triebbegriff der biologischen Psychologie
1.2.3 Die Triebtheorie nach Freud
1.2.4 Die Bedürfnishierarchie nach Maslow
1.3 Systematik der Bewegkräfte des Lebens
1.3.1 Kräfte sind Konstrukte
1.3.2 Vom Trieb zum Ziel – was meinen motivationale Begriffe?
1.3.3 Vom kosmischen zum transzendenten Trieb – die Dynamik und hierarchische Struktur triebhafter Kräfte
1.3.4 Warum Triebe nicht kausal denken?
1.3.5 Endogenität und Freiheit
1.3.6 Bewusstsein und Freiheit als psychobiologische Errungenschaften
2 Diesseits der Grenze – die Psychobiologie der Freiheit
2.1 Handlungsfreiheit zwischen Struktur, Problem und Zustand
2.1.1 Persönlichkeit: Strukturelle Besonderheiten handelnder Subjekte
2.1.2 Intelligenz als körperliche Struktur
2.1.3 Weltanschauungen als erworbene Strukturen
2.1.4 Die Situation: Problematisches Handeln im Alltag
2.1.5 Wahn und Wirklichkeit: Zustandshafte Verzerrungen des Handlungsraums
2.1.6 Grenzen und Fundamente des freien Raums
2.1.7 Das Orchester des Lebens
3 Jenseits der Grenze – die Ökologie der Freiheit
3.1 Gesellschaft und Kultur – die Ökologie der Freiheit
3.2 Der Diskurs – die problematische Situation der Gesellschaft
3.3 Krieg und Frieden – die Zustände der Gesellschaft
3.4 Grenzen und Fundamente des inkulturierten freien Raums
4 Das transzendente Verhalten
4.1 Der transzendente Trieb
4.2 Religiöses Verhalten und Transzendenz
4.3 Das Opfer: Kriterien transzendenten Verhaltens
4.4 Transzendenter Trieb oder Sublimierung
4.5 Phänomenologie der transzendenten Ethologie
4.6 Transzendente Motivationen im postmodernen Selbstverständnis
4.7 Transzendenz des Alltags
4.7.1 Pragmatik der Motivation
4.7.2 Transzendenz und Sinn
4.7.3 Transzendenz und Identität
4.7.4 Von postmoderner Transzendenz
4.7.5 Verzweiflung im Paradies
4.8 Zur Psychodynamik des transzendenten Triebs
5 Die Ökologie der Transzendenz
5.1 Das Diesseits und Jenseits transzendenten Verhaltens
5.2 Die Warnzeichen der transzendenten Übertreibung
5.3 Die transzendente Immunisierung
Literatur
Glossar
Sach- und Namensregister
Die Psychiatrie ist eine Wissenschaft an der Grenze. Wie keine andere Disziplin bewegt sie sich an der Grenze zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, zwischen strenger empirischer Forschung und populärwissenschaftlicher Deutung, zwischen den kausalen Gesetzmäßigkeiten der Biologie und der zielgerichteten Verursachung von Verhalten, die Kennzeichen des Lebens ist.
Gegenstand der psychiatrischen Medizin sind die komplexesten biologischen Phänomene, die es gibt: die Wahrnehmung, die Emotionen, das Denken, Wollen und Streben und schließlich das Verhalten von Menschen. Als klinische Wissenschaft hat die Psychiatrie das Privileg, auf ganz intime Art und Weise am Denken, Wollen, Leiden und Glück der behandelten Menschen teilhaben zu dürfen. Gleichzeitig müssen dieselben Phänomene aus der objektiven Außenperspektive der vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie) betrachtet, analysiert und bewertet werden.
Mit unseren Patientinnen und Patienten fragen wir uns immer wieder gemeinsam: Warum denken, fühlen, wollen und handeln Menschen so, wie sie es de facto tun? Muss das eigene Erleben und Streben vor allem als Ausdruck neurophysiologischer und biochemischer Prozesse begriffen werden? Ist es angemessen, das eigene Wollen und Verhalten überhaupt als frei zu begreifen? Oder ist unser Leben vollständig determiniert durch physikalisch-biochemische Prozesse, deren Komplexität wir kaum fassen können?
Dass Freiheit nicht als Theorie oder Grundannahme begriffen werden sollte, sondern vielmehr als ein empirisch fassbares, körperliches, biologisches Phänomen, welches durch die Eroberung der Zeit und die Erkenntnisfähigkeit von Lebewesen entsteht, ist in zwei früheren Werken des Autors (BioLogik; Freiheit) thematisiert worden (Tebartz van Elst 20031; TvE 2015). Dabei wurde der psychobiologische Weg in der Entwicklungsgeschichte des Lebens und der Lebensgeschichte eines Menschen bis hin zur Grenze, zum Phänomen der Freiheit, analysiert und beschrieben.
Dieses Buch thematisiert nun Fragen diesseits und jenseits dieser Grenze, diesseits und jenseits der Freiheit. Denn wer sein eigenes Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Wollen und Handeln und das der Gruppen in einer Gesellschaft beobachtet (den Diskurs), wird schnell feststellen: es gibt erkennbare und benennbare Muster und Stereotypien in der kognitiven Welt. So gestaltlos die Welt des Mentalen auch sein mag, sie ist nicht ohne Struktur, sie funktioniert nicht ohne Gesetzmäßigkeiten.
Diese Strukturen und Gesetzmäßigkeiten der psychobiologischen Räume, in denen Willensfreiheit stattfindet, sollen in diesem Buch bedacht werden.
Es zeigt sich: Willensfreiheit und die Freiheit des Verhaltens sind nichts Absolutes. Sie finden nicht außerhalb der Gesetzmäßigkeiten der Naturwissenschaft statt, sondern sind als körperliches, psychobiologisches Phänomen in diese eingebettet. Und freies Verhalten bezieht sich notwendig auf unfreie, weil nicht unmittelbar-veränderbare Gegebenheiten: den eigenen Körper, die eigene Persönlichkeit, Krankheiten und Behinderungen (das Diesseits der Grenze). Aber auch die gesellschaftliche Umwelt, die Sprache und Kultur, mit denen alles Bedeutungsvolle im eigenen Leben überhaupt erst begriffen wird, treten dem wollenden Menschen als unfreie Gegebenheit gegenüber (das Jenseits der Freiheit).
In dieser Gemengelage von überwiegend unfreien Rahmenbedingungen bewegt sich das Wollen und Verhalten eines Menschen. Beide haben Gründe, zumindest teilweise erkennbare und benennbare Bewegkräfte, die Ursachen von Bewegungen und Verhalten sind. Als übergeordnete endogene, der Biologie des Lebens an sich erwachsene Bewegkräfte werden aus objektiver Perspektive die Triebe identifiziert. Ihnen entsprechen aus subjektiver Perspektive des Selbsterlebens die Bedürfnisse. Dem objektiven Sexualtrieb entspricht das subjektive Bedürfnis nach Sexualität. Der fundamentale Lebenstrieb führt bei Lebewesen, die die eigene Vergänglichkeit begreifen, aus objektiver Sichtweise zum transzendenten Trieb. Aus subjektiver Perspektive entsprechen dem die transzendenten Bedürfnisse oder – in einer anderen Sprechtradition – das Bedürfnis nach Sinn.
Auf transzendente Beweggründe wird im postmodernen Denken nur wenig reflektiert. Wahrscheinlich liegt das u. a. daran, dass es im allgemeinen Diskurs unserer Zeit eng mit religiösem Denken verknüpft vorgestellt wird, welches vielen als antiquiert gilt. Dabei stellen die religiösen transzendenten Systeme zwar die bekanntesten Beispiele transzendenter Kognition und Motivation dar – aber sicher nicht die einzigen.
Schon im Buch Freiheit (TvE 2015) wurden das Musterhafte, Stereotype, Immer-Wieder-Kehrende und Vorhersagbare im Wahrnehmen, Denken, Erleben und Verhalten von Menschen als die Stigmata des Unfreien beschrieben. Solche Stigmata der Unfreiheit können nach meiner Analyse auch im transzendenten Erleben und Verhalten von Menschen erkannt werden. Sie scheinen mir im säkularen wie im sakralen Denken und Verhalten eng mit transzendenter Übertreibung, Extremismus und Fanatismus verknüpft zu sein.
Freiheit als neurokognitiver Auftrag bedeutet für den Einzelnen wie für die Gesellschaft unter anderem auch die Aufgabe, solche potentiell sehr schädlichen Strukturen der Unfreiheit zu erkennen und an ihrer Überwindung zu arbeiten.
Wenn ich mit diesem Buch dazu einen kleinen Beitrag leisten kann, würde mich das sehr freuen.
Der Gedankengang dieses Buches baut systematisch auf den vorherigen Publikationen BioLogik (TvE 2003) und Freiheit (TvE 2015) auf und setzt das dort entwickelte Denken fort. Um unnötige Redundanzen zu vermeiden, wird im Text daher immer wieder verkürzt auf die Argumentation in diesen Werken verwiesen, ohne die entsprechenden Gedankengänge hier im Detail zu wiederholen.
Abschließend möchte ich an dieser Stelle all den Menschen danken, mit deren Hilfe ich im diskursiven Austausch, in kontroverser und affirmativer Diskussion die hier vorgestellten Überlegungen entwickeln konnte: meiner Frau an erster Stelle, meiner Familie, Großfamilie, meinen Kolleginnen und Kollegen an der Klinik (besonders am Mittagstisch), der Universität und Forschung. Danken möchte ich vor allem aber auch meinen Patientinnen und Patienten. Ich erlebe es als Privileg und Geschenk, in meinem beruflichen Alltag an den vielfachen Besonderheiten, Eigenheiten, Faszinosa und Alltäglichkeiten ihrer Wahrnehmungen, ihres Denkens, ihrer Ängste und Sorgen, ihrer Wünsche und Aspirationen und ihres Wollens, Hoffens und Glaubens auf intime Art und Weise teilhaben zu dürfen. All diese Erfahrungen sind die eigentliche empirische Grundlage dieses Buches. Danken möchte ich schließlich dem Kohlhammer Verlag, Frau Brutler, Frau Reutter und vor allem Herrn Dr. Poensgen, der dieses Buch von Beginn an wohlwollend unterstützt und durch seine Überarbeitung und Anregungen sehr bereichert hat.
Ludger Tebartz van Elst
Freiburg im Breisgau, November 2020
1 Der Autorenname »Tebartz van Elst« wird in den Literaturverweisen im Folgenden mit »TvE« abgekürzt.
Freiheit ist ein Phänomen der Grenze. Es gibt keine Freiheit im leblosen Raum, sondern nur an den äußersten Rändern der psychobiologisch erschlossenen Welt. Freiheit gebiert Transzendenz und braucht Struktur. Die konkrete Form der Struktur, die den leeren Raum erschließt und damit zur freien Welt macht, hat Bedeutung für die Ökologie dieser Welt. Wer die Gesetzmäßigkeiten und Wirkkräfte im Grenzraum diesseits und jenseits der Freiheit nicht kennt, ist ihrer Dynamik wehrlos ausgeliefert.
Dies sind die Kerngedanken, die in diesem Buch systematisch entwickelt werden.
Dazu wird zunächst der Frage nachgegangen, was das Leben bewegt. Warum verhalten Tiere und Menschen sich so, wie sie es de facto tun? Dies ist der klassische Forschungsgegenstand der vergleichenden Verhaltensforschung, der Ethologie. Und so können die in diesem Buch erarbeiteten Überlegungen auch als ethologische Reflexionen auf die Verhaltensmuster von Menschen verstanden werden. Zu diesen Fragen werden in Kapitel 1 Antworten aus der klassischen Philosophie, der biologischen Psychologie und der Motivationspsychologie gesammelt und analysiert (Kap. 1). Die Kerngedanken der für das abendländische Denken so einflussreichen Freud’schen Triebtheorie werden ebenso dargestellt wie das ebenfalls sehr einflussreiche Modell der Maslow’schen Bedürfnispyramide. Schon an dieser Stelle taucht der auch in diesem Buch zentral entwickelte Gedanke der transzendenten Motivation auf. Im Weiteren werden die verschiedenen motivationalen Begrifflichkeiten, die in den verschiedenen Fachsprachen der Philosophie, Psychologie und Medizin nebeneinander bestehen, wie Trieb, Bedürfnis, Emotion, Motiv, Ziel etc., systematisch erfasst, analysiert und operationalisiert. Es wird darauf hingewiesen, dass der auch von Freud zentral verwendete Trieb-Begriff Verhalten aus der objektiven Beobachterperspektive beschreibt, während der Bedürfnis-Begriff in erster Linie auf das subjektive Erleben triebhaft organisierter Verhaltensweisen abhebt. Als grundsätzliches Axiom wird das Postulat eines Lebenstriebs festgehalten. Dieser liegt auch der allgemein anerkannten Darwin’schen Evolutionstheorie als fundamentale Bewegkraft zugrunde. Davon abgeleitet werden für die verschiedenen Organisationsformen des Lebens auf der Erde verschiedene Triebbereiche: die vegetativen Triebe, die vor allem pflanzliches Verhalten erklären, die animalischen Triebe, welche die weitaus komplexeren tierischen Verhaltensweisen verständlich machen, und die kognitiven Triebe, welche aus den wachsenden kognitiven Fähigkeiten der zunehmend intelligenten Tiere erwachsen. Als bisher komplexeste Variante dieser kognitiven Triebe, die aus der Erkenntnis des eigenen Todes unter der Bedingung des fortbestehenden fundamentalen Lebenstriebs zwangsläufig entstehen, werden die transzendenten Triebe identifiziert. Derart motivierte Verhaltensweisen zielen ab auf eine imaginierte Überwindung der eigenen Vergänglichkeit durch Einbettung des eigenen Verhaltens in größere, das eigene Leben übersteigende (transzendierende) Sinnzusammenhänge.
Im zweiten Kapitel dieses Buches wird das Diesseits freien Verhaltens in den Blick genommen (Kap. 2). Aufbauend auf den im Buch Freiheit (TvE 2015) erarbeiteten Überlegungen werden die Bedingtheiten potentiell freier Verhaltensweisen in den alltäglichen Situationen konkreten Lebens analysiert und beschrieben. Ganz konkret und vor dem Hintergrund klinischer Beobachtungen und Analysen wird beschrieben, wie der Raum potentiell freien Verhaltens strukturiert ist. Denn Freiheit ist weder ein theoretisches Abstraktum noch ein idealistisches Postulat, sondern ein konkretes, empirisches, körperliches, psychobiologisches Phänomen. Freiheit braucht den Raum struktureller Rigidität, um sich davon abheben zu können. Die konkreten Strukturen, die ich dabei meine erkannt zu haben, und das daraus hervorgegangene heuristische SPZ-Modell fußen ganz wesentlich auf Theorie- und Modellbildungen im Zusammenhang mit meiner klinischen psychiatrischen Arbeit. Entsprechende Gedanken wurden ansatzweise auch bereits in einer Vielzahl von medizinischen Fachbüchern und -artikeln veröffentlicht.
Im dritten Kapitel dieses Buches wird die Umwelt in den Blick genommen, in die sich freies und damit potentiell transzendentes Verhalten zwangsläufig einbetten muss (Jenseits der Freiheit) (Kap. 3). Der Raum der kognitiven Vorstellungswelt ist potentiell völlig grenzenlos. Faktisch ist er es aber nicht. Denn lange bevor sich die kognitiven Möglichkeiten eines Individuums in seiner Biographie und Entwicklungsgeschichte voll entwickeln, wurde dieser potentiell grenzenlose Raum intensiv bearbeitet, gestaltet, begrenzt, geordnet und strukturiert. Er ist überfüllt von Bildern, Wörtern, Begriffen, Theorien, Ge- und Verboten. Diese wurden über die Sprache und gesellschaftliche Kommunikation an den einzelnen Menschen herangetragen und ihm auch aufoktroyiert, ohne dass sich das Individuum zunächst dazu verhalten könnte. Als wirkmächtigstes Phänomen ist hier sicher die Muttersprache zu nennen. Als fundamentales »kognitives Betriebssystem« eröffnet diese dem Individuum nicht nur die grenzenlose Welt des Mentalen, sondern sie begrenzt und strukturiert diese auch sofort wieder. Dies geschieht in Form der vielen Begriffe, Theorien, Weltanschauungen, Erzählungen, Symbole und Sätze, die als Prägungen mit der Primärsprache wie Muttermilch aufgesogen werden. Die Kultur eines Menschen repräsentiert die ökologische Umwelt, in die potentiell freies Verhalten eingebettet ist. Und ganz ähnlich wie auf individueller Ebene die konkrete problematische Entscheidungssituation kritisch durch persönlichkeitsstrukturelle Rigiditäten eingeengt wird, kann dies auch für die kollektive gesellschaftliche Ebene erkannt werden. Denn auch dort wird der gesellschaftliche Diskurs (kollektive problematische Situation, in der sich gesellschaftliche Handlungsfreiheit in Form von Verhaltensalternativen entwickelt) bedingt und eingeengt durch die »Persönlichkeit der Gesellschaft«: Sitten, Bräuche, Traditionen, Identitäten, Wertvorstellungen, Gesetze usw. Und ähnlich wie auf individueller Ebene phasische und teilweise krankhafte Zustände des Körpers (Infektionen, Hormonstatus, Depressionen, Angstzustände, Psychosen) den Entscheidungsfreiraum auf ganz typische und musterhafte Art und Weise beeinflussen und einengen, kann dies auch auf gesellschaftlicher Ebene in Form von Zuständen wie Krieg, Bürgerkrieg, Revolution, Wirtschaftskrise, Pandemie, Boom, Blüte und Hype erkannt werden.
Nachdem die Bedingtheiten individuell freien Handelns vor dem Hintergrund persönlichkeitsstruktureller und krankhafter Einengungen (Diesseits der Freiheit) sowie gesellschaftlich ökologischer Faktizitäten (Jenseits der Freiheit) beschrieben und analysiert wurden, rückt in Kapitel 4 erneut der transzendente Trieb als die in diesem Buch im Fokus stehende Bewegkraft menschlichen Verhaltens ins Zentrum der Überlegungen (Kap. 4). Es werden ausgehend von der Analyse klassisch religiöser Verhaltensweisen Kriterien transzendenten Verhaltens entwickelt. Ausführlich wird der Frage nachgegangen, in welcher Beziehung transzendente Motivation und Religion zueinander stehen. Auch die Suggestion des frühen Freuds, höhere Kulturleistungen könnten ausschließlich durch Sublimierung (Unterdrückung und Verschiebung) des Sexualtriebs plausibel erklärt werden, wird diskutiert. Es wird festgehalten, dass der transzendente Trieb seine Wirkkraft zwangsläufig bei den Lebewesen entfaltet, die die unausweichliche Realität des eigenen Tods erkennen und trotzdem dem Drang des fundamentaleren Lebenstriebs ausgesetzt sind. Aus subjektiver Perspektive korrespondieren dem die transzendenten Bedürfnisse bzw. das Streben nach Sinn.
Die Beobachtung menschlichen Verhaltens zeigt, dass der transzendente Trieb eine mächtige Wirkkraft ist. Er ist die Kraft, die auf kollektiver Ebene Kulturen und Religionen hervorbringt und auch wieder untergehen lässt. Auf individueller Ebene ermächtigt der transzendente Trieb zu Handlungen, die dem ihm zugrundeliegendem Lebenstrieb sogar widersprechen oder ihn übersteigen: das Opfer, den Märtyrertod und das Selbstmordattentat.
Abschließend wird erneut die gesellschaftliche Ökologie betrachtet, in die der transzendente Trieb eingebettet ist. Ein Kernanliegen des Textes besteht darin, auf den dynamischen Zusammenhang zwischen den psychobiologischen Phänomenen und Wirkkräften diesseits der Freiheit und ihrer transzendenten Gerichtetheit auf einen Raum jenseits ihrer freien Grenzwelt, ihrem Telos (Kultur, Sprache und Religion in ihren vielfältigen auch säkularen Manifestationen) hinzuweisen. Beide Pole dieser psychobiologischen Wirklichkeit sind einem permanenten geschichtlichen Wandel unterworfen, sowohl der psychobiologisch determinierte Pol diesseits als auch der sprachlich-kulturelle Pol jenseits der Freiheit. Im Entwicklungs- und Veränderungsprozess beider Bereiche stehen sich polar entgegengesetzte Organisationsprinzipien erkennbar gegenüber. Das konservativ-bewahrende Organisationsprinzip garantiert dabei die Stabilität und den Fortbestand des Erreichten und das progressiv-verändernde Prinzip die Anpassungsfähigkeit an sich ändernde Umweltbedingungen. Dies gilt sowohl für die psychobiologische Wirklichkeit der lebendigen Körper diesseits als auch für die kulturellen Räume jenseits der Grenze.
Die positiv gegebene, profane wie transzendente Kultur war und ist schon immer Ausgangspunkt, Referenzraum und Horizont für freies Verhalten zu allen Zeiten gewesen. Was bedeutet es vor dem Hintergrund dieser Feststellung, wenn die kollektiven, religiösen wie säkularen, transzendenten Systeme, wie es in den letzten Jahrhunderten und im neuen Jahrtausend mit erkennbar zunehmender Dynamik der Fall ist, zunehmend dekonstruiert werden und an Überzeugungs- und kollektiver Bindungskraft verlieren? Mit der Thematisierung dieser Frage schließt dieses Buch. Denn wenn die zentrale, hier vertretende These stimmt, dass der transzendente Trieb als kognitiver Trieb dem erkennenden Menschen körperlich innewohnt, wird er nicht verschwinden, nur weil sich die kollektive Kultur transzendenter Systeme auflöst. Ganz im Gegenteil können solche kollektiven transzendenten Systeme (Kulturen, Religionen) auch als Instrument begriffen werden, die ungeheure Wirkkraft transzendenter Motivation zu kanalisieren und zu domestizieren. Die totalitären gesellschaftlichen Entwicklungen des letzten Jahrhunderts, die gut erkennbar auch auf profane, kollektive transzendente Motivationen aufbauten, zeigen dies eindrücklich.
Und so wie die sexuelle Aufklärung Voraussetzung dafür ist, dass der Mensch sein Sexualverhalten möglichst frei, autonom und vernünftig verwirklichen kann, so ist nach meiner Analyse eine Selbsterkenntnis und Selbstaufklärung über den transzendenten Trieb Voraussetzung dafür, dass transzendente triebhafte Bedürfnisse – werden sie nun individuell oder kollektiv, säkular oder sakral ausgelebt – nicht irrational befriedigt werden, was verheerende Konsequenzen für das Wohl von Mensch und Natur haben kann.
Was ist Leben? Leben ist das, was Menschen, Tiere und Pflanzen haben, nachdem sie gezeugt wurden und bevor sie sterben. Auch Bakterien und Viren würden die meisten Menschen Leben zusprechen, obwohl es da schon im Detail schwierig werden kann, wenn z. B. ein Wissenschaftler2 an die neueren Ideen der infektiösen Proteine denkt. Aber sophistische Grenzfragen sollen hier nicht erörtert werden. Mir geht es hier um die klaren Fälle.
Wie häufig entwickelte auch zu dieser Frage schon etwa 340 v. Chr. Aristoteles als einer der ersten eine klare Definition, wenn er sagt, dass ein Lebewesen eine zusammengesetzte Substanz sei, die entweder Geist hat, oder fühlen kann, oder sich bewegen kann, sich ernähren muss und wachsen oder sterben wird (Aristoteles 2011). Moderne Definitionen sehen ganz ähnlich aus, wenn z. B. folgende Kriterien aufgestellt werden (Toepfer 2017):
1. Energie- und Stoffwechsel und damit Wechselwirkung mit der Umwelt.
2. Organisiertheit und Selbstregulation (Homöostase).
3. Fähigkeit, auf Reize der Umwelt zu reagieren.
4. Fortpflanzungsfähigkeit und Vererbung.
5. Wachstum, Entwicklung und Tod.
Im Buch BioLogik habe ich als Kriterien des Lebens Körperlichkeit, Zeitlichkeit, Geschichtsfähigkeit und Erkenntnisfähigkeit entwickelt (TvE 2003, Kap. 1), wobei der Punkt Körperlichkeit die o. g. Aspekte 1, 2+4 beinhaltet, Zeitlichkeit den Aspekt 5, Geschichtsfähigkeit die Aspekte 2+3 und Erkenntnisfähigkeit als Sonderfall der Geschichtsfähigkeit ebenfalls die Punkte 2+3.
Das Leben an sich ist ein faszinierendes und wunderbares Phänomen. Es ist schön und hässlich, liebevoll und grausam, fantastisch und banal, nicht zu fassen. Und dennoch versuchen wir es immer wieder – und so auch ich in diesem Buch.
Das Leben bleibt rätselhaft, auch wenn wir Menschen Teilaspekte besser verstehen und sinnvolle Theorien über seine Werdensgeschichte entwickeln konnten. Rätselhaft bleibt der Anfang. Der Anfang des Lebens ist für mich genauso rätselhaft wie der Anfang des Universums. Mir sind zumindest keine überzeugenden Erklärungen oder Theorien bekannt.
Die Entwicklungsgeschichte des Lebens konnte dagegen durch die 1859 von Charles Darwin formulierte Evolutionstheorie überzeugend theoretisch erklärt werden. Viele Beobachtungen und Erkenntnisse fügen sich problemlos ein. Fundamentale Widersprüche sind nicht erkennbar. Eine erklärungsmächtigere und zugleich einfachere Theorie zur Entwicklungsgeschichte des Lebens ist nicht erkennbar, so dass sie nach den Prinzipien von William von Ockham als die mächtigste Theorie zur Entwicklungsgeschichte des Lebens anerkannt werden muss.
William von Ockham stellte fest, dass aus logischen Gründen die Theorie als die wirkmächtigste anerkannt werden müsse, die mit den wenigsten Annahmen den größten Umfang an empirischen Beobachtungen überzeugend und widerspruchsfrei erklären könne (»Ockhams Rasiermesser«; vgl. Ockham 1999).
Und dennoch gibt es neben der Frage nach dem Anfang des Lebens eine weitere zentrale Frage, die in der Evolutionstheorie unbeantwortet bleibt bzw. axiomatisch, d. h. durch eine Setzung beantwortet wird.
Wenn Darwin im Titel seines Buches vom »struggle for life«, also vom Kampf um das Leben oder das Überleben spricht, so hat dies Generationen von Menschen wie auch mich überzeugt. Denn sie wissen aus ihren eigenen Erfahrungen, dass der Mensch und alle anderen Lebewesen leben wollen, überleben wollen, das Leben weiter geben wollen an die nächste Generation. Natürlich kennt auch jeder Mensch Beispiele von Menschen, die nicht mehr leben wollen und sich suizidieren. Das stellt aber den grundsätzlichen Drang des einzelnen Menschen und erst recht der Tiere und Pflanzen nach Leben und Überleben nicht in Frage. Dieser Drang scheint den Lebewesen innezuwohnen. Es ist der Lebenstrieb, der Trieb, als Individuum zu leben und in seinen Nachkommen zu überleben – seien es nun die eigenen Kinder oder die Nachkommen einer als zugehörig erlebten Gruppe.
Ohne diesen Überlebensdrang der Individuen und der Arten macht die Evolutionstheorie gar keinen Sinn. Denn das Selektionsprinzip der Darwin’schen Evolutionstheorie braucht den Drang des Lebens und der lebendigen Wesen nach Überleben und Weitergabe des eigenen Lebens als bewegende Grundkraft. Gäbe es diese Kraft nicht, würde das Selektionsprinzip offensichtlich nicht funktionieren. Umso wichtiger ist es zu erkennen, dass dieses Grundprinzip, der Drang nach Leben und Überleben, als Phänomen an sich unerklärt, rätselhaft, sakral und verborgen bleibt.
Warum ist das so, dass das Leben leben will? Eine nicht-axiomatische Erklärung innerhalb des empirisch-naturwissenschaftlichen Denksystems gibt es nicht. Der denkende Mensch verhält sich an dieser Stelle pragmatisch. Er gibt dem unerklärten Phänomen einen Namen, einen Begriff: den Lebenstrieb. Der Begriff macht das Phänomen scheinbar begreifbar. Man kann es greifen, mit ihm umgehen. Der Begriff funktioniert und wird dadurch zur Erkenntnis (TvE 2003). Aber dennoch sollte sich niemand täuschen lassen, dass gerade dieser zentrale Begriff für die Erklärung der Werdensgeschichte des Lebens völlig unerklärt bleibt! Er ist eine Setzung, eine Grundannahme, ein Axiom.
An dieser Stelle ergänzen viele Menschen eine transzendente Erklärung. Sie wählen einen neuen Begriff, der den Lebenstrieb erklären soll. Sie nennen ihn Gott. Der Begriff funktioniert für sie und wird dadurch für sie zur transzendenten Erkenntnis (ebd.).
In diesem Buch geht es nicht darum, diese Denkentscheidung zu bewerten. Vielmehr soll es darum gehen zu verstehen, wieso Menschen so denken, wie sie denken und was sie dazu bewegt, so zu denken, wie sie denken. Es geht also um die Struktur des Raums der Freiheit.
Aus rein empirisch-naturwissenschaftlicher Perspektive kann hier zunächst einmal Folgendes festgehalten werden:
1. Eine umfassende Definition des Phänomens Leben steht nach wie vor aus.
2. Die Dynamik der Werdensgeschichte des Lebens ist durch die Evolutionstheorie überzeugend darstellbar.
3. Die Frage nach dem Anfang des Lebens ist unbeantwortet.
4. Der Lebens- und Überlebenstrieb bilden die entscheidende Wirkkraft der Evolutionstheorie. Dieser Trieb ist eine Setzung, ein Axiom, eine unbegründete – vielleicht auch innerhalb der Naturwissenschaft unbegründbare – Grundannahme.
Leben ist ein körperliches, zeitliches (objektives) und geschichtliches (subjektives) Phänomen. Der Anfang des Lebens und die fundamentale Bewegkraft des Lebens (Lebenstrieb, d. h. warum das Leben nach Weitergabe und Diversifizierung zu streben scheint) sind unverstanden.
Was macht das Leben lebendig? Was unterscheidet Lebendiges von nicht Lebendigem? Und was bewegt das Leben? Sucht man nach Antworten auf diese Fragen in der Geistesgeschichte, kommt man wie so häufig an dem größten Theoretiker der Antike nicht vorbei, Aristoteles. Dieser entwickelte seine Sichtweise in dem Buch ›Περὶ ψυχῆς‹, lateinisch geschrieben »perí psychḗs«, übersetzt »de Anima« oder zu Deutsch »Über die Seele« (Aristoteles 2011).
Aristoteles sieht als Grund für das Leben und das Lebendige die Seele. Diese denkt er sich in Abgrenzung zu früheren griechischen Philosophen nicht als eine Substanz außerhalb des Körpers, sondern als ein Lebensprinzip, welches dem lebendigen Körper innewohnt. Damit setzt er sich von der Sichtweise seines Lehrers Platon ab. Dieser vertrat eine dualistische Weltsicht und glaubte, die Seele würde als eigene Substanz dem Körper zukommen und ihn dadurch beleben. Diese dualistische Sichtweise war und ist in der Geschichte sehr wirkmächtig und findet ihren Ausdruck etwa in mittelalterlichen Gemälden, in denen die Seele wie ein weißes Gespinst den Körper durch den Mund im Augenblick seines Todes verlässt. Aristoteles dachte sich die Seele zwar auch als das belebende Prinzip des Körpers, jedoch nicht substantiell als von diesem getrennt. Vielmehr sah er sie als ein dem Körper innewohnendes Wirkprinzip, seine »Entelechie« oder Zielursache. Dem Körper ohne Seele kommt Leben in seinem Denken nur als Möglichkeit, als Potenz, zu. Der lebendige Körper ist dagegen beseelt. Anders als in Platons dualistischem Denken kommt der Seele also kein eigenes, unabhängiges Dasein zu. Damit ist sein Denken viel anschlussfähiger an postmoderne, atheistische und wissenschaftliche Weltanschauungen, die jede Form existentiellen Daseins jenseits der konkreten Körperlichkeit meist negieren.3 Platon dagegen mit seiner dualistischen Weltsicht scheint vordergründig leichter vereinbar zu sein mit dualistischen Weltanschauungen und Jenseitsvorstellungen, wie sie etwa in den großen monotheistischen Religionen des Judentums, Christentum und Islam zum Ausdruck kommen.
Aristoteles unterschied verschiedene Seelenvermögen in der Welt des Lebens: den Pflanzen schrieb er die vegetative Seele zu, die Wirkursachen für die Funktionen Stoffwechsel, Wachstum, Fortpflanzung und Vermehrung. Die animalische, tierische Seele stellte er sich als das bewegende Prinzip hinter den Funktionen der Wahrnehmung, des Fühlens und der Bewegung vor, während der Verstand (Nous, auch Vernunft) Ausdruck des spezifisch menschlichen Seelenvermögens ist.
Als durchschnittlich gebildeter Mensch des 21. Jahrhunderts kommen einem diese Begriffe der vegetativen, animalischen und humanen Seele naiv und veraltet vor, was sie aber nur auf den ersten Blick sind. Die entsprechenden Begriffe repräsentieren lediglich nicht weiter erklärbare Wirkprinzipien in der Sprache und Begrifflichkeit ihrer Zeit. Ganz Ähnliches meinen die moderneren Begriffe wie Triebkraft oder Triebenergie, wie sie etwa von Freud oder der biologischen Psychologie der vergangenen Jahrhunderte und Jahrzehnte formuliert wurden.
Aristoteles definiert die Seele als das belebende Wirkprinzip in der Biologie. Er unterscheidet eine vegetative Seele, die Stoffwechsel, Wachstum und Fortpflanzung bewirkt, eine animalische (tierische) Seele, die Funktionen wie Wahrnehmung und Bewegung begründet und eine humane Seele, die Wirkursache für den menschlichen Verstand ist. Anders als Platon, der als dualistisch denkender Mensch der Seele eine eigene, vom Körper des Lebewesens unabhängige Seinsweise zuschreibt, sieht Aristoteles die Seele als ein dem Körper des Lebewesens innewohnendes und davon nicht separat abgrenzbares Phänomen an.
Dieses Phänomen, d. h. die schwer zu erklärende Bewegkraft, die bewirkt, dass Lebewesen nach Leben, Überleben und Weitergabe des Lebens streben, wird im Denken der Menschen der letzten Jahrhunderte entweder metaphysisch-religiös interpretiert, ignoriert oder im wissenschaftlichen Denken der Neuzeit häufig mit dem Triebbegriff belegt. Was aber ist ein Trieb?
In der modernen Psychologie und Verhaltensforschung (Ethologie) wird zum Beispiel im Rahmen der Motivationspsychologie von Trieben (Englisch: »drive«) gesprochen. Sie werden definiert als jene psychologischen Prozesse, die zur bevorzugten Auswahl konkurrierender Verhaltensweisen führen (z. B. Nahrungsaufnahme versus Sexualität versus Ruhe versus Sport versus Lernen; Birbaumer & Schmidt 2010, S. 662). Da es hier um die Erklärung von konkreten Verhaltensweisen vor dem Hintergrund konkurrierender Verhaltensalternativen (ausruhen, essen, trinken, Sexualität, kämpfen, flirten, joggen etc.) geht, ist das Freiheitsthema offensichtlich schon berührt (TvE 2015; Kap. 7). Welche Bedeutung hat nun in diesem Zusammenhang die Annahme von Trieben wie etwa dem Sexualtrieb oder dem Trieb zu essen oder zu trinken?
Genau wie in der Evolutionstheorie kommen in der Motivationspsychologie die Triebe an der Stelle ins Spiel, an der die Bewegkräfte individueller Verhaltensweisen erklärt werden sollen. Die verschiedenen Einzeltriebe wie Sexualtrieb, Überlebenstrieb oder Ernährungstrieb werden in eine situationsabhängige Triebhierarchie gebracht, d. h. dass etwa bei einem verhungernden Tier der Ernährungstrieb wichtiger ist als der Sexualtrieb.
Dabei werden homöostatische und nicht-homöostatische Triebe unterschieden. Der Begriff Homöostase meint dabei die regulatorische Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts wie z. B. der Blutzuckerkonzentration, der Körpertemperatur oder des Schlaf-Wach-Gleichgewichts. Homöostatische Triebe liefern also die Triebenergie für entsprechende Verhaltensweisen. Das bedeutet konkret, dass bei Menschen, die lange nichts gegessen haben, die Triebenergie für Nahrungssucheverhalten oder Essverhalten steigt – und ganz analog für andere homöostatisch-triebregulierte Verhaltensweisen wie Trinken, Schlafen usw. Homöostatische Triebe sind also bezogen auf vergleichsweise klar benennbare Soll- oder Zielwerte. Nicht-homöostatische Triebe sind dagegen bezogen auf variable Soll- oder Zielwerte. Sie hängen stärker von situativen Bedingungen und Lernprozessen ab. Beispiele sind der Sexualtrieb, der Explorationstrieb, der Wissens- und Erkenntnistrieb, der Bindungs- und Beziehungstrieb (Birbaumer & Schmidt 2010, S. 662).
Aus philosophischer Sicht muss darauf hingewiesen werden, dass der Begriff der Triebenergie hier offensichtlich bildhaft-metaphorisch benutzt und aus der technisch-physikalischen Fachsprache entliehen wird. Er suggeriert, dass die entsprechenden Prozesse bei der Erklärung des Verhaltens von Lebewesen in einer der Technik vergleichbaren Art und Weise erklärbar wären, was sicher nicht der Fall ist. Was »Triebenergie« genau sein soll, bleibt auch bei genauem Nachdenken unklar.
An dieser Stelle geht es aber nicht darum, die Details der Motivationspsychologie und -physiologie zu erörtern. Vielmehr möchte ich darauf hinweisen, dass, ebenso wie in der Evolutionstheorie, auch auf der Ebene der Erklärung individuellen Verhaltens von Menschen der Triebbegriff nicht hergeleitet, sondern gesetzt wird. Bei den Trieben handelt es sich um Axiome. Es sind Begriffe, die gesetzt werden, um die Beobachtung offensichtlich zielgerichteter Verhaltensweisen von Lebewesen zu erklären.
Warum zeigen fast alle Menschen Sexualverhalten? Weil es einen Sexualtrieb gibt! Warum erkunden Menschen ihre Umgebung? Weil es einen Explorationstrieb gibt! Warum wollen Menschen alles Wissen und verstehen? Weil es einen Wissenstrieb gibt! Warum wollen Menschen Freundschaft und Beziehung? Weil es einen sozialen Trieb gibt!
Die argumentative Struktur ist dieselbe wie bei der Evolutionstheorie: Warum gibt es den Darwin’schen Lebenskampf (»struggle for life«)? Weil es einen Lebenstrieb gibt. Es ergeben sich ebenfalls weitgehende Parallelen zu Aristoteles’ Seelenbegriff: Warum haben Pflanzen einen Stoffwechsel? Warum streben sie nach Wachstum und Fortpflanzung? Weil die vegetative Seele dies bewirkt! Warum haben Tiere ein Empfinden, bewegen sich? Weil dies Folge der Wirkkraft der animalischen Seele ist!
Der Triebbegriff der biologischen Psychologie ist in all seinen Variationen ebenso wie Aristoteles’ Seelenbegriff eine axiomatische Setzung. D. h. er wird postuliert, um die Bewegkraft hinter musterhaft beobachtbaren Verhaltensphänomenen zu erklären. Weil fast alle Lebewesen zumindest in bestimmten Lebenssituationen musterhaft ähnliches Sexualverhalten zeigen, schließe ich auf die Existenz einer dies erklärenden Bewegkraft, dem Sexualtrieb. Der Triebbegriff an sich wird nicht logisch zwingend hergeleitet oder begründet. Der Trieb ist also eine Setzung!
Gut erkennbar gibt es auch eine theoretische Hierarchie zwischen den verschiedenen konkreten Triebbegriffen. Die übergeordnete Triebannahme ist die des Lebenstriebs des einzelnen Lebewesens und verbunden damit die Annahme eines Überlebenstriebs der Art. Aus diesem Grundaxiom der Evolutionstheorie speisen sich die Annahmen der untergeordneten Detailtriebe auf individueller Ebene, seien es nun die homöostatischen Triebe (Essen, Trinken, Schlaf) oder die nicht-homöostatischen Triebe (Sexualität, Exploration, Wissen, Bindung). Sie alle dienen mehr oder weniger unmittelbar dem übergeordneten Trieb des eigenen Überlebens oder des Überlebens der Art.