Jenseits meiner Grenzen der weite Horizont - Katharina Weck - E-Book

Jenseits meiner Grenzen der weite Horizont E-Book

Katharina Weck

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Beschreibung

Katharina Weck hat die Gabe, kleine Alltagsschätze nicht zu übersehen und das Schöne im Hässlichen zu finden. Diese Fähigkeit hat sie gerettet, als ihr damals fünfjähriger Sohn schwer erkrankte. Die herausfordernde Zeit lehrte sie, Momentzufriedenheit zu empfinden und sich von Alltagssorgen frei zu machen, um für ihre Familie ein weiches Herz zu behalten. So hat sie gelernt, loszulassen und das Gute in den Fokus zu rücken. Katharina lädt Leserinnen und Leser ein, sich einen Moment Zeit für sich selbst zu nehmen und neu Kraft zu tanken. Ihre seelenwärmenden Texte erzählen vom Familienalltag und von kleinen und kleinsten Alltagsfreuden, lassen einen schmunzeln oder befreit aufatmen. Sie sind ein ehrlicher Blick auf das, was wir wirklich brauchen. Ganz nebenbei erfahren wir, wie es gelingt, auch trotz vieler Sorgen glücklich zu sein, und wie Nächstenliebe dabei hilft, zufriedener im Alltag zu werden.

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Katharina Weck

Jenseits meiner Grenzen der weite Horizont

Für J. & L.D.

Weil es nicht vollkommen ist

meinen sie, es sei kein Meisterwerk.

Die Welt ist auch nicht vollkommen

Und doch ist sie eines Meisters Werk.

Mascha Kaléko

Kapazität für Herzensgüte

Ich stehe am Tresen, ein Baby auf der Hüfte, ein Kind an der Hand, eins im Auto. Der Apotheker schaut auf meine Hände, sie sind rau und an mehreren Stellen schon ganz wund. »Haben Sie viel Stress?«, fragt er. Ich nicke. »Sie müssen auf sich achten!«, sagt der Apotheker.

Ich lächle. Kein Strahlelächeln, sondern eher höhnisch. Danke für den Rat; könnte ich, würde ich.

Beim Verlassen der Apotheke meldet sich eine Stimme. Sie war schon ganz leise, nur noch ein Wispern im Hintergrund, nun jedoch sagt sie sanft, aber bestimmt: »Katharina, mein Schatz, natürlich kannst du Dinge ändern. Fang mit deinen Gedanken an. Was empfindest du gerade als schlimm in deinem Leben? Was stresst dich am meisten? Du darfst so manches lassen, um andere Dinge, die unbedingt erledigt werden müssen, wieder mit einem weichen Herzen zu tun, ohne Groll!«

Ich schnalle die Kinder an, verteile Traubenzucker, schlichte Streit, und ehe ich den Zündschlüssel umgedreht habe, verschwinden die ersten angeblich so wichtigen To-dos von meiner Liste.

Der Autor Joachim Meyerhoff meinte in der NDR Talkshow zu seinem erlittenen Schlaganfall: »Jeder, der in seinem Leben mal einen Schicksalsschlag erlebt hat, kennt das Gefühl, dass der Schicksalsschlag sagt: ›Bis jetzt hast du dein Leben gesteuert, aber jetzt übernehme ich.‹«

2017 ist unser ältester Sohn, damals fünf Jahre alt, an Leukämie erkrankt. Es folgten zwei Jahre Chemotherapie, die nicht nur ihn fast kaputtgemacht hätten, sondern die ganze Familie. Sein eigenes Kind so leiden zu sehen, reißt einem das Herz heraus, und es bedarf viel Arbeit, es weich zu halten, um nicht zu verbittern.

Wir haben Kinder sterben sehen, und wir wussten zwei Jahre nicht, ob unser eigenes Kind auch sterben wird. Bei all dem Leid haben wir angefangen, das Schöne im Hässlichen zu suchen. Haben lachend Pizza gegessen, in dem Wissen, dass der Platz unseres Sohn vielleicht bald nicht mehr besetzt sein wird.

Unser Sohn lebt, und dennoch ist ein Stück von ihm gegangen. Langsam ist er in einem Alter, wo er versteht, was damals mit ihm geschehen ist, und hat viele Fragen. Und es macht ihn wütend, dass sein Körper manchmal nicht so funktioniert, wie sein Kopf das will.

Wenn er sich wieder einmal darüber ärgert, dass er beim Sport schnell erschöpft ist, erinnert es mich daran, dass wir zwischenzeitlich unser Leben nicht mehr in der Hand hatten. Das wir von Vormittag zu Nachmittag gelebt haben und nicht wussten, was am nächsten Tag auf uns niederschlagen wird.

Und doch gab es in dieser Zeit etwas Gutes. Die Menschlichkeit auf einer Kinderonkologie ist nahezu grenzenlos, und obwohl es dort so viel Leid gibt, gibt es ebenso viel Klarheit. Wenn man den Tod neben sich sitzen hat, wird einem bewusst, wie wertvoll dieses Leben ist. Plötzlich war es nicht mehr schwer, dass Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen.

So habe ich dem Schicksal ein Stück Leben abgeluchst, wieder ein Stück mehr Autonomie, selbst bestimmen, wo es hingeht. Indem ich mich nämlich bewusst dafür entschied, nicht zu verbittern über unser Schicksal, sondern dankbar zu sein, für all die Menschen, die uns Essen vor die Tür gestellt haben und uns damit zeigten, dass wir nicht allein sind. Für die gute medizinische Versorgung in unserem Land, für das eigene Bett, für Netflix.

»Die Fähigkeit, Freude zu empfinden im tiefsten Leid und das Leben zu feiern, wie es kommt, birgt eine unbändige Zufriedenheit. Diese Zufriedenheit spendet Kraft für das, was noch kommt. Zufriedenheit besänftigt den Zorn, lässt die Ohnmacht und Verbitterung über die eigene Handlungsunfähigkeit versinken und füllt das verkrampfte Herz mit Glück, sodass es warm wird und sich lösen kann.

Und so entschied ich mich in Augenblicken der völligen Finsternis etwas zu finden, das schön ist, und es zu genießen, weil mir klar wurde, dass die Zeit mit den Menschen, die man liebt, mit den eigenen Kindern, endlich ist. Jetzt findet das Leben mit meiner Familie statt, schöne anstrengende Stunden, voller Sinn und Fülle.«

(Aus meinem Buch »Der Chemoritter am Küchentisch – Das Jahr, in dem unsere Familie Krebs bekam«, in dem ich über unseren Leidensweg berichte und lerne, wie man trotz täglichem Leid das Schöne im Hässlichen sehen kann.)

Die Erinnerung ist wieder da: Wir müssen so wenig.

Ich bin nicht der Typ, der alles verkauft, aus der Gesellschaft aussteigt, um mit einem Merinopulli um die Hüften, mit Rucksack auf dem Rücken und den Kindern an der Hand um die Welt zu reisen. Das muss ich auch nicht. Um auszusteigen, muss ich nicht weggehen.

Ich mag unser Haus in Brandenburg, mag, dass es so alt, so muckelig und gemütlich ist. Ich will hier sein. Meinetwegen auch mit dieser Gesellschaft, aber ich will nicht überall »hier« rufen müssen, damit mich meine Umgebung gernhat und ich mich damit auch. Außerdem will ich auch in den nächsten Jahren, wenn für alle anderen Gras über den Krebs unseres Sohnes gewachsen ist, noch den Mut haben, nicht überall mitzumachen. Elternabend? Nö, mir reicht das Protokoll! Meine Kinder ständig hier-, da- und dorthin fahren, nur weil man das so macht? Nö, lieber Geduld üben und Strecken der Langeweile aushalten! Mich aufregen, weil die Mutter von Paul sich aufregt? Nö!

Aber atmen, das fände ich toll. Ja, atmen möchte ich weiter. Und da sein für die Menschen, die ich liebe. Platz schaffen für Probleme derjenigen Personen, die ich in mein Herz gelassen habe.

Ich möchte Liebe für andere gespeichert haben, und dafür brauche ich Kapazität für Herzensgüte und muss mich deshalb zunächst einmal selbst mögen.

Selbstliebe hat immer etwas mit Selbstlosigkeit zu tun. Unser Handeln bestimmt uns, nicht unsere theoretischen Vorhaben, die Gedankengebäude in der Nacht. Wenn ich gebe, dann empfange ich. Am besten ist geben ohne große Planung. Eben diese Strategie der Selbst- und Nächstenliebe hilft, das Schöne im Hässlichen zu sehen und auch ohne alles verkaufen zu müssen, auszusteigen.

Ich bin nie eine gute Schwimmerin gewesen und will nicht in dem ertrinken, was scheinbar von mir erwartet wird. Also mühe ich mich folglich nicht damit ab, besser und schneller schwimmen zu lernen, sondern plansche einfach nur mit den Füßen. Und das fühlt sich gut an.

Ein Koffer voller Angst

Vorletzte Nacht stand ein kleiner Junge an meinem Bett, mit wild zerzaustem Haar, den Stofflöwen fest im Arm. Weinend sagte er mir, dass er Beinschmerzen hat.

Ping, sofort war ich hellwach. »Beinschmerz« ist bei uns das Pseudo­nym für »das Böse.« So haben wir den Krebs damals bemerkt, am Tag war Phileas lange Zeit symptomfrei, aber nachts waren die ­Schmer­zen so groß, dass er sie herausschreien musste.

Phileas schlüpft unter meine Decke und ich fange an, seine Waden zu massieren. Wie lang seine Beine geworden sind. Als ich bei den Füßen ankomme, merke ich, dass dort etwas liegt. Ein Koffer, braun, aus Leder, die Scharniere schon ganz abgegriffen vom vielen Auf- und Zumachen.

Ich öffne ihn nicht, denn ich weiß, was drin ist. Es sind meine Ängste und Sorgen. Noch vor Kurzem wölbte sich der Deckel und ging kaum zu vor lauter Ballast. Ich musste mich draufsetzen, um ihn zu bezwingen. Inzwischen ist er leerer geworden. Gerade droht der Inhalt erneut anzuschwellen, so sehr, dass ich ihn wieder nicht tragen kann. Dann liegt der Koffer mitten im Weg, wir stolpern drüber, er nimmt einfach zu viel Platz im Alltag weg. Nimmt Raum, und manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass er uns die Luft zum Atmen stiehlt.

Ich habe mit diesem Koffer sehr viel Zeit verbracht. Habe mich vor ihm hingekniet, das Leder gepflegt, die Scharniere geölt, bin den Inhalt Stück für Stück durchgegangen. Oftmals saßen Weggefährten neben mir, die mir halfen, ihn zu ordnen und auszusortieren. Die mir halfen, ihn ein Stück zu tragen.

In dieser Nacht entscheide ich mich, den Koffer zu nehmen und in die Kammer zu stellen. Behutsam, denn auch wenn mir der Anblick die Kehle zuschnürt, weiß ich um seine Wichtigkeit. Die Angst ist für unser Überleben wichtig, sie macht uns wachsam. Die Sorge ist ein Teil von uns. Dennoch darf ich entscheiden, wie groß dieser Teil ist, weil von Angst ausgelöstes Kreisdenken mich vollkommen blockieren kann. Es wird kommen, wie es kommen wird. Diese Tatsache kann ich besser mit dem Wissen ertragen, das ich nicht allein bin. Gott wacht über uns.

Dieses Wissen beruhigt mich, ich muss niemanden wecken, mich nicht erklären. Er ist da. Egal, ob ich nun die ganze Zeit wach bleibe oder einschlafe. Oftmals sind meine Worte wie das Bitten eines Kindes. Ich möchte, dass Gott sich auf meine Bettkante setzt, dass er mir sagt, dass er die Nacht dortbleibt, dass er da ist, komme was wolle.

Am Tag kann die Angst allerdings ebenso groß sein. Dann hilft mir schnelle Ablenkung oder das Gegenteil, totales Verweilen. Je nachdem, in welcher Situation ich mich gerade befinde, wähle ich einen der beiden Gegensätze aus. Mit dem Wissen, das Ängste normal sind, dass es in Ordnung ist, sich zu fürchten, nur verlieren sollte man sich nicht darin.

Und in dieser Nacht möchte ich mich zu unserem Sohn kuscheln, mich um ihn kümmern, anstatt vor Angst gelähmt zu sein, von dem, was war, von dem, was kommt. Ich möchte die Gegenwart unseres Jungen wahrnehmen und mich freuen, dass er da ist, dass ich ihn versorgen kann.

Kurze Zeit, eine Wärmflasche und Massage später, schläft unser Sohn friedlich neben mir ein. Und ich merke, wie auch ich anfange wegzudämmern.

Das unsichtbare Wesentliche

Ich war nie ein Fan des Kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry. Wahrscheinlich, weil alle das Kunstmärchen ganz toll und ganz tiefgehend fanden, als ich ein Teenie war. Das wohlbekannte Zitat »Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar« ist mir gestern in einem Buch wiederbegegnet. Ich mochte es im Gegensatz zu dem ganzen »Ich-hab-ne-Tasse-vom-Kleinen-Prinzen-Zirkus« schon damals. Und als ich es gestern las, verstand ich es auch.

Das Wesentliche, inzwischen ein guter Freund von mir, steht da und schaut mich an. Es nimmt mich nicht ständig in den Arm, aber es ist immer da. Wenn ich meine Augen vor der schnell verpuffenden visuellen Ästhetik verschließe, sehe ich es. Es steht da, zottelig, ungeschminkt, und zeigt mir in seiner Vollkommenheit, was wichtig in meinem Leben ist.

Mein Herz, es atmet das erste Mal nach Jahren auf. Es will leben, ­sehen, verstehen! Das Wesentliche hilft ihm dabei.

Ich merke es immer wieder: Ich bin glücklich. Im Moment. Wenn ich weiter als eine Woche schaue, wird es mir schnell zu viel, all diese Organisiererei, Planerei, Versorgerei. Es ist so vielschichtig. Inzwischen sind zwei kleine Menschen und zwei große in meiner Familie (einer davon ich), dazu einer in meinem Bauch. Die kleinen Menschen brauchen unsere Hilfe als Eltern, unsere Begleitung. Sie wollen am Tag an unserer Hand laufen und nachts in unseren Armen schlafen. Manches Mal frage ich mich, wie das gedacht ist. Wie das Ungleichgewicht aus Alltag und Versorgen von einem oder mehreren Kindern funktionieren kann. Mit Kindern, und das ist das Schöne, ist vieles nicht planbar. Doch darin liegt auch die größte Herausforderung: sich immer wieder neu zu öffnen und auszuhalten, dass wenig nach Wunsch läuft, dass die Rolle der Eltern häufig daraus besteht, sich ungenügend zu fühlen.

Aber die Gegenwart ist gut. Wenn ich morgens einen Apfel für die Brotdose schneide, dann schaffe ich das. Ich schneide Spalte für Spalte, sehe den Saft, der auf das Holzbrett tropft. Werfe die Schale in den Kompost, lege die Äpfel in die Box.

Wenn ich aufschaue und die Millionen Brotdosen sehe, die es noch zu befühlen gilt, wird mir schwindelig. Deswegen bleibe ich bei der einen Schulbox und bei der qualvollen und zugleich guten Erkenntnis, dass ich nicht weiß, was kommen wird. Ich kann planen und endlos lange Listen schreiben und lande doch immer wieder bei der unumstößlichen Wahrheit, nicht zu wissen, was der nächste Tag in seinen Händen hält.

Das Wesentliche: plappernde Kinder, die aus der Kita und von der Schule abgeholt werden, dreckige Fenster, die einem trotzdem den Blick nach draußen gewähren, Hände, die fühlen, Beine, die gehen, üppige Blätter, die im Wind rauschen. Kinderhände, die im Sand wühlen, Wasserdampf, der die Scheibe beschlägt.

Ich schließe meine Augen und sehe, was für mich am heutigen Tag das Wesentliche ist. Ist es nicht schön!

Windeinstellung

Der Wind fährt mir durch die Haare, schlüpft unter meinen Pulli, lässt mich erschaudern. Es ist der Beginn unseres Urlaubes. Wir sind auf einer kleinen Insel in Dänemark mitten in der Nordsee gelandet. Wir haben Juli, doch seit unserer Ankunft wehen orkanartige Winde über die Insel.

Ich hasse Wind. Er macht, dass ich friere, bringt mich durcheinander.

Es kommen maulige Worte aus meinem Mund, alle in dem kleinen Ferienhaus nerven mich. Ich schnappe mir meine Jacke und gehe an den Strand, der am Ende des Gartens liegt. Hier an der Spitze der Insel ist der Wind noch stärker. Ich schaue trotzig aufs Meer, und ich schäme mich.

Wind, was für ein lausiger Grund für schlechte Laune. Und dann auch noch an einem so schönen Ort wie diesem.

Ich beginne, die Küste entlangzulaufen. Ich fange an zu weinen. Auch in meinem Kopf stürmt es.

Ich muss an meinen Mann denken und schäme mich erneut. Wie unfair ich mich verhalten habe. Meine Entscheidung ist gerade gefallen: Trotz Wind und allen Gedanken, die in der Ruhe auf mich niederprasseln, nehme ich mir vor eine gute Zeit hier zu haben. In den Jahren des Ausnahmezustands habe ich dazugelernt, verstehe, dass gerade die Abwesenheit von Leid mich befähigt, über sowas wie das Wetter zu meckern. In den Jahren der Angst und Ungewissheit wäre ich nie darauf gekommen, mich über so etwas wie Wind zu beschweren oder mich gar vor ihm zu fürchten. Meine Monster waren viel zu arrogant, um sich mit etwas wie Wind auseinanderzusetzen. Der war einfach da. Genauso wie dreckige Töpfe in der Küche, missmutige Nachbarn, lange Schlangen an der Kasse, eine Parklücke, die sich jemand anders schnappt, Kinder, die morgens nicht aufstehen und abends nicht schlafen gehen wollen. All das war einfach da. Aber meine Monster haben sich entschieden, solchen Lappalien die kalte Schulter zu zeigen. Sie haben nur die ganz große Angst und Wut bedient; immer neue Behandlungsschritte, ein Junge, der fünf Wochen nicht gelacht hat, Nächte, in denen mein Herz gerast ist wie ein ICE, schlimme Nebenwirkungen der Chemo: Anämie, allergische Reaktion, offene Stellen am Körper, das waren die Themen unseres Alltags.

Es ist abends, wir sitzen vor dem Kamin, das Holzhaus knackt, ich atme tief durch und entschuldige mich.

Noch später abends sitze ich im Bett, froh darüber, dass mein Mann nicht nachtragend ist und meine Launen gern schnell wieder vergisst. Da macht es »Blubb« in meinem Bauch. Ich lächle. Der erste Sommerurlaub mit dir, mein Baby.

Auch das habe ich gelernt: nicht ungeduldig auf die Geburt eines Babys zu warten, sondern jetzt die Zeit mit dem Ungeborenen zu genießen. Während ich über meinen Bauch streichle, frage ich mich, wie ich so zornig werden konnte. Ich bin schwanger mit unserem dritten Kind. Lange war nicht klar, ob wir einen unserer Söhne verlieren würden. Dann haben wir gekämpft, und obwohl wir nach diesem Kampf nur noch wackelig auf den Beinen standen und uns allzu bewusst war, wie zerbrechlich das Leben ist, war unser Gottvertrauen so groß, dass wir uns entschieden haben, einen Anflug von zartem Mut zuzulassen. Noch ein Kind. Trotz großer Ängste, obwohl man raten könnte, erst einmal alles zu verarbeiten, zur Ruhe zu kommen. Ich bin allerdings inzwischen der Überzeugung, dass nie alles gut sein wird. Ich fühlte mich psychisch und körperlich wieder so stabil, dass ich mir eine ­weitere Schwangerschaft zutraute. Das waren meine Fixpunkte, wieder eine gewisse Spannung und Kraft zu verspüren, damit ich aufrecht stehen kann. Was kommt, wie es weitergeht, wer vermag das schon zu sagen.

Das ist meine Zeit. Mit den Kindern, mit meinem Mann, mit dem Ungeborenen, mit mir. Ich erinnere mich an die Worte von Dietrich Bonhoeffer: »[...] es ist eine immer wieder merkwürdige Beobachtung, dass man Unabänderliches ganz anders aushält, als wenn man dauernd den Gedanken hat, man könnte irgendwas erleichtern.«

Ich kann den Wind nicht abstellen. Doch ich kann meine Einstellung zu ihm ändern. Ich kann unsere Kinder nicht vollends bewahren, das Haus nie in einen picobello Zustand bringen, habe nur bedingt Energie. Ich kann meine Schwangerschaft nicht steuern, hatte keinen Einfluss darauf, dass mir in den ersten Monaten wieder unfassbar übel war. Mein Einfluss auf diese Welt ist begrenzt, und das ist in Ordnung. Es wird nie fertig sein, und es wird auch nie alles gut. Trotzdem darf ich die schönen Momente in vollen Zügen genießen, wohl wissend, dass parallel Anforderungen auf mich warten. Einfach dasitzen und genießen. Und wer weiß, vielleicht darf in der Entspannung auch ein klein wenig Wind wehen.

Spießige Mathematik

Letztens las ich, dass Perfektion etwas für Mathematiker sei. Ich kam ins Grübeln. Also, mit Mathematik habe ich wirklich nie etwas am Hut gehabt – kein Wunder, dass ich an meinen perfektionistischen Ansprüchen permanent scheitere!

In meinem Heimatdorf in Niedersachsen gibt es mathematisch ausgerichtete Gärten, alles ist symmetrisch, nichts darf verrutschen oder zum falschen Zeitpunkt verwelken. Erdflächen um die Bäume minutiös geharkt, kein Blatt dem Zufall überlassen. Ich erinnere mich daran, dass ich das immer als sehr spießig empfunden habe, und dass es, als ich ein Kind war, eine der heftigsten Mutproben war, einmal über die Pflastersteine im Vorgarten von Herrn Wuske zu rennen, um dann über die mit der Nagelschere geschnittene Buchsbaumhecke zu springen. Törchen auf und los. Und wehe er hat einen gesehen, dann hat er sich die Kehle aus dem Leib gebrüllt über uns »ungezogenes Pack.« Adrenalin pur und die Anerkennung des großen Bruders.

Bei der Erinnerung nehme ich mir vor, unserem »wilden« Vorgarten das nächste Mal zuzuzwinkern, statt seufzend zu denken, dass hier noch einiges gemacht werden könnte.

Denn viel lieber würde ich statt Perfektionismus Güte leben. Tomas Sjödin schreibt in seinem Buch »Es gibt so viel, was man nicht muss«: »Sie (die Güte) schließt das Mangelhafte ein und bringt uns einander näher. Wir sind nicht die Summe unserer Niederlagen. Auch nicht die all unserer Schwächen. Wir sind viel mehr als das: Menschen, die im Werden begriffen sind.«

Schön! Und leider überhaupt nicht leicht. Aber ich gebe nicht auf. Spätestens, wenn ich meine Urenkel auf dem Arm habe, will ich diesen mathematischen Anspruchszirkus aus meinem Kopf haben. Vielleicht schaffe ich es sogar bis zu den Enkeln. Oder bis unser Baby im Herbst kommt.

Okay, nicht übertreiben.

Vor allem will ich niemals Kinder von meinem Grundstück jagen. Grenzen sind fließend, Fremde willkommen. Sogar Mathematiker.

Staub von den Kleidern

Cameron Bloom, dessen Frau nach einem Unfall im Urlaub querschnittsgelähmt blieb, schreibt: »Zurückzukehren zu dem, der man einmal gewesen ist, und dabei zu erkennen, wer man wirklich sein könnte – das kann eine sehr schwierige Reise sein.«

Dieser Satz birgt ebenso viel Hoffnung wie Wahrheit in sich.

Es ist eine schwierige Reise, sich nach einem harten Aufprall auf dem Boden mühsam wieder aufzurichten, unbeholfen den Staub von den Kleidern zu klopfen, sich zu orientieren und dabei festzustellen, dass nichts mehr am rechten Fleck sitzt. Alles fühlt sich unangenehm neu, schmerzhaft und herausfordernd an. Und dennoch birgt diese Reise die Möglichkeit sich zu ordnen und die erzwungene Orientierungslosigkeit für das Neue zu nutzen. Um die Welt mit all ihren Schrecken auszuhalten und anzunehmen und dabei das herauszusortieren, was zählt: Liebe! Auch wenn diese ganz zart und zerbrechlich ist. Obwohl man sich für sie jeden Tag neu entscheiden muss. Obwohl Liebe bedeutet, sich zunächst einmal wieder selbst in die Augen zu schauen. Innezuhalten, nicht wegzurennen, sondern es auszuhalten, wie einem gerade zu Mute ist.

Ohne die vorbehaltlose Hilfe liebender Menschen ist es zwar möglich, aber schwerer, aufrecht stehen zu bleiben. Ohne die Liebe derer, die sich ohne Eigennutz um andere kümmern, gerät die Welt schnell wieder ins Schwanken. Um wieder Liebe für das Leben, mit all dem Leid zu empfinden, wird man gezwungen, den immer wieder bebenden Boden als neuen Alltag anzunehmen. Und zu entscheiden, wer man sein möchte. Dabei zusehen, wie andere ihre Selbstsucht an die Seite schieben, um den Nächsten zu sehen, regt zum Nachahmen an.

Ich hatte vor Kurzem eine prägende Begegnung im Supermarkt. Mir sind, den dicken Bauch vor mir herschiebend, Nudeln runtergefallen. Ein älterer Herr sprang leichtfüßig hin, um sie mir aufzuheben. Sein Handeln war so selbstverständlich. Ich bedankte mich überschwänglich, sodass er meinte, das wäre jetzt wirklich kein Opfer für ihn gewesen. Und dann kamen wir ins Gespräch. Er erzählte mir von seinen Nachbarn, die viele Kinder haben und einen Golden Retriever, und dass er, obwohl die Nachbarn auf der anderen Seite sagen, da müsse jetzt endlich mal ein Zaun hin, keinen zieht, weil er es mag, wenn die Kinder auf einmal bei ihm auf der Terrasse stehen. Mit dem Hund an ihrer Seite. Und dass er nun, obwohl er Rentner ist, noch ein paar Vorträge hält, da freut er sich drauf. Dass ihm nicht langweilig ist und dass das Leben doch schön ist.

Dieser Moment, wenn man alle Kraft zusammennimmt und wieder aufschaut, in die Augen des Gegenübers, und es zulässt, dass ­erzählt wird, dann begrüßt einen die Lebendigkeit in ihrer vollen Pracht und lässt einen ein kleines Stück vom Boden abheben. Ich spürte in diesem Augenblick Achtung und Nächstenliebe und etwas, was ich lange nicht gespürt hatte: Leichtigkeit. Ich bekam ein Stück seiner Leichtigkeit. Nichts erwarten, ohne Stress, weil Menschen Menschen brauchen.

Nächstenliebe, die: innere Einstellung, aus der man heraus bedingungs­lose Opfer für jemanden bringt.