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Welche Rolle spielten Koreaner, die zwischen 1880 und 1923 zum Studium nach Japan kamen, im Austausch mit japanischen Intellektuellen protestantischen Glaubens, insbesondere im Umfeld des YMCA (Christlicher Verein junger Männer) oder der Kaiserlichen Universität Tokyo, im Diskurs zur Kolonial- und Ostasienpolitik Japans? Gestützt auf ein breites Spektrum an japanischen und koreanischen Quellen, untersucht Dolf-Alexander Neuhaus, wie diese Akteure die japanische Kolonialherrschaft in Korea und die »koreanische Frage« mit Bezug zu regionalen und globalen Kontexten verhandelten und wie ihre Ideen in der Reform- und Unabhängigkeitsbewegung Koreas wirkten.
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Seitenzahl: 605
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Dolf-Alexander Neuhaus
Jenseits von Nation und Imperium
Interaktionen koreanischer Studierender und japanischer Protestanten (1880–1923)
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
Welche Rolle spielten Koreaner, die zwischen 1880 und 1923 zum Studium nach Japan kamen, im Austausch mit japanischen Intellektuellen protestantischen Glaubens, insbesondere im Umfeld des YMCA (Christlicher Verein junger Männer) oder der Kaiserlichen Universität Tokyo, im Diskurs zur Kolonial- und Ostasienpolitik Japans? Gestützt auf ein breites Spektrum an japanischen und koreanischen Quellen, untersucht Dolf-Alexander Neuhaus, wie diese Akteure die japanische Kolonialherrschaft in Korea und die »koreanische Frage« mit Bezug zu regionalen und globalen Kontexten verhandelten und wie ihre Ideen in der Reform- und Unabhängigkeitsbewegung Koreas wirkten.
Vita
Dolf-Alexander Neuhaus forscht am Deutschen Institut für Japanstudien in Tokyo zu der verflochtenen Geschichte Japans, Koreas und Asiens im 19. und 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt auf der japanischen Kolonialherrschaft und ihrem postkolonialen Erbe in der Zeit des Kalten Kriegs.
In Erinnerung an meinen Vater Klaus-Jürgen Neuhaus, 1940-2023
Cover
Titel
Über das Buch
Vita
Inhalt
Impressum
Einleitung
Koreanische Studierende als Akteure kultureller Globalisierung
Interpretativer Zugang: Agency, Kontaktzone und Raum
Nation, Region und Imperium
Quellen
Zeitlicher Zuschnitt und Vorschau
Zivilisation und Aufklärung: Die koreanische Reformbewegung und Japan, 1880–1900
Japan und Korea am Ende des 19. Jahrhunderts
Munmyŭng kaehwa: Koreanische Reformer in Japan, 1881-1884
Die koreanische Reformbewegung und der Protestantismus in Japan
Kabo-Reformen, Independence Club und Studienaustausch, 1894-1898
Fazit
Korea zivilisieren: Die Koreamission der japanischen Protestanten, 1895-1921
Bildung und Mission im japanisch-koreanischen Kontext
Fragen christlicher Loyalität: Protestantismus, der YMCA und die japanische Nation
Sendungsbewusstsein und Exzeptionalismus: Bushidō im japanischen Protestantismus
Japanische Missions- und Bildungsarbeit in Korea, 1890-1910
Der Russisch-Japanische Krieg und die Anfänge der Koreamission
Das YMCA-Journal Kaitakusha und die Koreamission, 1910-1921
Fazit
Unabhängigkeit und nationale Selbstbestimmung: Die Koreanische Studierendenbewegung in Japan, 1910 -1919
(Aktions-)Räume und Organisation der Studierendenbewegung
Die koreanische Studierendenbewegung und der Taishō-Liberalismus, 1912-1919
Die koreanische Studierendenbewegung im Kontext Ostasiens
Die koreanischen Studierendenbewegung, der Erste Weltkrieg und die Russische Revolution
Der 8. Februar 1919 als transnationaler Moment
Fazit
Begegnung und Interaktion: Koreanische Studierende und Japanische Protestanten am YMCA, 1910-1920
Das Umfeld des YMCA als Begegnungsstätte für koreanische Studierende und japanische Protestanten
Die protestantische Kritik an Koreamission und Kolonialpolitik
Die Neuausrichtung kolonialer Herrschaft in Korea
Fazit
Die Zeitschrift Ajia kōron: Das »Erwachen Asiens« und die »koreanische Frage«
Japan und Korea in Asien: Versailles, Imperialismus und Panasianismus
Yu T’aekyŏng und die historische Bedeutung der Zeitschrift Ajia kōron, 1922-1923
Ajia kōron, der Panasianismus und die »koreanische Frage«
Ajia kōron, der japanische Imperialismus und die internationale Ordnung
Die japanischen Liberalen und die »koreanische Frage« in der Zeitschrift Ajia kōron
Fazit
Schlussbetrachtung
Dank
Literatur
Zeitschriften und Zeitungen
Quelleneditionen
Weitere Quellen
Literatur
Register
Angezogen vom Bildungsangebot und dem modernen Wissen der kolonialen Metropole begaben sich um die Wende zum 20. Jahrhundert zahlreiche koreanische Studierende nach Japan. Sie stehen somit an einer der Schnittstellen der eng verflochtenen Geschichte beider Länder. Angesichts der schwierigen Aufgabe, die nationale Unabhängigkeit und Stellung Koreas gegenüber der Kolonialmacht Japan, aber auch gegenüber den euro-amerikanischen Mächten innerhalb einer neu entstehenden regionalen Ordnung in Ostasien zu behaupten, trugen die koreanischen Austauschstudierenden als Akteure kultureller Globalisierung zur Modernisierung ihrer eigenen Gesellschaft bei. Zugleich intensivierte ihre hohe Mobilität auch die Austauschbeziehung zwischen Metropole und Kolonie, so dass sie als eine repräsentative Stimme des kolonisierten Koreas in der japanischen Metropole fungieren konnten. Die Interaktion mit japanischen Akteursgruppen – im Kontext dieses Buches vorrangig mit liberalen und protestantischen japanischen Intellektuellen im Umfeld des koreanischen Christlichen Vereins Junger Männer (YMCA) – und die simultane Einbindung in verschiedene antikoloniale, (pan-)asiatische, protestantische und liberale Netzwerke der Meiji- (1868-1912) und Taishō-Zeit (1912-1926) eröffnete den koreanischen Studierenden auch unter der asymmetrischen Machtkonstellation kolonialer Herrschaftsverhältnisse neue individuelle und kollektive Handlungsspielräume. Diese ermöglichten ihnen wiederum, nicht nur über die epochalen Unabhängigkeitsdemonstrationen des Jahres 1919 hinaus eine führende Rolle in der (trans-)nationalen Bewegung einzunehmen.1 Vermittels ihrer japanischen Interaktionspartner konnten sie auch an dem kolonialen Diskurs über die so genannte »koreanische Frage« (japan. Chōsen mondai), also über die Ausgestaltung, den Zweck und den Nutzen der kolonialen Herrschaftsbeziehung zwischen Japan und Korea, partizipieren und ihn bisweilen mitgestalten, selbst wenn dies nur indirekt und stets aus einer marginalisierten Position heraus geschah. Die »koreanische Frage« wurde also nicht nur über, sondern zuweilen auch mit Koreanern geführt. Die Frage, wie das koreanische Streben nach Unabhängigkeit innerhalb eines sich wandelnden japanischen Imperialismusdiskurses im Untersuchungszeitraum von 1880 bis in die 1920er-Jahren zu verorten ist und wie die daraus resultierenden Vorstellungen von regionaler Ordnung auf das Denken der japanischen Intellektuellen zurückwirkten, bilden daher die übergreifende Thematik dieses Buches.
Die japanische Hauptstadt Tōkyō um die Wende zum 20. Jahrhundert lässt sich als eine Kontaktzone begreifen, in der Menschen mit verschiedenen kulturellen und geographischen Hintergründen einander begegnen und Unterschiede stets neu aushandeln konnten.2 Japans Schulen und Universitäten avancierten schnell zu einem beliebten Studienziel für junge Menschen aus Korea und China, um zunächst »westliches [modernes] Wissen« und »westliche [moderne] Technologie« zu studieren, die als Grundlagen für die erfolgreiche Selbststärkung Japans angesehen wurden.3 Parallel zu der fortschreitenden imperialen Machtausweitung Japans in Korea, die 1910 schließlich in der Annexion gipfelte, wuchs die Zahl koreanischer Austauschstudierender in Japan bis zum Ende der Kolonialzeit kontinuierlich an.4 Japan galt in diesem Zusammenhang nicht bloß als eine kostensparende Alternative zu Europa aufgrund geographischer Nähe. Aus zeitgenössischer Perspektive gestattete die bereits erfolgte Aneignung und sprachliche Aufbereitung westlicher Wissensbestände seitens der Japaner den Studierenden aus dem chinesischen Schrift- und Kulturkreis einen leichteren und schnelleren Zugang zu den neuen Ideen und Technologien.5 Das in den weiterführenden Bildungseinrichtungen erworbene Wissen nutzten die koreanischen Studentinnen und Studenten,6 um innerhalb einer entstehenden grenzübergreifenden Unabhängigkeitsbewegung eine Führungsrolle zu übernehmen. Spätestens die Errichtung des japanischen Protektorats in Korea nach dem Russisch-Japanischen Krieg (1904-05) sorgte für eine anhaltende Politisierung der koreanischen Studierenden. Die Geschichte der koreanischen Studierenden in Japan war somit von Beginn an untrennbar mit derjenigen des japanischen Kolonialismus und Imperialismus in Korea verwoben.
Auch in Japan beschäftigte sich der öffentliche Diskurs insbesondere an den Wendepunkten der japanisch-koreanischen Beziehungsgeschichte wie dem gescheiterten Kapsin-Putsch 1884, der Annexion 1910 oder der Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März 1919, intensiv mit der »koreanischen Frage«. In dem lebhaften Diskurs über Nation, Imperialismus und Zivilisation, an dem auch namhafte Protestanten wie Ebina Danjō (1856-1937) und Uchimura Kanzō (1861-1930) oder protestantische Laien wie Yoshino Sakuzō (1878-1933) federführend beteiligt waren, schlug sich auch die Begegnung der japanischen Akteure mit den koreanischen Studierenden nieder.7 Schon Mitte der 1880er-Jahre weckten etwa zufällige Begegnungen im Rahmen der koreanischen Reformbewegung das gegenseitige Interesse von japanischen Protestanten und koreanischen Studierenden. Die Gründung des koreanischen YMCA in Tōkyō 1906 hatte einen Ort für junge Koreaner geschaffen, an dem sie innen- und außenpolitische Themen im Hinblick auf die Situation ihres Heimatlandes diskutieren und politisch aktiv werden konnten. Der wachsende Einfluss des Protestantismus in Korea erleichterte die Begegnung zwischen den Studierenden und japanischen protestantischen Akteuren, da viele koreanische Studierende nach der raschen Ausbreitung des Christentums in Korea seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, oft während eines Aufenthalts in Japan zum protestantischen Glauben konvertierten. Aber die koreanischen Studierenden interagierten in Japan auch mit Studierenden und Aktivisten aus anderen asiatischen Ländern sowie mit japanischen Intellektuellen, die nicht dem protestantischen Glauben anhingen. Die Interaktion dieser beiden Gruppen fand also nicht in einem abgeschlossenen Raum statt, auch wenn die Räumlichkeiten des koreanischen YMCA in der japanischen Hauptstadt Tōkyō einer der zentralen Begegnungs- und Interaktionsorte waren.
Die koreanischen Studierenden in Japan nahmen also unbestreitbar eine zentrale Stellung in der koreanischen Geschichte und in der Entwicklung des koreanischen Nationalismus ein.8 Während der vergleichbaren Gruppe der chinesischen Austauschstudierenden bereits eine Reihe eigenständiger Studien gewidmet wurde,9 ist die koreanische Studierendenbewegung in Japan auf den Status eines bloßen Anhängsels des nationalgeschichtlichen Narrativ reduziert worden. Ihre enge Vernetzung und Interaktionen mit asiatischen und japanischen Akteuren werden dabei ebenfalls oft vernachlässigt.10 Die Analyse transnationaler Verflechtungen der koreanischen Unabhängigkeitsbewegung rückte immer dann in den Vordergrund, wenn die Bedeutung der Vereinigten Staaten für die koreanische Geschichte herausgestellt werden sollte.11 In ähnlicher Weise wurde den koreanischen Studierenden in der japanischen Historiographie der Meiji- und Taishō-Zeit allenfalls der Status einer marginalen Gruppierung zugewiesen, die nur in einem geringen Maße Zugang zu der japanischen Mehrheitsgesellschaft fand und die in erster Linie unter bildungshistorischen Gesichtspunkten von Interesse erschien.12 Zudem führte eine »seltsam anmutende Zurückhaltung« im Hinblick auf das »Korea-Problem« der historischen Japanforschung unter anderem dazu, dass die Zentralität des japanischen Imperialismus für die moderne Geschichte des Landes lange Zeit unentdeckt blieb.13 Transferprozesse wurden zwar thematisiert, aber oftmals einseitig verstanden, wobei die Koreaner selbst selten als handelnde Subjekte in Erscheinung traten. Jenseits der erwartbaren antikolonialen Reaktion auf globale Großereignisse wie das Ende des Ersten Weltkriegs und die Proklamation des nationalen Selbstbestimmungsrechts der Völker ist die aktive Bedeutung der koreanischen Studierenden für die japanische Gesellschaft im engeren und für Asien im weiteren Sinne daher noch weitgehend unerforscht. Erst in jüngerer Zeit sind vermehrt Versuche unternommen worden, die koreanische Unabhängigkeitsbewegung von 1919 systematisch in einen größeren regionalen Rahmen zu erfassen und darin auch die koreanischen Studierenden in Japan einzubeziehen.14
Im Kontext der imperialen Ausdehnung Japans in Asien ist auch der japanische Protestantismus zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt.15 Dabei hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die japanischen Protestanten ebenso wie die Vertreter anderer Religionen in Japan keineswegs nur eine periphere Rolle bei der Formierung des japanischen Nationalstaates und des Kolonialreiches innehatten, sondern im Zentrum des jeweiligen Diskurses standen.16 Seit den neunziger Jahren wird das Christentum vermehrt als konstitutives Element der Moderne auch in Korea kritisch untersucht. Jedoch beschränken sich viele dieser Studien auf die Zeit vor 1910, so dass weiterhin ein Mangel an Untersuchungen besteht, die sich mit dem Christentum während der Kolonialzeit befassen.17 Obwohl die Protestanten dabei fest in transnationale Netzwerke wie die globale YMCA-Bewegung eingebunden waren,18 rückt auch hier die reziproke Austauschbeziehung zwischen Kolonie und Metropole nur langsam in den Mittelpunkt der Untersuchungen.19 Studien neueren Datums konnten hingegen die hohe Signifikanz lokaler Akteure für das japanische empire building zeigen.20 Es fehlen aber weiterhin umfassende Studien, die sich der Interaktionsgeschichte der koreanischen Studierenden und japanischen Liberalen und Protestanten widmen.
Die soziale und intellektuelle Interaktion zwischen den koreanischen Studierenden als Angehörigen einer kolonialen Gegenelite und den liberalen japanischen Protestanten steht im Zentrum dieser Untersuchung. Ausgehend von der Prämisse, dass die koloniale Begegnung unweigerlich auf beiden Seiten des colonial divide Spuren hinterließ,21 argumentieren die folgenden Kapitel, dass den japanischen Protestanten zunächst eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung des japanischen Kolonialismus und der Zivilisierungsmission in Korea zukam. Freilich wirkte diese Mittlerrolle aber auch in die umgekehrte Richtung: Die Begegnung, Interaktion und intellektuelle Auseinandersetzung mit den studentischen Akteuren korrelierte in vielen Fällen mit einem vergleichsweise hohen »Einfühlungsvermögen« (japan. dōjō) für koreanische Positionen, die wiederum in das Denken und publizistische Wirken bekannter liberaler Intellektueller oder namhafter Vertreter des Protestantismus in Japan einflossen. Als einer wichtigen Trägergruppe des zeitgenössischen japanischen Liberalismus kam den Protestanten durch die Interaktion mit den koreanischen Studierenden also auch eine Vermittlerrolle koreanischer Positionen gegenüber der japanischen Mehrheitsgesellschaft zu.22 Um zu ermitteln, welchen Beitrag die Koreaner im öffentlichen Diskurs zu der »koreanischen Frage« leisteten, und wie dieser auf Entstehung und den Wandel des regionalen Bewusstsein zurückwirkte, muss man also diejenigen Japaner befragen, die mit den koreanischen Studierenden regelmäßig im Austausch standen. Denn japanische und koreanisch Akteure setzten in den Debatten über die »koreanische Frage« ihre Kritik oder eben ihre Befürwortung des japanischen Kolonialismus stets in Bezug zu sich wandelnden und bisweilen konkurrierenden Konzeptionen der Region Ostasien, die mitunter jenseits des national oder imperial abgesteckten Referenzrahmens gedacht werden konnten.
Die Beziehung zwischen den Nachbarländern war fraglos von einer wachsenden Machtasymmetrie zugunsten Japans geprägt, die auch das Verhältnis der koreanischen Studierenden zu nicht-staatlichen japanischen Akteuren bestimmte. Auf japanischer Seite wurden panasiatische Narrative häufig genutzt, um imperiale Herrschaftsausübung in Asien zu legitimieren. Jedoch konnte der Rückgriff auf regionale Solidarität von koreanischen und asiatischen Akteuren bisweilen auch in den Dienst der nationalen Unabhängigkeit gestellt werden.23 Diese Überlegungen werfen weitere Fragen auf, mit denen sich die folgende Untersuchung auseinandersetzen wird: In welche transnationalen Netzwerke waren die koreanischen Studierenden eingebunden und wie begünstigten sie die Formierung der Unabhängigkeitsbewegung der koreanischen Studierenden in Japan? Welche Orte der Begegnung ermöglichten die Entstehung solcher Netzwerke? Wie verschob sich das Koreabild derjenigen Japaner, die an der intellektuellen Interaktion mit den koreanischen Studierenden teilnahmen? Welche Faktoren und Abgrenzungsprozesse förderten diese Entwicklung? Welche alternativen Konzeptionen von regionaler Ordnung und Zusammengehörigkeit formulierten japanische Protestanten und Liberale einerseits sowie koreanische Studierende andererseits? Auch jenseits dieser Fragen, die im direkten Zusammenhang mit der Geschichte der koreanischen Austauschstudierenden in Japan stehen, möchte das Buch Aspekte der kulturellen Globalisierung in Ostasien beleuchten, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie Kontinuitäten oder Brüche, etwa in Bezug auf Diskurse innerhalb der Panasienbewegung und den globalen Protestantismus und die Missionsbewegung, besser zu verstehen.
Das Buch untersucht diese Fragen, indem es die Interaktion von koreanischen Studierenden und japanischen Protestanten und Liberalen an ihren Orten der Begegnung nachzeichnet: Tōkyō mit seinen Schulen, Universitäten und Kirchen und dem koreanischen YMCA standen in jener Epoche als konkrete Orte der Interaktion mit protestantischen und liberalen Intellektuellen im Mittelpunkt der koreanischen Studierendenbewegung in Japan. Obwohl diese beiden grob umrissenen Akteursgruppen weder in sich homogen noch nach außen geschlossen waren, verkörperten sie jedoch in ihren jeweiligen Gesellschaften aktive Debattenteilnehmer, die die politischen, gesellschaftlichen und religiösen Diskussionen ihrer Zeit entscheidend mitprägten. So können divergierende Perspektiven nicht nur nebeneinander, sondern auch in einem Bezug zueinander gestellt werden, um neue Einblicke in die kolonialen Praktiken der nicht-westlichen Kolonialmacht Japan und die Rückwirkungen des japanischen Imperialismus auf die Gesellschaft der Taishō-Zeit zu bieten.
Es gilt mittlerweile als Gemeinplatz, dass Globalisierungsprozesse im ausgehenden 19. Jahrhundert auch die Länder Ostasiens mit bemerkenswerter Intensität erfassten. Infolgedessen richtete sich die regionale Ordnung zunehmend auf eine von Europa und den Vereinigten Staaten dominierte Weltordnung aus. Doch sollten die Bestrebungen der koreanischen Unabhängigkeitsbewegung sowie der japanischen Protestanten, sich von Japan beziehungsweise von dem westlichen Christentum abzugrenzen, nicht als unabänderlicher Gegensatz zu dieser verstärkten globalen Integration begriffen werden. Vielmehr bedingten sich diese Prozesse oft gegenseitig. Entstehung und Wandel von modernem Nationalbewusstsein müssen daher auch immer als Effekt von Globalisierung verstanden werden.24 Dieser Gedanke lässt sich auch auf die Geschichte von Imperien übertragen, indem man Metropole und Kolonie innerhalb eines gemeinsamen analytischen Rahmens, sozusagen als zusammenhängenden kolonialen Raum, in den Blick nimmt.25 Kolonialismus und Imperialismus werden dabei als reziprokes Beziehungsgeflecht verstanden, welches die Metropole in einem ähnlichen Ausmaß tangierte wie die Kolonie bzw. diese Pole überhaupt erst hervorbrachte.26 Auf diese Weise kann ein direktionales Verständnis japanischer Kolonialgeschichte vermieden werden, das kulturelle und gesellschaftliche Transferprozesse als Einbahnstraße begreift und die Erzählung der Motivationen und Handlungen kolonialer Akteure auf rein passive Reaktionen reduziert, indem die eurozentrische schlichtweg durch eine Japan-zentrische Perspektive ersetzt wird.27 Und auch die Entstehung des japanischen Nationalstaates, seiner kolonialen Expansion und der Bildung seines Imperiums lässt sich so als eine Verflechtungsgeschichte erzählen, die die historische Situation als ein komplexes Wechselspiel zwischen Japan, seinen Kolonien, dem Westen und Asien betrachtet und verschiedene, mitunter entgegengesetzte Perspektiven und Positionen in die Analyse einbezieht.28
Die Anlehnung und gleichzeitige Abgrenzung, die typisch für das ambivalente Verhältnis Japans zum Westen war, betraf unter anderen Vorzeichen und zu unterschiedlichen Zeiten auch die Positionierung koreanischer und asiatischer Eliten gegenüber Japan. Vor der Annexion 1910 mangelte es in Korea nicht an Bemühungen, dem japanischen Vorbild mit dem Ziel nachzueifern, die koreanische Unabhängigkeit gegenüber den äußeren Mächten sicherzustellen. Die Anwesenheit vor allem US-amerikanischer Missionare gestattete den koreanischen Eliten jedoch auch, sich direkt an westlichen Vorbildern zu orientieren. Die herkömmliche Gegenüberstellung eines »Selbst« und eines »Anderen«, wie sie in Bezug auf die vermeintlich homogenen Gruppen von Kolonisierten auf der einen und Kolonisatoren auf der anderen Seite in der europäischen Geschichtsschreibung oft angewandt wurde, lässt sich auf die Herrschaft Japans in Korea deshalb nur schwer übertragen.29 Diese vereinfachende Dichotomie wird im Fall der ostasiatischen Länder durch die Anwesenheit eines zweiten oder sogar mehrerer »Anderen« aufgebrochen. Denn während der Meiji-zeitliche Intellektuelle Fukuzawa Yukichi (1835-1901) den westlichen Alleinanspruchs auf Zivilisiertheit anfocht, bediente er sich bei der japanischen Identitätskonstruktion Asiens als eines zusätzlichen »Anderen«, indem er die anderen Nationen des Kontinents als unterlegene Zivilisationen von Japan abgrenzte.30 Die hybride Identität Japans verortete er also zwischen Europa und Asien.31 Dabei wähnte sich Japan zumindest bis zur Revision der Ungleichen Verträge während und nach dem Chinesisch-Japanischen Krieg (1894-95) stets unter dem prüfenden Blick der so genannten »zivilisierten« Mächte.32 Diese setzten den Standard für Zivilisierung und Fortschritt, an dem sich der Meiji-Staat bewusst oder unbewusst orientierte und den er auch internalisierte.33 Daraus resultierten wiederum die widersprüchlichen, partikularen Rassediskurse der japanischen Kolonialpolitik, auf denen der Anspruch auf ein genuin asiatisches Gegenmodell zum euro-amerikanischen Imperialismus basierte.34
Obgleich der binäre Gegensatz von Kolonialherren zu Kolonisierenden der wichtigste determinierende Faktor in der direkten Begegnung zwischen Koreanern und Japanern war, so wurden die Bedingungen der japanischen Herrschaft in Korea doch maßgeblich von der Anwesenheit eines Dritten, nämlich des »Westens«, mitgeprägt.35 Zusätzlich war und ist für die Abgrenzung und Ausdifferenzierung der koreanischen nationalen Identität auch China von immenser Bedeutung.36 Wie noch zu zeigen ist, trat eine solche Dreiecksbeziehung zum Beispiel dort deutlich zutage, wo die japanisch dominierte panasiatische Kritik an der westlich geführten Weltordnung von Versailles von der koreanischen und taiwanischen Ablehnung des eurozentrischen Weltsystems um eine weitere Perspektive ergänzt wurde, die sich gegen die japanische Kolonialherrschaft über weite Teile Ostasiens aussprach. Auch ohne die Rolle des Westens zu marginalisieren, demonstriert das genannte Beispiel zugleich, dass die europäische Erfahrung nicht den universellen Maßstab für die Geschichtsschreibung darstellen muss.37 Aus der Sicht der koreanischen Studierenden existierten also mehrere Aspekte der Abgrenzung, der Differenzierung und der Inklusion nebeneinander, die zuweilen ineinander verschränkt sein konnten.38 Mit Abstrichen galt Ähnliches auch für die Akteursgruppe der japanischen Protestanten, die sich um die Jahrhundertwende einem konstanten Legitimierungsdruck gegenüber dem japanischen Staat ausgesetzt sahen.39 Die hybride Stellung Japans innerhalb einer westlich dominierten Weltordnung um die Jahrhundertwende war den koreanischen Studierenden ebenso wie anderen asiatischen Kommentatoren also gewahr, die diese inhärente Widersprüchlichkeit geschickt als einen sich öffnenden Handlungsspielraum zu nutzen wussten.
In den 1990er-Jahren setzte auch in der koreanischen Forschung ein Paradigmenwechsel ein, im Zuge dessen nationalistische Konstruktionen der eigenen Geschichte zunehmend in Frage gestellt werden.40 Allerdings sind zuletzt Bemühungen, der binären und simplifizierenden Erzählung den pluralistischen Ansatz der »colonial modernity« entgegenzustellen, ihrerseits teils heftig als unzureichend und vereinfachend kritisiert worden.41 Die Kritik wendet dabei nicht unberechtigterweise ein, dass den Koreanern zu wenige Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten eingeräumt und Kontinuitäten aus der Vorkolonialzeit vernachlässigt würden.42 Analysiert man hingegen die Handlungsmacht (agency) der Kolonisierten, in diesem Fall der koreanischen Studierenden, können die durch den Kolonialismus konstruierten Dichotomien und Binaritäten aufgebrochen und überwunden werden. Der Begriff agency beschreibt dabei menschliche Entscheidungen und Handlungen, um die spezifisch gegebenen Umstände flexibel zu bewältigten, in denen die historischen Akteure sich wiederfanden. So erscheinen Herrschende und Beherrschte nicht immer als homogene Gruppe mit klar definierten einheitlichen Absichten, deren Ziele nicht in jedem Fall in einem diametralen Gegensatz zueinanderstanden.43 Individuelle Entscheidungen wurden also oft aus einem breiten Spektrum mehrdeutiger Möglichkeiten getroffen.44
Auch jenseits offenkundiger Fälle von Kollaboration lassen sich daher zuweilen Schnittpunkte in Bezug auf die Ziele und Vorstellungen koreanischer Unabhängigkeitsaktivisten und japanischer Protestanten und Liberaler identifizieren, wenngleich sich die jeweiligen Beweggründe nicht selten unterschieden. Die Analyse der intellektuellen Interaktion zwischen koreanischen und japanischen Akteuren, bei der sowohl beiden Gruppen Handlungs- und Gestaltungsspielraum zugesprochen wird, ermöglicht es somit, Prozesse der Angleichung und Abgrenzung jenseits gängiger Erzählungen zu erforschen. Zudem können der Stellenwert von Vernetzungen und Interaktionen sowie deren Effekte auf die beteiligten Akteure verdeutlicht werden.45 Koreanische Studierenden wie japanische Protestanten und Liberale sind als transnationale Akteure zu verstehen, deren Mobilität nicht nur maßgeblich dazu beitrug, die Studierenden selbst zu politisieren, sondern sie überhaupt erst in die Lage versetzte, Netzwerke mit Aktivisten anderer asiatischer Bewegungen in der japanischen Hauptstadt aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus erleichterte die Mobilität der Studierenden die Schaffung von Verbindungen zwischen den Brennpunkten der koreanischen Unabhängigkeitsbewegung in der gesamten Region. Dies gilt auch dann, wenn die Auswirkungen der Kolonialpolitik und der kolonialen Begegnung auf die japanische Gesellschaft zunächst wenig offensichtlich erscheinen.46 Tatsächlich, so argumentiert dieses Buch, trugen die koreanischen Austauschstudierenden die Kolonie in die Metropole, wo die japanischen Liberalen und Protestanten ihnen unmittelbar begegnen konnten.
Die japanische Hauptstadt Tōkyō im Allgemeinen und der koreanische YMCA als einer der beliebtesten Versammlungsorte der koreanischen Studierenden waren die konkret lokalisierbaren Orte, an denen sich nicht nur Interaktionen auf einer horizontalen Ebene zwischen den Koreanern untereinander oder mit Angehörigen anderer kolonisierter – oder wie im Falle Chinas – semikolonisierter Nationen, vollzog. Vielmehr gestatteten diese Orte auch Begegnungen und Interaktion auf einer vertikalen Achse zwischen Kolonisierten und Kolonisierenden. Tōkyō mit seinen Bildungseinrichtungen und renommierten Universitäten, dem koreanischen YMCA, Kirchen und zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen konstituierte daher eine Kontaktzone, in der sich die Handlungsstrategien der koreanischen Studierenden auch unter den Gegebenheiten kolonialer Machtkonstellationen entfalten konnten.47 Mary Louise Pratt hat die Kontaktzone als einen sozialen Raum definiert, in welchem »sich Kulturen treffen, kollidieren und miteinander ringen, oft in Kontexten äußerst asymmetrischer Machtverhältnisse wie Kolonialismus, Sklaverei oder deren Nachwehen.«48 Anknüpfend an die Erkenntnis, dass sich globale bzw. regionale Verflechtungen vor allem in lokalen Kontexten zeigen,49 dient die Kontaktzone in dieser Untersuchung als nach Bedarf scharfstellbare analytische Linse, mit deren Hilfe sich verschiedene, teils diametral entgegengesetzte Perspektiven auf die »koreanische Frage« besser beleuchten und in einem gemeinsamen Rahmen analysieren lassen.50
Diese Überlegungen stützen sich dabei auf ein relationales Raumverständnis, das den Raum im Sinne des spatial turn als Gestaltungsfaktor sozialer Beziehungen, der Unterschiede und Vernetzungen auffasst und daher auch gut geeignet ist, nationalgeschichtliche Verengung aufzubrechen.51 Der so entstandene Raum besaß häufig transnationale Dimensionen und war in seiner ausgeprägtesten Form global.52 Der Begriff der Transnationalität wird hier somit nicht allein als Bezeichnung für unidirektionale grenzüberschreitende oder -übergreifende Mobilität verstanden, welche lediglich der bilateralen Verbindung zwischen zwei oder mehreren Zentren oder Nationen diente.53 Vielmehr waren die koreanischen Studierenden in Japan in einen eng verflochtenen intellektuellen Raum eingebettet, der sich aus der Anwesenheit von Studierenden, Intellektuellen und Aktivisten aus allen Teilen Asiens in der Kontaktzone ergab, zusätzlich begünstigt von der relativ liberalen Atmosphäre der Taishō-Zeit sowie dem ihnen vor Ort vermittelten Wissen.54 Protestanten, Intellektuelle und Studierende aus Japan, Korea und anderen ostasiatischen Ländern des japanischen Kolonialreiches passten sich einerseits an die vorgegebenen Strukturen an, veränderten und transformierten sie aber auch im Rahmen der ihnen verfügbaren Handlungsspielräume. In diesem »mehr oder weniger breiteren Raum der Möglichkeiten« konkurrierten sie um Einfluss und Deutungshoheit mit dem Kapital, das ihnen zur Verfügung stand.55 Das Vorhandensein der Kontaktzone schuf die Voraussetzung für das Entstehen eines relationalen intellektuellen Raums, der sich im übertragenen Sinne auf das japanische Kolonialreich bezog und diesen nicht als rein geographische Größe begreift. Hier manifestierte sich der übertragene Raum, der die Begegnung und den Dialog zwischen koreanischen Studierenden und japanischen Protestanten und Liberalen erst ermöglichte.
Nation und Imperium bildeten für die koreanischen Studierenden ebenso wie für die japanischen Protestanten und Liberalen den primären Handlungs- und Referenzrahmen. Auch die Region »Ostasien« und die weltweite protestantische Bewegung stellten wichtige Bezugsgrößen dar, zumal das zügige Fußfassen des Christentums in Korea eng mit dem erwachenden Nationalismus verknüpft war. So war auch der Wandel des regionalen Bewusstseins in Korea untrennbar verbunden mit der Frage nach der Formierung eines modernen Nationalbewusstseins, das sich in Reaktion auf die imperiale Bedrohung seit dem späten 19. Jahrhundert herausbildete und durch die Erfahrung des Kolonialismus beschleunigt wurde. Der Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat Nationen treffend als imaginierte Gemeinschaften (imagined communities) beschrieben.56 Doch entstanden sie nie aus dem Nichts. Dem modernen Nationalstaat in Korea ging eine lange Tradition einheitlicher politischer Kollektive voraus, die die kulturelle und gesellschaftliche Grundlage für das gegen Ende des 19. Jahrhunderts erwachende koreanische Nationalbewusstsein bildete.57 Die bemerkenswerte Langlebigkeit des Chosŏn-Staates mit seiner zentralisierten Bürokratie legt nahe, dass Eliten und Untertanen sich mit dem Staat identifizieren konnten, während sie gleichzeitig enge Bindungen zu ihren Dorfgemeinschaften, der Region und ihren Clans pflegten.58
Demgegenüber vollzog sich während der Meiji-Zeit die Nationalstaatsbildung in Japan in einem langwierigen und teilweise von oben angeleiteten Prozess, wie er den Koreanern aufgrund der kolonialen Unterdrückung bis 1945 verwehrt blieb. Tatsächlich war eines der Hauptziele der kolonialen Assimilierungspolitik in Korea, die eigenständige koreanische Identität auszulöschen. Die Genese der japanischen Nation erfolgte im Wechselspiel mit seinem entstehenden Kolonialreich, wobei Abgrenzung und Anlehnung gleichermaßen eine Rolle spielten. Seit der Meiji-Zeit intensivierten sich jeweils an den Wendepunkten der imperialen Ausdehnung Japans die Debatten darüber, was es bedeutete, Japaner zu sein, und wie sich Japan gegenüber der wachsenden Zahl seiner kolonialen Untertanen positionieren solle.59 Die Geschichte der koreanischen Studierenden und ihrer Interaktion und Begegnung mit japanischen Akteuren möchte zu einem besseren Verständnis dieser Wechselwirkungen beitragen.
Kolonialismus und Imperialismus sind Schlüsselbegriffe für die Beschreibung des koreanisch-japanischen Verhältnisses nach 1876. Im Kontext von Japans anhaltendem Bestreben nach politischer, wirtschaftlicher und militärischer Vorherrschaft in Asien waren die historischen Phänomene des Kolonialismus und Imperialismus nicht immer eindeutig voneinander zu trennen.60 Die Grenzen zwischen formalem Kolonialimperium, also der direkten Beherrschung eines Gebietes oder Landes wie Korea, und informal empire, etwa in Form von Einmischung und Einflussnahme in koreanische Angelegenheiten vor 1910 mittels ungleicher Verträge, Vertragshäfen und ab 1905 dem Protektorat, verschwammen dabei oft. Imperialismus gilt gemeinhin als das umfassendere Phänomen, da hier das imperiale Zentrum nicht unter allen Umständen auf direkte koloniale Kontrolle angewiesen ist, um »systematisch in die politischen Prozesse schwächerer Peripherien« einzugreifen.61 Anders als in Europa bedeuteten das Ende des Ersten Weltkriegs und die Schaffung des Völkerbundes keineswegs auch das Ende der Kolonialimperien in anderen Weltregionen im Sinne nationaler Selbstbestimmung.62 Vielmehr konnte die Siegermacht Japan ihr Kolonialimperium im Zuge der Umgestaltung der imperialen Weltkarte noch erweitern und konsolidieren, indem sie Völkerbundmandate über die ehemaligen deutschen Kolonien in China und im Pazifik übernahm. Seine größte Ausdehnung erreichte das japanische Kolonialreich erst in den dreißiger und vierziger Jahren.
Vorstellungen von nationaler Selbstbestimmung und regionaler Solidarität stellten nicht in jedem Fall unvereinbare Gegensätze dar. Die koreanische Unabhängigkeitsbewegung, die sich gegen die japanische Kolonialherrschaft richtete, war ohne Zweifel zunächst eine antikoloniale, nationale Bewegung. Während der Zwischenkriegszeit konnte jedoch die binäre Gegenüberstellung von Kolonisierenden und Kolonisierten zuweilen aufgebrochen werden und in anti-imperiale Strömungen übergehen, wenn sich beispielsweise transnationale Netzwerke koreanischer und chinesischer Studierender, Intellektueller und Aktivisten formierten, die die Grenzen des japanischen Imperiums transzendierten und an die Narrative einer gemeinsamen ostasiatischen Region anknüpften.63 Eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung dieser Netzwerke war die wachsende Mobilität von Gütern, Wissen und Personen, die neben technischen Neuerungen durch die kapitalistische und imperiale Durchdringung weiter Teile der Welt begünstigt wurde. Die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Kolonie und Metropole begünstigte dabei transnationale Lebensläufe.64 Als Angehörige einer hochmobilen kolonialen Gegenelite waren die koreanischen Studierenden zudem nicht allein auf das Japanische Kaiserreich und seine Kolonien beschränkt, sondern agierten über dessen Grenzen hinweg.
Wie die Selbstzeugnisse von Koreanern zeigen, determinierte das Machtungleichgewicht kolonialer Herrschaft stets auch das persönliche Verhältnis zwischen Koreanern und Japanern. Dies impliziert, dass im Zuge der grenzübergreifenden Begegnung und intellektuellen Interaktion »Ostasien« für japanische und koreanische Akteure nie das Gleiche bedeuten konnte. Denn die Begegnungen der koreanischen Austauschstudierenden und der japanischen Protestanten fanden vor dem Hintergrund der panasiatischen Diskurse am Anfang des 20. Jahrhunderts statt, die nicht zuletzt der ideologischen Legitimierung der Kolonialherrschaft über angrenzende, kulturell und gesellschaftlich ähnliche Länder wie Korea oder Taiwan und damit der Ausdehnung des japanischen Nationalismus auf die angrenzenden Gebiete in Asien dienten.65 Nationalstaat, regionale Ordnung und Imperium bildeten aus japanischer Perspektive daher keinen Gegensatz, sondern ergänzten und bedingten sich oft gegenseitig.66
Diese divergenten Perspektiven schlugen sich lange Zeit auch in der Forschung nieder, in der koreanische Asiendiskurse weitgehend abwesend waren, obwohl die Zentralität Asiens für den koreanischen Modernitätsdiskurs nie infrage gestellt wurde.67 Dichotome Interpretationen der koreanischen Geschichte gestanden den historischen Akteuren zwischen unermüdlichem nationalen Abwehrkampf und Kollaboration nur wenig Spielraum zu.68 Dies wird jedoch der ideologischen Diversität panasiatischer Überzeugungen und Motivationen nicht gerecht, die auch nach 1910 fortbestanden.69 Geprägt von der gemeinsam wahrgenommenen Bedrohung durch den Westen entstand um die Jahrhundertwende ein »Panasianismus von unten«, der den solidarischen und gleichberechtigten Zusammenschluss der souveränen Völker Asiens propagierte und der im Zuge der Friedenskonferenz von Versailles kurzzeitig eine Renaissance erfuhr.70 Zur gleichen Zeit existierte auch in Japan eine Vielzahl an Zwischenformen, die sich nicht immer mit dem offiziellen Narrativ deckten oder sogar in Opposition zu diesem stehen konnten, aber in Form von politischen Interessengruppen durchaus einflussreich waren.71 Bei den Phänomenen Nationalismus und Panasianismus handelte es sich also nur auf den ersten Blick um scheinbar entgegengesetzte Entwicklungen, die sich jedoch nicht gegenseitig ausschlossen und sich zuweilen wechselseitig bedingten.72 Diesem Facettenreichtum entsprechend wird der Panasianismus nicht als festgefügte konsistente Ideologie begriffen, sondern als eine politische Tendenz im Diskurs.73
Wie Nationen waren auch diskursive Konstruktionen von Regionen wie »Europa« und »Ostasien« keine monolithischen, naturgegebenen Entitäten, sondern entsprangen fluiden Vorstellungen und Konstruktionen, die abhängig von dem jeweiligen Kontext, in dem sie angewandt wurden, einem Bedeutungswandel unterlagen. Solche imaginierten regionalen Gemeinschaften konnten sich auf bereits bestehende Strukturen beziehen, diese erweitern oder aber in Frage stellen.74 Der Terminus »Ostasien« konnte aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Vorstellungen beinhalten. Dabei bieten die Quellen gleich eine Reihe von variierenden Bezeichnungen für Asien und Ostasien. Neben den häufigen Begriffen »Ostasien« (japan. Tōa; kor. Tong’a) und »Orient« (japan. Tōyō; kor. Tongyang), das vor allem in Abgrenzung zu Europa und Amerika, also dem Okzident (japan. Seiyō), gebraucht wurde, findet auch die Bezeichnung »Ferner Osten« (japan. Kyokutō) Verwendung. Alle diese Bezeichnungen lassen sich ebenso wie »Asien« auf zunächst europäische Begriffsentwürfe zurückführen, die das »Andere« bezeichneten.75 Denn die Vorstellung von einer zusammenhängenden Region »Ostasien« entwickelte sich in den Ländern China, Korea und Japan erst im Zuge der Begegnung mit den Jesuiten und später als Antwort auf die imperialistische Bedrohung durch die euro-amerikanischen Mächte während des 19. Jahrhunderts. In Abgrenzung zu Ostasien ist die Vorstellung vom »Westen« deshalb von großer Bedeutung. Für die zeitgenössischen japanischen und koreanischen Akteure spiegelte der »Westen« nicht notwendigerweise eine geographische, kulturelle oder gar politische Einheit wider, sondern stellte eine (oftmals selektiv angewandte) Kategorie zur Erfassung der Welt dar. Die gegenseitige Essentialisierung in umgekehrter Richtung hatte oftmals zur Folge, dass die Diversität und Gegensätze zwischen den Staaten Europas und Nordamerikas ebenso verwischten wie das in europäischen Vorstellungen vom Orient der Fall war.76
Neben der Region bot auch die (imaginierte) globale Gemeinschaft des Protestantismus ungeachtet aller Divergenzen zwischen den unterschiedlichen Denominationen ein wichtigen Referenzrahmen für die historischen Akteure, die der nationalen ebenso wie der imperialen Gemeinschaftsvorstellung konträr, bisweilen aber auch ergänzend gegenüberstand.77 Zwar waren bei Weitem nicht alle koreanischen Studierenden und nicht alle japanischen Liberalen auch praktizierende Christen oder gehörten überhaupt einer Kirche an. Auch war die Ausübung der christlichen Religion unter den Bedingungen der Kolonialherrschaft, welche weder politische Partizipation noch bürgerliche Öffentlichkeit duldete, in Korea strikt auf das Private begrenzt.78 Doch die weltweite Gemeinschaft des Protestantismus – von den historischen Akteuren oft synonym mit dem allgemeineren Begriff Christentum gebraucht – schuf einerseits einen geschützten Raum in Form des global vernetzten YMCA, in dem die koreanischen Studierenden ihre politischen und gesellschaftlichen Ideen formulieren und diskutieren konnten und darüber hinaus auch Kontakt zu japanischen Protestanten herstellen konnten. In der Koreamission der Japanischen Kongregationskirche trat die eigentümliche Mischung aus gleichzeitiger Abgrenzung und Annäherung gegenüber den euro-amerikanischen Missionaren erneut zutage. Einerseits war man bemüht mittels Missionsarbeit in Korea zu demonstrieren, dass auch japanische Christen einen erfolgreichen Beitrag zur Zivilisierungsmission im Rahmen einer weltweiten Bewegung beisteuern konnten. Andererseits bediente man sich der nationalen und imperialen Herrschaftsnarrative des japanischen Staates, um die protestantische Missionstätigkeit in Korea gegenüber einer mehrheitlich nichtchristlichen Öffentlichkeit in Japan zu rechtfertigen. Gerade hierüber wurde innerhalb japanischer Denominationen wie der Japanischen Kongregationskirche zuweilen erbittert gestritten.
Die vorliegende Studie stützt sich auf einen robusten Fundus an japanisch- und koreanischsprachigen Quellen. Diese breite Auswahl ermöglicht es, vielfältige Perspektiven auf die verflochtene Geschichte der beiden Länder zu berücksichtigen. Die Koreaner sahen die Kolonialherrschaft und Beziehung zu den Japanern mit ganz anderen Augen als die Japaner.79 Dementsprechend stellen die einzelnen Kapitel verschiedene Akteure in den Mittelpunkt, so dass auch die Gewichtung der Quellen jeweils unterschiedlich ausfällt.
Es lassen sich grob drei Arten von Quellen unterscheiden: Der wichtigste Quellentypus setzt sich aus Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln zusammen, die die Akteure im Umfeld der Studierendenbewegung, des Protestantismus und Liberalismus verfassten. Aus dem Umfeld der japanischen Protestanten und Liberalen steht eine durchaus beträchtliche Anzahl an christlichen Magazinen und Zeitschriften der Meiji- und Taishō-Zeit zur Verfügung, die ein umfassendes Panorama der protestantischen Diskussionen über und mit den koreanischen Studierenden in Japan sowie über die japanische Expansion in Asien erlaubt. Zu den wichtigsten Publikationen zählen die Zeitschrift Shinjin (Der Neue Mensch) oder das offizielle Magazin des japanischen YMCAKaitakusha (Der Pionier) . Diese Quellenauswahl wird durch eine Reihe japanischsprachiger Tageszeitungen und anderer reichweitenstarker Zeitungen und Journale, wie unter anderem Jiji shinpō (Die Zeit), Tōkyō Asahi shinbun und Chūō kōrōn (Zentrumsrevue) ergänzt. Protestantische Geistliche wie Ebina Danjō oder Laien wie Yoshino Sakuzō verfassten regelmäßig in viel gelesenen Tageszeitungen wie der Tōkyō Asahi shinbun Leitartikel. Dies zeigt, dass der Diskurs der japanischen Protestanten zu Korea nicht isoliert war, sondern durchaus auch ein breiteres Publikum erreichte. Die publizistische Aktivität der koreanischen Studierenden in Japan bildet eine weitere unerlässliche Quellengrundlage für diese Untersuchung. In einer im Vergleich zum kolonialen Korea freien Atmosphäre war es den Studierenden möglich, schon während der 1910er-Jahre zahlreiche Artikel und Zeitschriften in Tōkyō zu publizieren. Dies schließt sowohl koreanischsprachige Veröffentlichungen wie das Studierendenmagazin Hakchigwang (Licht des Lernens) als auch Artikel koreanischer Studierender und intellektueller Akteure in japanischen und gemischtsprachigen Publikationen wie dem kurzlebigen, bislang aber noch wenig erforschten Journal Ajia kōron (Asien-Revue) mit ein. Darüber hinaus finden auch englischsprachige Quellen Eingang in die Analyse, wobei es sich meist um von Missionaren oder Journalisten verfasste Zeitungsartikel und Monographien handelt. Deren Relevanz erwächst aus der Tatsache, dass der japanische und der koreanische Diskurs keinesfalls rein selbstreferentiell war, sondern mitunter auch auf die Außendarstellung Bezug nahm. Mitunter wandten sich koreanische Akteure auch direkt an ein englischsprachiges Publikum.
Selbstzeugnisse stellen den zweiten zentralen Quellentypus dar. In Tagebucheinträgen, Briefen und Memoiren kommentierten japanischen und koreanische Akteure ihre Begegnung mit dem jeweiligen Gegenüber. So geben diese Quellenarten oft die ersten wertvollen Hinweise auf die konkrete Begegnung zwischen Koreanern und Japanern. Insbesondere Briefe und Tagebücher gewähren dabei oftmals einen authentischeren und unmittelbareren Zugriff auf das Erlebte, zumal wenn es sich um private, meist erst postum veröffentlichte Tagebücher handelt. Hierin unterscheidet sich diese Quellengattung von Erinnerungstexten wie Memoiren und Autobiographien, die ausnahmslos retrospektiv und mit großem zeitlichen Abstand teils erst Jahrzehnte später geschrieben und veröffentlicht wurden. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Ereignisse verklärt, umgedeutet oder gleich ganz vergessen werden. Selbstzeugnisse sind von ihrer Natur her immer subjektiv.
Offizielle Dokumente bilden die dritte Quellenkategorie: Die Rekonstruktion des Denkens und Handelns der koreanischen Studierenden lässt sich aufgrund verschiedener Faktoren wie der Zensur in einigen Fällen nur indirekt anhand von Polizei- und Spionageberichten bewerkstelligen. Sofern ein Verdacht auf subversive Inhalte bestand, wurden in diesen Berichten die fraglichen Stellen aus Reden oder zensierten Artikel paraphrasiert und zuweilen auch wörtlich wiedergegeben. Zwar gilt dies für sämtliche japanischen und englischen Quellen mit Bezug zu Korea, aber der spezielle Entstehungskontext der Polizeiakten wirft die Frage nach dem so genannten »kolonialen Blick« auf. Michel Foucaults Philosophie der Ausübung institutioneller Macht und Wissensproduktion ebenso wie seine Überlegungen zum »ärztlichen Blick« sind in den vergangenen Jahren in zunehmendem Maße auch von Kolonialhistorikern auf verschiedene Kontexte angewandt worden.80 Der »koloniale Blick« fungiert in diesem Zusammenhang als ein Prisma, durch welches die Kolonisatoren ihr koloniales »Anderes« interpretieren und somit das notwendige Wissen über die Kolonisierten generiert, um diese zu überwachen und zu disziplinieren, sprich, die eigene hegemoniale Herrschaft zu gewährleisten und aufrechtzuerhalten.81 Auch jenseits ausnehmend pejorativer Bezeichnungen wie futei Senjin (»aufsässige Koreaner«), welche in den offiziellen Berichten um das Jahr 1919 regelmäßig auftaucht, ist also Vorsicht bei der Auswertung der Quellen geboten, um den »kolonialen Blick« nicht (unbewusst) zu reproduzieren und zu verfestigen. Im Hinblick auf die Quellenlage zur studentischen Unabhängigkeitsbewegung in Japan kommt hinzu, dass die behördlichen Akten nicht nur eine koloniale Perspektive besaßen, sondern die Auswahl darüber hinaus auch notwendigerweise selektiv und bruchstückhaft war.82 Die Auswahl der Redeabschnitte wurde durch die Spitzel bzw. die Protokoll führenden Polizeibeamten vorgenommen, welche die Berichte für das Innenministerium verfassten und dabei oft lediglich paraphrasierten, Gerüchte aufgriffen oder Textpassagen fehlerhaft wiedergaben. Der »koloniale Blick« war zugleich auch immer introspektiv. Die Debatten verraten somit mitunter mehr über die japanische Selbstwahrnehmung als über Korea.83
Zudem spiegelte die Darstellung der Koreaner nicht nur den »kolonialen Blick« der japanischen behördlichen Akten und die Beschreibung der Spitzel wider. Vielmehr konnte auch – mitunter in dem Bestreben, die Repräsentation durch die Herrschenden zu konterkarieren – durch die Eigendarstellung der Koreaner (bewusst) gefärbt sein. Dieser Prozess war jedoch nicht einseitig ausgerichtet: Auch die Kolonisierten machten sich ein Abbild von den Kolonisierenden, das bisweilen nicht minder verzerrt und von Missverständnissen geprägt sein konnte. Wie unter anderem Mary Louise Pratt in ihrer Studie zur Konstruktion der außereuropäischen und kolonialen Welt in der Reiseliteratur gezeigt hat, waren sich die Einheimischen bewusst, wie sie mit Dolmetschen, Übersetzungsarbeit und dem Weitergeben von Informationen zu Geschichte und Kultur ihr eigenes Abbild mitgestalten konnten.84 Auch die koreanischen Studierenden waren der polizeilichen Überwachung stets gewahr und wählten ihre Worte daher selbst dann mit Bedacht, wenn sie in ihren eigenen Zeitschriften publizierten. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erlangen die Beiträge der koreanischen Studierenden in japanischen Zeitungen besondere Signifikanz, weil diese als einige der wenigen unabhängigen und ungefilterten Stimmen gelten können.
Der zeitliche Rahmen dieser Studie erstreckt sich von der frühen Meiji-Zeit (1868-1912) bis zum Ende der Taishō-Zeit (1912-1926) Mitte der 1920er-Jahre. Der Untersuchungszeitraum fällt damit im Großen und Ganzen mit der frühen Meiji- und der Taishō-Zeit in Japan zusammen, während der die Konsolidierung des jungen Nationalstaates und der Aufstieg Japans zu einer imperialen Großmacht erfolgten. In Japan war insbesondere die Taishō-Zeit von einem epochenspezifischen liberalen politischen Klima charakterisiert.85 Aus koreanischer Perspektive überschnitten sich diese viereinhalb Jahrzehnte mit einer krisenreichen Transformationszeit, die Aufstände, Krieg, Kolonisierungserfahrung und einschneidende gesellschaftliche Veränderungen mit sich brachten. Die äußere Krise, die durch die Begegnung mit den euro-amerikanischen Mächten und Japan und der daraus resultierenden Neuordnung Ostasiens im Zuge der Globalisierung hervorgerufen wurde, mündete im August 1910 schließlich in die Annexion Koreas durch Japan.
Die anschließende Dekade war geprägt von der repressiven Militärherrschaft (japan. budan seiji) unter dem japanischen Generalgouvernement, in der die Unabhängigkeitsbewegung von 1919 den unumstrittenen Höhepunkt des koreanischen Widerstands darstellte, in dessen Folge sich mit dem Übergang von der Militärherrschaft zur zivilen Kolonialherrschaft (japan. bunka seiji) auch die Konsolidierung der japanischen Kolonialherrschaft in Korea vollzog. Mit Blick auf die Geschichte der koreanischen Studierenden in Japan zog das Abebben der Unabhängigkeitsbewegung und eine Aufspaltung der nationalen Befreiungsbewegung in verschiedene Lager nach sich. Insofern markiert die Mitte 1920er-Jahre einen Wendepunkt in der Geschichte der koreanischen Studierendenbewegung in Japan und somit das Ende des Untersuchungszeitraums. Hinzukam ein zeitweise merklicher Rückgang der koreanischen Studierendenzahlen im Zusammenhang mit dem Massaker an der koreanischen Minderheit in Japan im unmittelbaren Anschluss an das große Kantō-Erdbeben im September 1923. Der Übergang zur Shōwa-Zeit (1926-1989) kündigte zudem das bevorstehende Ende der gesellschaftlich und politisch vergleichsweise liberalen Atmosphäre sowohl in Japan selbst als auch in Kolonien wie Korea ein.
Das Buch gliedert sich in fünf analytische Kapitel, die grob einem chronologischen Ablauf folgen, sich aber freilich auch zeitlich wie thematisch überschneiden können. Das ergibt sich aus den mitunter notwendigen Perspektivwechseln zwischen den einzelnen Kapiteln, die dazu dienen, sowohl die koreanische als auch die japanische Sichtweise ausführlich zu untersuchen. Die Untersuchung beginnt mit der frühen, aber prägenden Begegnung zwischen Vertretern der koreanischen Reformpartei und japanischen Liberalen im Umfeld von Fukuzawa Yukichi in Tōkyō zwischen 1880 und 1900. Im Zuge der koreanischen Aufklärungsbewegung kamen zwischen 1881 und 1884 sowie nach 1895 große Gruppen von Studierenden nach Japan, um dort modernes Wissen zu erlernen. Die entstehende Kontaktzone Tōkyō diente den koreanischen Studierenden in diesem Zusammenhang als ein wichtiges Tor zur Außenwelt, die nicht nur wesentliche Impulse für die Aufklärungsbewegung in Korea lieferte, sondern auch die Begegnung zwischen japanischen und koreanischen Protestanten ermöglichte und ein beiderseitiges Interesse entstehen ließ. Hier wurde bereits die Ambivalenz im japanisch-koreanischen Verhältnis sichtbar, die sich auch im Hinblick auf die spätere Entwicklung und Interaktion als einflussreich erweisen sollte.
Daran anknüpfend diskutiert das zweite Kapitel am Beispiel der Debatten über die Koreamission, wie die religiöse Führerschaft der japanischen Protestanten die »koreanische Frage« nutzten, um sich einerseits als loyal gegenüber dem japanischen Nationalstaat zu profilieren. Andererseits entstand durch die Konstruktion des eigenen Exzeptionalismus im Sinne eines ostasiatisch geprägten Protestantismus auch ein zivilisatorisches Sendungsbewusstsein in Teilen des japanischen Protestantismus, das sich in der Bildungs- und Missionsarbeit in Korea niederschlug. Im Laufe dieser Debatten kristallisierten sich auch der entgegengesetzte Standpunkt heraus, den die Koreamission der Kongregationskirche nutzte, um öffentlich Kritik an der japanischen Politik in Korea und gegenüber den koreanischen Studierenden zu formulieren. Das anschließende Kapitel nimmt einen Perspektivwechsel vor und untersucht die transnationalen Verflechtung der nationalen koreanischen Unabhängigkeitsbewegung, indem es den Fokus auf die koreanischen Studierenden in Japan und ihre Interaktion mit den Proponenten des Taishō-Liberalismus und anderen asiatischen Aktivisten legt. Es argumentiert, dass der studentische Unabhängigkeitsaktivismus in Japan eine bedeutende Komponente der transnationalen koreanischen Unabhängigkeitsbewegung war. Bereits die Tatsache, dass die Studierenden in Japan bereits am 8. Februar 1919, also beinahe einen Monat vor dem 1. März, am koreanischen YMCA in Tōkyō die koreanische Unabhängigkeit erklärten, weist auf ihre wesentliche Rolle innerhalb der Bewegung hin. Der koreanische YMCA war nicht nur der zentrale Ort der koreanischen studentischen Unabhängigkeitsbewegung in Japan, in seinem Umfeld fand auch die Interaktion mit den japanischen Protestanten und Studierenden anderer asiatischer Nationen statt.
Das vierte Kapitel widmet sich daher der Untersuchung dieses Kontaktraumes, indem es zunächst die Begegnung zwischen koreanischen Studierenden und japanischen Protestanten erkundet. Sodann analysiert das Kapitel, wie die japanischen Protestanten ihre Interaktion mit den Koreanern rezipierten und auf ihre eigene Positionierung gegenüber der japanischen Kolonialherrschaft in Korea und in anderen Teilen Asien anwendeten. Hier steht vor allem die Neukalibrierung der Kolonialherrschaft Anfang der 1920er-Jahre im Mittelpunkt, welche von einer intensiven Debatte in Japan begleitet wurde, zu deren Fixpunkten der koreanische YMCA und die Studierenden gehörten. Im fünften Kapitel steht schließlich die Zeitschrift Ajia kōron im Mittelpunkt, die von koreanischen Aktivisten verlegt wurde und ein Forum für koreanische, taiwanische und chinesische Autoren und ihre Kritik am japanischen Imperialismus ebenso wie für ihre Konzeptionen einer alternativen internationalen Ordnung in Asien bot. Auch viele japanische Protestanten und Intellektuelle wie Professoren oder Parlamentsabgeordnete lieferten regelmäßig Beiträge für die Zeitschrift, so dass hier die »koreanische Frage« und andere Fragen die regionale Ordnung betreffend gemeinsam verhandelt werden konnten.
Im Frühjahr 1881 schilderte der bekannte Wegbereiter der japanischen Aufklärung (bunmei kaika) Fukuzawa Yukichi den Eindruck von seiner ersten Begegnung mit den koreanischen Austauschstudenten Yu Kilchun und Yu Chŏngsu mit den folgenden Zeilen:
Anfang dieses Monats kamen mehrere Koreaner nach Japan, um die hiesigen Verhältnisse zu inspizieren, und zwei von ihnen im besten Mannesalter schrieben sich an unserer Schule ein. Ich nahm die beiden zunächst in meinem Hause auf, um sie behutsam anzuleiten. Wahrlich, wenn ich an mein eigenes Ich vor mehr als zwanzig Jahren denke, komme ich nicht umhin, mit ihnen zu fühlen. Es ist das erste Mal, dass Koreaner im Ausland studieren, und auch das erste Mal, dass unsere Schule Ausländer zugelassen hat. Das muss man einen unerwarteten Zufall nennen.86
Die beiden jungen Koreaner waren kurz zuvor im Gefolge einer offiziellen Regierungsmission (kor. chosa sich’aldan) nach Japan gekommen, um die Grundlagen der japanischen Modernisierung und Selbststärkung zu studieren. Das Ereignis markierte somit den Auftakt der koreanischen Auslandsstudien in Japan. Zugleich wird erkennbar, dass sich nicht nur den Koreanern neue Möglichkeiten der Wissensaneignung eröffneten. Fukuzawas oben zitierter Brief an seine in London weilenden Freunde dokumentiert vielmehr, dass die Begegnung mit den Koreanern auch für die beteiligten Japaner eine außergewöhnliche Begebenheit darstellte.
Die Begegnung der koreanischen Reformbewegung (kor. kaehwap'a) mit den Proponenten der japanischen Aufklärung bildet den Mittelpunkt dieses Kapitels, in deren erweitertem Umfeld einzelne koreanische Studierende auch erstmals Zugang zu protestantischen Kreisen und zu panasiatischen Vereinigungen erhielten. Das frühe Studium der koreanischen Reformer in Japan in den 1880er- und 1890er-Jahren steht also an der Schnittstelle dreier Themenkomplexe, die für dieses Buch zentral sind: Liberalismus, Protestantismus und die Neuverhandlung der japanischen Positionierung innerhalb Asiens. Auf der Suche nach Antworten auf neue Herausforderungen einer sich schnell verändernden und zunehmend global verflochtenen Welt wandte sich der Blick koreanischer Reformer zunächst dem Nachbarland Japan zu, das nach einer turbulenten Konsolidierungsphase mit teils gewaltsamen Aufständen im Zuge der Meiji-Erneuerung ein stabiles Erfolgsmodell für die Modernisierung in Asien zu bieten schien.87 Dem Austauschstudium und den daraus resultierenden Begegnungen japanischer und koreanischer Akteure kam dabei im Hinblick auf die weitere innere Entwicklung Koreas eine große Bedeutung zu. Denn die ehemaligen Austauschstudierenden übernahmen nach ihrer Rückkehr zentrale Rollen in einem gescheiterten Umsturzversuch und erneut ein Jahrzehnt später während der Kabo-Reformen. Auch über diese Episoden hinaus blieben sie einflussreiche politische und religiöse Akteure. In Japan verlieh die Begegnung mit den koreanischen Austauschstudierenden dem Asiendiskurs neue Impulse: Während die allgemeine Perzeption Koreas in der japanischen Öffentlichkeit zunehmend negativ geprägt war, lässt sich anhand der individuellen Interaktion mit den Austauschstudierenden ein differenzierteres Bild zeichnen. Mit den in Japan ausgebildeten Studierenden verband sich in den frühen 1880er-Jahren die Hoffnung auf erfolgreiche Reformen in Korea und dessen Herauslösung aus dem chinesischen Einflussbereich im Sinne einer engeren Bindung an Japan. So nahm die »koreanische Frage« bereits kurz nach der Meiji-Erneuerung eine zentrale Position im außenpolitischen Diskurs Japans ein.
Die Interaktion der ersten koreanischen Austauschstudierenden mit den japanischen Liberalen und Protestanten muss im Kontext einer weltweiten und global denkenden Aufklärungsbewegung gesehen werden. Die allgegenwärtigen Versuche, mit den neuen Herausforderungen zunehmender Globalität zurechtzukommen, kristallisierten sich in dem in Japan, Korea und China populären Schlagwort von »Zivilisation und Aufklärung« (japan. bunmei kaika; kor. munmyŭng kaehwa). Wie Sebastian Conrad festgestellt hat, umfasste der Begriff der Aufklärung immer auch eine Positionierung in der Welt, wie sie in Fukuzawa Yukichis bekanntem Dreiklang von »Barbarei« (yaban), »Halbaufklärung« (hankai) und »Zivilisation« (bunmei) deutlich zu Tage trat.88 In vielen Gesellschaften jener Epoche herrschte zudem die Ansicht vor, dass die Aufklärung keineswegs ein spezifisch europäischer, sondern vielmehr ein universeller Standard sei. Die westlichen Nationen mochten Ende des 19. Jahrhunderts überlegen erscheinen, aber dies galt mitnichten als eine unabänderliche Naturgegebenheit.89 So kommentierte etwa die koreanische Zeitung Hwangsŏng sinmun im Jahr 1899, dass »Europa, das in puncto Aufklärung hinter uns zurückgeblieben war«, Korea nunmehr voraus sei.90 Eine grundlegende Voraussetzung für den Erfolg der Aufklärungsbewegung stellte die Verbreitung modernen Wissens dar, welches zumindest auf dem Papier über die Modernisierung und Expansion des Bildungssystems und nicht zuletzt über ein Studium im Ausland vermittelt wurde.91
Die wachsende Vernetzung zwischen Meiji-Japan und Chosŏn-Korea war um die Jahrhundertwende indes von zunehmend asymmetrischen Machtverhältnissen gekennzeichnet. Korea fand sich Ende des 19. Jahrhunderts im Zentrum imperialer Machtpolitik in Ostasien wieder.92 Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, Korea im Kontext der gemeinsamen Geschichte allein auf die Rolle eines Spielballs Japans und anderer fremder Mächte zu reduzieren. Vielmehr waren das Land, seine politischen Führer und auch die Bevölkerung mit ihrer eigenen Handlungs- und Gestaltungsmacht ausgestattet. Diese zeigte sich beispielsweise in der Geschichte der koreanischen Reformbewegung der 1880er und 1890er-Jahre, deren Vertreter zwar gute Beziehungen nach Japan und in andere Länder pflegten, dabei aber stets im Sinne ihrer eigenen Vorstellungen von der Zukunft eines unabhängigen Koreas agierten. Selbst in Phasen der intensivierten Einflussnahme war Japan zwar ein wichtiger, aber bei weitem nicht der einzige Referenzpunkt für die koreanischen Reformer. Oft war Japan, vor allem aber die Hauptstadt Tōkyō, sogar nur ein erster Anlaufpunkt für weitere Begegnungen etwa mit japanischen und westlichen Protestanten oder chinesischen Diplomaten und in einigen individuellen Fällen auch für weitere Auslandsstudien. So konstituierte die japanische Hauptstadt eine Kontaktzone, die stets alternative Routen der Wissensvermittlung und des Zugangs zu den Narrativen über »Zivilisation und Aufklärung« bereitstellte.93
Die Phasen japanischer Dominanz in Korea spiegelten sich in den deutlich schwankenden Zahlen der Studierenden wider, die an Austauschprogrammen mit Japan teilnahmen. In diesem Zusammenhang hat der japanische Bildungshistoriker Abe Hiroshi drei »Spitzen« (pīku) des koreanischen Austauschstudiums in Japan identifiziert: Erste Gruppen von (ausschließlich männlichen) Studenten besuchten Tōkyō zum weiterbildenden Studium in den Jahren zwischen 1881 und 1884. Diese Begegnung vollzog sich vor allem im erweiterten Umfeld Fukuzawas und anderer Vertreter der japanischen Aufklärung und des Protestantismus. Nach einer etwa zehnjährigen Unterbrechung erfolgte die Wiederaufnahme (halb)staatlich geförderter Studienprogramme in der Phase der Kabo-Reformen ab 1894. War nach 1896 zunächst eine abnehmende Tendenz der vom Staat entsandten Studierenden zu verzeichnen, markierte die Zeit des Russisch-Japanischen Krieges 1904 das dritte und letzte Maximum staatlicher Programme.94 Die Popularität des aufklärerischen Independence Clubs in Korea ließ im gleichen Zeitraum jedoch auch die Attraktivität des Studiums von Koreanern in Japan steigen, so dass die Zahl der privat finanzierten koreanischen Studierenden zwischen 1896 und 1919 kontinuierlich anstieg. Die folgenden Abschnitte konzentrieren sich auf die beiden frühen »Spitzen« des koreanischen Auslandsstudiums in Japan am Ende des 19. Jahrhunderts.
Das Aufkommen von Auslandsstudien in Japan und Korea vollzog sich vor dem Hintergrund epochaler Umwälzungen und weitreichender Modernisierungsbemühungen. Die bisweilen gewaltsam verlaufende Begegnung mit den euro-amerikanischen Mächten verstärkte die seit der Jahrhundertmitte schwelenden inneren Krisen der ostasiatischen Gesellschaften und stellte diese zusätzlich vor existenzielle Herausforderungen. Dies zog in Japan und zeitversetzt auch in Korea dramatische und tiefgreifende Veränderungen in den Bereichen von Politik, Kultur, Religion und Gesellschaft nach sich, die nicht immer widerstandslos hingenommen wurden. Gewaltsame Revolten und Kriege waren die Folge. Die Erosion der bestehenden regionalen Ordnung in Ostasien trug ferner dazu bei, dass die traditionellen diplomatischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Japan, Korea und China nach den Regeln des westlichen Völkerrechts grundlegend neugestaltet wurden. Obwohl die Antworten auf die doppelte Krise in den einzelnen Ländern Ostasiens durchaus unterschiedlich ausfielen, blieb ihre Geschichte dennoch eng miteinander verflochten. Denn die koreanische Chosŏn-Dynastie sah sich nicht nur mit der Notwendigkeit konfrontiert, die strikte Reglementierung seiner auswärtigen Beziehungen gemäß dem sinozentrischen Weltsystem aufzugeben und sich innerhalb einer zunehmend von Japan dominierten regionalen Ordnung immer wieder neu zu positionieren, sondern hatte auch mit folgenreichen inneren Verwerfungen zu kämpfen, zumal der Aufstieg Japans zum regionalen Hegemon zu beachtlichen Teilen auf Kosten Koreas erfolgte und 1910 schließlich in der Annexion kulminierte.
Die Jahrzehnte vor der Wende zum 20. Jahrhundert waren also für Korea ebenso wie für Japan fundamental prägend. Allerdings erfuhr Chosŏn-Korea im Laufe dieser Umbruchphase eine viel stärkere Einmischung von außen als Japan, wo man sich im Rahmen der rangaku (Hollandkunde) seit etwa 1800 sehr viel intensiver und systematischer als in Korea mit den Vorgängen in der Außenwelt und den imperialen Aktivitäten der euro-amerikanischen Mächte beschäftigt hatte, so dass man mit der Neukalibrierung der inneren staatlichen Verfasstheit und der auswärtigen Beziehungen bereits einige Jahrzehnte vorher begonnen hatte. Diese Entwicklung fand früh Ausdruck in mehreren diplomatischen Missionen in die USA und die Länder Europas, die stets mit Studienzwecken verbunden waren. So erkannte bereits das kriselnde Tokugawa-bakufu die Bedeutung längerer Studienaufenthalte im Ausland für die Wissensakquirierung insbesondere im wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Bereich und entsandte ab 1862 ausgewählte Studierende nach Europa.95 Auch der eingangs zitierte Fukuzawa Yukichi reiste als Mitglied der ersten japanischen Gesandtschaften im Jahr 1860 in die Vereinigten Staaten und anschließend nach Europa, woraufhin er die mehrbändige Studie über »Die Verhältnisse im Westen« (Seiyō jijō) verfasste. Das bekannteste Beispiel für eine solche Reise zu Studienzwecken ist die japanische Iwakura-Mission, die zwischen 1871 und 1873 fast zwei Jahre lang Europa und Nordamerika bereiste, um sich mit den Grundlagen der westlichen Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Technologie vertraut zu machen und diese Erkenntnisse auf die angestrebte Selbststärkung Japans anzuwenden. Obgleich das eigentliche Hauptziel der Iwakura-Mission, die Revision der »ungleichen Verträge«, nicht erreicht werden konnte, gelten die Reise und der minutiös protokollierte Abschlussbericht als wichtiger Ausgangspunkt für die anschließende erfolgreiche Industrialisierung und Modernisierung Japans nach westlichem Vorbild.96 Die Begegnung mit dem Westen war dabei stets reziprok: Der »Entdeckung« Asiens durch den Westen, stand die »Entdeckung« Europas und Amerikas durch die Länder Ostasiens gegenüber.
Die forcierte Einbeziehung der Länder Ostasiens in ein von Europa und den Vereinigten Staaten dominiertes Welthandelssystem und die konstante Gefahr der Kolonisierung löste in Japan den als Meiji-Erneuerung bekannten Transformationsprozess aus, der 1868 zum gewaltsamen Sturz des Tokugawa-bakufu und damit zum Ende des Feudalismus führte. In der Folge bestand aus Sicht der neuen Meiji-Regierung die Notwendigkeit, nicht nur die diplomatischen Beziehungen zu den europäischen Staaten, sondern auch Japans traditionelle Außenbeziehungen zu seinen ostasiatischen Nachbarländern auf eine neue Grundlage zu stellen.97 Der koreanische Chosŏn-Hof reagierte jedoch zunächst anders als die japanische Meiji-Regierung auf die neue Bedrohung von außen: Die Erfahrung Chinas während der beiden Opiumkriege vor Augen, stemmte sich Korea unter der Regentschaft von Hŭngsŏn taewŏn'gun (Taewŏn'gun), dem »Königsvater« des noch minderjährigen Thronfolgers Kojong, vehement gegen Versuche, mittels Kanonenbootdiplomatie die Aufnahme von Handelsbeziehungen zu erzwingen. Zwischen 1866 und 1871 kam es mehrfach zu bewaffneten Zusammenstößen mit einzelnen französischen und US-amerikanischen Kriegsschiffen, die in die koreanischen Küstengewässer vorgedrungen waren. Die durchaus erfolgreiche militärische Abwehr dieser vereinzelten Vorstöße bestärkte den Taewŏn'gun und seine konservativen Berater in ihrer isolationistischen Politik. Gleichzeitig erfolgten 1866 brutale Katholikenverfolgungen, denen circa 8000 koreanische Gläubige sowie eine Handvoll französischer Priester zum Opfer fielen.98 Aus der Sicht der adligen yangban-Beamtenklasse stand das erstmals im 18. Jahrhundert aus China importierte katholische Christentum (kor. sŏhak, »westliche Studien«) im Widerspruch zu den fundamentalen Prinzipien der neokonfuzianischen Staatsdoktrin und stellte somit eine systemgefährdende Häresie dar, die die zentrale Stellung der chinesischen Kultur bedrohte und die es folglich zu bekämpfen galt.99
Auch dem unilateralen Versuch Japans, im Zuge der Meiji-Erneuerung die traditionellen diplomatischen Gepflogenheiten innerhalb der sinozentrischen Weltordnung im Sinne euro-amerikanischer Maßstäbe neu zu definieren, stellte sich Chosŏn-Korea entgegen. Bis zu jenem Zeitpunkt waren die bilateralen Beziehungen zwischen Chosŏn-Korea und Tokugawa-Japan nach den Vorgaben der sinozentrischen Weltordnung streng geregelt.100 Basierend auf einem komplexen, strikt reglementierten Beziehungssystem definierte diese über die reine Tributpflicht gegenüber China und ein restriktives Zeremoniell hinaus Handelstätigkeit und Informationsaustausch zwischen den teilnehmenden Ländern. Im Falle Koreas besaß dies zeitweise auch eine militärische Komponente.101 Unter der »zeremoniellen Suzeränität« Chinas genossen die tributpflichtigen Länder sowohl in internen als auch in externen Belangen nahezu vollständige Autonomie und die Möglichkeit, mit dritten Ländern diplomatische Beziehungen zu unterhalten, solange diese nicht die Tributpflicht gegenüber China beeinträchtigten. Zwar bestanden abgesehen von sporadischen zeremoniellen Diplomatenbesuchen (kor. t'ongsinsa) in Edo keine direkten bilateralen Beziehungen zwischen dem Tokugawa-bakufu und dem Chosŏn-Hof. Jedoch unterhielten beide jahrhundertelang über die zwischen Kyūshū und Korea gelegene Insel Tsushima indirekte diplomatische und Handelsbeziehungen ohne maßgebliche chinesische Einmischung. Der auf der Insel ansässige Sō-Clan war mit der Wahrnehmung der diplomatischen Beziehungen zu Korea während der Edo-Zeit beauftragt und zugleich den koreanischen Königen und dem Tokugawa-bakufu gegenüber tributpflichtig. Tsushima besaß außerdem das Monopol für den Handel mit Korea über die Japanische Faktorei (kor. waegwan; japan. wakan) in Tongnae im heutigen Pusan.102 Das fein austarierte diplomatische Protokoll basierte also auf der Vermittlung durch Tsushima und garantierte eine zwar begrenzte, aber friedliche und stabile nachbarschaftliche Interaktion zwischen Korea und Japan.
Der Vorstoß der japanischen Regierung von 1869, fortan auf die Vermittlung Tsushimas zu verzichten und direkte diplomatische Beziehungen aufzunehmen, stellte daher eine fundamentale ideologische und institutionelle Herausforderung für die traditionelle ostasiatische Weltordnung dar und veranlasste den koreanischen Hof zu einer brüsken Zurückweisung. Das japanische Schreiben versah den japanischen Tennō überdies mit dem chinesischen Schriftzeichen für »Kaiser« (kō), das ausschließlich für den chinesischen Kaiser reserviert war. Aus koreanischer Sicht handelte es sich somit um den unzulässigen Versuch der Japaner, sich auf eine Stufe mit dem chinesischen Kaiser zu stellen und damit einen Korea übergeordneten Rang einzunehmen.103 Im japanischen Großen Staatsrat verursachte dieser »Affront« gleichfalls eine heftige Debatte über eine militärische Strafexpedition gegen Korea (japan. seikanron), welche mitunter Erinnerungen an die brutalen Hideyoshi-Invasionen während des Nordostasiatischen Krieges 1592-98 wachrief. Teile der neuen Meiji-Regierung erkannten in einer »Bestrafung Koreas« ein geeignetes Ventil, um unter Ausnutzung einer äußeren Krise die anhaltenden inneren Spannungen und Unzufriedenheiten zu kanalisieren, die durch die Meiji-Erneuerung hervorgerufen worden waren. Paradoxerweise führte der interne Streit 1873 beinahe zum Auseinanderbrechen der Meiji-Koalition, nachdem führende Mitglieder aus der noch jungen Regierung ausschieden und wie Saigō Takamori nur kurze Zeit später mitunter gewaltsam gegen das neue Staatswesen rebellierten. Obgleich man vorerst von einer militärischen Intervention in Korea Abstand nahm, kennzeichneten die Hauptargumente der Befürworter fortan den Diskurs über die »koreanische Frage« in Japan: Die Kontrolle Koreas galt demnach als unabdingbare Voraussetzung für die Sicherheit Japans und berührte deshalb auch die innere Verfasstheit des Landes.104 In den ersten Jahrzehnten der Meiji-Zeit waren die Ambitionen japanischer Politiker, das Prestige ihres Landes im Kreise der internationalen Gemeinschaft wiederherzustellen, ein weiterer treibender Faktor im Diskurs über den politischen Umgang mit Korea.105 Die zentrale Stellung der »koreanischen Frage« im japanischen Diskurs zeichnete sich also bereits zu einem frühen Zeitpunkt ab, als sich Japan nach der Meiji-Erneuerung selbst noch in einer Umbruchs- und Konsolidierungsphase befand.
In Korea führte die diplomatische Krise mit Japan im Dezember 1874 indirekt die Entmachtung des Taewŏn'gun herbei, nachdem Kojong auf Betreiben seiner Gattin selbst die Regierungsgeschäfte als König übernommen hatte. Der erzwungene Rückzug des kommissarisch regierenden Taewŏn'gun und das Ende der von diesem verantworteten strengen Isolationspolitik können somit auch als Folge des Zusammenstoßes mit Japan und den euro-amerikanischen Mächten gelesen werden. Unter Ausnutzung des Machtwechsels und der resultierenden innenpolitischen Wirren in Korea erzwang Japan den Abschluss eines Freundschafts- und Handelsvertrags, indem es klassische Kanonenbootdiplomatie gegenüber Korea anwandte.106 Die einseitigen Bestimmungen des Vertrags von Kanghwa waren nach dem Schema der »ungleichen Verträge« modelliert, wie sie Japan selbst nur wenige Jahre zuvor mit den euro-amerikanischen Mächten hatte abschließen müssen. Der Vertrag garantierte Japan in Korea spezielle Vorrechte wie die Zollfreiheit, Extraterritorialität und die Öffnung von Vertragshäfen und läutete die wirtschaftliche Durchdringung Koreas durch Japan ein.107 Die Episode bezeugt die Geschwindigkeit, mit der sich Japan an die Erfordernisse einer imperial verfassten internationalen Ordnung anzupassen verstand. Indessen unterzeichnete der koreanische Königshof die Übereinkunft mit Japan auch gegen innere Widerstände, um eine drohende japanische Invasion abzuwenden, unterschätzte dabei jedoch die weitreichenden Implikationen eines solchen Handelsabkommens. Gleichwohl stellte der Vertrag von Kanghwa den ersten internationalen Vertrag Koreas im modernen Sinne dar und bedeutete für Korea somit Krise und Chance zugleich; einerseits bot sich die Gelegenheit, den Status quo zu überwinden und Reformen der rigiden sozialen und politischen Ordnung einzuleiten. Andererseits gefährdete der zunehmende Druck von außen die Unabhängigkeit Koreas, das sich mit einer ähnlich schweren wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise konfrontiert sah wie das Tokugawa-bakufu in der Spätphase.
Der Vertrag von Kanghwa schuf außerdem eine Grundlage für den verstärkten kulturellen und gesellschaftlichen Austausch zwischen den beiden Ländern. In den Jahren 1876 und 1880 besuchte jeweils eine koreanische Gesandtschaft Japan.108 Während der erste koreanische Sondergesandte in Japan Kim Kisu 1876 noch ein mehrheitlich negatives Bild von den Reformen in Japan zeichnete, brachte Kim Hongjip von seinem offiziellen Japanbesuch im Jahr 1880 zwei Traktate chinesischer Intellektueller mit, die die Notwendigkeit von Reformen nach westlichem Vorbild in China ebenso wie in Korea betonten.109 Kims Gruppe hatte zuvor 70 Tage lang diverse Einrichtungen des Militärs, der Bildung, der Industrie und der Finanzen in Japan besichtigt.110 Kim selbst zeigte sich so beeindruckt von den Reformen und der erfolgreichen Selbststärkung Japans gemäß der Parole »Reiches Land, starke Armee« (fukoku kyōhei), dass er für ähnliche Modernisierungsmaßnahmen der koreanischen Institutionen und die Einführung westlicher Technologie eintrat. Kims Berichte, für deren Verbreitung unter den yangban-Offiziellen im Land König Kojong sorgte, überzeugten zunächst auch eine größere Anzahl von Amtsträgern, sich einer Politik im Sinne der Modernisierung und Aufklärung zu verschreiben. Um den veränderten Anforderungen der neuen Zeit zu begegnen, wurde im Jahr 1880 auf Initiative Kojongs das Amt für die Verwaltung von Staatsangelegenheiten (T'ongnigimu amun