Jetzt sind wir echt (Jetzt-Trilogie, Band 1) - Gabriella Santos de Lima - E-Book
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Jetzt sind wir echt (Jetzt-Trilogie, Band 1) E-Book

Gabriella Santos de Lima

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Beschreibung

"Vielleicht musste Liebe nicht brandneu und besonders sein. Vielleicht musste sie einfach nur echt sein." Berlin. Zwei Jahre zuvor: Bei einem Schreibworkshop lernt Lucy Gregor kennen, der sich mit jedem seiner Worte in ihr Herz schreibt. Bis sie nach dem Sommer kein einziges Wort mehr von ihm hört. Köln. Jetzt: Plötzlich steht Gregor wieder vor ihr. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass er für seinen Master nach Köln gezogen ist, muss Lucy sich ausgerechnet mit ihm die Moderation des Hochschulpodcasts teilen. Mit ihm und seinen Worten voller Erinnerungen, mit Herzklopfen und Bauchkribbeln. Und dazwischen die eine große Frage: Wieso ist Gregor wirklich zurückgekommen? "Willst du, dass ich nur deswegen bleibe?" Eigentlich vermied ich diese Art von Fragen, weil ich doch zwanzig war in dieser gleichgültigen Welt. Wir alle wollten Antworten, ohne Fragen zu riskieren. Das war unser Ding, um so wenig wie möglich von uns selbst preiszugeben. Aber jetzt hatte ich es ausgesprochen. Und bereute es nicht. Ich ruderte nicht zurück. Und Gregor auch nicht. "Ganz ehrlich, Lucy?", sagte er. "Ich will, dass du bleibst, weil ich verfickt noch mal nichts mit dir vergessen möchte." Die Jetzt-Trilogie von Gabriella Santos de Lima Auf ihre unvergleichliche Weise schreibt SPIEGEL-Bestsellerautorin Gabriella Santos de Lima im Auftakt ihrer neuen New Adult-Trilogie über toxische (Nicht-)Beziehungen, Leistungsdruck und darüber, wie wichtig offene Kommunikation ist – ob in einem Podcast oder in der Liebe. Gabriella Santos de Lima fängt die Lebenswelt junger Erwachsener in Zeiten von TikTok und Co. ein und erzählt eine wunderbare Liebesgeschichte über Liebe auf den zweiten Blick.

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Inhalt

Playlist

Radio fm4-Plakat

PrologGregor & ich

I – auftauchen

LucyGregor – eine Person, die gern ertrinktDamals

LucySry – ein KlassikerJetzt

LucyBlaue Herznarben – der Grund dafür, gemeinsame Seenächte lieber zu vermeiden

LucyHahahaha – Nachrichten, die ich nie lustig meine

LucyVertigo – 1. Fachsprache: Schwindel 2. die Bedeutung in Vertigo von Edwin Rosen: die fatale Folge des Verliebtseins

LucyDie guten alten Zeiten – nichts, das Gregor und mich beschreibt

II – umkippen

LucyGlassplitterklar – nichts, das Gregor jemals beschreiben könnteDamals

GregorPanikherz – eine Mutation unseres lebenswichtigsten Organs, nicht zu empfehlenJetzt

LucyEine gute Siegerin – ebenfalls eine gute Übertreiberin

GregorEigentorlügen – Lügen, die dir am meisten wehtun

LucyEpiphanie – wenn du plötzlich etwas verstehst, was du lange nicht verstanden hast

GregorCampustränen – nIcHt MäNnLicH

LucyUnnahbarkeitslebenGenZ

GregorIsa-Abgang – immer ein bisschen seltsam, immer ein bisschen wie ich

III – untergehen

GregorWieso willst du das? – nichts, das ich aussprechen konnteDamals

GregorKummer – 1. Schmerz 2. KUMMERJetzt

LucyArschlochgeister – Typen, die dich eiskalt ghosten, bis sie es plötzlich wieder nicht mehr tun

GregorRakete – 1. Bier 2. wie mein Herzschlag sich manchmal anfühlt

LucyNein – das Wort, das ich nie richtig gelernt habe

LucyAll Too Well (10 Minute Version) – in meiner Sprache: Ein Meisterwerk in Gregors Sprache: Schadensbegrenzung

III – untergehen(zweiter Versuch)

LucyUnterwasserberührung – Herzpochen bei SchwerelosigkeitDamals

GregorMein Buch – die Ausrede für allesJetzt

LucyAchterbahnbahnfahrt – etwas, von dem mir immer noch übel ist

GregorGrenzgefühle – verursacht durch mich, ebenfalls nicht zu empfehlen

LucyAllesgefühle – etwas, das dich verschluckt (wie Gregor)

IV – branden

Lucy❤wenn ich keine Worte habeDamals

LucyWillst du das? – eine Frage, die man nicht oft genug stellen kannJetzt

LucyMeertränen – weint man am besten an der Nordsee

GregorAlgorithmusentblößt – meine ganze Generation

LucyUniversumsfleck – ein poetischer blauer Fleck

GregorGanz traurige Geschichte – meistens meine eigene

GregorVermissen – nicht fucking tanzbar

LucyDeckenmeer – ein äußerst stürmischer Ozean

LucyWas wäre, wenn? – etwas, was du lieber nicht riskieren solltest

LucyAlexithymia – die Unfähigkeit, seine Gefühle in Worte zu fassen

GregorViertel vor Irgendwas – guter Ohrwurm

LucySpicy Szenen – manchmal auch im realen Leben aufzufinden

LucyKüssen – Findet jemand Synonyme?

V – strömen

GregorFeuillemort – keine Farbe zum AusmalenDamals

GregorDauerschleife – etwas, das ich gern einstellen würdeJetzt

LucyKrümelkönigin – ein Titel, zu dem es keine Krone gibt

LucyJemanden brechen – selbst nicht wieder ganz werden

GregorPuzzlenächte – am besten, wenn dein Puzzle die Farbe von Kaugummi hat

LucyÜberschwemmen – 1. Flut 2. schlafen mit ihm

LucySchreiber – jemand, der Worte nur in Dokumenten mag

GregorBlau – 1. eine Farbe 2. ein Gefühl (Englisch) 3. mein Leben (meine Interpretation)

LucyAll Too Well – wenn dein Herz bricht und bricht und brichtDamals

Lucy01:01 Uhr – eine Uhrzeit voller WahrheitJetzt

GregorNach ihr – kein Epilog

Lucyschon okay – kein Lied, ein Mantra

GregorLetzte Sätze – nichts, das dich leer machen sollte

LucyFür Mama – meine einzige Widmung

GregorDrama-King – ein Mann, der einfach Gefühl hat verfickt noch mal

LucyJahresrückblick – erfordert manchmal neue Traditionen

LucyJemanden aus seinem Leben streichen – etwas, das nur so semi funktioniert

LucyWut – nur eine Ersatzemotion

GregorZu spät – eigentlich nur eine Illusion

LucyKalt, was? – ein Anfang

EpilogGregor & ich 2.0

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für die gesamte Geschichte!

Wir wünschen euch das bestmögliche Leseerlebnis.

Playlist

leichter//kälter – Edwin Rosen

Wenn Blätter fallen – JEREMIAS

The Falling – Fil Bo Riva

you broke me first – Tate McRae

Vertigo – Edwin Rosen

Clean – Taylor Swift

First Love Never Die – Soko

Male Fantasy – Billie Eilish

Alles leuchtet ein – Betterov

Grund – Miese Mau

Nicht die Musik – KUMMER

All Too Well (10Minute Version) – Taylor Swift

I’ll Call You Mine – girl in red

Things That I Miss – awfultune, Sandosius

my tears ricochet – Taylor Swift

mood ring baby – Field Medic

Is There Somewhere – Halsey

Dynamit – Betterov

DER LETZTE SONG (ALLES WIRD GUT) – KUMMER

this is me trying – Taylor Swift

Bring mich nach Hause – Betterov

Mr.Forgettable – David Kushner

Nacht – Betterov

the 1 – Taylor Swift

schon okay – JEREMIAS

Morning Elvis – Florence + The Machine

Viertel vor Irgendwas – Betterov

ICH

LIEB DICH

EIN BISSCHEN

NUR MEINE

SEELE

IST VIEL ZU

Prolog

GREGOR & ICH

Als ich ihm zum ersten Mal begegnete, rettete ich ihn.

Ich weiß, es klingt dramatisch, aber es stimmt, Gregor hat es indirekt bestätigt. Damals, als ich achtzehn und naiv war, als ich mich frei wie in den Filmen fühlte, weil ich mein Abi gerade in der Tasche hatte, die Welt verändern wollte und Kompass ohne Norden auf der Autobahn aufdrehte, bis meine Ohren piepten. Als frische Abiturientin malte ich mir das Erwachsensein nämlich wie ein Entspannungsmandala aus, in dem ich die Farben und Motive selbst bestimmen konnte. Simpel erklärt war ich ein völlig durchschnittliches Mädchen, das sich täglich sagte: Bald wird es beginnen, das richtige Leben.

Das mit Gregor passierte in den Monaten dazwischen, in dieser nervigen Übergangsphase. Im Schwebezustand sozusagen, wo alles ganz tranceartig und verschwommen ist. Ein bisschen so, wie betrunken auf dem Lollapalooza zu tanzen, obwohl The Weekend die Bühne längst verlassen hat. Ich wünschte, dieser erste Morgen mit Gregor wäre in meinem Gedächtnis auch so körnig wie eine Festivalerinnerung, aber er ist gestochen scharf. Ich erinnere mich an alles. An jedes Detail, an jeden Riss, an jeden einzelnen Tropfen.

Und Gregor tropfte so verflucht viel.

Lucy

GREGOR

eine Person, die gern ertrinkt

Damals

Der Typ tauchte nicht auf.

Verfluchte Scheiße.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen in der Hoffnung, mehr erkennen zu können, aber an meiner Sicht veränderte sich nichts. Ich beäugte einen bläulich schimmernden See. Nur von diesem Typen, der darin geschwommen war, fehlte jede Spur. Er hatte lose Bahnen mit seinen schmalen Armen gezogen, dann war er untergetaucht. Und seit einer guten halben Minute nicht wieder hochgekommen. Mit leicht zitternden Beinen trat ich dem Ufer näher.

Ab wann sollte man nachsehen, ob eine Person gerade ertrinkt oder doch bloß am Seeboden chillt?

Die Frage hämmerte in meinem Kopf, während ich einen Blick über die Schulter warf. Ich war auf der Suche nach einer Passantin oder einem Jogger. Irgendjemandem, der sich die Verantwortung mit mir teilen könnte. Doch ich fand niemanden.

Es war Mittwochmorgen, nicht einmal acht Uhr. Ich stolperte lediglich durch die Allee, weil ich vor lauter Aufregung nicht hatte schlafen können. Ich wollte kurz frische Luft schnappen, als wäre ich diese Art von geordneter Person.

Haha, klar.

Wieder flackerte mein Blick zum Wasser. Doch nichts signalisierte mir, dass er wieder auftauchen würde. Jetzt nicht und jetzt nicht und jetzt immer noch nicht.

Du übertreibst. Als ob der Typ gerade vor deinen Augen ertrinken würde. Du übertreibst immer, vergiss das nicht.

Es war das Letzte, was ich dachte, bevor ich nichts mehr dachte, weil mein Kopf sich ausklinkte. Das passierte ständig, wenn ich mir eines meiner Horrorszenarien zusammenspann. Darin war ich nämlich Spezialistin. Ganz im Gegensatz dazu, Leute zu retten. Aber better safe than sorry. Oder?

Mein Herz pochte heftig, als ich mir hektisch die Riemchensandalen von den Füßen streifte, in meinem Sommerkleid ins Wasser hechtete und …

S-C-H-E-I-S-S-E.

Das Wasser erwischte mich kalt. Eine Million Nadelstiche bohrten sich unter meine Haut. Keine Ahnung, wie der Typ es hier drin überhaupt so lange ausgehalten hatte. Der, der immer noch unter Wasser war. Wie viel Zeit war inzwischen vergangen? Eine Minute? Eineinhalb? Egal, sagte ich mir. Egal, egal, du musst endlich schwimmen.

Also schwamm ich.

Ich schwamm in meinem Sale-Kleid von Zara durch den See, bis ich diesen Körper unter mir ausmachte. Meergrün und verschwommen saß er auf dem Seegrund, seelenruhig und sehr entspannt, als wäre nichts dabei.

Ich musste ihn nicht antippen und nicht einmal näher paddeln, denn bei Gregor war es so: Die kleinste Veränderung in seiner Umgebung reichte, damit dreitausend Alarmglocken in seinem Kopf ertönten.

Aber davon hatte ich damals noch keine Ahnung. In diesem Moment wusste ich bloß, dass der Typ die Lider aufriss, einen Moment lang zögerte und sich dann endlich, endlich in Richtung Oberfläche regte. Letztere erreichte er mit einem Keuchen. Der Laut verklang jedoch sofort in meinen Ohren, weil meine Zähne vor Kälte klapperten.

Oh Gott, oh Gott, oh Gott.

Es war unfassbar eisig. Mein Körper war so sehr mit Zittern und Nicht-Erfrieren beschäftigt, dass ich den Typ fast vergaß. Bloß für zwei Sekunden. Dann erklang seine Stimme.

»Kalt, was?«

Kalt, was? Das sagten Menschen also zu mir, wenn ich sie vorm Ertrinken bewahren wollte. Bebend wandte ich mich nach links und starrte diesem Idioten ins Gesicht. Dunkle Augen, nachtschwarze Korkenzieherlocken und viel zu blasse Haut. Er zitterte nicht einmal halb so viel wie ich, aber so war er. Immun, Eis, eine Statue, mein kalter, kalter Gregor.

»W…was s…sollte d…das?«

»Wie meinst du?« Er klang ehrlich verwirrt.

»I…ich …«

Krieg dein Stottern in den Griff, Wagner.

So ruhig und gleichmäßig wie möglich atmete ich durch. »Ich dachte, du ertrinkst, Mann!«

»Chill mal, ich habe bloß die Luft angehalten.«

»Bitte?«, erwiderte ich fassungslos. »Ist das etwa dein Ding? Einfach so in einem eiskalten See eine Tauchsession abhalten, oder was?«

Meine Beine strampelten. Ich wollte noch mehr sagen – doch genau dann blickte er mich an. Seine Lippen waren einen Tick zu spröde, beinahe so, als würde er ständig darauf herumbeißen. Wassertropfen perlten von seiner Haut und seinen Wangen, fielen ihm sogar von den kurzen Locken auf die schmalen Schultern.

»Ehrlich gesagt: Jepp, es ist mein Ding. Also keine Sorge, nächstes Mal kannst du dir das mit dem Rettungskommando sparen.« Er sagte es viel zu nüchtern und pragmatisch, wie ein wenig emotionaler Vater. Kurz dachte ich, er würde mir zuzwinkern und ein Lächeln hinterherschieben. Es lustig oder lässig machen. Stattdessen zuckte er bloß mit den Schultern.

Ich schluckte, konnte nichts dafür, dass mein Herz zog, diesmal nicht vor Kälte, sondern seltsamerweise vor Wut aufgrund von so viel Gleichgültigkeit.

»Wir sollten raus hier.« Plötzlich nickte Korkenzieherlocken in Richtung Ufer. »Ist echt kalt.«

Aber, Gregor, mein liebster, liebster Gregor, von da an wurde es doch immer nur kälter, meinst du nicht?

Lucy

SRY

ein Klassiker

Jetzt

ROMEO (REWE)sry lucy

Meine Finger umklammerten das Handy fest, während der Bass fiel. Ringsum waren die meisten voll drin, betrunken, high oder beides, ganz im Beat und im Jetzt, um sich vom Techno treiben zu lassen. Alle außer mir. Denn es war nicht meine Musik, mein Abend, mein Tag, meine Woche und mein Monat. Ich stand bloß wie festgewachsen in Samus Flur und blinzelte meinem Display entgegen.

sry lucy

In meinen Ohren knackte es.

sry lucy – das war nicht einmal ein Tut mir leid, einfach so dahingeschrieben und wenig ernst gemeint. Kein Komma, auf korrekte Groß- und Kleinschreibung geschissen.

Meine Finger umklammerten das Gehäuse fester. Sie zitterten. Ich zitterte.

sry lucy. Gott, wie dekadent und ignorant das war. Genau so, wie es nur Typen konnten, die dich mit ihrem Grübchenlächeln in der Supermarktschlange ansprachen, weil du vor ihnen standest und sie wiederum auf deine Jeans standen. Schließlich waren sie ja Draufgänger mit einer gleichgültigen Ader, die Frauen noch im echten Leben ansprachen. Ihren Bros erzählten sie davon natürlich so stolz, als wäre es eine gewonnene Kriegsgeschichte. Gleich nachdem sie dich hart von hinten gevögelt hatten, während ihr Mitbewohner nebenan ein Pesto aufschraubte. Und danach? Tja, danach schmissen sie dich schamlos raus, weil die Grenzen doch abgesteckt waren. Sie zogen Linien über deinen Slipbund, verharrten dabei allerdings genau auf der Stelle. Immerhin warst du zwar supercute und nett, tatst ihnen unfassbar gut, aber gut und nett und cute reichten nicht. Niemals. Nicht heute, nicht in unserer Generation, in der …

»Na, na, sind wir hier etwa auf einer Handyparty, Lucy-Lu?«

Bei Tillies Lachen zuckte ich zusammen. Hastig wollte ich das iPhone zurück in meine Hosentasche stopfen, doch es war zu spät. Ihr Blick klebte bereits auf dem Display. Zwei, drei Beats lang, bevor sie den Kopf hob. Und mein Herz sich schmerzhaft zusammenzog.

Wir befanden uns auf der legendären Turmparty – ein Kölner Wohnhaus, drei WGs und eine krasse Feier über mehrere Stockwerke hinweg. Es war der erste Freitag nach Semesterbeginn. Der Abend war perfekt, oktoberlauwarm und klar. Der Boden bebte, unsere Kommilitonen vibrierten. Es roch nach Parfum, verschüttetem Wodka-E und letztem Sommer. Alles war vertraut und aufregend zugleich. Blöd nur, dass ich mit zitternden Beinen vor meiner besten Freundin stand und ein bisschen sterben wollte.

»Sag nichts«, murmelte Tillie. »Rewe-Romeo.« Leise sprach sie seinen Namen aus, als dürfte ihn niemand hören. Dabei gehörte er doch bloß zu einem harmlosen Sportjournalismusstudenten, der am liebsten Gemelli-Pasta in seinen Einkaufskorb schmiss.

Trotzdem besaß eine Nachricht von ihm derart viel Macht über mich.

Magensäure kroch mir den Hals hinauf, während ich das Handy erneut entsperrte und es Tillie reichte. Ich beobachtete, wie sie meine letzte Nachricht noch einmal las, obwohl sie einen Screenshot davon auf ihrem Handy hatte.

Hi Romeo, mir fällt es gerade superschwer, dir zu schreiben, aber glaubst du, du könntest mich nicht ghosten und mir stattdessen einfach sagen, dass du das mit unseren Treffen lassen willst?

Als sie aufsah, stachen ihre Knöchel weiß hervor, so fest umklammerte sie das iPhone. Ich machte mich auf eine Hasstirade gefasst, indem ich die Schultern straffte. Tillie war nämlich ENFJ, eine Protagonistin, eine Macherin, extrovertiert und impulsiv und die Beste. Wenn sie einen Raum betrat, wusste man es, ohne aufzuschauen. Sie trug gerade geschnittene Jeans und übergroße Kapuzenpullover, ihre Leggins waren an den Beinen ausgestellt und ihre Docs verbraucht. Ihre alltägliche Rüstung bestand aus tiefrotem Lippenstift und ihrem obligatorischen Jutebeutel, der ein schmieriges Chanel-Logo und darunter das Wort fake zeigte. Auf Instagram betitelten Fremde ihren Style als edgy und Berlin. Ihr Haar war schulterlang und blond, sie liebte Highlighter und fand ihre Nase zu spitz. Wenn sie lächelte, war es immer bloß ein halbes. Außerdem war sie laut, selbst wenn sie schwieg. Jemand mit Präsenz, einer Aura, einer Vision. Sie hatte alles und wollte mehr, so jemand war meine Freundin.

»Es tut mir leid, Lucy«, flüsterte sie.

Und das war verflucht noch mal nicht aufmunternd. Ich wollte Wut, auch wenn sie eine Ersatzemotion darstellte, die stets das darunterliegende Gefühl überdeckte. Doch hier stand meine Freundin, leicht gebräunt in ihrem limettengrünen Crop Top und mit dem traurigsten Lächeln in unserem Universum.

Instinktiv umarmte ich mich selbst. »Ich werde nicht sagen, dass ich okay bin«, begann ich. »Ich …«

»Wagner! Vogt! Ihr. Ich. Trinken. Jetzt!« Keine Ahnung, ob ich weinen oder lachen sollte, als Samu uns mit einer Schachtel Klopfer in der Hand zu sich winkte und damit nach links deutete. »Wir treffen uns in der Küche. Und ja, das ist ein Date. Wenn ihr nicht kommt, geht das direkt in mein verletzliches Schriftstellerherzchen.«

»Lass uns abhauen.« Tillie ignorierte unseren Kommilitonen, der bereits in die Küche verschwand. »Wein, deine Wohnung und endlich gute Musik. Sag einfach Ja, dann schreibe ich Manda, dass sie nach ihrer Schicht gleich zu dir kommen soll. Und ich warne dich: Wenn du behauptest, das würde nicht nach einem besseren Plan klingen als das hier, gibt das schlechtes Karma für deine Lüge.«

Ich schluckte. »Ich kann hier nicht weg.«

»Hä? Bullshit. Klar kannst du. Wir …«

»Ich kann hier nicht weg, weil der Abend sonst damit enden wird, dass ich heulend auf meinem Teppich sitze und unzusammenhängende Sätze von mir gebe, in denen es nicht einmal wirklich um Romeo gehen würde. Selbst wenn ich es ziemlich frustrierend finde, dass er mir auf meine letzte Nachricht eine Woche lang nicht geantwortet hat und jetzt das kam. Aber ich war nie wirklich in ihn verliebt. Klar, manchmal dachte ich, das mit uns könnte mehr werden, wie das halt in guten Momenten so ist. Aber eigentlich, keine Ahnung. Ich bin einfach nur enttäuscht. Weil ich schon wieder darauf reingefallen bin.«

Tillie presste die Lippen aufeinander. Sie wollte diesen Kampf nicht verlieren. Sie wollte das Beste für mich, mir Wein geben, sodass ich weinte, bis ich ausgeweint war. Aber ich hatte die Wahrheit schon gesagt. Ich war so unendlich enttäuscht. Dabei sprach ich lediglich von Dating, Situationships und Ghosting. Alles bloß englische und fremde Begriffe, als könnten sie uns so nicht berühren – was natürlich nur ein Augenverschließen vor der Wahrheit war. Das einzige Problem? Meine Lider waren immer geöffnet. Ich sah alles, wollte alles sehen und nichts verpassen. Ich füllte meine Handynotizen mit interessanten Beobachtungen für Seminare und hatte kein Problem mit dem Alleinsein. Denn ich war nicht einsam, ich war zwanzig, frei und furchtlos. Und trotzdem. Trotzdem schmerzte jedes virtuelle Schweigen. Jedes sry lucy. Jedes unverbindliche Mal Sex, der nie unverbindlich blieb. Schließlich war da immer mehr, weil ich doch so süß und gut und nett war. Aber mehr war nicht alles. Mehr reichte nicht. Nie bei mir, das hatten wir ja schon.

»Morgen«, fügte ich hastig hinzu. »Morgen können wir darüber reden, okay?«

»Verdrängen ist nicht gut.« Tillie schüttelte den Kopf. »Das wollten wir doch lassen.«

»Es ist kein Verdrängen. Es ist ein Aufschieben.«

»Das sind Synonyme.«

»Bist du dir sicher, dass www.synonyme.woxikon.de das auch so sehen würde?«

Ich wackelte mit den Brauen, während Tillie sich seufzend eine Strähne hinters Ohr schob.

»Ehrlich gesagt bin ich alles andere als überzeugt. Aber wenn du unbedingt diese ekelhaften Klopfer in der Sour-Version trinken willst, dann trinken wir sie wohl.«

Nickend atmete ich durch, bevor ich meine Hand zu ihrer wandern ließ. »Danke.« Ich presste meine Handinnenfläche an ihre.

Sie drückte zweimal zurück.

Lucy

BLAUE HERZNARBEN

der Grund dafür, gemeinsame Seenächte lieber zu vermeiden

Wir quetschten uns an wild tanzenden Gästen in Richtung Küche vorbei. Dort saß Samu am Tischende, breitschultrig und lachend. Die engen Ärmel seines weißen Shirts ließen seinen Bizeps noch muskulöser wirken.

»Endlich!« Er winkte uns zu sich heran, bevor er die Box mit den klirrenden Fläschchen öffnete. »Mango für Tillie, Apfel für Lucy.«

Samu schob die Fläschchen über den Tisch. Mit einer seltsamen Präzision landeten sie vor unseren Händen, doch so war er immer. Präzise, lässig auf diese kompetente Weise und den meisten taktisch überlegen. Wir hatten uns auf der Ersti-Kneipentour vor zwei Jahren kennengelernt. Tillie studierte Dramaturgie und Drehbuch, Samu Kreatives Schreiben, ich Journalismus. Alle Schreiber, alle ein bisschen verloren.

»Na dann.« Mit seinem umgekehrten Fläschchen klopfte er gegen den Tisch. »Wir machen das natürlich regelkonform. Deckel auf die Nase, Kopf in den Nacken, auf geht’s.«

»Regelkonform?« Tillie lachte. »Schon ein bisschen strebermäßig.«

»Sagt diejenige mit den zehntausend Stipendien«, konterte er.

»Übertreib nicht, es sind nur drei.«

»Hör mal auf, so bescheiden zu sein. Du bist einfach krass.«

»Samu hat recht«, pflichtete ich ihm bei. »Du bist krass.«

»Anyway.« Hastig hob Tillie ihren Schnaps an. »Trinken wir jetzt, oder was?«

Wir tranken.

Wir tranken zwei Schnäpse hintereinander, sauer und viel zu süß. Auf meiner Zunge schmeckten sie nach Siebzehnsein, Betrunkenwerden und zitternd am Zülpicher Platz mit meinen Freundinnen als sexy Biene Maja verkleidet stehen. Dabei betrank ich mich heute nicht. Fast nüchtern hockte ich in der WG-Küche, während Bassdrops mich berieselten. Samu erzählte von seinem Stundenplan, ich dachte an sry lucy. Tillie nörgelte über BAföG, ich dachte an sry lucy.

»Hier seid ihr also.« Atemlos erreichte Manda unseren Tisch, das Handy leuchtend in der Hand. Sie trug eine Jeans mit hohem Bund, die an beiden Knien durchlöchert war. Der verwaschene Pulli steckte lässig in der Hose und ihr dunkles Haar in einem riesigen Knoten. Geruch von Frittieröl übertünchte ihr eigentliches Parfum Pure Grace, dessen Namen sie hasste.

So ein übertriebenes Pathos, ey.

Eigentlich roch Manda nach Seife und Wasser. Kopfnote Bergamotte, Herznote Seerose. Sie studierte Grafikdesign, war Anti-Schnickschnack, reduzierte Schnitte und moderne Schlichtheit. Ihr Lieblingslied hieß einfach von JEREMIAS. Wenn sie betrunken war, stellte sie es auf Dauerschleife und sang schief mit.

»Alles okay?«, flüsterte sie mir zu.

»Was?« Hastig setzte ich mich auf.

»Ob alles okay ist, Lucy-Lu.« Manda beäugte mich kritisch. »Das habe ich gefragt.«

»Klar«, erwiderte ich sofort. »Wieso sollte es nicht?«

»So ein Gefühl. Ich hab zwar keinen Scannerblick, dafür aber eine Killerintuition, schon vergessen?«

Sie lächelte schief und ich wollte reden, von Romeo und der Enttäuschung erzählen, doch meine Kehle schnürte sich zu.

sry lucy

Ich brachte kein Wort hervor.

»Sollen wir vielleicht ins Bad?«, fragte Manda, weil sie nicht nur ihre Intuition hatte, sondern gleichzeitig meine beste Freundin war.

Ich hätte wieder den Kopf schütteln, Dinge relativieren und meine Gefühle kleinreden können, aber …

»Das wäre vielleicht ganz gut«, murmelte ich.

Und das war das Ding: Bei den richtigen Leuten reichten einfache Sätze mit zittriger Stimme. Den richtigen Leuten musstest du nicht mehrmals schreiben, damit sie dir antworteten, und dich erklären, bis du dich selbst nicht mehr verstandst.

So schlichen wir uns unter What You Know aus der Küche. Dabei umrundeten wir eine blutrote Weinpfütze, die zwei Kommilitonen aus dem Fachbereich Fotografie gerade aufwischten. Vor dem Bad hatten wir Glück. Wir warteten bloß einige Sekunden, bevor es frei wurde und wir eintreten konnten.

Im Innern blinzelte ich. Die weißen Fliesen waren von schwarzen Schuhsohlenabdrücken geziert, an den Wänden waren sie mit willkürlichen Postkarten beklebt. Es roch nach Zitronenreiniger und Kotze. Manda wollte die Tür gerade schließen, als ein limettengrüner Ärmel sich durch den Spalt quetschte. Unvermittelt stellte sich Tillie im Raum auf.

»Was schaut ihr so verwirrt?« Sie drehte den Schlüssel um. »Habt ihr gedacht, ich lasse euch ein Krisengespräch ohne mich führen?«

»Krisengespräch?« Manda sah mich mit einer tiefen Furche zwischen den Brauen an. »Es ist also so schlimm?«

»Nein, es ist nicht schlimm.« Tillie hockte sich auf den Badewannenrand. »Eigentlich ist es fantastisch. Lucy-Lu kann nämlich froh sein, dass sie Rewe-Romeo los ist. Nur seine Nachricht war halt beschissen.«

»Welche Nachricht?«

Zögerlich folgte ich Tillie, wobei ich mein Handy zückte und es Manda überließ. Danach geschah alles in Rekordgeschwindigkeit. Manda kräuselte die Stirn, rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf. Sie zog schlicht jede Nicht-sein-Ernst-Regung aus ihrem Repertoire, bevor auch sie sich neben uns niederließ.

»Ohne Spaß«, begann sie. »Wer denkt er eigentlich, wer er ist?«

Und da war sie endlich: die Wut, die ich wollte. »Keine Ahnung«, entgegnete ich energisch. »Ich hasse ihn einfach. Gott, ich hasse ihn so sehr. Ich hasse ihn und sein beschissenes Grübchenlächeln und sein beschissenes King-Size-Bett und sein beschissenes Talent, billige Pestonudeln besser als das Supermarktessen schmecken zu lassen, das es ist.«

Einen kurzen Moment lang war es still. Nun ja, hinter der Tür vibrierte es, die Musik dröhnte, jemand lachte euphorisch, ein anderer kreischte. Aber hier drin flimmerte die Glühbirne, während Tillie und Manda schwiegen.

»Ich hasse ihn auch, glaub mir.« Tillie räusperte sich. »Ehrlicherweise habe ich ihn schon von deinem ersten Screenshot an gehasst. Er benutzt den Zwinkersmiley nicht ironisch, was schon alles erklärt.« Sie wandte sich an mich. »Viel wichtiger ist jedoch: Wie er dich behandelt, sagt nichts über dich aus, sondern alles über ihn. Du bist ein emphatischer und wundervoller Mensch. Er hingegen ist ein feiges und unreflektiertes Arschloch. Was erwartet er denn? Er wollte ständig mit dir kochen, ins Kino gehen und Händchen halten. Sogar vor uns. Er hat das ganze Paarzeug mit dir abgezogen und war dann überrascht, als du dich logischerweise gefragt hast, was genau das zwischen euch ist? So ein Wichser. Du kannst froh sein, dass du ihn los bist.«

Ihre Worte wogen schwer. Wie Branddecken legten sie sich über meine Schultern, während mein Brustkorb sich zuschnürte.

»Ich weiß«, flüsterte ich. »Theoretisch zumindest, aber …«

»Es tut trotzdem weh«, vollendete Manda.

»Ja.« Ich schloss die Augen. »Und ich bin wirklich enttäuscht. Und wütend. Und ein bisschen sauer auf mich selbst, weil ich mir so bescheuert vorkomme. Romeo hat mir nämlich das Gefühl gegeben, als würde ich ständig übertreiben, wofür ich mich nur noch mehr hasse. Weil alles, was ich fühle, valide sein sollte.«

»Weißt du, was ich denke?« Entschlossen schlitzte Manda die Lider. »Ich finde, du solltest wütend sein. Von mir aus, weil Gefühle dazu da sind, um gefühlt zu werden, blablabla. Aber vor allem, weil Vulkanausbrüche wichtig sind.«

Ich furchte die Stirn, spürte, dass auch Tillie nachhaken wollte, doch Manda fuhr schon fort.

»Ich hab da letztens einen Artikel gelesen. Es ist so: Menschen siedeln sich besonders gern in Vulkanregionen an, weil die Asche den Boden dort nährstoffreicher macht. Blumen werden bunter und Früchte schmecken besser. Auch gute Dinge können so aus Wut entstehen, versteht ihr?«

Mein Mund öffnete sich, doch Tillie kam mir zuvor, indem sie nach ihrem eigenen Handy griff, es entsperrte, darauf klickte und tippte. Als wäre ihr unvermittelt ein Licht aufgegangen.

»Es wird Zeit für eine neue Playlist«, verkündete sie und reichte mir das Smartphone. Eine Spotify-Playlist strahlte mir entgegen. Sie war leer, doch bereits benannt: Thank you for the tragedy, I need it for my art[2]

»Hast du Kurt Cobain gerade ernsthaft für eine unserer Playlists benutzt?«

»Jepp.« Sie lächelte ihr bestes Lächeln. »Aber vergiss das Vulkan-Emoji nicht.«

»Du bist so verrückt«, sagte Manda ebenfalls grinsend.

»Los!« Aufgeregt nickte Tillie auf ihr Display. »Du musst den ersten Song auswählen. Für die Grundstimmung.«

Ich schluckte. Seit dem ersten Semester waren Playlists unser Ding. Wir erstellten sie füreinander, wenn es einer von uns nicht gut ging, wenn Tillies Lieblingsrezept W&W – Wein und Weinen – nicht mehr half. Für Manda kreierten wir oft welche vor ihren Abgaben, mit vielen Piano-Covern und instrumentalem Zeug. Für Tillie gab es alles. Für mich meistens Reibeisenstimmen mit tieftraurigen Lyrics. Heulmusik, wie mein Bruder sie liebevoll nannte.

Während ich tippte, kribbelte es unter meinen Fingerspitzen. Hektisch klickte ich den Song an, fügte ihn zur Playlist hinzu und reichte Tillie das Handy zurück.

»Es geht mir gut?«, fragte sie überrascht. »Von AnnenMayKantereit?«

»Für mich klingt es wütend.«

Keine Ahnung, wieso ich so gespenstisch leise klang und mein Blick instinktiv zum Spiegel flackerte. Ich erkannte drei zwanzigjährige Frauen auf einer fremden Badewannenkante, die noch immer als Mädchen bezeichnet wurden. Manda, schwarzhaarig und wunderschön. Tillie, blond und anziehend. Dazwischen ich. Mein Haar war eine Mischung aus Blond und Brünett, der Pony zerzaust, das Rouge verblasst. Ich war kleiner als meine Freundinnen, eins siebenundfünfzig groß und nie mehr als niedlich, selbst wenn ich mein Nasenpiercing und meine Sinclair-Docs trug.

sry lucy

Ich konnte beobachten, wie Tillie und Manda abwechselnd auf dem Handydisplay tippten. Morgen Mittag befinden sich garantiert dreißig Songs in meiner Playlist, dachte ich. Ich würde sie aufdrehen, mit der Gießkanne durch die Wohnung schlurfen, weinen und irgendwo dazwischen heilen.

Woher diese Gewissheit kam, wusste ich nicht. Vielleicht war es der Alkohol. Vielleicht der Blick auf meine Freundinnen, die mir stumm Sicherheit suggerierten. Trotzdem. Es würde wieder gut werden. Scheiß auf Rewe-Romeo. Scheiß auf das Gefühl, nie genug zu sein. Mal wieder. Scheiß auf einfach alles, was mich kleinhielt und verbrannte.

Als die Musik im Innern lauter wurde, wandte ich den Blick vom Spiegel ab. Ein Bassdrop jagte den nächsten in der Clubversion von Midnight City. Währenddessen reichten meine Freundinnen sich das Handy weiterhin hin und her.

»Danke, Leute«, flüsterte ich.

Manda sah auf. »Für was?«

Auch Tillie beäugte mich fragend dabei, wie ich mir die Lederimitatleggins glatt strich.

»Für das hier. Für alles einfach.« Ich lächelte. Dabei wurde es in meinem Körper ganz warm.

Ich würde okay werden. Ich hatte die besten Freundinnen der Welt und eine neue Playlist. Und eigentlich war alles besser als okay, denn alles war gut.

»Ey, was geht da drinnen eigentlich ab? Veranstaltet ihr eine Privatparty in der versifften Badewanne, oder was?«

Beim Klang der fremden Stimme zuckten wir unmerklich zusammen, obwohl Tillie gerade zu einer Antwort angesetzt hatte.

»Wir sollten hier raus«, erklärte ich.

»Bist du sicher?« Manda musterte mich besorgt. »Mir egal, was der Typ sagt. Es gibt ein Klo eine Etage weiter unten, der soll man nicht so tun. Wir …«

»Ja«, unterbrach ich. »Absolut sicher.«

Die Worte schmeckten nicht einmal falsch auf meiner Zunge. Außerdem klang ich so bestimmt, dass meine Freundinnen einlenken mussten. Also rappelten wir uns auf und stolperten kurz darauf aus dem Bad.

»Boah, endlich. Macht doch nächstes Mal am besten ’ne eigene WhatsApp-Gruppe für eure Kloparty auf, wie wär’s?«

Der Typ beäugte uns herablassend, ehe er innehielt und die Nase rümpfte. Sein Blick wanderte von Tillie über Manda bis zu mir, als würde er uns kennen. Er glich spitzen, fiesen Nadelstichen auf meiner Haut. Ich hasste es, dass ein fremder Blick mich so berühren konnte. Da schnaubte er.

»Oder habt ihr Selfies für euren süßen Blog geschossen, hm?« Er gab uns nicht einmal die Chance, etwas zu erwidern. Augenrollend schob er sich an uns vorbei und schloss die Tür.

»Süß?!«, rief Tillie so laut und schrill, dass er es hören musste. »Mal ganz abgesehen davon, dass @thegirlnextdoor kein süßer Blog ist, was geht bitte bei ihm ab? Stellt euch vor, ihr seid auf der krassesten Party des Jahres und so mies gelaunt, dass ihr als verfluchter Wichser grundlos …«

Hastig zogen wir sie aus seiner Hörweite, obwohl der Fremde Tillies Schimpftirade verdient hatte.

Gott, ich hasste es, wenn so etwas passierte.

@thegirlnextdoor war nicht nur ein Blog, sondern unsere Marke. Seit zwei Jahren setzten Tillie, Manda und ich uns auf Instagram und neuerdings auch auf TikTok für feministische Werte ein. Wir drehten Reels und schnitten Storys, machten mit ästhetischen Grafiken auf Alltagssexismus aufmerksam und jeden Sonntag gab ich Leserinnen in meiner ganz eigenen Rubrik Liebe Lucy Ratschläge bezüglich ihrer Probleme. Es war ein feministischer Kummerkasten, dabei hatte ich genauso viel Kummer wie meine Leserinnen. Vielleicht war die Rubrik deshalb so beliebt.

Ich mochte einfach das Gefühl, etwas verändern zu können. Jemanden zu bewegen. Einem namenlosen Mädchen das Gefühl zu geben, ich würde sie hören, wenn sie kein anderer hörte.

Aber es gab auch andere Seiten. Und diese Begegnung war eine davon.

»Okidoki.« Im Flur pustete Manda sich eine Strähne aus der Stirn. »Was jetzt?«

»Tanzen«, antwortete Tillie. »Ich muss mich ablenken.«

Ich nickte. Wir mussten uns bewegen, den blöden Kommentar und Rewe-Romeo vergessen, weil …

Nässe.

Kälte.

Direkt links unter meiner Brust.

»Oh Gott!«, hörte ich eine bekannte Stimme rufen. »Sorry, Lucy.«

Blinzelnd blickte ich an mir herab. Auf meinem schwarzen Oberteil zeichnete sich ein dunkler Fleck ab, während der Stoff bereits anfing, an meiner Haut zu kleben.

»Mist, ich besorge dir sofort ein Zewa, ich …«

»Kein Ding«, erklärte ich lächelnd, bevor ich zu Mila aufsah.

Das platinblonde Haar trug sie offen in einem Wolf Cut, genauso wie ihre Jeansjacke über dem Top. Ihre Wangen waren übersät mit Sommersprossen, die Wimpern braun getuscht. In ihrem Glas schwappte der letzte Rest Cocktailflüssigkeit bedrohlich, während ihr Gesicht zerknirscht wirkte. Wir besuchten dieselben Seminare und sendeten uns sogar manchmal Memes. Außerdem hatte Mila den Verlauf meines restlichen Semesters in der Hand, aber heute war Freitag, deshalb wollte ich daran lieber nicht denken. Als sie erneut den Mund öffnete, wurde sie von ihren Freundinnen zur Seite gerufen.

»Ernsthaft«, sagte ich schnell. »Ich besorg mir selbst ein Zewa. Kein Problem.«

»Tut mir wirklich voll leid. Dafür hast du drei Chai-Latte bei mir gut«, entgegnete sie schuldbewusst, bevor sie in der Menge verschwand.

Mit gerunzelter Stirn sah Manda ihr nach. »War das gerade echt Curaçao in ihrem Glas?«

»Die eigentliche Frage ist, wieso du weißt, dass es Curaçao war«, erwiderte Tillie.

»Barkeeperin-Skills. Ich …«

Meine Freundinnen unterhielten sich weiter, doch ich hörte nicht mehr zu.

Da stand ein Typ im Küchentürrahmen.

Keine fünf Schritte von mir entfernt, riesig und athletisch, in einem schlichten Shirt und verwaschenen Jeans. Über ihm leuchteten aufgeklebte Sterne, ringsum blinkten bunte Lichterketten und beschienen seine Gesichtszüge perfekt. Um sein Handgelenk lag ein Wunscharmband. So eins, das man sich aus dem Urlaub in Peru, Mexico oder Bolivien mitnahm, dreimal zugeknotet. Wie Isa es damals für ihn getan hatte. Vielleicht war es das Armband, das mich nicht wegsehen ließ. Vielleicht war es aber auch die Tatsache, dass mein gesamter Körper zitterte.

Ich erkannte ihn nicht sofort, denn er wirkte anders und erwachsener, in meiner Vorstellung war er sogar einige Zentimeter gewachsen. In Wahrheit war es allerdings bloß so, dass ich regungslos in Samus WG-Flur stand, während es unter meiner Brust klebte. Und gerade dann, dann, als ich den Blick abwenden wollte, weil ich starrte und es selbst hasste, von Fremden so schamlos begafft zu werden – genau dann drehte er das Gesicht in meine Richtung.

Wenn ich abends in meinem Bett lag, träumte ich davon, Artikel zu schreiben, Redakteurin zu sein, an meinen Texten zu feilen, mein eigenes Magazin zu gründen und die Welt mit meinen Worten zu verändern. Dabei war ich eine heuchlerische Idiotin. Denn die deutsche Sprache umfasste mehr als dreihunderttausend Wörter und ich fand kein einziges, um diesen Augenblick zu beschreiben.

Mein Kopf war wie leer gefegt. Alle Worte, alles Denken – einfach weg, als sein Blick auf meinen traf.

Blasses Gesicht, nachtschwarze Korkenzieherlocken, an den Seiten viel kürzer als in der Mitte. Ich sah weg, dann wieder hin, aber der Typ war keine Einbildung. Er stand da, wie erstarrt, wie gefroren, wie ich.

Ich blinzelte.

Nein.

Auf meiner Zunge schmeckte es salzig.

Nein.

Meine Hände ballten Fäuste.

Nein.

Und dann klafften meine blauen Herznarben auf, die ich so mühsam vor Jahren mit blutroten Fingern zusammengeflickt hatte.

NEIN.

Ich wollte schreien, weinen, im Boden versinken, zu einer Pfütze verschwimmen, in meinen eigenen Wellen ertrinken. Alles, bloß nicht mit einem nassen Fleck auf dem Herzen hier stehen und blinzeln, als wäre er nicht echt.

Gregor.

Als wäre Gregor nicht echt.

Lucy

HAHAHAHA

Nachrichten, die ich nie lustig meine

Er konnte nicht echt sein.

Konnte er nicht, weil ich die nächsten Tage auf Instagram, Facebook und LinkedIn verbrachte. Ich durchforschte sogar Pinterest und Accounts auf TikTok. Meine Suchen blieben jedoch erfolglos. Gregor Beck, zumindest mein Gregor mit den schwarzen Korkenzieherlocken und der kalten Seele, existierte auf Social Media nicht. Nur eine einzige Sache fand ich heraus: Er studierte immer noch Kreatives Schreiben in Berlin. Das wusste ich, weil er auf dem hochschuleigenen Blog einige Interview-Beiträge veröffentlicht hatte. Garantiert hatte er die für einen interdisziplinären Fachbereich führen müssen. Schließlich hatte Gregor es nicht so mit der Wahrheit. Er stand nicht aufs Nachbohren und Beharren. Nein, er verbrachte seine Zeit lieber unter Wasser und in der Pseudotiefe seiner Texte.

Meine Hände zitterten, als ich das Handy zur Seite legte. Es war Montag, nicht einmal neun. Ich griff nach meinem To-go-Becher und verfluchte mich innerlich selbst. Mein Morgen besaß Routinen: aufstehen, Yoga, Meditation. Kein Handy und kein Social Media, nicht vor zwölf. Ich setzte Grenzen, bloß um sie selbst zu übertreten. Wegen Gregor.

Schon wieder.

Trotzdem. Heute würde mein Tag werden. Musste mein Tag werden.

Im Wohnungsflur warf ich mir die Jacke über, ehe ich einen letzten Blick in den Spiegel warf, auf dessen Rahmen ich eine Lichterkette, Polaroids und motivierende Zitate befestigt hatte. Links unten prangte das zuletzt hinzugefügte Bild – ein Selbstporträt der ehemaligen Fotografiestudentin Emma Visser. Ich würde dieses Semester ein Porträt für das Hochschuljubiläum über sie schreiben. Ich hatte ihr Foto aufgehängt, um meine Ziele stets im Blick zu haben. Gleich darüber erkannte ich Mama, die mir breit zulächelte.

Mit einem tiefen Atemzug riss ich meinen Blick von Mamas Anblick los und fokussierte mich auf mein eigenes Spiegelbild. Ich trug beige Stiefel, meinen schwarz karierten Rock und einen Rollkragenpullover mit übergroßen Ärmeln. Nudefarbene Lippen, den Ring im linken Nasenflügel, leichte Wellen in meinem Haar und darüber eine Beanie. Alles clean, minimalistisch und durchdacht mit einer Prise Überraschung. Als wir uns kennengelernt hatten, behauptete Manda, dass alles an mir nach mir schrie. Du hast so einen krass durchgängigen Vibe, hatte sie erklärt. Und vielleicht meinte sie damit die schlichte Einrichtung meiner Wohnung. Das helle Fischgrätparkett und den weißgrauen Perserteppich unter meinem Bett, das ich am liebsten mit Leinenbettwäsche von Etsy bezog. Die Gallery Wall über meiner Kommode zeigte ausschließlich schwarze Line Art, perfekt für Storys auf Instagram. So wie mein Bücherregal, voller feministischer Literatur, die nach Farben sortiert war. Meine Garderobe war klein, aber perfektioniert, bestand aus Lieblingsteilen über Lieblingsteilen. Ich war gut im Kürzen und Streichen, in meinen Texten und in meinem Leben. Ich wohnte allein, denn ich mochte die Stille. Ich mochte es, mich frei bewegen zu können, auf meiner sandfarbenen Yogamatte in den Krieger zu gehen und nichts dabei umzustoßen. Ich setzte mich gern an meinen blank geräumten Schreibtisch, um in meinen Texten anzuecken. Mein Geschirr spülte ich am liebsten um zwei Uhr morgens, drehte dabei nie ankommen auf und sang laut mit.

Ich mochte mein Leben.

Was ich jedoch nicht mochte, waren diese Gedanken an Gregor. Ich lief an einem völlig normalen Montagmorgen die Treppen hinunter, betrat meine völlig normal aussehende Straße. Und dachte trotzdem an ihn. An die Möglichkeit, dass er es tatsächlich am Wochenende gewesen sein könnte. Aber dabei blieb es nicht, denn ich erinnerte mich auch an das Aufenthaltsstipendium. An alles, was geschehen war. An das, was sich die Leute über ihn zugeflüstert hatten: Ausnahmetalent. Krass. Seltsam. Einzelgänger. Wieso ist der eigentlich ständig in diesem See, Alter?

Ein Teil in mir verfluchte, dass ich die Chance am Freitag nicht ergriffen hatte. Ich hätte auf diesen Typen zumarschieren und dann erleichtert feststellen können, dass es sich nicht um Gregor Beck handelte. Allerdings war mir das in meiner Schockstarre nicht möglich gewesen. Ich hatte nur dagestanden und zugesehen, wie Leander aus dem Dramaturgie-Programm dem Typen auf die Schulter geklopft hatte und beide abgezischt waren.

Entschlossen drehte ich die Musik lauter, um den Edeka wie eine gewöhnliche Passantin hinter mir zu lassen. Denn das war ich. Rewe-Romeo. Die Hausparty. Mein Social-Media-Stalking. Das war alles ganz normaler Alltag einer zwanzigjährigen Studentin. Letzteres sagte ich mir, bis ich Tillie an der Haltestelle mit einer knallgelben Tupperdose entdeckte und ihr hochenergisches Winken mir deutlich machte, dass es nun mal kein normaler Tag war.

»Es sind meine Spezial-Blondies.« Sie sparte sich eine Begrüßung und öffnete die Dose, noch bevor ich überhaupt vor ihr stoppte. Dabei trug sie ihre liebste Jeans und einen grauen Hoodie, darüber eine übergroße Lederjacke. Ihre Augen wirkten klein und müde, aber ihr roter Lippenstift glänzte, während sie lächelte.

Blinzelnd betrachtete ich den Inhalt, der aus hellen Brownies mit Himbeeren und weißen Schokoladenstückchen bestand. Diese Sorte backte Tillie am liebsten. Laut ihr waren es die besten Blondies ever.

»Bevor du etwas sagst: Ja, sie bringen wirklich Glück. Ich kann dir sogar erklären, wieso.«

»Ach ja?«, hakte ich nach.

»Ja. Weil ich nämlich daran glaube, dass sie es tun. Und der Glaube, mein Herzblatt, ist die wahre Magie.«

»Lass mich raten.« Ich verkniff mir ein Grinsen. »Das hast du aus den Videos auf WitchTok?«

»Nein.« Sie reichte mir die Dose. »Das habe ich aus dem Manifestationsvideo, das ich täglich aufdrehe. Siebzehn Sekunden visualisieren. Wenn du einen Gedanken so lange festhalten kannst, muss er wahr werden.«

»Krass. Und was manifestieren wir momentan, mein Herzblatt?«

»Zwei Millionen Euro und ein Wohnzimmerkonzert von Lorde.« Sie zuckte lässig mit den Schultern. »Das Übliche.«

Ich wollte gerade antworten, als …

Scheiße.

»Äh, Lucy?«, fragte Tillie verwundert. »Wieso starrst du Leander Brenner so an, als würdest du etwas von ihm wollen?«

Links von uns teilten sich zwei Freundinnen eine Kippe. Eine Geschäftsfrau in hohen Stilettos nippte an ihrem Kaffeebecher. Von Weitem fuhr unsere Tram ein, ich allerdings konnte mich nur auf den blonden Typen am gegenüberliegenden Bahnsteig konzentrieren. Er trug Blue Jeans und Bomberjacke, wobei er den Blick auf das iPhone gerichtet hielt. Dabei rümpfte er die Nase, als würde er auf die Schnelle einen schlechten Romanauszug für die nächste Textwerkstattstunde lesen. Das war tatsächlich Leander Brenner. Der, mit dem die Gregor-Fata-Morgana abgezischt war.

Ich hätte weiter gestarrt, doch die Gleise quietschten und wir mussten diese Tram bekommen. Hastig wandte ich den Blick ab. Drinnen war es zu warm und stickig. Musik dröhnte so laut aus Kopfhörern, dass sich Aggro-Rap mit Giant Rooks vermischte. Und trotzdem. Trotzdem umklammerte ich die Metallstange zu fest und drehte mich noch einmal um. Leander starrte weiterhin auf sein Display, die Stirn gefurcht.

»Du hast nichts mehr mit ihm zu tun, oder?«

»Mit Brenner?«, fragte Tillie irritiert nach. »Wie man es nimmt. Wir haben es uns nach dieser Lesung in seinem Flur besorgt und tun jetzt so, als hätten wir es nicht, wenn wir zusammen in Zellers Seminar sitzen.«

»Wieso?«

»Kein Plan. Schätze, wir waren einfach sehr betrunken und dann hat er mich auf diese dominante Machoweise gegen die Wand gedrückt, die ich eigentlich nicht mehr heiß finden will, aber ja … Fast forward: Ich hatte einen Orgasmus, ohne dass wir uns überhaupt ausgezogen haben, und dieser Idiot hat sich danach unheimlich wichtig gefühlt. Das war die Geschichte, in der ich mich rausgeschlichen habe und sein Mitbewohner mich dabei erwischt hat. Erinnerst du dich?«

»Wie könnte ich?«, fragte ich belustigt. »Du hast uns die Sprachnachricht noch im Treppenhaus aufgenommen. Aber du weißt, dass ich eigentlich herausfinden wollte, wieso ihr nicht mehr redet, oder?«

»Oh.« Sie blinzelte. »Na ja, es war schon etwas seltsam irgendwie und …« Sie hielt inne. »Moment, warum interessierst du dich auf einmal so für Brenner?«

Die elektronische Stimme kündigte die nächste Haltestelle an. Sülzburgstraße. Ich presste die Tupperdose fester gegen meine Brust und wägte ab. Dabei hätte ich problemlos mit der Gregor-Sache herausrücken können. Ich hatte Manda und Tillie sogar bereits von Gregor Ausnahmetalent Beck erzählt. Nur seinen Namen hatte ich ihnen verschwiegen. Mein Sommertyp hatte ich immer gesagt, als wäre es mir zu riskant, Gregors Namen zu benutzen. Jetzt war allerdings auch nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

»Auf der Turmstraßenparty hab ich kurz gedacht, Leander würde mit jemandem reden, den ich mal gekannt habe«, erklärte ich daher leise.

»Und woher kennst du diesen Jemand?«

»Schulzeit«, murmelte ich, als wäre es keine Lüge.

»Du meinst aber nicht diesen Typen mit den schwarzen Locken, oder?«

»Du hast ihn auch gesehen?«

»Klar.« Sie fuchtelte mit den Händen in der Luft. »Supergroß, super…« … heiß. Sie wollte definitiv heiß sagen, hatte es sich allerdings zur Aufgabe gemacht, Fremde nicht mehr zu sexualisieren. »Superschön?«, sagte sie also stattdessen, doch ließ es wie eine Frage klingen. Tillie, die nie unsicher war. Das machte Gregor also selbst mit Personen wie ihr. Wenn er fertig war, blieben nur Fragezeichen übrig.

Ich nickte, zu mehr war ich nicht imstande.

»Wie heißt er?«

»Bin mir nicht sicher, ob er es wirklich war.«

»Und wenn er es war?«

»Gregor.«

Es rutschte mir einfach von der Zunge. Gregor, ein so harter Name mit jedem R und dem O.

»Gregor«, wiederholte Tillie langsam. »Strahlt schon ein bisschen Deutsch-in-der-Oberstufe-Kafka-Vibes aus. Welcher Roman war das noch mal? Der Prozess?«

»Die Verwandlung.«

»Schnell.« Sie verzog das Gesicht, bevor sie mir die Dose aus der Hand nahm und sie öffnete. »Du musst ein Stück essen, damit ich nicht mehr an meinen Deutsch-LK und du nicht mehr an Gregor denken musst. Denn ich spüre leider eine sehr schlechte Aura von ihm ausgehen und die kannst du vor deinem Gespräch nicht gebrauchen. Danach musst du mir wiederum alles über ihn erzählen. Und dieses Müssen ist leider ein Fakt.«

»Was? Nein, es ist wirklich nur eine Bekanntschaft, nichts Großes.«

Nur etwas sehr, sehr Kaltes.

Ein Lächeln schob sich auf meine Lippen, doch es zitterte. Also tat ich das, was Tillie verlangte, und kaute auf noch lauwarmen Blondies in der Tram herum. Bis wir am Eifelwall ausstiegen und sich unsere Türen direkt vor einer Werbetafel öffneten. Parship positionierte sich neu und machte mit dem Auberginen-Emoji auf unerwünschte Dick-Pics aufmerksam, als wollten sie nicht bloß die junge Generation abkassieren. Klar, Leute, lasst uns gern neu kennenlernen neu erfinden. Oktoberwind peitschte mir das Haar nach hinten und auf meiner Zunge brannten seine harten Silben nach.

Gre-gor, Gre-gor, Gre-gor.

Ich dachte an einen See und an ein Meer voller Gefühle, an verquollene Augen und Die Verwandlung. Daran, dass ich mich nach jenem Sommer erneut durch die Reclam-Ausgabe gekämpft hatte. Ich war auf der Spur nach einem Zitat oder einem Satz gewesen, nach irgendetwas, das mir eine Antwort hätte liefern können. Aber Gregor Samsa verwandelte sich bloß in einen Käfer und dazwischen hatte ich nur Sätze für mein Abitur unterstrichen. Die guten Kafka-Zitate, die, mit denen Pinterest-Wände übersät waren, fand man ausschließlich in seinen Briefen.

Nie in seinen fiktiven Geschichten.

Fünf Minuten später konnte ich das Campusgelände vor uns ausmachen. Es gab Gebäude für jeden Fachbereich, sechs insgesamt. Literatur, Kunst, Fotografie, Schauspiel, Musik, Medien und Journalismus waren zusammengelegt. Es handelte sich meistens um alte Häuser mit abblätternden Fassaden, wo das Parkett im Innern knarzte, ausschließlich die journalistische Fakultät war Neubau.

»Erzähl uns alles später beim @thegirlnextdoor-Treffen«, verabschiedete sich Tillie, während sie mich vor unserem Hauptgebäude umarmte. »Obwohl ich sowieso schon weiß, wie der Termin ausgeht, denn der Podcast gehört dir!«

Es war derselbe Moment, in dem ich beschloss, dass Gregor Beck nicht echt war. Nicht in der Gegenwart und nicht in meinem Leben. Einfach so.

Ich nickte meiner Freundin lächelnd zu.

»Wir können dir die Moderation von Campuskitsch leider nicht überlassen.« Milas Worte drangen an meine Ohren, noch bevor ich mich aus meiner Jacke schälen konnte.

Mit offenem Mund, geschlossener Jacke und der aufgesetzten Beanie hockte ich da. Sprachlos, doch innerlich am Hyperventilieren, während sie mich tiefbetrübt ansah.

Wie, sie können mir die Moderation nicht überlassen? Wie, sie haben es nicht ernst gemeint, als sie vor den Ferien indirekt versichert haben, der Podcast wäre meiner? Wie, ich bin anscheinend doch nicht die perfekte Kandidatin für diesen Job? Als Mitbegründerin von @thegirlnextdoor und Journalismusstudentin, in diesem Semester, in dem sich der Podcast auf Alumni-Interviews konzentrieren wird, weil unsere Hochschule im Frühling ihr fünfzigjähriges Jubiläum feiert?

»W…was?« Ich lachte. Das war nämlich meine Schwäche: In brenzligen Situationen musste ich immer kichern. In Chats tippte ich sogar nach riskanten Texten ein langes hahahahahaha, als könnte eine Abweisung mir so nicht wehtun.

Ich war so eine Idiotin.

»Mir ist klar, dass das überraschend kommt und …«

»Mila.« Ich lehnte mich vor, die Jacke knautschte und meine untere Lippe zitterte. »Du verarschst mich gerade, oder? Ich brauche diesen Podcast.«

»Denkst du, das weiß ich nicht? Ich meine, wir wollten dir die Moderation geben, aber dann …«

… dann hat Nova uns doch von sich überzeugt.

Sie sprach es nicht aus, so gnädig war sie. Instinktiv bohrten sich meine Nägel in den Rockstoff, während meine Kommilitonin weitersprach. Floskeln, Fetzen, alles verwandt mit Es tut mir wirklich leid.

Ich konnte nicht aufstehen.

Ich konnte nicht zum good part springen wie in meinem letzten Reel, weil es keinen guten Teil in dieser Situation gab. Das Absurdeste? Sie schob mir nun sogar einen der drei versprochenen Chai-Latte zu. Als Trostpreis. Milas Gesicht wirkte ehrlich betroffen, aber sie würden mir den Podcast trotzdem nicht geben. Dass es bei diesem Gedanken hinter meinen Augen brannte, hasste ich.

sry lucy

Nein. An Rewe-Romeo würde ich jetzt garantiert nicht auch noch denken.

»Wie wäre es, wenn du dich im nächsten Semester noch mal auf die Moderation bewirbst? Dann könntest du den Podcast immer noch in deinen Lebenslauf schreiben.«

»Ja«, entgegnete ich zögerlich. »Schon, aber …«

Aber ich melde nächstes Semester meine Bachelorarbeit an und wollte mich da bereits als Freelancerin versuchen, was mit Campuskitsch im Ärmel kein Problem gewesen wäre.

Es stimmte. Campuskitsch, unser hochschuleigener Podcast, war der Hit. Hauptthema war der Studentenalltag mit all seinen Facetten. Er beinhaltete Rants über BAföG, Überlebenstipps im Hochschulstress, Partys und Mental Health. Letztes Jahr war der Podcast mit Ceyda Can so richtig durchgestartet. Auf TikTok wurden Teile ihrer Monologe mit Songs unterlegt und für Videos benutzt, wie die von Gemischtes Hack. Außerdem war er das Sprungbrett für Ceyda gewesen, denn Campuskitsch hatte sie nach ihrem Abschluss direkt zur Kolumnistin katapultiert.

Der Podcast war eine Chance, die ich auf meine eigene Weise erleben wollte. Schließlich hatte ich wirklich Pläne. Von einem eigenen Magazin, in dem ich @thegirlnextdoor auf eine neue Ebene heben wollte. Ich wollte Schlagzeilen machen, die sich von den üblichen unterschieden. Headlines wie 5Pfund in 5Tagen oder 19Schlank-Tipps wollte ich verbannen. Stattdessen wollte ich über echte Themen schreiben. Über Probleme und Gedanken, die Frauen tatsächlich beschäftigten, und nicht die nächste Diätlüge anpreisen. Selbst wenn die meisten mich dafür als größenwahnsinnig betitelten. Doch es war mir egal.

Nur, dass gerade nichts egal war.

Bebend atmete ich durch. Milas Finger waren fest ineinander verhakt wie in den Momenten, unmittelbar bevor ihr Text in Seminaren kritisiert wurde. Ich wusste, dass diese Situation sie nervös machte. Schließlich saßen wir in Vorlesungen meistens nebeneinander und machten uns anschließend in Sprachnachrichten über die sexistischen Kommentare von Kai lustig.

Sie konnte nichts dafür.

Schluckend richtete ich mich auf. Wir befanden uns im Büro von Campuskitsch. Es gab zwei Schreibtische, einer davon war ihrer, tapeziert mit Office-Accessoires, schimmernd in Roségold. Links von uns stand das Fenster auf Kipp. Der Himmel war so grau, wie er es für die nächsten Monate bleiben würde. Langsam faltete ich die Hände in meinem Schoß.

»Ja«, log ich leise. »Das klingt nach einer guten Idee mit nächstem Semester.«

»Wirklich?«, fragte Mila erleichtert.

»Klar.«

Ich lächelte, den Chai ließ ich unberührt stehen. Mein Herz war ganz leer.

Lucy

VERTIGO

1. Fachsprache: Schwindel 2. die Bedeutung in Vertigo von Edwin Rosen: die fatale Folge des Verliebtseins

Mein Herz blieb leer.

Es fühlte sich an wie ein verlassenes Haus mit offen stehenden Fenstern, während ich zwanzig Minuten später den Campus überquerte. Alles polterte und knarzte, jedes Luftholen war eine Explosion.

sry lucy

Wie sehr ich es hasste. Es war Montagmorgen, ich hatte die Chance meines Lebens verpasst und einen Ohrwurm von einer beschissenen Nachricht.

Großartig.

Ich passierte das Mensagebäude, da hielt ich es nicht mehr aus. Mit zitternden Fingern zog ich mein Handy hervor und öffnete Instagram, obwohl es erst kurz nach elf war. Ich übersprang die zig Benachrichtigungen auf @thegirlnextdoor, wechselte zu meinem privaten Account und wusste, ich sollte es lassen. Doch Milas Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf.

Wir wollten dir die Moderation geben, aber dann …

Meine Finger tippten @novabianchi2001, als hätten sie ein Eigenleben. Schon war ich auf Novas artsy Profil mit ihrer artsy Bio und ihren artsy Vibes. Wir folgten uns, also konnte ich ihre Story bedenkenlos anklicken. Als ich dann sah, was ich sah, wusste ich gar nicht, wieso ich so überrascht gewesen war. Nova hatte ein Foto vom Ausblick der Bib geteilt, unterlegt mit einem warmbraunen Filter und den Worten got soo great news today, you guys

Natürlich. Natürlich hatte Nova das.

Ich spürte den verräterischen Knoten in meinem Magen, wie meine Kehle sich zuschnürte und alles in mir enger wurde. Genau da kroch er aus mir heraus, mein hässlichster Gedanke.

Wieso Nova, wieso nicht ich?

Ihr Gewinn war nicht mein Verlust.

Dass Frauen ständig gedankliche Konkurrenzkämpfe ausfochten, war die Konsequenz des Patriarchats. Theoretisch wusste ich das, praktisch lebte ich sogar danach, aber …

Ja, aber.

Was, wenn sie schlicht besser war als ich? Geeigneter, aufregender, besonderer? Nova war ein Superlativ, die Steigerung von interessant und edgy mit ihrem mysteriösen Instagram-Account.

Ich war das nicht.

Ich war cute, nett, gut, Lucy.

Am liebsten wäre ich die Berrenrather Straße in Richtung meiner Wohnung entlangmarschiert. Doch ich konnte nicht. Schließlich hatte ich einen Termin mit Jonathan. Er war Fotografiestudent und wir waren beide Teil des Projektseminars, das das Frühlingsfest organisierte. Im April würde die Akademie der Künste ihr fünfzigjähriges Jubiläum feiern und wir machten ein ganzes Event daraus. Zwei Tage, volles Programm. Ehemalige wurden eingeladen und die Presse berichtete. Ich hatte sogar das begehrteste Alumni-Porträt ergattert. Doch als ich die Tür zum Hauptgebäude aufstieß, war ich in Gedanken immer noch bei Campuskitsch. Selbst als die Fotografiestudenten mich abschätzig musterten.

Mist.

Ich hatte vergessen, wie es war, in ihr ästhetisches Gebiet einzudringen, das riesige Fenster, hohe Decken, viel Stuck und Wendeltreppen beinhaltete. Zweifelsfrei hätte ihr Gebäude das Hauptquartier eines Dark-Academia-Clans sein können. Und sie passten perfekt hinein mit ihren langen Mänteln und schlanken Gliedern. Sie lebten in ihrer eigenen Schwarz-Weiß-Fotografie, alles deep und künstlerisch, als wäre die bunte Welt etwas für Loser. Der Typ links von mir las Rachel Cusk, während ein Mädchen weiter vorn meine Stiefel begutachtete. Vielleicht bildete ich mir ein, dass sie die Nase – genau wie der Typ am Wochenende – rümpfte, doch ich wusste trotzdem: Sie fand alles an mir lächerlich. Meine Beanie, meine Stiefel, meine fehlende Künstlerinnenaura und das, was ich auf meinem Instagram-Account teilte, weil es immer nur süß war.

»Lucy!«

Mit klopfendem Herzen wandte ich mich nach links. Hastig eilte Jonathan die Treppen hinunter. Der Riemen seiner Ledertasche hing ihm schief über der Schulter. In der Hand trug er ein Buch, als wäre er ein vielschichtiger Charakter von Donna Tartt. Seinen tannengrünen Rollkragenpullover hatte er in die dunkle Stoffhose gesteckt, die Schnalle seines schmalen Gürtels glänzte silbern dazwischen. Rotblonde Strähnen fielen ihm verwuschelt in die Stirn, während er sich die Brille zurechtschob. Jonathan war riesig, mindestens eins neunzig und eher schlank als muskulös. Ich beobachtete die Art, wie er sich bewegte, den Rücken etwas gebeugt, als befürchtete er, zu viel Platz einzunehmen. Dabei führte er einen Instagram-Account voller gut geklickter Fotografieprojekte und war dafür auf dem Campus hochbekannt. Letztes Jahr hatte ich ein Philosophieseminar mit ihm belegt, deshalb wusste ich, dass er sich die Hände nervös an der Hose reiben musste, um etwas beizutragen. Doch wenn er sich traute, sagte er die klügsten Dinge, zitierte Nietzsche und hatte immer eine Meinung. Jemand, der auffiel, weil er für etwas stand, bebende Stimme hin oder her.

»Gut, dass du schon da bist.« Atemlos blieb er vor mir stehen. »Tut mir so leid, aber heute ist hier die Hölle los. Ich muss gleich weiter in die Besprechung für die Ausstellung in der Berliner Straße. Keine Ahnung, wer auf die glorreiche Idee gekommen ist, zwei Wochen nach Semesterbeginn eine Ausstellung zu organisieren, aber gut. Ich weiß, ich wollte dir eigentlich die neuen Filme von Emma Visser zeigen, aber ich schaffe es gerade nicht. Wäre es okay für dich, wenn ich dir den Schlüssel für den Vorraum gebe und du selbst einen Blick darauf wirfst? Sie hängen noch.«

»Natürlich«, antwortete ich schnell. »Absolut kein Problem.«

»Ey, danke, du bist die Beste.« Erleichtert pfriemelte Jonathan einen riesigen Schlüsselbund aus seiner Tasche und reichte ihn mir. »Ich hab vorhin noch den Plan für die Dunkelkammer gecheckt, eigentlich sollte niemand etwas aufhängen müssen. Du bist also allein. Ach, und wenn du fertig bist, kannst du den Schlüssel beim Technikverleih abgeben, da hole ich ihn später ab.« Er winkte mir zum Abschied zu, bevor sein Rücken hastig in Richtung Ausgang verschwand.

Auf dem Weg ins zweite Stockwerk vibrierte mein Handy.

Manda @thegirlnextdoor@Lucy, wie war dein Gespräch???

Ich @thegirlnextdoor…

Manda @thegirlnextdoorIch habe gehört, dass es Karmaminuspunkte dafür gibt, seine Freundinnen unnötigerweise auf die Folter zu spannen

Tillie (DIE ERFINDERIN DER WELTBESTEN BLONDIES) @thegirlnextdoorKlar hat Lucy den Job

Tillie (DIE ERFINDERIN DER WELTBESTEN BLONDIES) @thegirlnextdoorSie hat doch meine magischen Blondies gegessen und wird uns gleich beim TGN-Treffen alles erzählen

Manda @thegirlnextdoorLiebste Lucy, bitte unterbrich dein Schweigen, damit wir Tillie erklären können, dass du die Moderation bekommen hast und ihr Hokuspokus nichts damit zu tun hatte lol

Tillie (DIE ERFINDERIN DER WELTBESTEN BLONDIES) @thegirlnextdoorWieso so herzlos heute, Manda, mein Herzblatt?

Ich @thegirlnextdoorNova hat die Moderation

Manda @thegirlnextdoorWIE?

Tillie (DIE ERFINDERIN DER WELTBESTEN BLONDIES) @thegirlnextdoorWAS?

Tillie tippte weiter, doch ich steckte das Handy weg. Schließlich hatte ich wichtige Dinge zu erledigen. Emma Vissers Abzüge begutachten. Verdrängen, dass ich den Podcastjob los war, bevor ich überhaupt damit begonnen hatte, und mich auf das konzentrieren, was tatsächlich vor mir lag. Ich würde ein wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Alumni-Porträt schreiben. Immerhin war Emma hochtalentiert gewesen, hatte eine Schwäche für einzigartige Blickwinkel und dramatische Schattenspiele gehabt. Traurigerweise war sie mit fünfundzwanzig gestorben. Für mein Porträt würde ich mich in den Archiven durch ihre Werke und Serien suchen, Gespräche mit ehemaligen Kommilitonen führen und in ihrer Vergangenheit stöbern. Ich würde das Ganze zu meinem Projekt machen, wenn es Campuskitsch schon nicht werden könnte. Vielleicht bekäme ich für den Artikel sogar eine Landingpage, wenn er richtig gut werden würde. Das hatte Carmen vom Komitee mir verraten.

Also. Emma Visser. Ihre bisher unbekannte Fotostrecke. Notizen machen. Weiterleben. Ich hatte noch immer Ziele und ich würde alles für sie tun. Ja, ja, ja.

Ich steckte den Schlüssel in das Schloss für den Vorraum und zog die Tür auf. Im Hintergrund hörte ich ein Lachen und das Vibrieren meines Handys. Garantiert lieferten Tillie und Manda sich ein wütendes Emoji-Donnerwetter erster Klasse für mich. Meine Füße traten über die Schwelle, da erkannte ich ihn.

Sofort. Sofort sah ich ihn, wie konnte ich auch nicht?

Mitten im Raum stand er da, umgeben von trocknenden Filmen. Sein Mund formte kein perfekt erschrockenes O. Stattdessen presste er die vollen Lippen in Rekordgeschwindigkeit zusammen. Ganz so, als wäre er angepisst, beim Herumwühlen erwischt worden zu sein.

Du träumst, Wagner. Du träumst, du träumst, du träumst.

Hektisch ließ ich den Blick über die frisch entwickelten Filme wandern, weil die Stimme recht haben musste. Der Schauplatz war ein Jahrmarkt und ein Abzug stach besonders hervor. Er zeigte einen unscharfen Mann, der den Kopf lachend nach hinten warf. Das Bild war schief aufgenommen und drehte sich in sich selbst. Vielleicht hatte die Fotografin ebenfalls gelacht, als sie den Auslöser betätigt hatte. Wenn ich es weiter ansah, würde mir übel werden. So echt war es. Wie gut, dass er sich im selben Moment räusperte.

Ich sah auf. Und da. Da war er.

Er.

Das war keine Einbildung. Keine toxische Tagträumerei.

Instinktiv ballten meine Hände Fäuste. »Was. Zum. Teufel. Machst. Du. Hier. Gre-gor?« Die letzten beiden Silben spuckte ich aus, weil sie bitter und kalt schmeckten.

Gott, ich konnte es nicht glauben. Der Typ vom Wochenende war kein Double gewesen. Vor mir stand er wirklich. Gregor, mit seinen Locken und seinem Scheißlippenzusammenpressen. Seine Sneakers waren verblasst, die Jeans darüber schlicht, der Pullover ausgewaschen und an den Ärmeln ausgefranst. Innerlich schnaubte ich. Alles schrie nach Mein Aussehen ist mir so was von egal, aber damit kam er durch, weil er groß war, tatsächlich gut aussah und diese Unbekümmertheit ihn nur lässiger erscheinen ließ.