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»Nichts hielt für immer an. Das wusste ich. Aber in diesem Moment waren wir endlos.« Am ersten Tag des neuen Jahres gibt Amanda sich ein Versprechen: Die nächsten 365 Tage werden anders. Sie wird anders. Vier Jahre, nachdem ihre erste große Liebe ihr das Herz zerbombt hat, trifft sie auf Émil. Émil, den Künstler. Émil, der so frei ist, wie Amanda es immer sein wollte. Émil, der sie dazu bringt, endlich wieder einen Pinsel in die Hand zu nehmen. Amanda lässt sich auf einen Deal ein, doch schnell wird klar: Malen mit Émil ist nie nur malen. Und so muss sie sich fragen: Was tust du, wenn die Person, die dich plötzlich alles wieder fühlen lässt, der beste Freund deines Bruders ist? Das Finale der Jetzt-Trilogie Kunst, Liebe, Social Media: Im abschließenden Band ihrer New Adult-Reihe verwebt SPIEGEL-BestsellerautorinGabriella Santos de Lima diese zeitlosen Themen und ihre Auswirkungen auf die Gen Z auf gekonnte wie poetische Weise zu einer emotionalen Brother's-Best-Friend-Romance.
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Seitenzahl: 413
Inhalt
Playlist
time heals
Prolog
I – Grau
AmandaGrau, aber deine Wohnung ist bunt
AmandaGrau, aber er erkennt dich
AmandaGrau, aber du wolltest etwas anderes fühlen
AmandaGrau, aber er ist nackt
AmandaGrau, aber es ist zu persönlich
AmandaGrau, aber es ist wie im Film
AmandaGrau, aber du blickst dem Universum direkt ins Gesicht
AmandaGrau, aber du liebst deine Freundinnen
II – Immer noch grau
ÉmilGrau, aber @amandabrn
AmandaGrau, aber du hörst das Echo
AmandaGrau, aber das war nicht so geplant
ÉmilGrau, aber du stellst die falschen Fragen
AmandaGrau, aber du musst einen Typen abwimmeln
AmandaGrau, aber du wolltest eigentlich Farben
AmandaGrau, aber er lässt dich in seine Wohnung
ÉmilGrau, aber du magst keine Negativität
AmandaGrau, aber du wirst (angeblich) Negativität los
ÉmilGrau, aber du bist ein Bruder
AmandaGrau, aber er schreibt dir
AmandaGrau, aber vielleicht können Farbflecke sich auf dich übertragen
AmandaGrau, aber du ziehst dich aus
ÉmilGrau, aber alles Blut sackt dir nach unten
AmandaGrau, aber du hast keine Ahnung, woher der Schmerz so plötzlich kommt
AmandaGrau, aber dein Bauch ist dein Feind und du fühlst es überall
ÉmilGrau, aber es muss sich etwas ändern
AmandaGrau, aber ein Smiley bringt dich zum Verzweifeln
AmandaGrau, aber du bist Piratin mit Netzstrumpfhose
AmandaGrau, aber die Luft ist keine Luft mehr
AmandaGrau, aber es gibt kein Zurück
AmandaGrau, aber du kannst es fast fühlen
III – Ein bisschen weniger grau
ÉmilGrau, aber alles schreit nach dir
AmandaGrau, aber du gehst, ohne zu kommen
AmandaGrau, aber deine Haut ist immer noch gerötet
AmandaGrau, aber lila
ÉmilGrau, aber du fühlst dich wie sechzehn
AmandaGrau, aber du weißt es plötzlich
AmandaGrau, aber vielleicht ist das Heilung
AmandaGrau, aber du bist nicht nur ein Funke
AmandaGrau, aber es geht nie bergauf
ÉmilGrau, aber sie steht vor deiner Tür
IV – Grau?
AmandaGrau, aber alles ist heller
ÉmilGrau, aber vielleicht fühlt es sich nicht mehr so an
AmandaGrau, aber grünes Herz
AmandaGrau, aber jetzt klopft dir das Herz bis zum Hals
AmandaGrau, aber du bist in Paris
ÉmilGrau, aber du willst sie immer berühren
AmandaGrau, aber ihr starrt die Sterne an
AmandaGrau, aber du bist elektrisiert
AmandaGrau, aber der letzte Satz in diesem Kapitel
AmandaGrau, aber grau
ÉmilGrau, aber du bist zu müde
ÉmilGRAU, ABER KEINE AHNUNG, WAS ICH EIGENTLICH SAGEN WOLLTE, HAHA
AmandaGrau, aber du bist eine Frau
AmandaGrau, aber du warst schon einmal grau
AmandaGrau, aber für immer grau
ÉmilGrau, aber du versuchst es
AmandaGrau, aber ein Kunstwerk ist nie beendet
AmandaGrau, aber du hast Geschwister
AmandaGrau, aber …
V – Grau, aber irgendwie auch bunt
AmandaGrau, aber … Welche Farbe hat das Gefühl, wenn deine Freundin vielleicht nicht mehr deine Freundin sein kann?
AmandaGrau, aber … Welche Farbe hat Rennen, ohne dass ich wegrenne?
ÉmilGrau, aber … Welche Farbe haben Überraschungen?
AmandaGrau, aber … In welcher Farbe fühlt man am besten?
ÉmilGrau, aber … Welche Farben haben magnetische Herzen?
AmandaGrau, aber … Welche Farben haben Enden, die Anfänge sein könnten?
Epilog
Danksagung
Triggerwarnung
Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Elemente. Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese beinhaltet Spoiler für die gesamte Geschichte!
Wir wünschen euch das bestmögliche Leseerlebnis.
Playlist
Teufel – Miese Mau
Die Sterne – Edwin Rosen
einfach – JEREMIAS
Would’ve, Could’ve, Should’ve – Taylor Swift
Hilferuf – Mayberg
pretty isn’t pretty enough – Olivia Rodrigo
Echo – Berq
jealousy, jealousy – Olivia Rodrigo
Wie du Bilder malst – Tiemo Hauer
Colors – Halsey
Freister Mensch der Welt – ENNIO
Labyrinth – Taylor Swift
Verschwende deine Zeit – Edwin Rosen
The Falling – FIL BO RIVA
Heiße Herzen – Miese Mau
The Archer – Taylor Swift
Nur zu weit – Traumatin
Unendlichkeit – ENNIO
Airpods – makko
Lichterloh – NILS KEPPEL
Wild Girl – zeck
Dear John – Taylor Swift
Keine Tränen – Miese Mau
vampire – Olivia Rodrigo
Verrückt – JEREMIAS
Wir haben den Winter überlebt – JEREMIAS
Prolog
Es war der 01.01., ich war zweiundzwanzig Jahre alt und beschloss, mein Leben zu verändern.
Ringsum flogen Raketen in den Himmel und explodierten in den verschiedensten Tönen. Blau, Gelb, Rot. Etliche Menschen hielten das Spektakel auf ihren Handys fest, bloß um es sich nie wieder anzusehen.
Ich tat das nicht.
Meine Winterjacke hatte ich bis zum Kinn geschlossen, während ich in den Himmel starrte und mir versprach, dass ich es diesmal wirklich ernst meinte.
Ich wollte mehr wagen.
Mich mehr trauen.
Höher fliegen, in der Hoffnung, endlich anzukommen.
Dabei würde ich nicht umziehen, mir keine andere Frisur verpassen und mich selbst auch nicht neu erfinden.
Das hatte ich alles schon längst versucht.
Immer wieder jagten Raketen in die Luft, sodass Farben um Farben wild vor unseren Augen explodierten. Nur in mir passierte nichts.
Ich fühlte mich grau.
Jetzt, gestern, letzte Woche, vorletzten Monat und vorvorletztes Jahr.
Grau.
Amanda
Grau, aber deine Wohnung ist bunt
»Zu mir oder zu dir?«
Ich hustete und verschüttete dabei beinahe den Inhalt meines Pappbechers.
Ich wünschte, das hier wäre ein Witz. Ein Aprilscherz. Ein Traum. Alles, bloß nicht meine Wirklichkeit. Kurz kniff ich sogar die Augen zusammen, in der Hoffnung, ich würde vielleicht doch schlafen und einfach aufwachen, wenn ich die Lider wieder öffnete. Aber als ich sie aufschlug, war alles noch genauso, wie ich es gedanklich verlassen hatte.
Jakob starrte mich mit einem dampfenden Becher zwischen den Fingern an, während Fremde uns passierten. Er sah gut aus, war groß, viel größer als ich, und ließ sich seine dunklen Haare alle zwei Wochen schneiden. Sein Aussehen war ihm wichtig, aber er war nicht zu eitel. Jakob spielte Basketball und ging zusätzlich jeden Morgen ins Fitnessstudio. Er war diese Art Mensch, die keine Excuses machte und in zehn Jahren einen Ratgeber schreiben könnte, der sich millionenfach verkaufen würde. Wie ich mein letztes Spiel und dann das Leben gewann. Sein Bild wäre auf das Cover gedruckt und Menschen würden sich fragen, ob es sich dabei nun wirklich um ein Sachbuch handele oder ob es doch eine Parfumwerbung für Dior war.
Jakob Türmer hatte diese Ausstrahlung, die wir alle wollten. Unnahbar, aber nicht zu sehr. Wie der heiße Typ zwei Stufen über dir, den du täglich auf Instagram suchst, der dich allerdings nie anschreibt. Wenn Jakob grinste, war es schief.
So wie jetzt.
Jakob grinste, als wäre nichts dabei.
Zu dir oder zu mir?
Es war derselbe Moment, in dem ich mich daran erinnerte.
Ich wollte das hier.
»Zu mir«, erwiderte ich deshalb, doch meine Stimme zitterte vor lauter Unsicherheit.
Jakob bemerkte es nicht.
Sie bemerkten es nie.
Also schob auch ich ein Lächeln hinterher, bevor ich den ersten Schritt nach vorn tat.
Es war der 07.01., als ich einen halb fremden Typen nachmittags in meine Wohnung ließ.
Sag’s ihm, sag’s ihm, sag’s ihm.
Ich sagte es ihm nicht. Ehrlicherweise wusste ich nicht einmal, wo ich beginnen sollte, also schloss ich bloß die Wohnungstür auf und verkündete: »Tada.«
»Deine Wohnung ist …« Leicht verwirrt fasste er sich in den Nacken. »… ziemlich bunt.«
Ich lächelte gezwungen. Jakob hatte unrecht, nur meine Wände waren bunt. Für jeden Raum hatte ich eine eigene Farbe ausgesucht. Der Eingangsbereich war pfirsichfarben, wo ich sogar die Decke gestrichen hatte. Meine Möbel wiederum waren weiß und schlicht, stammten aus der IKEA-Kollektion, die ich laut einigen Inneneinrichtungsexperten lieber nicht gekauft hätte, weil sie jeder hatte.
Ich wollte wie jeder sein.
Doch als ich einen Blick in den Spiegel erhaschte, erschrak ich beinahe vor mir selbst. Schnell befreite ich mich von meinen Schuhen, während ich Jakob erklärte, er könne seine anbehalten. Eigentlich sah ich aus wie immer. Dunkles Haar, braune Augen. Meine Brauen waren eckig und markant, wobei mein Gesicht eher lieblich wirkte. Was auch immer das bedeutete. Mamas Kosmetikerin hatte es einmal gesagt.
Wirklich eine schöne Tochter, hatte sie auf Portugiesisch kommentiert, als wäre ich nicht anwesend gewesen.
Ich war verwirrt von meinem eigenen Spiegelbild, weil ein eins fünfundachtzig großer Typ neben mir stand. In meiner Wohnung.
Das ist falsch.
Mein Gehirn wollte mir mein derzeitiges Leben rot anstreichen wie Herr Paulus meine Matheklausuren in der Oberstufe. Aber das konnte ich nicht zulassen. Immerhin hatte ich so lange auf diesen Moment hingearbeitet.
Ich würde es mir nicht kaputtmachen lassen.
Ich würde es mir selbst nicht kaputtmachen.
»Willst du was trinken?«, fragte ich deshalb.
Ich stand mit dem Rücken zur Flurtür und wollte mich gerade umdrehen, weil ich auf jeden Fall ein Glas Wasser gebrauchen konnte. Da fasste er mich plötzlich am Handgelenk.
»Was soll das, hm?«
Als er mich spontan gegen die Wand drückte, stockte mir der Atem. Ich spürte seine Größe und Schwere, wie sich sein muskulöser Körper gegen meinen presste.
»Ich …« Ich wollte antworten. Was genau, wusste ich selbst nicht, allerdings konnte ich sowieso nicht weitersprechen. Ruckartig kam Jakob mir nämlich näher. »Lassen wir doch das dämliche Vorspiel«, raunte er und legte mir die große Hand in den Nacken. Grob zog er mich daran zu sich und zwang mich dazu, ihm in die Augen zu sehen. Sein Blick war wild und dunkel. Außerdem schien er größer und so geöffnet, als könne er es kaum erwarten, mich zu verschlingen.
»Gott.« Heiser fuhr er mit der Fingerspitze meine Lippenform nach. »Du bist so unfassbar heiß.«
Dann küsste er mich.
Amanda
Grau, aber er erkennt dich
Ich wollte es ihm immer noch sagen, allerdings schien Jakob für die nächsten zehn Minuten so beschäftigt damit, mir die Zunge in den Hals zu stecken und mich über der Kleidung zu berühren, dass ich nicht wusste, wie ich ihn stoppen sollte.
Im Grunde war es genau das, was wir abgesprochen hatten.
Aber wieso fühlte es sich dann so an? Nicht richtig, nicht gut genug? So falsch wie jedes Ergebnis in jeder meiner verfluchten Matheklausuren bei Herrn Paulus?
Jakobs Hände verharrten auf meinen Hüften, während er sich meinen Nacken entlangküsste. Und meine Beine plötzlich um seinen Unterleib spreizte. Ich spürte ihn sofort, selbst durch die Jeans. Wie er pulsierte und sich dabei rhythmisch gegen mich wiegte.
»Fuck«, stöhnte er atemlos. »Wie willst du’s, Baby? Sag’s mir, komm schon. Macht es dich auch so an? Dass ein Halbfremder kurz davor ist, dich gegen deine Flurwand zu vögeln? Gott, Amanda. Lass es uns so machen, ja? Hier direkt gegen die Wand. Ich halte es nicht aus mit dir.«
Jeder Muskel in mir erstarrte, obwohl Jakob nichts falsch machte. Wir hatten das hier abgesprochen. Doch je heftiger er sich an mir rieb, desto mehr fürchtete ich, mich einfach aufzulösen.
Konzentrier dich, Amanda Breuninger.
In einem schwachen Versuch küsste ich ihn zurück. Sein Stoßen wurde heftiger, er keuchte. Ich versuchte, mich auf meinen Herzschlag zu konzentrieren. Auf ein Kribbeln oder ein verlangendes Ziehen in meinem Unterleib.
Doch alles, was ich spürte, war Jakobs Hand, die sich zwischen unsere Körper schlängelte und unter meine Jeans schlüpfte. Als er meinen Slipbund streifte, zuckte ich so heftig zusammen, dass er von allein stoppte.
»Ähm, Amanda? Ist das etwa nicht okay für dich? Wir … wir müssen nicht direkt aufs Ganze gehen, wenn du dich unwohl damit fühlst. Wir können natürlich auch nur reden.«
Wie er das sagte. Wir können natürlich auch nur reden. Seine Stimme klang dabei so verwirrt, dass mir klar wurde, er tat das nie. Nur reden. Jakob Türmer küsste und vögelte, berührte Menschen, ohne sie jemals so richtig zu berühren. Was auch vollkommen okay für mich war, nur dass sich gerade nichts okay anfühlte.
Ist das etwa nicht okay für dich?
Im Grunde hätte er mich fragen sollen, wann ich jemals wirklich okay war.
Weil ich nichts erwiderte, löste er meine Beine von seinem Körper. Zitternd verharrte ich weiterhin mit dem Rücken gegen die Wand. Dann holte ich tief Luft, bevor ich mich der Wahrheit stellte.
Ich öffnete die Augen, doch sah erst zwei Sekunden später zu Jakob. Als Allererstes blieb mein Blick an meiner pfirsichfarbenen Decke hängen. Die Farbe leuchtete mir förmlich wie eine Sommerabendsonne entgegen.
Tief horchte ich in mich hinein, suchte nach einem Anhaltspunkt, einem Anzeichen. Nach irgendetwas. Vergebens. Mein Versuch war gescheitert.
Grau.
In mir war immer noch alles grau.
Doch diesen Gedanken wollte ich nicht wahrhaben. Also strich ich ihn einfach durch. Als könnte ich meinen Neujahrsvorsatz so im Gegensatz dazu bald abhaken.
Ich wünschte, ich könnte die nächsten achtundzwanzig Minuten überspringen.
Einfach alles war unangenehm.
Jakob wollte sicher nicht wie der letzte Arsch wirken und sich just in dem Moment verabschieden, in dem ihm bewusst geworden war, dass er mich nicht vögeln würde.
Ich wiederum wollte ihm nicht verklickern, dass ich genauso wenig Lust auf Konversation hatte wie er. Immerhin wäre das unhöflich gewesen. Und das war ich nicht.
Deshalb saßen wir an meinem Küchentisch. Der Raum war zusammengewürfelt, gebrauchte Geräte von eBay wechselten sich mit den günstigsten Möbeln ab, die es gab. Dazu kamen Bilder und Zeichnungen. An den Wänden, Pinnwänden und dem Kühlschrank. Hier waren die Wände blassgelb, aber auch ihr Anblick hatte mir nie geholfen.
»Stopp mal.« Jakob unterbrach sich selbst bei seinem ellenlangen Monolog über Zeitmanagement. »Ich kenne diese Zeichnung. Von wo ist die noch mal? Warte, warte, sag’s mir nicht. Das ist irgendein Spruch von dieser Seite. Meine Schwester liebt die. Irgendwas mit Girls?«
Ich folgte seinem Blick, bevor alles in mir gefror.
Nun betrachteten wir beide eine Zeichnung.
Meine Zeichnung.
Es war eine Illustration aus einer längst vergangenen Zeit. Sie zeigte eine Frau in meinem Stil. Er war verspielt und laut, passte für die meisten nicht zu meiner Ausstrahlung. Auf Fremde wirkte ich nämlich mysteriös und unnahbar, im schlimmsten Fall sogar arrogant. Schuld daran waren wahrscheinlich mein Make-up und die Tatsache, dass ich irgendwie intensiv war. Was auch immer das bedeutete.
Jakob stand auf, um selbstsicher auf die Wand mit meinen Zeichnungen zuzugehen.
Das hier war tatsächlich ein Witz.
Insbesondere deshalb, weil er an einer Skizze hängen blieb, neben die ich einen Spruch gekritzelt hatte.
I am powerful.
Der Satz war schon immer eine Lüge gewesen, ganz egal, wie sehr ich mir gewünscht hatte, er würde beim Aufschreiben wahr werden. Jetzt zückte Jakob auch noch sein Handy. Es war ein schwarzes iPhone in der neusten Version. Schwer und edel, so ein passendes Accessoire.
»Ha!«, rief er plötzlich. »@thegirlnextdoor, wusste ich’s doch, dass es diesen Account gibt.«
Jakob scrollte sich durch unseren Feed. Fünf Sekunden später konnte ich genau erkennen, wie er an dem Gruppenbild hängen blieb, das Lucy, Tillie und ich zuletzt hochgeladen hatten. Als er dann den Blick hob, begutachtete ich seine gefurchten Brauen. Instinktiv straffte ich die Schultern.
»Du bist Influencerin?«
Wäre sein Satz eine Chatnachricht, hätte er ein Dutzend Fragezeichen hinterhergeschossen, um seine Verwirrung zu untermalen. In der Realität blieb ihm nur übrig, den verwundertsten Blick aller Zeit aufzusetzen.
Influencerin.
Mein Kopf pochte, denn was sollte ich darauf schon erwidern? Sorry, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Irgendwie ist das alles ein bisschen kompliziert. In Wahrheit bin ich vielleicht eine Influencerin, würde mich als solche allerdings eher weniger beschreiben. Wieso besuchst du nicht einfach unsere Website? Dort findest du unsere Entstehungsgeschichte genau. Nein, keine Lust, dein Datenvolumen aufzubrauchen? Ja, versteh ich, okay, dann hier die Kurzversion: Tillie und Lucy sind meine besten Freundinnen. Bevor sie das wurden, waren wir alle allerdings in denselben Typ verschossen. Nicht zur gleichen Zeit, trotzdem hat er uns mit haargenau derselben Ausrede abserviert: Du bist leider nur das nette Mädchen von nebenan. Wahrscheinlich habe ich seitdem ein paar Komplexe, das ist jedoch eine andere Geschichte. Jedenfalls studieren wir an derselben Kunsthochschule, sind Freundinnen geworden und haben diesen Account gegründet, der mittlerweile zu einer Marke geworden ist. Wir stehen für feministische Werte und vermitteln diese in verschiedenen Formaten. Ich übernehme das Grafische, deshalb sind meine Zeichnungen dir so bekannt vorgekommen. Sonst noch Fragen?
Wäre ich Tillie gewesen, hätte ich das einfach so runtergerattert. Meine Freundin war nämlich gut darin, felsenfest für sich einzustehen, selbst wenn ihre Beine zitterten. Lucys Stimme hingegen zitterte tatsächlich oft, doch auch das machte nichts, weil alles, was sie sagte, wichtig war. Bei mir war das anders. Ich hatte das Gefühl, ich hätte so viel zu sagen, dass ich lieber stumm blieb.
»Hallo?« Jakobs Lippen pressten sich aufeinander, als wäre er wütend. Als hätte ich ihn verarscht, indem ich unserem unverbindlichen Treffen zugestimmt hatte, obwohl wir uns auf @thegirlnextdoor ständig über diese allgegenwärtige Abgeklärtheit beklagten. »Amanda, hörst du mich?«
Mein Herz pochte mir noch immer bis zum Hals, doch mein Mund öffnete sich nicht. Egal, was ich erwidern würde, meine Stimme würde mickrig und zerbrechlich klingen. Genau dann rettete mich das schrille Klingeln meines Handys. Kurz bevor ich den Anrufer erkannte und mich damit entschuldigte, dass es meine Arbeit und deshalb wichtig sei, war da diese Stimme in meinem Kopf.
Vielleicht hast du dich auch einfach nur die letzten sieben Tage selbst verarscht.
»Tut mir leid«, murmelte ich, deutete auf mein Handy und nahm ab.
Amanda
Grau, aber du wolltest etwas anderes fühlen
Eine amerikanische Studie hatte herausgefunden, dass lediglich kümmerliche vier Prozent auf Tinder nach der wahren Liebe suchten. Zweiundzwanzig Prozent wollten vögeln. Der Großteil mit vierundvierzig Prozent suchte bloß Bestätigung.
Als ich mich vor knapp einer Woche angemeldet hatte, war nichts davon der Fall gewesen.
Jakob war nicht der erste Typ, der mir ins Auge gesprungen war. Zwei Stunden hatte ich fremde Gesichter nach links oder rechts geswipet, mich dabei schäbig und viel zu oberflächlich gefühlt. Aber was für eine Wahl war mir geblieben? Ich wollte jemanden kennenlernen und so lernte man jemanden kennen. Als Allererstes war mir sein gutes Aussehen aufgefallen, was mir eigentlich egal gewesen wäre. Und das meinte ich wirklich. Ich war die Freundin, über die alle in der großen Runde den Kopf schüttelten. Die, die sagte: In echt sieht er viel besser aus, wirklich, wenn sie dazu überredet wurde, ein WhatsApp-Profilbild zu zeigen. Ich mochte an Jakob, dass er seine Absichten klargemacht hatte, ohne wie der typische Aufreißer zu wirken. Im Grunde war er das wahrscheinlich trotzdem. Doch auch daran war nichts schlimm. Insgeheim wünschte ich mir sogar, ich selbst könnte einfach nur Sex haben, aus Spaß an der Freude.
Schade, dass gerade alles ein großes Desaster war.
Ich checkte die Uhrzeit auf meinem Handy. Siebzehn Uhr vierundzwanzig. Vor nicht einmal einer halben Stunde hatte ich Jakob mit piepsiger Stimme zu verstehen gegeben, dass ich wegmüsse. Ein Notfall auf der Arbeit, tut mir leid, ehrlich. Mein Chef Markus hatte angerufen, weil Fiona ausfiel, also musste ich einspringen.
Seit dem Abi hatte ich ziemlich viele Gastrojobs in meinem Lebenslauf gesammelt. Bis vor Kurzem hatte ich abends in einer Hotelbar gearbeitet, um tagsüber genug Zeit für die Uni zu haben. Inzwischen war ich fast fertig mit dem Studium und kellnerte dreimal die Woche im Zuckermonarchie. Ein sehr modernes und hippes Café im Belgischen Viertel, in dem alle Bilder von ihrem Cappuccino und veganen Karottenkuchen schossen. Tillies ältere Schwester Cleo hatte mir den Job vermittelt, da sie selbst dort als Konditorin arbeitete und mitbekommen hatte, wie sehr mich die Nachtschichten aus dem Konzept brachten.
Jetzt saß ich in der Bahn, würde in zwei Haltestellen aussteigen und konnte einfach nicht widerstehen. Wie automatisch entsperrten meine Finger das Display und öffneten die App, die ich eigentlich nie hatte runterladen wollen. Den Chat mit Jakob fand ich in Rekordgeschwindigkeit, bevor ich sein Profil öffnete.
Jakob |Cgn | 25 | 185 || Prinzipiell nur auf der Suche nach etwas Lockerem, aber wer weiß, was sonst noch passiert
Würde ich in unserem Verlauf bis ganz nach oben scrollen, würde ich sehen, dass ich ihn angeschrieben hatte. Unser Gespräch war nicht über Small Talk hinausgekommen, allerdings hatte Jakob Humor und das hatte für mich wiederum dafür gereicht, ihm meine Nummer zu geben. Damit wurde er von einem Fremden zu einem smileylosen Kontakt in meinem Adressbuch. Sieben Tage später waren wir hier gelandet. In dieser unnötigen Situation, die allein mir zu verdanken war. Innerlich lachte ich auf. Garantiert hatte er nicht damit gerechnet.
Keinen Moment später öffneten sich die Türen an meiner Haltestelle Rudolfplatz und ich sprang im letzten Moment hoch. Auf der Straße begrüßte mich der Wind peitschend und gerade als ich mein Handy wegstecken wollte, vibrierte es.
Lucy-Lu@thegirlnextdoor Freeeue mich auf nachher
Wie viel Uhr sollen wir da sein? @manda
Die Party bei Matteo.
Meine Schläfen pulsierten, als ich mich an den Plan für heute Abend erinnerte. Mein Bruder schmiss eine WG-Party anlässlich seiner Rückkehr aus Rom und hatte uns eingeladen. Das letzte Semester hatte Matteo nämlich inmitten von Pasta, Pizza und la dolce vita verbracht.
Hastig tippte ich eine Antwort, bevor ich das Handy wieder wegsteckte. Dabei juckte es in meinen Fingern, jede Nachricht, die ich an Jakob geschickt hatte, zu untersuchen. Doch ich wusste es besser. Immerhin würde ich sowieso nichts daran ändern können, vor allem dann nicht, wenn ich die nächsten drei Stunden arbeiten würde.
Ich bog nach links, da erkannte ich die Fassade des Zuckermonarchie bereits. Instinktiv verzog ich die Brauen.
Drei Frauen in identisch roséfarbenen Shirts hatten sich vor der Eingangstür versammelt und rauchten, wobei sie aufgrund der kalten Temperaturen zitterten. Bereits aus dieser Entfernung stellte ich verwundert fest, dass das Innere anders wirkte. Tische waren an die Wand gerückt und Stühle so positioniert, dass sie einen Kreis bildeten. Vor jedem Platz war eine … Staffelei positioniert? Mit einem seltsamen Bauchgefühl beobachtete ich, wie eine Frau mit blondem Bob die Eingangstür aufriss.
»Hört auf, euch Krebs einzufangen, es geht gleich looos«, flötete sie und trug dabei das gleiche Oberteil wie die anderen drei. Diesmal konnte ich sogar die geletterte Aufschrift entziffern.
BRAUT-CREW.
Ich widerstand dem Drang, die Wangen aufzublasen. Gerechnet hatte ich mit einer entspannten Restschicht. Jetzt erinnerte ich mich vage daran, dass Kathi letzte Woche von irgendeinem besonderen Event geredet hatte. Ich hatte nicht aufmerksam zugehört, schließlich war ich für diesen Tag nicht eingeteilt gewesen. Eigentlich.
»Hallo«, sagte ich und zwang mir ein Lächeln auf die Lippen, als ich die Frauen passierte und das Innere betrat. Gute-Laune-Musik trällerte aus den Lautsprechern und in einer Ecke des Raums war ein kleines Büfett aufgebaut worden. Fliederfarbene Cupcakes schimmerten mir neben Sektgläsern entgegen, während ich Kathi erleichtert aufatmen hörte.
»Danke, dass du so spontan konntest«, murmelte sie, nachdem sie mich begrüßt hatte. »Dafür hast du was gut.«
Ich verschwieg, dass eigentlich diese Schicht hier mich gerettet hatte. Kathi klärte mich auf und erzählte, dass hier heute ein Junggesellinnenabschied mit einer Art Night kombiniert wurde.
»Richtig cooles Konzept«, schloss sie ab. »Übrigens müsstest du deshalb bis neun bleiben. Ich hoffe, das ist okay?«
Ich lächelte bloß, bevor ich meine Tasche und Jacke im Mitarbeiterraum ablegte. Wenigstens hatte ich so Ablenkung. Hastig band ich mir einen Zopf und die Schürze um die Hüften, bevor ich das Café wieder ansteuerte. Schon im Gang hörte ich, dass die Musik einen Tick leiser gedreht wurde. Keine Ahnung, wieso sich die Härchen in meinem Nacken in genau diesem Moment aufstellten. So als hätte mein Körper schon lange vor mir gewusst, was passieren würde.
Manchmal fragte ich mich, was geschehen wäre, wäre Fiona nicht ausgefallen. Ich hätte ihn nie hier gesehen.
Vielleicht wäre alles nie so weit gekommen.
Doch eigentlich war das Mist, weil es so weit gekommen war. Weil die Musik noch ein bisschen leiser wurde, wie im Film, bevor alles ringsum verschwamm.
Nur er blieb gestochen scharf, wie detailgetreu mit Bleistift gezeichnet, Strich für Strich.
Rund ein Dutzend Menschen befanden sich in diesem Raum und hielten Pinsel in der Hand. Farbtuben lagen auf dem Boden verteilt, wobei an einigen Fingern schon Flecken klebten. Mein Blick blieb allerdings nicht an den vielen bunten Farben hängen, die ich tief in mir so vergebens suchte.
Ich starrte bloß den Typen an, der splitterfasernackt vor mir lag.
Amanda
Grau, aber er ist nackt
Zugegeben: Er lag nicht unmittelbar vor mir.
Er lag auf der Tischplatte, die mittig im Sitzkreis platziert war. Konzentriert setzten die Teilnehmerinnen Striche auf ihre Leinwände, wobei sie ihre Blicke immer wieder zu ihm zucken ließen.
Ich tat das nicht.
Ich wandte mich bloß hektisch von ihm ab.
Im Grunde hatte ich ihm nur ins Gesicht gesehen. Trotzdem spürte ich, wie meine eigenen Wangen sich erwärmten. Bestimmt verschwand ich hinter die Theke.
»Ich wusste gar nicht, dass Stripshows gegen sexy Malstunden ausgetauscht wurden«, kommentierte Kathi flüsternd. »Sind die weniger sexistisch, oder wie?«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Also hob ich bloß die Schultern und konzentrierte mich auf meine Arbeit. Ich räumte auf und putzte, füllte Sektgläser und Cupcake-Teller auf. Ich wischte und spülte, tat alles, um bloß nicht in seine Richtung zu sehen.
Ich wusste nicht, wieso.
Wahrscheinlich, weil ich sterben würde, wenn ich nackt in einem Raum läge und mich jeder ansehen könnte.
Ich wollte niemandem dasselbe antun.
»Oh Mann, wenn dieses Bild den Verlauf meiner Ehe prophezeien würde, sähe sie echt beschissen aus.« Die Braut seufzte laut auf. »Wer auch immer diese Malstunde von euch ausgesucht hat: Ich verfluche dich.«
Sie lachte und die anderen fielen mit ein. Ich war gerade dabei, das Kuchenschaufenster zu säubern, da hörte ich Kathis Stimme.
»Wenn ihr Hilfe braucht, fragt Amanda«, warf sie euphorisch ein. »Sie ist Kunststudentin.«
Ich wünschte, sie hätte das nicht gesagt. Ruckartig lagen nämlich alle Blicke auf mir. Ich hatte nicht einmal Zeit, meine Kollegin zu verbessern. Denn eigentlich studierte ich Grafikdesign. Das war ein ganz anderes Paar Schuhe. Die Braut legte dennoch den Kopf schräg und mein Blick verharrte dabei auf dem Pinsel zwischen ihren Fingern. Die Haare waren voller leuchtendem Enzianblau.
»Echt?« Verwundert rückte sie ihrer Sitzkante näher. »Du siehst gar nicht aus wie eine Kunststudentin.«
Wie sieht eine Kunststudentin denn bitte aus? Ich verkniff mir die Frage und wollte ihren Kommentar schlicht weglächeln, doch sie war noch nicht fertig.
»Hey, schau nicht so, das meinte ich als Kompliment. Du wirkst gar nicht so öko. Du hast voll Style. Und dein Gesicht ist so schön. Dann noch deine Haare. Mann, ich hätte gerne so dicke und glänzende Haare wie du.«
Mein Blinzeln wurde krampfartig. Selbst Kathi neben mir versteifte sich. Sicherlich hatte die Gruppe das eine oder andere Glas zu schnell heruntergekippt. Trotzdem war diese Art von Kommentar seltsam.
Immer wurde mein Aussehen kommentiert.
Von Frauen und Männern, ganz egal, was ich tat oder trug. Die Helferin bei meinem Hausarzt hatte mich mal gefragt, ob meine Brüste echt seien, als ich mich für eine Untersuchung ausgezogen hatte. Damals war ich siebzehn gewesen.
Manchmal verstand ich Menschen nicht.
Manchmal war auch jetzt, weil die Braut fortfuhr.
»Ach, egal, du kannst mir nachher ja mal deine Shampoomarke verraten.« Mit glasigen Augen lächelte sie mich an. »Vielleicht könntest du mir vorher wirklich bei meinem Bild helfen?«
Weil ich keine Spielverderberin sein wollte, legte ich den Lappen beiseite. Die anderen malten weiter an ihren Bildern, während ich mich der Braut näherte und dann die Wangen aufblies.
Das Bild war nicht zu retten.
Alles war chaotisch und unförmig gesetzt. Nichts wirkte realistisch oder plastisch. Aber wer konnte schon Menschen malen, wenn er eigentlich nicht malte? Kunststudenten verbrachten mehrere Semester damit, die Anatomie eines Menschen zu erfassen. Außerdem ging es hier um Spaß, nicht wahr?
»Und?«, drängelte die Braut, bevor sie zu ihrem Sektglas griff. »Was soll ich anders machen?«
Ich strich mir eine dunkle Strähne hinter das Ohr, um Zeit zu schinden. Und gerade dann, dann als ich mir etwas aus den Fingern saugen wollte, was sie glücklich machen würde, spürte ich einen Blick auf mir.
Seinen Blick.
Da gab ich auf und sah den splitterfasernackten Mann zum allerersten Mal so richtig an.
Und scheiße, war er schön.
Von meinem Bruder Matteo wusste ich, dass das kein Wort war, das Männer gern hörten. Sie wollten als heiß und groß und stark betitelt werden. Und vielleicht war der Typ auch alles davon, doch mein erster Gedanke stimmte trotzdem.
Er war schön. Hatte blondes Haar, das er an den Seiten kürzer trug als in der Mitte. Seine Augen waren groß und dunkelbraun mit Wimpern so dicht, ich hätte sie niemals zählen können. Seine Wangenknochen waren hoch und die Lippen einen Tick zu voll, sodass es besonders wirkte. Das waren viele Gedanken für das Gesicht eines Fremden, aber ich musste mich derart intensiv mit seinem Gesicht beschäftigen, weil mein Blick sonst weitergewandert wäre.
Unglücklicherweise war es derselbe Augenblick, in dem sein Blick auf meinen traf.
Ich war mir noch nie in meinem Leben so bewusst gewesen, dass mich jemand ansah.
Wahrscheinlich war es die Dunkelheit seiner Augen. Wie groß sie waren. Augen, mit denen man nichts übersehen konnte. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie der Fremde hieß, wie alt er war, was er so machte und woher er kam. Aber da war etwas an ihm, allein an seinem Gesicht.
Es war elektrisierend.
Anziehend, mehr als attraktiv.
Er war definitiv nicht die Art Typ, bei dem du deinen Freundinnen versichertest, dass er in echt viel besser aussah. Er war so gut aussehend, dass es unecht hätte sein müssen. Er hätte Schauspieler eines romantischen Bestsellers sein können und alle hätten ihn vergöttert. Er war klassisch schön, aber gleichzeitig klassisch besonders. Er gehörte auf große Leinwände, auf Bilder, auf Staffeleien.
Er war alles, was ich verachtete.
»Hey!« Die Braut schnipste vor meinem Gesicht. »Was sagst du denn jetzt zu meinem Bild?«
Ihre Stimme holte mich zurück, obwohl ich gar nicht weg gewesen war. Nervös huschte mein Blick von dem Blatt Papier zu seinem Gesicht.
Als würde es mich magisch anziehen.
Aber Magie existierte nicht.
Das schrieb ich mir hinter die Stirn, selbst wenn mein Herzschlag beschleunigte. Ich trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf.
»Sorry, ich kann dazu nichts sagen«, flüsterte ich. »Ich male keine Menschen mehr.«
Dann steuerte ich zielsicher auf ein leeres Tablett zu, als hätte ich es schon die ganze Zeit im Blick gehabt.
Amanda
Grau, aber es ist zu persönlich
»Wieso nicht?«
Gute zwei Stunden später zuckte ich zusammen, kurz nachdem ich den Müllbeutel in den entsprechenden Container hatte fallen lassen. Mit angespannten Schultern drehte ich mich um, nur um ihm wieder ins Gesicht zu starren.
Dem wahrscheinlich schönsten Männergesicht auf der Welt.
»W…was?«, brachte ich zitternd hervor.
Es war kalt, höchstens drei Grad. Der Junggesellinnenabend war seit etwa zwanzig Minuten vorbei. Ich hatte damit gerechnet, noch den Müll zu entsorgen und dann nach Hause zu fahren, um anschließend wiederum zu meinem Bruder zu fahren.
Ich hatte nicht mit ihm gerechnet.
Diesmal war er nicht nackt. Und das war noch schlimmer. Schlimmer, weil mein Blick sich mehr zutraute und ich ihn somit ganz ansah. Sein Körper war nicht wie sein Gesicht.
Er war nicht schön.
Er war in der Tat heiß und groß und stark.
Das erkannte ich selbst durch seine lockere Kleidung hindurch. Weiter Pullover, gerade geschnittene Jeans. Die Bomberjacke darüber trug er offen, dafür saß auf seinen blonden Haaren nun eine Beanie. Er sah aus wie eine Mischung aus Model und Indiebandsänger. So attraktiv, dass es Furcht einflößend war.
Ringsum hörte ich Motorengeräusche, wie ein Bus anfuhr und ein vorbeiziehendes Kind quengelte.
»Ich spreche von vorhin«, erklärte er. »Wieso zeichnest du keine Menschen mehr?«
Kurz dachte ich, ich hätte mich verhört. Dann überlegte ich, laut aufzulachen, weil die Situation so absurd war. Er musste unmittelbar nach mir rausgegangen sein, hatte ebenfalls Feierabend und wollte nun ernsthaft wissen, wieso ich keine Menschen mehr zeichnete, als würde es ihn etwas angehen?
Instinktiv zog ich den Reißverschluss meiner Jacke höher. »Träume ich oder hat mich gerade wirklich ein Fremder aus dem Nichts gefragt, wieso ich keine Menschen mehr male?«
»Du hast es aus dem Nichts gesagt.« Nonchalant zuckte er mit den Schultern. Natürlich. Natürlich war er einer von dieser unbekümmerten Sorte, die nichts berührte, weil sie alle berührten. Allein mit ihrer verflixt intensiven Ausstrahlung.
»Stimmt nicht«, erwiderte ich. »Unsere zukünftige Braut wollte, dass ich ihr Maltipps gebe. Und das konnte ich nicht.«
»Ich dachte, du studierst Kunst?«
»Grafikdesign«, verbesserte ich. »Meine Kollegin verwechselt das immer.«
Ich male keine Menschen mehr.
Im Grunde hatte ich mich selbst verraten. Mit diesem Satz klargemacht, dass ich das mal getan hatte und aus sehr, sehr persönlichen Gründen nun nicht mehr tat.
Der Fremde neigte den Kopf. »Ist alles okay bei dir? Du … wirkst irgendwie so traurig.«
»Ist das ein Anmachspruch?«
»Bitte?«
»Du hast mich schon richtig verstanden.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist das etwa deine Masche? Fängst du Frauen beim Müllrausbringen ab und sagst ihnen, dass sie traurig aussehen?«
Zu meiner Verteidigung: Ich wusste, dass ich zu giftig klang. Doch ich war so genervt. Von diesem Tag, von Jakob und am allermeisten von mir selbst. Im Grunde wollte ich nicht einmal auf Matteos Party, sondern einfach nur in mein Bett, schlafen und davon träumen, dass ich ein anderes Leben hätte als mein eigenes.
Mein Gesprächspartner schien von meiner Abwehrhaltung allerdings nicht einmal die Spur verunsichert. »Nah«, machte er. »Frauen beim Müllrausbringen abzufangen, ist eigentlich nicht so mein Ding.«
»Na dann.« Ich nickte ihm zu und machte den ersten Schritt nach vorn, als ich seine Stimme erneut hörte.
»Im Ernst. Ist alles okay bei dir?«
Er klang so ehrlich.
So aufrichtig interessiert, dass ich innehielt.
»Wieso fragst du mich das?«, flüsterte ich kapitulierend. »Niemand will wirklich wissen, wie es jemandem geht. Fremde erst recht nicht.«
»Ich schon.«
»Das macht keinen Sinn.«
»Höre ich öfter, wenn es um meine Ideen geht.«
Da tat er das Allerallerschlimmste: Der Fremde lächelte und es war wirklich wie in den Filmen, wie auf Plakaten, wie auf Bildern, die man retuschierte. Sein Lächeln war gerade und perfekt. Wäre gutes Aussehen Geld, wäre er Billionär.
»Ich habe keine Ahnung, wie du heißt, aber …«
»Émil«, unterbrach er mich, als wäre das hier eine Vorstellungsrunde.
»Na schön, Émil«, fuhr ich fort und kapitulierte endgültig. »Ich habe keine Ahnung, was das hier gerade soll, aber wenn es dich so brennend interessiert: Nein, mir geht es nicht gut. Ich habe das schlimmste Treffen überhaupt hinter mir und mein Date sogar geküsst, obwohl ich niemanden mehr seit vier Jahren geküsst habe. Aber jetzt suche ich etwas Lockeres. Ziemlich erbärmlich, was? Das Ganze wird nur davon übertroffen, dass ich mich nun fragen muss, ob besagtes Date die Sexting-Nachrichten, die wir ausgetauscht haben, der ganzen Welt zeigt, weil …« Es war der einzige Moment, in dem ich stockte. Tief atmete ich durch. »… es da einfach ein paar Personen gibt, die wir beide kennen. Also, da du jetzt über mein seelisches Befinden Bescheid weißt – würde es dir etwas ausmachen, wenn ich nach Hause gehe?«
Da war dieser Moment, als ich verstummte, als plötzlich alles verstummte. Émil teilte die vollen Lippen, doch brachte kein Wort hervor. Für einen Moment lang sah er mich einfach nur an. Er war gut darin: mich zu beäugen. Ich spürte seinen Blick überall auf mir, obwohl ich geübt darin war, nichts mehr zu fühlen. Dann atmete er tief ein, wobei seine Brust sich so stark hob, dass ich es erkennen konnte.
Alles, was Émil tat, tat er intensiv.
Mich anschauen, mich Dinge fragen, atmen.
Das erkannte ich schon jetzt.
»Natürlich macht es mir nichts aus«, murmelte er. »Sorry, dass ich gefragt habe.«
Ich antwortete, indem ich mit den Schultern zuckte und meinen Weg beschritt. Allerdings hatte ich den Abstand zwischen uns falsch kalkuliert, sodass mein Jackenärmel für den Bruchteil einer Sekunde seinen streifte. Er erstarrte und ich schreckte zurück, weil ein kleiner Stromschlag mich durchfuhr.
Ein allerallerletztes Mal sah er mich an. »Sorry«, sagte er wieder und blinzelte, als wäre er selbst überrascht.
Elektrisierend.
Das war nicht gelogen.
Amanda
Grau, aber es ist wie im Film
Ich hätte ihn nie wiedersehen dürfen.
Rein logisch betrachtet ergab es überhaupt keinen Sinn. Ich dachte auch nicht mehr an ihn. Na ja, zumindest fast. Denn als ich mir eineinhalb Stunden später den zweiten Lidstrich zog, blitzte die Erinnerung an ihn in mir auf. Seine blonden Haare, das Eine-Billion-Euro-Lächeln. Und dann war er auch noch so mit sich im Reinen, dass er sich von einem Dutzend Frauen nackt malen ließ. Wie viel Selbstbewusstsein konnte man haben?
Ich sah mich im Spiegel an und fragte mich, ob er mir etwas davon abgeben könnte.
Ich fand mich nicht hässlich, wusste, dass ich ganz okay aussah und froh darüber sein sollte, noch nie in meinem Leben den Wunsch geäußert zu haben, mir die Nase operieren zu lassen. So wie meine Freundinnen damals in der Mittelstufe. Trotzdem war irgendetwas falsch.
Ich fühlte mich grau, selbst wenn mein Rouge und mein Lippenstift pfirsichfarben waren.
Doch ich hatte mir etwas versprochen und der Januar war gerade einmal zur Hälfte vorbei. Noch war nicht der Zeitpunkt gekommen, Neujahrswünsche über Bord zu werfen. Ich wollte nämlich nicht mehr ertrinken.
Nie, nie, nie, nie mehr.
Also lächelte ich mir im Spiegel zu, während ich mir innerlich Mut zusprach.
Das wird alles ganz großartig.
Als ich Matteos Wohnung allerdings keine halbe Stunde später erreichte, war ich mir da nicht mehr so sicher. Lucy und Tillie hatte ich geschrieben, dass wir uns wegen meiner kurzfristigen Schicht vor Ort treffen würden, was bedeutete, dass ich sie nun in einem Gewusel voller betrunkener Studenten suchen musste. Und das waren nicht unbedingt die besten Voraussetzungen.
»Amaaandaaa, da bist du ja eeendlich!«
Matteos rothaariger Mitbewohner Felix begrüßte mich mit einer euphorischen Umarmung. Hinter ihm tanzten Partygäste im Flur zu Techno, während die WG-eigene Discokugel Farbmuster an die Wände warf. Sie waren neonfarben und bunt.
Ich war das nie.
»Hi«, sagte ich nur, nachdem ich von seinen muskulösen Armen beinahe zerquetscht worden war.
Zwischen einzelnen Beats schälte ich mich aus der Jacke und warf sie auf die überfüllte Bank hinter der Tür. Fremde tanzten in einer großen Wohngemeinschaft, die bei der Masse der Menschen plötzlich zu klein wirkte. Irgendwo verschüttete jemand Jägermeister und versuchte, es zu vertuschen, während vor einem Bierpongtisch gejubelt wurde. Es war wie in einem amerikanischen Film, bloß dass wir die roten Becher meistens gegen billiges Bier austauschten.
Ich studierte seit fast drei Jahren und kannte mich damit mehr als gut aus.
Keine Ahnung, wieso meine Beine sich trotzdem wackelig anfühlten, als ich mich in Richtung Küche vorkämpfte. Alles in mir war weich, wie verflüssigt. Weil die Wände vibrierten und mein Herz ständig dachte, es wäre mein Handy, das eine neue Nachricht ankündigte. Eine Nachricht, die Jakob mir geschrieben haben könnte.
Jakob, dem ich gesextet hatte.
Sagte man das überhaupt so? Ich hatte nicht einmal den blassesten Schimmer davon, wie ich zugeben sollte, dass ich überhaupt gesextet hatte, ohne naiv, bescheuert oder notgeil rüberzukommen.
Was hast du getan?
Musik floss dröhnend aus teuren Lautsprechern, doch meine innere Stimme war lauter. Ich verlangsamte meine Schritte, flüchtige Bekannte grüßten mich und mein Puls beschleunigte. Ich erkannte ihre Gesichter nicht. Vor meinem inneren Auge machte ich nur Bruchstücke von grellen Chatnachrichten aus.
Was würdest du gerne tun?
Lass es mich dir machen …
Nimm ihn in die Hand …
Nimm ihn in den Mund …
Nein, nimm du lieber mich …
Ich wünschte, ich könnte trinken und trinken, bis ich alles vergaß. Bis ich alles aus mir herauskotzen müsste. Und dann einfach leer wäre.
Ich hätte nichts dagegen.
Ich wünschte mir sogar einen Filmriss. Einen einwöchigen. Aber ich war nüchtern gewesen. Wie begründete man fragwürdige Entscheidungen, ohne von Alkohol beeinträchtigt zu sein?
Als das Herz mir bis zum Hals pochte, wusste ich, das hier würde nicht gut ausgehen. Matteos Flur war plötzlich so eng. Enger noch mit so vielen Menschen, die mir zuwinkten und mich anlächelten.
»Hey, Amanda, lange nicht gesehen!«
»Was geht, Manda?«
»Amanda, trinken wir einen?«
»Hey, du schuldest mir noch einen Tanz!«
Ich hörte das alles nicht, nahm nur meine viel zu angestrengte Atmung wahr. Luft. Ich brauchte Luft und atmete ein, doch es reichte nicht. Ein Teil in mir wusste, dass ich meine Freundinnen suchen müsste. Der größere Teil in mir fürchtete gerade allerdings, inmitten von glücklichen Menschen zu sterben. Ich stellte mir vor, was für eine Sauerei es wäre, wenn mein Herz mit all seinen Gefühlen und Gedanken explodieren würde. Grau über Grau über Grau.
Das wollte ich Matteo nicht antun.
Genau deshalb lenkten meine Füße mich nach links und in Richtung Balkon. Vage nahm ich wahr, dass sich dort einige Gäste mit Kippen versammelt hatten. Draußen angekommen drehte ich mich mit dem Rücken zu ihnen um und holte mein Handy hervor. Wenigstens wirkte ich so beschäftigt, während ich die Augen schließen und durchatmen konnte. Nach drei Atemzügen registrierte ich meine Außenwelt wieder, nahm das Gelächter der rauchenden Gruppe neben mir wahr und den allgegenwärtigen Bass. Bis ich unvermittelt diese Stimme vernahm.
»Bist du sicher, dass ich nicht vorbeikommen soll? Es wäre echt kein Problem. Ich … Okay. Aber schreib mir nachher, ja, Élise?«
Als er stockte, schnürte sich meine Kehle zu. Als er weitersprach, wollte ich verschwinden. Und als er schließlich ganz verstummte, war ich nicht mehr versteinert.
Automatisch schlug ich die Lider auf. Er war gerade noch dabei, das Handy in seiner Hosentasche zu verstauen. Dann hob er den Blick. Und lächelte.
Das war kein Eine-Billion-Euro-Lächeln.
Jetzt war es schief und viel zu ehrlich, beinahe intim. Als wäre es hier, auf diesem Balkon, mit einem Mal verboten, Émil anzusehen, wenn er lächelte, weil er es viel zu ehrlich meinte.
»Du hast wohl einen wirklichen Scheißtag, was?«
Amanda
Grau, aber du blickst dem Universum direkt ins Gesicht
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Also schluckte ich bloß, während Émil einen Schritt auf mich zukam. Anschließend stellte er sich neben mir auf, angelehnt an das Geländer. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie viel größer er war als ich. Im Gegensatz zu mir war er riesig, garantiert über eins neunzig. Außerdem stellte ich fest, dass er dasselbe wie vorhin trug, nur Jacke und Beanie fehlten. Dafür hielt er eine Flasche Bier in der Hand. Ich fragte mich, wieso er hier war. Danach fragte ich mich, wie wahrscheinlich es war, dass wir uns erst im Zuckermonarchie begegneten und nun auf dem Balkon meines Bruders.
Unsicher verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit wohl, dass wir uns erst vorhin und jetzt hier begegnen?«
»Köln hat über eine Million Einwohner und über einhunderttausend Studenten. Wenn jeder zwölfte eine WG-Party schmeißt, sind das über achttausend Partys heute Nacht. Aber … Warte mal, das klingt nach ein bisschen zu vielen Partys. Wie wäre es, wenn wir uns darauf einigen: Wahrscheinlich sehr unwahrscheinlich.«
»Wahrscheinlich sehr unwahrscheinlich«, wiederholte ich skeptisch, darauf bedacht, ihn auf gar keinen Fall zu beäugen. »Mein Mathelehrer hätte dich geliebt.«
»Dann hätte ich ihn gerne kennengelernt, meiner hat mich nämlich gehasst.«
Ich sah ihn weiterhin nicht an, doch spürte einfach, dass er lächelte. Keine Ahnung, seit wann man so etwas fühlen könnte. Aber es ging. Instinktiv trat ich einen Schritt zurück, als müsste ich mich von intensiven Gefühlen unbedingt fernhalten.
»Schau mal«, sagte er, bevor er sich umdrehte und ich mit ihm gemeinsam in den Himmel starrte.
Letzterer war leicht bewölkt, mit einem Sichelmond und einzelnen Sternen versehen. Kalter Wind wehte mir das Haar nach hinten. Ich fror, doch ich blieb. So war das mit Émil und mir, von Anfang an.
»Die ganzen Sterne, die du siehst, sind alles Sonnen.«
»Ich erkenne vielleicht sechs Sterne.«
Aus den Augenwinkeln registrierte ich, wie er die Braue neckend anhob. »Du weißt, was ich meine.«
»Ich würde lieber wissen, worauf du hinauswillst.« Ich bemerkte selbst, wie giftig ich klang. Als wollte alles an mir Émil unbedingt abstoßen, weil er mich so sehr anzog.
Trotzdem nippte er bloß kopfschüttelnd an seinem Bier, bevor er mir mit einem Mal gefährlich nah kam. »Bist du immer so …« Er kippte den Kopf, musterte mich. Ich spürte seinen Blick überall. »… charmant?«
»Nur an schlechten Tagen. An den guten bin ich noch reizender.«
Rau lachte er auf, ohne mir zu antworten. Er schien andere Pläne zu haben, stellte seine Bierflasche auf dem Boden ab und zückte sein Handy. Hinter uns dröhnte ein alter Remix, während er klickte. Schließlich hielt er mir das Display vor die Nase.
Émil hatte ein Video ausgewählt, das ich bereits kannte. Es war nicht länger als fünfzehn Sekunden, zeigte zunächst eine Landschaft und zoomte anschließend heraus, sodass man die Erde im Universum erkannte. Dann wurde immer weiter herausgezoomt bis hin zu anderen Galaxien und Sonnensystemen. Das Video war gerade zu Ende, da pingte eine Benachrichtigung am oberen Bildschirmrand auf. Von einer Anna auf WhatsApp. Ich erkannte ein Herz, doch Émil zog sein Handy so schnell zurück, dass ich es mir vielleicht nur eingebildet hatte.
»Wenn ich einen schlechten Tag habe, schaue ich mir das Video an.« Heiser räusperte er sich. »Meistens kann ich mir danach einreden, dass wir auf einem sehr kleinen Planeten in einem unendlich großen Universum leben. Genau deshalb können meine Probleme gar nicht so groß sein, wie ich sie mir ausmale.«
Im Grunde hätte ich erwidern können, dass er mir nichts Neues erzählte. Die Botschaft hinter seinen Worten begegnete mir auf Social Media beinahe täglich. Aber ich biss mir auf die Zunge. Ich wollte es nicht ins Lächerliche ziehen.
Ich wollte daran glauben.
»Und? Funktioniert es?«
»Na, na, na, na, Amanda.« Er sagte meinen Namen und lächelte. Ich kannte niemanden, der so viel Leichtigkeit in meine Schwere brachte.
»Die Frage ist doch, ob es für dich funktioniert.«
»Ich möchte dich nicht enttäuschen, aber …«
»Aber es ist immer noch alles ziemlich scheiße und du befürchtest, dass dein schlimmstes Date überhaupt euren Sexting-Verlauf der ganzen weiten Welt präsentiert.«
Ich presste die Lippen aufeinander. Nicht weil ich wütend auf Émil war, sondern auf mich selbst. Wer verriet einer fremden Person schon so etwas?
Wer hat überhaupt Sexting mit einem Typen von Tinder?
Die Antwort darauf war einfach. Ich. Hallihallo, ich war natürlich das Problem.
»Glaubst du …?« Sofort spürte ich, wie meine Hände zu schwitzen begannen. »Glaubst du, du könntest das einfach vergessen?«
Sein Blick lag nur auf mir. Riesig, dunkel und schimmernd. Eigentlich waren seine Augen viel zu braun für seine Haarfarbe. Aber eigentlich unterhielt ich mich auch nicht mit Fremden, die nackt an meinem Arbeitsplatz gewesen waren. Erst recht nicht auf der Party meines älteren Bruders.
»Ich vergesse es.« Plötzlich wurde er ganz ernst. »Aber nur, damit du Bescheid weißt: Ich würde keine Sexting-Nachrichten veröffentlichen, die ich mit jemandem geteilt habe.«
Émil so nah zu sein, wenn er sprach, war nicht gut. Er strahlte selbst in der Kälte Wärme aus. Vielleicht war er wie die Venus und speicherte heimlich Sonnenstrahlen ab, sodass er zu viel Hitze in sich trug.
»Danke«, flüsterte ich.
Er hingegen hob die Schultern, als würden fremde Personen öfter ihr Herz bei ihm ausschütten und er würde es einfach wieder vergessen. Ringsum hatten Menschen ihre Nacht der Nächte, lachten und grölten, tranken und tanzten. Wäre ich ins Innere geschlichen und hätte ein Foto geschossen, wäre alles verschwommen gewesen. Als würde selbst der Boden von derart viel studentischer Lebendigkeit beben. Nur zwischen Émil und mir stand alles still, weil niemand wusste, was er sagen sollte und …
»Ich könnte dir helfen.«
»W…was?« Die Frage rutschte mir heraus, bevor ich mich daran erinnerte, was genau ich ihm alles erzählt hatte.
Das schlimmste Treffen überhaupt.
Seit vier Jahren niemanden geküsst.
Jetzt suche ich etwas Lockeres.
Meine Kehle wurde trocken. Ich knallte ihm meine Probleme vor den Kopf und er bot mir Sex an?
Gerade wollte ich ihm meine Meinung geigen, da fuhr er fort.
»Du hast doch gesagt, du malst keine Menschen mehr. Das klang so unfassbar traurig. Ich glaube, du solltest das ändern.«
Oh.
Er hatte nicht das gemeint. Ich wäre erleichtert gewesen, hätte er nicht meinen wundesten Punkt von allen angesprochen.
»Wieso solltest du mir dabei helfen können?«, fragte ich erschöpft.
»Weil ich, im Gegensatz zu dir, wirklich Kunst studiert habe.«
»Ich dachte, du bist Aktmodell.«
»Nur ein Nebending, damit ich die Gesellschaft mit meinem Ebenbild bereichern kann.«
»Lass mich raten: Noch dazu bist du jeden Tag so charmant?«
»Aber so was von.«
Unbeeindruckt rollte ich mit den Augen, doch bemerkte, wie meine Mundwinkel zuckten. Gleichzeitig vibrierte es in meiner Hosentasche und mein Herzschlag legte zum zigsten Mal an diesem Abend einen Marathon hin. Einerseits befürchtete ich, Jakob könnte mir diesmal wirklich geschrieben haben. Andererseits erinnerte mich die Nachricht daran, dass es womöglich Lucy oder Tillie sein konnten.
Meine Freundinnen, mit denen ich verabredet war.
Ich musste sie endlich finden, damit wir zusammen ganz woanders hingehen konnten. Ich würde ihnen erzählen, was passiert war, völlig egal, wie bescheuert ich mich fühlte. Sie waren das Einzige, was mir gerade wirklich helfen würde.
»Im Ernst.«
Beim Klang von Émils Stimme hob ich das Gesicht. Ich verstand nicht, was er meinte und was er wollte. Wie es überhaupt dazu kam, dass wir zum zweiten Mal innerhalb eines Abends eine so intime Unterhaltung führten. Ich wollte ihm genau das sagen, allerdings geschah das, was immer passierte: Ich dachte so viel, dass ich nichts mehr sagen wollte.
Bei Émil war das offenbar nicht so.
Er sagte ständig etwas, wusste, wie und was er erzählen wollte. Tat es so sicher mit fester Stimme und seinem selbstsicheren Auftreten, dass man ihn einfach darum beneiden musste.
»Wie wäre es, wenn wir uns gegenseitig malen?«
Nein.
Nie im Leben.
Garantiert nicht.
Ich male keine Menschen mehr.
Variationen dieser Antworten lagen mir auf der Zunge, doch ich verschluckte mich an ihnen, weil Émil mich ansah. Auf diese so intensive Weise, dass wirklich alles ringsum verschwamm. Mein Herz schlug einen Salto und drehte sich so schwindelig, dass meine Beine weich wurden. Sogar mein Griff um das Geländer festigte sich, als bräuchte ich unbedingt Halt.