Jetzt wird es ernst - Katharina Kröll - E-Book

Jetzt wird es ernst E-Book

Katharina Kröll

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Beschreibung

Ich bin der Hund. Ja, sagen Sie jetzt, aber ein Hund hat doch nichts zu melden! Da sieht man mal wieder, wie unsereins missverstanden wird. Natürlich kann ein Hund viel erzählen. Zum Beispiel von seinem Herrn Felix (es würde mir nie einfallen, ihn "Herrchen" zu nennen). Der ist Psychologe, aber trotzdem ganz in Ordnung. Was man von Helena nicht unbedingt sagen kann. Was ist sie eigentlich? Seine Braut? Seine Geliebte? Jedenfalls eine Frau, und Frauen gibt es genügend in dieser Familie. Die tüchtige Tante Emilia, die mehr weiß, als sie sagt. Die frustrierte Cora. Die debattierfreudige Margarita. Jackie, die so gut kocht. Die süße Melinda, die neue, junge Frau von Großpapa, dem Patriarchen, der gern seine ganze Familie um sich schart und der eine Katastrophe auslöst. Da war doch was mit Pistolen, die mal nicht los gehen und mal zur Unzeit? Denn natürlich hat es auch Männer, die aber alle nichts taugen. Von meinen Herrn selbstredend abgesehen. Vielleicht könnte man auch Großpapa dazu zählen, aber die beiden hatten wir ja schon. Dann gibt es noch den überforderten Friedrich. Der eine Firma leitet und dann hinausge­schmis­sen wird von seiner Frau Cora und Tante Emilia, die gemeinsame Sache machen und doch jede was anderes will. Der schweigsame Julian. Martin nicht zu vergessen, der urplötzlich auftaucht, so schön wie rätselhaft. Was ist sein Geheimnis? Es geht recht turbulent zu in dieser Familie, ich weiß gar nicht, wo ich zuerst lauschen soll. Dass Friedrich aus seiner Firma geschmissen wurde, erwähnte ich bereits. Und dann geht diese Firma auch noch in Flammen auf. Und Martin verschwindet. Und mein Herr beschäftigt sich viel zu viel mit seiner Helena und hat gar keine Zeit mehr, mich dort zu kraulen, wo ich es am liebsten mag. Es geht also, wie immer, um die Liebe. Aber damit kenne ich mich aus. Denn zum Glück für mich gibt es auch noch Leila, die liebenswerte, heitere und selbstbewusste Hundedame, die ich so liebe. Wer "Tot sein ist auch nicht immer lustig" gelesen hat, kennt manche der Turbulenzen. Hier werden sie vertieft und aus einer ganz anderen Warte erzählt.

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Katharina Kröll

Jetzt wird es ernst

Roman

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

VIERUNDDREISSIG

FÜNFUNDDREISSIG

SECHSUNDDREISSIG

SIEBENUNDDREISSIG

ACHTUNDDREISSIG

NEUNUNDDREISSIG

VIERZIG

EINUNDVIERZIG

ZWEIUNDVIERZIG

DREIUNDVIERZIG

VIERUNDVIERZIG

FÜNFUNDVIERZIG

SECHSUNDVIERZIG

SIEBENUNDVIERZIG

ACHTUNDVIERZIG

NEUNUNDVIERZIG

FÜNFZIG

EINUNDFÜNFZIG

Die Autorin

Impressum neobooks

Prolog

Katharina Kröll

Jetzt wird es ernst

Roman

Entschuldige, ich glaube, ich habe gerade deine Bahn gekreuzt.

Er schaute mich lächelnd an und sagte: Ich hatte keine Bahn, die man kreuzen konnte.

Ich überlegte: Sollte ich mich so getäuscht haben?

Ehem, sagte ich, ich dachte, wir haben den gleichen Weg?

Das glaube ich nicht, denn ich befinde mich gerade auf dem Rückweg.

Und das Experiment?

Er schaute mich wieder lächelnd an: Welches Experiment?

Naja, fing ich an, ehem, das Experiment eben.

Verflixt, es passiert mir selten, dass mir die Worte fehlen.

Er nickte heiter und sagte: Soso, das Experiment.

Also doch, sagte ich.

Er schüttelte den Kopf und sagte: Nein. Kein Experiment. Ich mache Urlaub.

Während ich noch über diese Worte nachdachte, war er verschwunden. Und ich hörte jemand, eine Frauenstimme, ungeduldig rufen: Wie lange soll ich noch warten?

EINS

Wenn die elegante Christine und der belesene Richard sich nur ab und zu einmal in eine heiße Umarmung hätten fallen lassen, statt ihr kühles, distanziertes und intellektuelles Ehe- und Familienleben zu kultivieren, hätte sich aus ihrer Tochter Margarita vielleicht eine andere Frau entwickelt.

Dann hätten sie und Julian sich vielleicht nie getroffen und sie hätte sich nicht Hals über Kopf leidenschaftlich in den falschen Mann verliebt. Dann wäre dieser Mann nicht auf abwegige Gedanken gekommen, die ihn fast das Leben gekostet haben, und die ganze Familie dort oben in dem wunderbaren alten Haus auf dem Hügel hätte weiter ihr schönes ruhiges Leben führen können, nur ab und zu unterbrochen von den inbrünstigen Streitgesprächen, die Helena mit meinem Herrn zu führen pflegte. Aber daran waren alle ja gewöhnt. Nicht nur das, sie genossen Helenas Tem­pe­ra­ment und die damit verbundene leichte Unruhe in regelmäßigen Abständen. Jeder hatte seine Strategie, damit umzugehen. Nicht aber mit dem, was Margaritas Ankunft in Bewegung setzte.

Dabei hätte Julian sich denken können, dass seine Liebesgeschichte mit Margarita sich in dem Augenblick in eine ganz andere Richtung entwickeln würde, in dem er mit ihr das wunderbare alte Haus auf dem Hügel betrat, in dem er lebte, wenn er nicht gerade beruflich auf Reisen war.

Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, wie alles gekommen ist, während ich unter dem alten Lindenbaum ausgestreckt liege und auf das Abendessen der tadellosen Jackie warte, dann kommt mir alles sehr logisch vor, im Nach­hinein. Hinterher sieht man die Anzeichen ja immer deutlicher, als wenn man mitten im Geschehen drin steckt. Zumal die ganze Geschichte nicht länger dauerte, als die guten Boskop in Großpapas Garten zum Wachsen brauchen, vom Frühjahr bis zum Herbst. Als Julian mit Margarita als seiner Braut ankam, blühte der Apfelbaum über und über in einem hinreißenden Rosa. An Großpapas Geburtstag ließen sie ihre Pracht fallen und bedeckten die Wiese darunter, in der lila- und gelbfarbene Frühlingsblumen leuchteten, mit einem ausgedehnten rosenroten Teppich.

Nun, Großpapas Geburtstag war heute, und die Geburts­tagsf­eier sollte am späten Nachmittag beginnen. Mein Herr und ich hatten uns noch eine kurze, aber wonnige Auszeit draußen in der Natur gegönnt, ein Stück außerhalb von Großpapas ausgedehntem Grundstück.

Wiese, Düfte, Sumpf, eben alles, was man braucht, um in glückseligen Gefühlen zu schwelgen. Ich sah in das Gesicht meines Herrn und schaute ihn verliebt an. Einen schöneren Herrn als ihn gibt es nicht. Er streichelte mir den Kopf und fragte: „Na, glücklich? In der Tat, das war ich. Glück pur. Alleinsein mit meinem Herrn war etwas, das ich leider nur noch sehr selten genießen durfte.

Doch plötzlich spürte ich, bevor ich es wirklich sah, dass etwas in der Luft lag. Ein Hauch von Gefahr umwehte uns. In diesem Moment kam das Unheil um die Ecke gefetzt in Form von Helena auf dem Fahrrad. Das bedeutete nichts Gutes. Mein Gespür trog mich nicht. Bevor sie richtig zum Anhalten kam, schrie sie schon meinen Herrn an: „Was zum Teufel machst du hier! Er lachte ausgelassen, fragte, wie spät es sei und wollte sie küssen. Aber sie lief kreischend rückwärts, empörtes Fass-mich-nicht-an dabei ausstoßend. Ein bisschen Natur hätte ihr gut gestanden. Helena war fein gemacht.

„Du siehst ziemlich passabel aus“, sagte mein Herr und sah sie aufmerksam an. „Du nicht“, schrie Helena. „Wenn du nicht in fünf Minuten da bist, frisch gewaschen, wohlgemerkt, ist es aus zwischen uns!“ Keine Sorge, das sagt sie oft. Besonders, wenn es, wie heute, um Großpapa ging. Und ich hoffte jedes Mal, optimistisch wie ich bin und aus Gründen, die Sie noch verstehen werden, dass sie es diesmal ernst meint.

Sie raffte wütend ihren langen roten Seidenrock, zog die giftgrüne geraffte ärmellose Bluse, die ihre im Rhythmus der Empörung wogenden Brüste locker bedeckte, wieder gerade, schwang sich auf den Sattel und begann mit ihren hohen Absätzen in der Farbe von rosamelierten Gladiolen wie wild nach den Pedalen zu angeln. Ihre langen kastanienbraunen Haare flatterten aufgeregt. Ihr violettrot geschminkter Mund wirkte verkniffen. Mein Herr sprang beflissen hinzu und wollte ihr helfen, denn sie hätte locker umkippen können, bei dem Wind, den sie machte. Aber das veranlasste sie zu noch heftigerem Schreien, und jetzt hatte sie sich endlich die Pedale geklemmt und rauschte ab. Mein Herr schaute mich verliebt an. Aber er meinte nicht mich. Ich ließ alles hängen. Und wir machten uns auf den kurzen Heimweg.

Zuhause war ich bald wieder ordentlich und sauber, und auch mein Herr hatte sich in Richtung Bad verzogen. Ich streckte mich entspannt unter dem Lindenbaum aus, wartete auf meinen Herrn und dachte nach. Viel Zeit hatte ich nicht für diesen überaus erquicklichen Zeitvertreib, denn jetzt kam ein unglaubliches Durcheinander auf. Alle hatten sich im Garten versammelt, auch mein Herr, der jetzt zwar sehr gepflegt aussah, mir aber vorher besser gefallen hatte.

Endlich trat Ruhe ein, denn nun standen sie aufgereiht alle dort, wo der Fotograf sie haben wollte. Ich betrachtete die Familie, die sich im Zustand der grinsenden Erstarrung befand, erleichtert und gönnte mir einen tiefen Seufzer. Das Glück dauerte nicht lange, denn Lena hatte sich wieder einmal nicht rechtzeitig von ihrem Lieblingsaufenthaltsort, dem Bett, trennen können und raste heran, um auch noch mit auf das Foto zu kommen. Wobei sie leider mit Schwung auf meinen Fuß sprang. Ich heulte laut auf und alle schauten konsterniert zu mir herüber, gerade in dem Augenblick, in dem der Fotograf auf den Auslöser drückte.

Dieses Foto können Sie gleich unten an der Wand im Treppenhaus bewundern, und die Familie sieht darauf nicht besonders günstig aus. Eigentlich so wie immer. Ich weiß nicht genau, was Cora damit bezwecken wollte, denn sie war es, die das Foto dort aufhängte, aber sie ist in noch anderer Beziehung etwas undurchsichtig. Tante Emilia hatte sich darüber amüsiert, und das Prachtfoto, das der Fotograf dann doch noch hinbekam, daneben gehängt, und da sieht die Familie nun außerordentlich günstig aus. Alle strahlend und sind hinreißend fein gemacht.

Großpapa liebte seine Geburtstage. So wie er vieles in seinem Leben liebte. Oder haben wollte, was zwei paar Stiefel sind, wie Sie noch sehen werden. Auf jeden Fall liebte er sein Domizil mit allem, was drin ist und besonders allen, die drin sind. Das wunderbare alte Haus war so groß, dass man sich darin verlaufen konnte. Dazu kamen noch einige Anbauten. Jedes der Familienmitglieder hatte eine eigene Wohnung, Cora und Friedrich als Ehepaar eine gemeinsam. Alle liebten die Gemeinschaftsessen, die im Sommer bei schönem Wetter draußen auf der Terrasse stattfanden. So war es heute auch.

Jetzt kann ich Ihnen auch Margarita zeigen. Sehen Sie, die dort drüben, dicht neben Großpapa. Nein, nicht die Brünette. Das ist Holly. Nein, die daneben, die ihn so süß anlächelt. Die mit der lockeren grünen Seidenhose, der blassrosa Bluse und den rosa Ballerinas. Die mit den dicken rötlich-blonden Locken. Sie sieht so unschuldig aus, meinen Sie? Ja, das haben Sie schon richtig erkannt. Sie ist die Unschuld in Person. Nur, dass sie den falschen Mann anhimmelt, ach, was sage ich: anbetet, und auch das ist noch viel zu schwach ausgedrückt für das, was wirklich geschah. Auch heute, an Großpapas Geburtstag, ist sie ihm, soweit es möglich war, nicht von der Seite gewichen.

Verwirrend, denken Sie? Ja, das ist es, aber Sie werden schon noch mitbekommen, wie alles zusammenhängt und wer mit wem. Jedenfalls, Julian, Margaritas Bräutigam, existiert für sie nicht mehr. Noch vor wenigen Wochen wollte Margarita Julian heiraten, ganz dringend, weil sie ihn für jemand anders hielt, nämlich für einen tatkräftigen Mann, der ihr Leben in die Hand nehmen und auf sie aufpassen würde. Die Gründe dafür lagen vielleicht bei Christine und Richard. Aber so einfach war das auch wieder nicht zu analysieren. Auf jeden Fall, als Julian seine Braut das erste Mal mit nach Hause brachte, eben in jenes wunderbare alte Haus auf dem Hügel, merkte Margarita ziemlich schnell, dass Julian nicht der war, für den sie ihn gehalten hatte, denn es war ihm egal, wer und ob jemand auf sie aufpasste, und dass er außerdem bei weitem nicht so charmant und männlich war wie Großpapa. Margarita, die gerade noch peinlich berührt umgehend hatte abreisen wollen, überlegte es sich also noch einmal anders.

Julian war der zweite Sohn von Großpapa. Sie sehen ihn gar nicht? Können Sie auch nicht, denn Julian pflegt unsichtbar zu sein. Er zog sich gerne irgendwohin zurück, an den Rand der illustren Gesellschaft, beobachtete die Leute und dachte sich seinen Teil. Meist verdunkelte sich sein Gesicht etwas, wenn er Großpapa anschaute. Womit er nicht der einzige war. Großpapa war immer eindeutig der Mittelpunkt und natürlich vielseitigen Blicken ausgesetzt.

Sie dürfen sich ihn nun aber nicht als alten Mann vorstellen. Er war in der Mitte seiner Sechziger und nicht der Großvater, sondern der Vater von Julian. Auch der von Helena und Holly und von Friedrich, auf den wir noch zu sprechen kommen, und der seinen Vater heimlich hasste, wohingegen Helena ihn offen in den Himmel hob, sehr zum Leidwesen meines Herrn. Großpapa hieß Großpapa für alle, weil Emma, die kleine Tochter von Cora und Friedrich, darauf bestanden hatte. Er war schließlich ihr Großpapa. Um dem endlosen Geschrei Emmas ein Ende zu bereiten, nannten sie ihn eben alle Großpapa.

Und ich muss sagen, er war der charmanteste, unterhaltsamste und auch lebendigste Großpapa, den ich kenne. Ganz im Gegensatz zu seinen beiden Söhnen, die, je mehr sie sich Großpapas Kreisen näherten, desto schlaffer und kraftloser und farbloser und nichtssagender wurden.

Kein Wunder also, dass Margarita sich auf den ersten Blick mit Haut und Haaren in Großpapa verliebte. Was nun mehr über Margarita aussagte als über Großpapa, diesen aber auf gewisse Gedanken brachte, von denen die Familie zu diesem Zeitpunkt noch nichts wusste, zum Glück, kann ich nur sagen. Vorerst waren sie alle mit der Geburtstagsfeier hinreichend beschäftigt.

Cora war wie üblich dabei, Großpapa zu ignorieren. Sie stand zwar ganz in seiner Nähe, schaute aber gekonnt an ihm vorbei. Wie immer war ihr glattes Gesicht mit dem gut geschnittenen Kinn und den ausdrucksstarken dunklen Augen unbewegt. Ihre schwarzen Haare im Pagen­kopf­schnitt mit dichtem Pony umgaben ihren Kopf wie ein perfekt angepasster Helm und unterstrichen die Strenge. Ihre Kleidung war wie immer: grau.

Großpapa ärgerte sich normalerweise innerlich über Coras zur Schau getragenes Desinteresse an seiner Person. Heute schien er das jedoch gar nicht zu bemerken. Er war heute anders, wie gleichzeitig anwesend und abwesend. Normalerweise pflegte er sich seinem Gegenüber auf seine eigene präsente und intensive Art zuzuwenden, aber ich merkte deutlich, dass er im Gegensatz zu sonst überhaupt nicht zuhörte. Er war innerlich weit, weit weg. Ich fragte mich, wo.

Alle redeten durcheinander. Die ganze Familie war versammelt, insofern war alles wie sonst auch. Außer der Familie waren keine Gäste eingeladen. Obwohl Sie sicher schon erraten haben, dass Großpapa ein bedeutender Mann sein muss. Das ist richtig. Er ist ein großer Mann.

Jetzt kam Friedrich heran, der ganz nebenbei Coras Mann war und, überhaupt nicht nebenbei, sondern ganz und gar mit Haut und Haar, der älteste Sohn von Großpapa und Leiter von dessen kleiner feiner Firma. Obwohl Friedrich ein schöner Mann war, fand ich, mit seinen dunklen dichten Haaren, seinen hellen grauen Augen, seiner eleganten schlanken Statur, oder besser gesagt, ein schöner Mann sein könnte, wirkte er nicht so, weil er immer einen verdrießlichen, leicht angewiderten Gesichtsausdruck aufsetzte und dabei die Schultern auf eine Art nach vorne kippte, die aussagen sollte, dass er hier derjenige war, der alle Lasten zu tragen hatte, während sich alle anderen einen schönen Lenz machten, was neben den Familienmitgliedern besonders für die Angestellten der Firma galt, über die er sich jeden Abend, wenn er nach Hause kam, aufzuregen gezwungen sah, weil sie alle Dilettanten, Faulpelze, Nichtstuer, Idioten waren. Über die Familie, mit Ausnahme natürlich von Großpapa, äußerte er sich nicht so deutlich. Aber aus seinem Gesichts­aus­druck war leicht abzulesen, dass er auch über diese ähnliche Ansichten hegte.

Wenn er abends nach Hause kam, hatte er im Übrigen auch wirklich keine Zeit, die Familie wahrzunehmen. Er war so damit beschäftigt, seinem Vater zu zeigen, dass er der beste aller Söhne war, so dass außer ihnen beiden niemand anders, und am allerwenigsten seine Frau, in seinem Leben Platz hatte.

Als Cora vor einigen Jahren in dieses Haus gekommen war, sah es noch so aus, als ob sich hier ihre Wünsche erfüllen sollten. Sie hatte einen ansehnlichen Mann geheiratet, der einen guten Job hatte, und das Groß-Familien-Leben in dem geräumigen Haus mit dem schönen Grundstück schien einfach perfekt zu sein. Bis sie merkte, dass ihr geliebter Mann sich zuhause völlig veränderte. Er hatte weder Lust, Mann zu sein noch Geliebter, und später ebenso wenig Vater. Er wurde wieder der, der er schon immer war: der kleine Bub seines Vaters. Bei dieser schweren Verantwortung war eine Frau mit ihren Ansprüchen und Bedürfnissen eher hinderlich. Cora sah, wie Großpapa täglich von neuem aufblühte angesichts der Ergebenheit seines Ältesten. Das gönnte sie ihm nicht. Sie wollte selbst die Angebetete ihres Mannes sein, der sich Coras Meinung nach allerdings dafür ruhig ein paar Eigenschaften seines Vaters hätte zulegen dürfen. Was er nicht tat.

Jackie kam gerade aus der Küche in den Garten und schaute sich nach Großpapa um. Sie eilte mit ihren energischen, schnellen Schritten auf dem kleinen Pflasterweg durch die Büsche aus Rosen und Rittersporn. Jetzt hatte sie ihn entdeckt und kam lächelnd auf ihn zu, wenn auch mit ihrer berühmten Stirnfalte, an der man immer erkennen konnte, wann es in der Küche wirklich anspruchsvoll wurde. Und heute hatte sie bestimmt etwas ganz besonderes vorbereitet.

Bei Jackie könnte ich mir vorstellen, dass sie, im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen, mal länger als ein Jahr bei uns bleiben wird. Zu Großpapa war sie zwar nett, aber ihre Leidenschaft lag in der Küche, was bei den früheren Köchinnen weniger der Fall war, die entweder dem Charme Großpapas erlegen sind oder sich vom Vize-Hausherrn Friedrich verführen ließen. Friedrich hatte eindeutig immer mehr eine Neigung zu den Damen in der Küche als zu ihrer Kochkunst. Für Jackie hingegen hatten alle Familien­mit­glie­der ausschließlich als Esser Bedeutung, was nicht ganz auf Gegenseitigkeit beruhte, denn Friedrich wäre auch bei ihr sehr interessiert gewesen. Sicher, Jackie sah süß aus, mit ihrem kurzen lockigen Rotschopf und einem unternehmungslustigen Sommersprossengesicht, aus dem ihre blauen Augen meist strahlten, wenn sie nicht gerade zornige Blitze funkten, wenn sie etwas aufregte. Aber nachdem sie Friedrich mehrmals ganz unverblümt und kurz angebunden aus der Küche geworfen hatte, als er ihrer leicht molligen Figur zu nahe hatte kommen wollen, schienen die Grenzen klar gesteckt, und Friedrich musste das Wasser, das ihm bei ihrem Anblick ganz offensichtlich im Mund zusammenlief, mit ihrem guten Essen runterschlucken.

Großpapa aß gerne und gerne gut, und Jackie machte es Vergnügen, gut zu kochen. Darüber hat sie wohl jetzt mit ihm gesprochen, denn er schaute sehr erfreut aus, nickte und klopfte ihr leicht und anerkennend auf die Schulter, die zur Feier des Tages mit weißen Spitzen anstelle von hochgekrempelten Baumwoll-Ärmeln bedeckt waren. Jackie verschwand wieder in der Küche, nicht ohne Friedrichs Blick im Rücken, und Großvater verkündete, dass in Kürze das Essen bereit sei, und jetzt wolle er mit allen zum Champagner schreiten.

Großes Hallo, großes Geschmatze, wenn Sie den Aus­druck entschuldigen, und da stehen sie, und süffeln ihren Champagner, und tun so, als sei solches das Höchste. Na ja, wenn man von den wirklich echten Dingen des Lebens ablenken will, weil man sie sowieso nicht bekommt, ist vielleicht Champagner ein Ersatz. Dabei fällt mir Leila ein, meine Angebetete, und jetzt läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Hm, das muss noch ein bisschen warten. Das Essen wird gleich kommen.

Natürlich wieder vom Feinsten, ich habe schon in der Küche davon genascht, mit Billigung von Jackie. Jetzt saßen alle um den großen Esstisch auf der Terrasse, und Großpapa klopfte an sein Glas. In der entstehenden Stille noch ein paar Lacher und verendende Sätze, und alle konnten hören, wie Helena verärgert zu meinem Herrn sagte, sie könne seine Meinung nicht teilen – um was es ging, hatte ich nicht mitbekommen, war auch egal, denn Helena konnte nie aufhören, bevor sie alles Wichtige gesagt hatte, und dann Ruhe.

Großpapa ließ sich Zeit und schaute alle der Reihe nach an. Hübsch fein gemacht waren sie alle: Friedrich und Cora eher unauffällig, Julian ungezwungen und Margarita sehr schick, Tante Emilia wie immer edel und gelassen, Emma im süßen Klein-Mädchen-Look, Helena auffallend und mein Herr schlicht. Lena war verschwunden, vermutlich wartete sie auf dem Bett ausgestreckt die zu erwartenden Reden ab. Ich hatte mich zuerst schräg neben meinem Herr niedergelassen, war aber von Helena in der Sicht behindert, und verzog mich darum ein Stück nach hinten, wo ich einen guten Überblick hatte und auch alles hören konnte.

Gegenüber von Großpapa saß Holly, wunderhübsch in ihrem Wegwarte-blauen Kleid, was besonders gut zu ihren blauen Augen passt und den brünetten Haaren, die sie gekonnt auf ihrem Kopf aufgewühlt hatte, und neben ihr Marcus, ihr grundsolider Ehemann, wie immer einfach in Leinenhose und -hemd, passend zu den noch richtig warmen Temperaturen des Abends.

An diesen beiden blieb Großpapas liebevoller Blick jetzt hängen. Seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er etwas vorhatte, das ihn unglaublich freute. Er kann dann sein Strahlen nicht verbergen, es platzt förmlich aus ihm heraus und füllt den ganzen Raum. Mit seiner lauten, bestimmten Stimme fing er an, und alle waren, wie üblich, ganz Ohr.

„Es ist nicht so, dass ich meine Geschenke von euch nicht würdige.“ Er machte eine kurze Pause und sah sich anerkennend um. „Im Gegenteil, ich bin stolz auf euch alle und auf eure wunderbaren Ideen. Aber heute möchte ICH ein Geschenk machen, ein Geschenk, das mir sehr am Herzen liegt, und ich möchte, dass es das hervorzubringen hilft, was mein ganz besonderer Geburtstagswunsch ist.“

Großpapa machte erneut eine bedeutsame Pause und wandte sich dann Holly, seiner älteren Tochter, und Marcus zu: „Holly und Marcus, ich schenke euch beiden ein Haus. Ich habe einen Architekten beauftragt, der die Pläne nun abgeschlossen hat. Sie liegen in meinem Arbeitszimmer zur allgemeinen Ansicht. Morgen können die Arbeiten beginnen, wenn ihr einverstanden seid, und zwar als Anbau hier auf meinem Grundstück. So kann ich euch immer in meiner Nähe haben.“

Großpapa machte eine noch bedeutsamere Pause, holte tief Atem und sagte mit einer Stimme, die vor überquellender Freude zu zittern anfing: „Und vor allem möchte ich das Aufwachsen der Kinder miterleben, die ihr in diesem Haus in die Welt setzen sollt. Ich möchte wieder neues Leben hier haben! Das ist mein größter Wunsch.“

Großpapa schaute sich strahlend um und wartete auf tosenden Beifall. Wie hatte er das wieder hinbekommen! Was tat er nicht wieder alles für seine so geliebte Familie. Der Rest war peinliches Schweigen. Niemand sagte ein Wort. Großpapa aber fiel das gar nicht auf, denn er war noch nicht fertig. Er war so begeistert von seinen eigenen Taten, dass er überhaupt nicht mitbekam, dass die anderen ihn nicht ganz so gut fanden wie er sich selbst. Er stand auf und sagte, mit noch leuchtendem Gesicht:

„Und dann habe ich noch eine Überraschung für euch alle!“ Er schaute erwartungsvoll in die Runde und bemerkte vor lauter Freude gar nicht, dass Friedrich nicht mehr anwesend war, der sich gerne unauffällig zu verziehen pflegte, wenn Großpapa seine Reden schwang.

Er klatschte aufgeregt wie ein kleiner Junge, bevor die Tür des Weihnachtszimmers geöffnet wird, in die Hände, und Jackie erschien, nicht mit dem ersten Gang, o nein, ganz bestimmt nicht, sondern mit etwas ganz anderem, und auch nicht schlecht, das kann ich Ihnen versichern. Jackie führte eine junge Frau herein, übergab sie mit einem übertriebenen Knicks an Großpapa und verschwand wieder in Richtung Küche. Großpapa nahm die Frau an der Hand, die Jackie gerade losgelassen hatte, hob die Hand leicht in die Höhe und sagte mit vor Glück hüpfender Stimme:

„Und hier stelle ich euch die neue Frau in meinem Leben vor. Melinda. Wir haben heute Vormittag geheiratet.“

ZWEI

Am schlimmsten hatte es eindeutig Margarita getroffen. Sie starrte Großpapa an und atmete schwer. Sie stand dort wie erstarrt. Sie wagte nicht einmal, in seine Nähe aufzurücken. Kein Wunder, denn in diesem Augenblick hatte sich ihr Leben total verklemmt. Großpapa, ihren Retter, gab es für sie nicht mehr. Sie war mutterseelenallein.

„Geheiratet?“, fragte Tante Emilia verdattert, die die erste war, die wieder Luft bekam. Aber Großpapa kam nicht dazu, ihre Frage zu bestätigen, denn jetzt fand Hollys Vulkan­aus­bruch statt, der schon nach der ersten Mitteilung von Großpapa gewaltigen Rauch zu entwickeln begonnen hatte und nur durch die unwichtige Unterbrechung mit Melinda kurz verzögert wurde. Holly hatte jetzt ganz offensichtlich vor, zu toben, und jedermann erkannte, dass sie niemand daran würde hindern können. Auch eine neue Großmama nicht.

Sie begrüßte Melinda kurz und uninteressiert, indem sie ihr die Hand reichte und „herzlich willkommen“ murmelte. Dann stellte sie sich wütend vor ihrem Vater auf.

„Möchtest du auch dabei sein, wenn wir deine Enkel­kin­der zeugen, damit du kontrollieren kannst, ob alles deinen Wünschen gemäß verläuft?“

Großpapa war wirklich verdattert.

„Was ist denn los, Holly. Freust du dich nicht?“

Holly hob ihre Stimme noch ein bisschen an.

„Ich teile dir hiermit mit, dass wir ausziehen, Marcus und ich!“

Mit Marcus war das nicht abgesprochen, das hätte ich gesehen. Aber Marcus stand immer hinter Holly, egal was sie verzapfte, oder auch vor ihr, je nach Anlass der Verteidigung. Marcus war jetzt ebenfalls zu den beiden getreten, legte den Arm um Holly und sagte leise: „Beruhige dich.“

„Ich beruhige mich überhaupt nicht!“, schrie Holly. Und zu Großpapa gewandt:

„Du kannst uns doch nicht wie Marionetten behandeln und über uns und auch noch über das Zeugen unserer Kinder bestimmen!“

Kritik konnte Großpapa nun überhaupt nicht leiden.

„Abgesehen davon, dass du der Undank in Person bist, willst du mir als deinem Vater doch nicht ernsthaft vorschreiben, was ich tun und lassen soll?“

Seine Stimme war ein bisschen schärfer und um deutliche Grade kälter geworden.

„Aber du schreibst mir mein Leben vor. Wie du das schon immer gemacht hast. Jetzt ist Schluss! Mir reicht es! Wir ziehen aus!“

Und damit packte Holly Marcus am Arm und stob mit ihm davon, ins Haus, durch die Halle, durch die Haustür. Wir hörten jeden Schritt auf dem Steinboden. Und zum Auto. Die Autortür knallte, der Motor heulte auf, und Holly war weg.

Ich kann Streitereien und Lärm absolut nicht vertragen. Ich stand mühsam auf und schleppte mich zu meinem Herrn, der nun auch aufgestanden war, ebenso wie Helena, die leise zu ihm sagte: „Die blöde Kuh, das kann sie doch nicht machen.“ Mein Herr tätschelte mich geistesabwesend. Ich wusste, was er dachte. Er war nicht Helenas Meinung.

Großpapa war vor Ärger ganz blass. Einen offenen Aufstand hat es in der Familie noch nie gegeben. Und das ausgerechnet vor Großmama. Melinda stand da, sehr jung, sehr schüchtern, sehr hilflos. Großpapa hatte ihr den Arm um die Schulter gelegt, so als wolle er sie vor den Bestien schützen.

Sie gefiel mir. Ihre dunkelblonden langen Haare hatte sie altmodisch zu einem Knoten im Nacken gedreht, ihr ärmelloses weißes schmales Sommerkleid reichte bis zum Knie, und was übrig blieb zum Betrachten war ebenfalls schön. Rote Wildledersandalen mit halbhohem Absatz. Keinerlei Schmuck, das gefiel mir besonders, denn ich kann nicht verstehen, dass man das mag, wenn man ständig angekettet ist. Einen guten Kopf kleiner als Großpapa, der auch nicht allzu groß war. Und der Gesichtsausdruck: verwirrt. Sie wusste noch nicht, in was sie da hineingeraten war. Aber unter normalen Umständen hatte sie bestimmt ein sehr schönes Gesicht. Großpapa hat schon gewusst, was er tat. Ganz egal, was die Familie dachte.

Und was die dachte, konnte ich mir in etwa zusammenreinem. Freundlich schaute keiner aus.

Helena lehnte an meinem Herrn, mit dem rechten Arm auf seiner Schulter, und schaute Melinda interessiert an.

„Schicke Schuhe“, sagte sie leise zu meinem Herrn, und mir war sofort klar, was sie damit sagen wollte. Diesmal ging es nämlich weniger um die Schuhe, sondern darum, dass sie von Melindas reizvollem Gesicht ablenken wollte. Aber es hat nicht funktioniert, denn mein Herr hatte die Schuhe sowieso nicht wahrgenommen, und ist stattdessen mit sichtlichem Vergnügen an Melindas reizvollem Gesicht hängen geblieben.

Margaritas Erstarrung hatte sich etwas gelöst, und sie schaute mit leicht zusammengezogenen Brauen auf die neue Frau, die ihr ihren Platz streitig gemacht hat. Sie hatte die Hände in die Taschen ihrer weiten Hose gesteckt und sah jetzt beinahe erwartungsvoll aus. So, als stelle sich gleich heraus, dass Großpapa nur zu einem Geburtstagsscherz aufgelegt war. Dass Großpapa sie lachend an der Hand nahm und ihr vorschlug, was sie jetzt tun solle. Bisher nämlich hatte Großpapa diese angenehme Pflicht mit Vergnügen übernommen, und Margarita hatte mit Begeisterung seine Ratschläge befolgt. Irgendwie aktiviert Großpapa unbewusst in manchen Menschen das kleine Kind in ihnen, und das besonders bei Frauen, die ihn anhimmeln. Aber Großpapa hatte wohl jetzt anderes im Sinn, als das Spielchen mit Margarita weiter zu treiben, und von ihrem Bräutigam Julian konnte sie auch keine Hilfe erwarten. Der hatte sich schon vor geraumer Zeit auf einem Gartenstuhl ein Stück abseits verzogen und betrachtete interessiert das Blätterdach des Ahorns über ihm.

Emma, die so richtig geburtstagsmäßig in ihrem rosa Sommerkleid und den weißen Sandalen aussah, dazu die blonden halblangen Haare mit einer Rose zusammengesteckt, war zu ihrer Mutter gerückt und sah sie an, als wollte sie fragen, was sie mit ihrer Großmama anstellen soll. Aber Cora merkte das gar nicht. Sie war diejenige, die ihre Lippen am festesten zusammengekniffen hatte, und für einen Moment sah sie so aus, als wollte sie sagen: Das wirst du mir büßen. Mir war nur noch nicht ganz klar, wen sie meinte: Großpapa? Melinda? Friedrich? Wobei Friedrich erstens gar nicht anwesend war und zweitens eigentlich am wenigsten dafür konnte. Ich vermute, dass Cora aufging, dass Groß­papa jetzt anderes zu tun hatte, als sie wahrzunehmen. Was Cora sofort als Riesenproblem einstufte, denn wie sollte sie ihm dann zeigen, dass sie ihn ignorierte? Aber schon hatte sie sich wieder gefangen, und ein aufgesetztes Lächeln verschob ihr schönes Gesicht. Sie nahm Emma an der Hand, um zur Begrüßung zu schreiten. Aber Tante Emilia war ihr schon zuvorgekommen.

Die eilte jetzt mit langen Schritten über die Terrasse auf Melinda zu, zeigte ihr ein strahlendes Lächeln, streckte der jungen Frau die Hand entgegen und sagte herzlich:

„Entschuldige bitte den turbulenten Empfang. Aber ich freue mich sehr, dich kennen zu lernen. Willkommen in der Familie, die nicht so schlimm ist, wie sie in diesem Moment vielleicht erscheint.“

Das hat das Eis gebrochen. Großpapa hatte sich wieder gefasst und führte nun seine junge Frau von Familienmitglied zu Familienmitglied, und freundliche Worte und Lachen überschlugen sich. Als die beiden bei mir angelangt waren, sagte Großpapa:

„Und hier ein wichtiges Familienglied, der fast ständige Begleiter von Felix, und hüte dich vor ihm, denn er ist der beste Beobachter, den ich kenne.“

Na ja, schlecht war das nicht. Wenn er das Lauschen bemerkt hätte, wäre es weniger gut gewesen. Aber er hat meine Schönheit vergessen, der Ignorant. Melinda tätschelte mich freundlich: „Du bist ein wunderschöner Kerl“, sagte sie. Die Frau gefiel mir immer besser.

Großpapa sah wieder zufrieden aus. Zu Tante Emilia sagte er, er werde morgen Holly und Marcus wieder in die Familie zurückholen, wo sie hingehörten, und damit war das Problem für ihn keines mehr. Er klatschte fröhlich in die Hände und kündigte das Essen an. Dabei schaute er erwartungsvoll in Richtung Küche. Aber aus der kam kein Essen, sondern ein schriller Schrei.

Ich sprang aufgeregt los, mein Herr war schon neben mir, gefolgt von Helena, die mit ihren hohen Absätzen auf einmal erstaunlich schnell rennen konnte, während sie sonst immer jammerte, zum Beispiel wenn mein Herr mit ihr über Kopfsteinpflaster ging. Was er musste, wenn er zu seiner Lieblingskneipe wollte, die aber nicht Helenas Lieblings­knei­pe war.

In der Küche bot sich uns ein ungewöhnliches Bild. Mir fehlten wirklich die Worte, nicht aber Helena, die in Panik los schrie:

„Friedrich! Um Himmels willen!“ Und sie kniete sich nieder, um Friedrichs Wange zu tätscheln, damit er die Augen wieder aufmachte. Aber vielleicht war es besser, dass er sie zuließ, denn wer weiß, vielleicht hätte ihn die Bratpfanne in zweites Mal getroffen. Die befand sich in der Hand von Jackie, die völlig fassungslos neben Friedrich stand und schrie:

„Ich wollte das nicht! Er hat mich angegriffen!“

Ich hoffe sehr, dass das nicht das Ende von Jackie in diesem Haus bedeutet, denn sie ist mir um einiges lieber als Friedrich.

Dieser schien entschlossen, die Augen nicht aufzumachen. Was ich irgendwie verstehen konnte. Mein Herr hatte schon sein Handy am Ohr und rief nervös: „Wie verdammt ist die Nummer für den Krankenwagen?“ Helena rannte wieder erstaunlich schnell hinaus und kam nach einer Weile mit der Nummer wieder. Ich schaute mir inzwischen Friedrich genauer an. Es floss Blut am Kopf, aber ernste Teile waren wohl nicht getroffen.

Ich hoffte, dass er die Augen doch wieder aufmachen würde, aber vielleicht doch nicht sofort, denn nun stürmte seine Frau herein. Als Cora mitbekommen hatte, was los war, schrie sie Jackie derartig an, dass ich anfing zu zittern. Sie wissen ja, wie empfindlich mein Gehör ist. Mein Herr tätschelte mich und redete beruhigend auf mich ein. Cora holte kurz Luft und starrte dann böse auf mich. „Schafft ihn raus!“, befahl sie, und stürzte sich dann wieder verbal auf die Köchin, die völlig eingeschüchtert zurückgewichen war, die Bratpfanne, von der Olivenöl mit einem Hauch von Blut tropfte, immer noch in der Hand.

„Wie können Sie es wagen, so etwas zu behaupten! In diesem Haus wird niemand angegriffen! Und außerdem haben doch Sie meinen Mann angemacht und nicht umgekehrt!“, schrie Cora. „Ich habe das schon seit langem bemerkt. Wenn man sich so aufreizend benimmt wie Sie, ist es wirklich nicht die Schuld der Männer, wenn sie das falsch verstehen!“

Helena versuchte, Cora zum Schweigen zu bringen, was ich gerne unterstützt hätte, denn die graue Cora hätte sich vielleicht selbst ein bisschen aufreizender anziehen können, dann hätte ihr armer Friedrich nicht bei einer anderen schwach werden müssen. Aber ich traute mich nicht mehr, irgendeinen Laut zu äußern, sonst hätte mich Cora vielleicht noch eigenhändig hinausbefördert. Also stellte ich mich dicht hinter meinen Herrn, bereit, ihn notfalls gegen jedes Geschrei und gegen jede Bratpfanne zu verteidigen, denn die Stimmung heizte sich derartig auf, dass mir nichts mehr unmöglich erschien. Helena blieb jetzt dicht neben Cora stehen und fauchte:

„Wenn du jetzt nicht sofort aufhörst, dann knall ich dir eine!“

„Wie redest du überhaupt mit mir! So eine wie du hat mir noch lange nichts vorzuschreiben!“, schrie Cora ihre Schwägerin an. Die Angelegenheit musste sie ziemlich mitgenommen haben, denn normalerweise ist es unter Coras Würde, ihre Aufmerksamkeit an ihre Umgebung zu verschwenden.

„Was willst du damit sagen?“, fragte Helena verdächtig leise.

„Du bist doch auch so eine! Schau dich doch mal an!“

Ich wagte mich ein bisschen weiter hinter meinem Herrn hervor, denn der schien im Moment nicht in der Schusslinie zu stehen. Dafür zischte es jetzt zwischen den beiden Frauen. Ungleicher als die beiden hätte wahrlich niemand sein können. Cora mit strenger Frisur, klassisch in schmalem grauen Rock, grauer Bluse, teuer, aber gähn, und Helena mit ihrem sprudelndem Temperament, ihren langen Haaren, dem gebauschten knallroten Rock, den Stöckelissimo-Sandaletten und dem dekolletierten Flatterblüschen. Ich finde, jeder wie er es mag. Ich zum Beispiel schaute Helena lieber an als Cora, aber das war es vermutlich nicht, was Cora störte.

„Du führst doch die Männer auch nur an der Nase herum. Meinst du, ich merke nicht, wie Friedrich dir immer nachschaut? Das hast du doch provoziert! Du willst ihn gegen mich aufbringen!“

„Schwägerin, jetzt aber mal langsam. Dein langweiliger Friedrich interessiert mich nicht die Bohne. Er ist mein Bruder, und das langt auch.“

Jetzt wurde es aber doch ein bisschen zu intim, fand ich. Immerhin lag besagter Bruder verletzt auf dem Küchen­bo­den, und wenn er nicht schon bewusstlos gewesen wäre, wäre er es bestimmt jetzt geworden. Das Geschrei hatte auch den anderen aufdämmern lassen, dass es sich hier nicht mehr um eine stinknormale Diskussion um die Menüfolge handelte. Einer nach dem anderen tauchte nun in der Küche auf.

Die Angelegenheit schien sogar Julian so ernst zu sein, dass er zu ungewöhnlichen Mitteln griff. Er schrie fassungslos:

„Sie haben Ihn umgebracht!“ Und meinte damit Jackie. Die schrie außer sich zurück:

„Nein, nein! Ich musste mich wehren!“

Die arme Jackie schaute Julian mit aufgerissenen Augen an und atmete schwer. Julian setzte sein überlegenes Besser-Wissen-Gesicht auf und sagte von oben herab:

„Was heißt wehren! Sie müssen sich doch gegen niemanden hier wehren! Was soll das denn heißen? Sie können uns doch nicht einfach mit Bratpfannen angreifen!“

Jackie brach in Tränen aus. Julian, der sonst seinen Bruder kaum eines Blickes würdigte, bildete auf einmal mit Friedrich eine auffallende Fraktion. Die vielen Vorwürfe fand ich absurd, denn ich habe Jackie ja genügend beobachtet. Außer Kochen interessierte sie nur noch Großpapa, und der auch nur als genussvoller Esser.

Aber das spielte jetzt überhaupt keine Rolle, denn es war offensichtlich, dass die blutigen Familien-Angelegenheiten und leider nicht das Festessen weiter hochkochten. Groß­papa war mit Großmama bei der Katastrophe angekommen. Wahrscheinlich hatte er zuerst seine Liebste von weiteren unangenehmen Seiten seiner Familie fernhalten wollen. Ich an seiner Stelle wäre sowieso sofort mit Melinda ins nächste Flugzeug in Richtung weit-weit-weg gestiegen. Aber ich sagte ja schon, seine Familie bedeutete ihm alles. Fast alles, denn jetzt stand ja sicher Großmama an erster Stelle. Und die lehnte sich mit weit aufgerissenen Augen an die Küchentür und atmete schwer. Die anderen Anwesenden teilten sich wie das Meer beim Auszug der, na, aus Ägypten und gaben den Weg und den Blick auf den armen Friedrich frei, der auf dem Küchenboden lag und leise zu wimmern anfing, während das rote Blut, einen aufregenden Kontrast zu der Farbe des schwarz-weiß gefliesten Küchenbodens bildend, über seine rechte Kopfseite und das rechte Ohr auf den weißen Hemdkragen tröpfelte. Auch sein dunkles Haar war stellenweise blutverkrustet.

Großpapa kniete sich neben seinem Sohn nieder und rief ihn leise an. Er war sehr blass geworden, Friedrich übrigens auch. Der hatte inzwischen wieder aufgehört zu wimmern. Großpapa nahm vorsichtig seine Hand und fragte meinen Herrn: „Was ist mit dem Krankenwagen? Habt ihr Dr. Weidinger angerufen?“

Er komme sofort, und er habe ihn angerufen, teilte mein Herr mit, der seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben versuchte. Nicht sehr erfolgreich.

Ich legte mich erschöpft neben meinen Herrn und ließ meine Blicke schweifen, während wir warteten. Neben Großpapa, der noch am Boden kniete, sah ich die Füße von Julian, braune nackte Füße mit gepflegten Zehen in dunkelbraunen eleganten Sandalen. Julians Füße mochte ich besonders. Daneben die hohen Absätze und die dazugehörigen schwarzen Pumps von Tante Emilia. Tante Emilia trägt immer hohe Absätze, was bei ihrer beachtlichen Körper­größe und ihrer geraden Haltung sehr edel wirkt. Neben Tante Emilia erkenne ich, ohne dass ich nach oben schauen muss, Jackies weiße Gesundheitssandalen, die sie immer in der Küche trägt, zum Arbeiten und langen Stehen. Aber ich habe sie auch schon in anderen Schuhen gesehen, wenn sie ausgeht zum Beispiel, und die waren spitz und schwarz und bestanden aus hohen Absätzen und dünnen Riemchen, was bewirkte, dass Jackie darin bedeutend langsamer und vorsichtiger gehen musste als mit den Gesundheitsdingern, und damit sah Jackie auf einmal ganz anders aus, grazil und sehr privat.

Auf der anderen Seite entdeckte ich lindgrüne Sandalen mit Glitzersteinen drauf, also war Kusine Lena doch noch aus dem Bett gekommen. Ich schaute kurz hoch. Sie starrte auf Friedrich, während ihr die brünetten glatten Haare vors Gesicht fielen, die sie zur Feier des Tages offen gelassen hatte, während wir sie meistens mit einem Knoten im Nacken sehen, was sie sehr streng und unnahbar wirken lässt, was aber niemanden störte, da sie sowieso entweder im Bett oder im Praktikum in der Stadt war, man sie also so gut wie nie zu Gesicht bekam.

Ich entspannte meine Augen wieder und ließ sie auf Bodenhöhe weiterwandern. Ich hatte ja nichts zu tun. Neben Lena die rosa Ballerinas von Margarita, die von einigen Zipfeln ihrer langen grünen Seidenhose berührt wurden. Daneben die schlichten grauen Schuhe von Cora, kleiner Absatz, elegant, teuer, aber gähn. Das lenkte mich fast von Friedrich ab, erst sein erneutes leises Stöhnen brachte mich wieder zu den blutigen Angelegenheiten zurück. Neben den Grauen sah ich Emmas weiße Mädchensandalen. Obwohl sie inzwischen in ein Alter kam, wo sie lieber robuste Turnschuhe mit ebensolchen robusten Hosen trug und sich lieber mit ihrem Fahrrad als mit Familie beschäftigte, hatte sie sich ihrem Großpapa zuliebe hübsch gemacht. Neben Emmas zarten Schuhen dann die leckeren Beine von Helena mit ihren rosa-melierten Stöckel-Sandalen, von beiden Seiten solide eingerahmt von braunen Mokassins, die zu meinen Herrn gehörten, der hinter Helena stand und die Arme um sie gelegt hatte.

Keiner sagte ein Wort. Auch Friedrich sagte nichts mehr. Großpapa standen Schweißperlen auf der Stirn. Melinda ging jetzt zögernd zu Großpapa, beugte sich zum ihm hinunter und legte die Hand auf seine Schulter. Er sah mit erschöpftem Blick kurz zu ihr auf. Und da ertönte endlich die Sirene des Krankenwagens.

Sie können sich sicher vorstellen, dass bei der Geburts­tags-Hochzeitsfeier nicht mehr die richtige Stimmung aufkam. Großpapa, Melinda, mein Herr und Helena fuhren mit ins Krankenhaus. Mehr Begleitung wollte Großpapa nicht haben. Cora befahl er, sich endlich mal hinzusetzen, denn seit dem Geschrei war sie pausenlos im Zimmer hin- und her getigert. Ich durfte auch nicht mit. Die anderen hatten sich in ihre Wohnungen verzogen. Jackie hatte das Essen warm- bzw. kaltgestellt und sich dann völlig erledigt in ihrer Wohnung eingeigelt.

Herrliche Ruhe, sagte Großpapa immer, wenn er mal allein im Garten sitzt, was selten vorkommt, und was er überhaupt nicht mag, denn er brauchte seine Familie um sich wie die frische Luft zum Atmen. Genauso dringend. Auch mir wird es allein im Garten immer sehr schnell langweilig. Er ist ja sehr schön, der Garten, mit seinen großen Rasenflächen, Schatten spendenden Bäumen, Blumenbeeten und Rabatten, verschiedenen Sitzecken, aber auch mir fehlt das Leben. Also zwängte ich mich durch das enge Loch ganz unten in der Hecke, von dem niemand etwas weiß, und machte mich auf den Weg. Gleich hinter dem Garten in westlicher Richtung geht es leicht bergab durch ein paar Straßen mit großen und kleinen, meist älteren Häusern und teils ausgedehnten Grundstücken wie dem unseren. Ich trabte die Straße entlang, gab dann Vollgas und sprang auf ein vornehmes schmiedeeisernes Gittertor zu, hinter dem sofort mit lautem Getöse ein riesiger schwarzer stromlinienförmiger Hund angesprungen kam und sich schrecklich über mich aufregte, worauf eine elegante Frau aus dem Haus stürzte und sich schrecklich über den Hund aufregte, worauf ein Mann mit zerzausten Haaren und in Schlabberhosen verschlafen aus dem Haus tappte und sich schrecklich über die Frau aufregte, bis alle drei heftig bellten und ich unschuldig trabend meinen Weg fortsetzte.

Und dann war ich endlich dort angelangt, wo ich schon die ganze Zeit hinwollte. Bei Leila. In sie war ich heftig verliebt, sogar noch mehr als in meinen Herrn. Leila ist die schönste Dame der Welt, und selbst wenn Sie einwenden, dass ich ja wohl nur einen überschaubaren Teil der Welt kenne, womit sie allerdings nicht Recht haben, kann ich mir nicht vorstellen, dass es irgendwo eine schönere gibt als Leila. Ich liebe sie, und sie liebt mich, und sie ist frei, denn ihre Herrin hat kein Geld für einen Gartenzaun, weil sie ihr Geld bei meinem Herrn ausgibt, und im Übrigen ist ein Zaun dort, wo Leila wohnt, auch gar nicht nötig, denn um sie herum befindet sich nur herrliche freie Natur.

Als ich mich später müde und glücklich wieder auf den Heimweg machte, fiel mir auf, dass ich Friedrich und die gesamte Familie völlig vergessen hatte. Erst jetzt drang das ganze Drama wieder zäh und langsam zu mir durch. Den vornehmen Hund hinter dem Tor ließ ich jetzt unbehelligt, denn er interessierte mich im Augenblick nicht die Bohne. Und eigentlich war mir auch Friedrich egal. Sollen die ihre Probleme doch selber lösen. Wenn ich auf jede Hundedame aufspringen würde, die mir über den Weg läuft, hätte ich auch nichts mehr zu lachen. Ich wollte also noch ganz in meinem eigenen Glück schwelgen, was Sie sicher verstehen können. Erst als ich meinen Herrn wieder sah, tauchte ich aus meinen Gefühlen wieder ganz in der Wirklichkeit auf. Er und Helena saßen schweigsam im Garten und knabberten uninteressiert an irgendwelchen Fleischteilchen. Mein Herr stand müde auf und ging in die Küche, um mir auch einen Teller mit Essen zu holen. Von den anderen war nichts zu sehen.

DREI

Ich möchte schon gerne wissen, warum sich mein Herr von Helena überreden ließ, mich hinauszubefördern. Heute, nach all diesen Festaufregungen, hätte ich wirklich jegliche Zuwendung gebraucht. Das wusste mein Herr, denn er war feinfühlig, und er hat überhaupt nichts dagegen, wenn ich mit ihm in seinem Schlafzimmer übernachte. Ich lege mich dann ganz ruhig in meine Lieblingsecke und störe ihn überhaupt nicht.

Aber Helena war schlecht gelaunt. Das ist oft ihre Art, auf Stress zu reagieren. Sie sagte kurz angebunden, mein Herr könne das bei sich in seiner Wohnung machen, wie er wolle. Bei ihr jedenfalls würde ich heute nicht mit ihr zusammen in einem Zimmer übernachten.

Mein Herr seufzte tief, tätschelte mich und führte mich hinaus in den Flur. Er wollte mich hinunter in die Halle bringen, aber da weigerte ich mich strikt, indem ich mich mit allen vieren auf den Boden pflanzte und beschloss, kein Bagger würde mich von der Stelle rücken. Mein Herr seufzte noch tiefer und wirklich bekümmert, und das machte mich ein bisschen unglücklich, aber ich konnte ihm auch nicht helfen. Warum lässt er sich auch von einer Frau, die nicht einmal sein Herr ist, so an die Leine legen. Er holte mir also eine Decke und legte sie vor die Zimmertür. Er kraulte mich noch ein bisschen und sagte, dass ich ein ganz Braver sei. Als ob das so einfach wäre. Und dann verschwand er in Helenas Schlafzimmer und schloss auch noch die Tür hinter sich. Diesmal war ich so bekümmert, dass ich ganz vergaß, zu lauschen. Es ist hart, wenn man den Platz räumen muss. Ich litt entsetzlich, dachte an Leila und versuchte, ergeben einzuschlafen.

Aber der Himmel griff in mein Unglück ein. Es fing nämlich plötzlich an zu donnern, laut und deutlich. Ich erschrak und dann heulte ich laut auf. Schon ging die Zimmertür auf. Mein Herr unterbrach das Zetern von Helena und sagte: „Er hat panische Angst vor Gewitter. Ich kann ihn nicht hier draußen allein lassen.“ Was auch wirklich stimmte. Bei Gewitter schlafe ich immer vor dem Bett meines Herrn. Dann geht es mir ein bisschen besser. Aber ich zittere trotzdem und höre erst damit auf, wenn der ganze Spuk vorbei ist. Vor dem Bett ging es diesmal nicht, okay, aber wenigstens im gleichen Zimmer. Ich verkroch mich dicht hinter einen Sessel und überließ mich meinem Zittern.

Helena schaute erst mich und dann meinen Herrn unwillig an. Mein Herr machte noch einen letzten Versuch und sagte: „Aber er stört doch nicht, weißt du, er ist es eben so gewöhnt.“

Helena sagte ungerührt: „Dann muss er sich eben umgewöhnen.“ Aber dann vergaß mich Helena schnell, denn jetzt ging es, wieder einmal, ums Eingemachte.

Mein Herr sah gereizt aus.

„Zum Thema Umgewöhnen gäbe es einiges zu sagen“, meinte er. Zum Beispiel könnte Helena sich daran gewöhnen, in seine Wohnung zu ziehen und nicht mehr hier bei ihrem Vater zu kleben. Das alte Streitthema zwischen den beiden.

Jetzt wurde Helena gereizt. Von Kleben könne gar keine Rede sein, sondern von Liebe, Respekt, Füreinander-Dasein, Komfort, Stil und Tradition. Sie holte kurz Luft, um die Aufzählung, die ich übrigens schon auswendig kannte, zu vervollständigen, und jetzt würden als nächstes Ver­ant­wor­tung und gute Tat an der Reihe sein, aber mein Herr kürzte die Sache schon vorher ab und sagte mit unterdrücktem Zorn in der Stimme:

„Ich scheiß drauf, ich will mit dir leben, und zwar ungestört und allein. Ich will nicht ständig deine gesamte Familie um mich haben.“

Helena flötete: „Aber mein Liebling, wir können doch so viel zusammen sein wie wir wollen, und meine Familie stört uns dabei überhaupt nicht. Wenn du willst, kann ich ja morgen bei dir übernachten. Und jetzt komm ins Bett, ich habe schon den ganzen Tag Sehnsucht nach dir.“

Aber mein Herr brummte schlecht gelaunt vor sich hin. Er verschwand eine ganze Weile im Bad, und als er herauskam, war er offensichtlich immer noch nicht bereit, sich auf ein kuscheliges Miteinander im Bett einzulassen. Ganz im Gegenteil, er stellte gereizt ein Ultimatum:

„Wenn du nicht in Kürze ausziehst und bei mir wohnst, dann brauchst du überhaupt nicht mehr zu mir zu kommen.“

Helena schnappte erst nach Luft, und dann wurde sie sarkastisch. Das wird sie immer, wenn mein Herr Recht hat und sie sich unterlegen fühlt.

„Der Herr Psychologe“, sagte sie, „immer so tolerant und souverän.“

Mein Herr entschied sich, zu diesem Kommentar zu schweigen, was auch besser war.

Einerseits hasse ich Streit. Andrerseits habe ich jedes Mal wieder Hoffnungen, wenn die beiden sich in die Haare kriegen (was in regelmäßigen Abständen passiert), mein Herr würde endlich einsehen, dass eine Frau ihm nichts Gutes bringt und er das wahre Glück an meiner Seite in seiner Wohnung finden würde. Nur so.

Auch dieses Mal war die Stimmung ziemlich gereizt. Ein Wort gab das andere, denn mein Herr sah sich gezwungen, zu Helenas weiteren Vorwürfen doch etwas sagen. Sie wurden lauter, zischten sich ein bisschen an, sie schimpfte wütend, dass er genauso ein Macho sei wie alle anderen auch, und er schlug ihr zum wiederholten Mal vor, sie solle sich doch dann bitte einen anderen suchen, und hier war ich völlig seiner Meinung, aber das brachte Helena erst recht auf die Palme, denn sie will ja keinen anderen, sondern ihn, aber heute bitte in einer anderen Version, und das will er wieder nicht, und selbst wenn er es wollte, wäre es vergebens, denn die gewünschte Version würde im nächsten Moment schon wieder eine ganz andere sein, also selbst ein Chamäleon würde bei Helena in Stress geraten.

Ich kannte das alles schon. Wenn ich so höre, was mein Herr seinen Klienten alles empfiehlt, dann könnte ich nur noch lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Ein schöner Psychologe ist er, das kann ich Ihnen sagen! Er springt in jedes Fettnäpfchen, das Helena ihm hinstellt, wenn sie mit ihm streitet, er wird zum schlimmsten Dummkopf, den man sich nur vorstellen kann. Er merkt nicht einmal, dass Helena ihn nur so richtig in Wut bringen will, damit sie dann ganz unschuldig fragen kann, weshalb er sich eigentlich so aufrege, wo sie sich doch nur erlaubt habe, eine eigene Meinung zu haben. Es ist eine Tragödie, ihn so zu sehen.

Ich muss mich wirklich über meinen gescheiten Herrn wundern. Denn die Sache läuft immer gleich ab, und er kapiert es nicht. Jetzt liegen die beiden im Bett, nachdem sie eine halbe Stunde gestritten haben, und dann zehn Minuten geschmollt, und dann fünf Minuten Erklärungen abgegeben haben, aber was für halbseidene, denn morgen früh könnten die schon wieder genau das Gegenteil bedeuten, und dann noch eine Minute Entschuldigungen, und dann liegen sie sich in den Armen, küssen sich wie verrückt, und mein Herr sagt: „Liebste, überleg dir das mit dem Umzug“, und Helena sagt: „Ich werde bestimmt drüber nachdenken, versprochen, Liebster.“ Dann fügt sie noch hinzu: „Ich liebe dich!“ Und er seufzt: „Ich liebe dich auch!“ Und dann geben sie sich den Vertrauensbeweisen hin, dass es nur so krachte, obwohl ich jetzt merke, dass ich mit „krachen“ das falsche Wort gewählt habe, wo ich doch mit Worten sonst etwas empfindlich bin. Das alles kann einem aber auch zu viel werden! Im Übrigen war wohl auch das Gewitter vorbei, und ich habe völlig vergessen, zu zittern.

Ich konnte aber auch nicht schlafen. Es war schließlich mein Herr, der bei Helena im Bett die ganze Welt um sich herum zu vergessen schien. Einschließlich mich.

Bei den beiden wurde es nun ruhiger und nach einer kleinen Weile ganz ruhig. Ich hörte sie gleichmäßig atmen. Das gesamte Haus schien zu schlafen, und auch das Wetter war zur Ruhe gekommen. Es hörte sich nach einem leichten Nieseln an, das sanft auf die Blätter der großen Linde, die vor Helenas Fenster stand, fiel.

Ich stand auf und schaute hinaus. Alles war dunkel. Nur links schimmerte ein schwaches Licht aus einem Fenster in den dunklen Garten. Das musste das Zimmer von Margarita sein. Ich streckte meinen Kopf aus der offenen Fenstertür, die zu einem kleinen Balkon führte, und vergewisserte mich. Ja, es war Margarita, die als einzige offensichtlich noch wach war. Das Fenster neben dem ihrem war ebenfalls dunkel. Julian, ihr unsichtbarer Noch-Ver­lob­ter, schien bereits zu schlafen.

Jetzt hörte ich ein kleines Rascheln, und obwohl das die dumme Katze von nebenan sein könnte, oder einfach ein harmloser Windstoß in den Blättern – ich hätte mich unter normalen Umständen auf jeden Fall darum gekümmert.

Denn eigentlich bin ich ein pflichtbewusst und verantwortungsvoll. Und normalerweise hätte ich leise geknurrt und meinen Herrn herangeholt. Aber ich war jetzt doch ein bisschen beleidigt. Ich meine, wer denkt schließlich an mich? Und dann soll ich noch den braven Wachhund spielen? Nein, ich hatte dazu jetzt überhaupt keine Lust. Ich musste erst auf irgendeine Weise meine gute Laune wieder gewinnen. Und das geht nicht so schnell, wie gewisse Herren vielleicht meinen. Ich seufzte kurz und legte mich dann auf meinen Platz hinter dem Sessel. Nach ein paar kurzen wohligen Gedanken an Leila fiel auch ich in tiefen Schlummer.

Leila und ich tobten gerade auf einer frisch gedüngten Wiese herum, wir wälzten uns ausgelassen in den wohligsten Düften und dachten in keinster Weise an die Ent­setzens­schreie, die uns jedes Mal nach solchen genussvollen Aus­flü­gen zu begrüßen pflegten, von Monica nämlich, die in mancher Hinsicht ein wenig schwer von Begriff war, vielleicht fehlten ihr selbst die wonnigsten Düfte, und ihr Parfum, das sie manchmal benutzt, kann unserem Wiesenduft wirklich nicht das Wasser reichen. Da merkte ich, dass ich mich in einem lustvollen Traum befand, denn ich schreckte aus den schönsten Bildern empor. Was war das, das mich so jäh hochspringen ließ? Ein Schrei? In diesem Augenblick gellte es noch einmal durch die Nacht. Ich sprang zur offenen Terrassentür und schaute hinaus in den Garten. Plötzlich sah ich Margarita am offenen Fenster ihres Zimmers stehen, und sie schrie: „Da ist jemand im Garten. Ein schwarzer Typ! Es ist jemand da! Ein Einbrecher! Warum kommt denn keiner und hilft mir!“

Na, na, Margarita, dachte ich amüsiert, hast du vielleicht Angst vor dem schwarzen Mann? Mein Herr war schon an meiner Seite. Er schaute reichlich verwirrt aus der Wäsche in Form eines schwarzen Oberteils eines Schlafanzugs. Unten war er ohne, aber wenn er in Form ist, ist er unten gar nicht ohne, das nur nebenbei bemerkt. Jetzt zumindest war er offensichtlich ganz und gar nicht in Form. Er fuhr sich mit der Hand durch seine wuscheligen Haare und fragte mich verschlafen, was denn los sei. Inzwischen waren Margaritas Hilfeschreie auch zu ihm durchgedrungen. Er fischte in Eile seine Schlafanzughose aus einem Kleiderhaufen auf dem Fußboden und suchte nervös nach dem Hosenbein, in das er einsteigen konnte. Schließlich war er drin. Er sagte leise zu mir: „Komm, wir schauen mal.“

Inzwischen war auch Helena wach geworden und hatte das Licht angemacht. In einigen anderen Zimmern war es ebenfalls hell geworden, und Margarita schrie immer noch: „Julian! Felix! Kommt doch endlich. Da ist jemand im Garten! Direkt unter meinem Fenster!!!“

Ich war mir nicht ganz sicher, ob Margaritas Hilfeschreie nicht vielleicht eine andere Bedeutung hatten. An den schwarzen Mann im Garten glaubte ich nicht so Recht. Wohl aber daran, dass sich Margarita reichlich verlassen vorkam und der schwarze Mann der Ausdruck von einem ziemlich tiefen schwarzen Loch war, in dem sie sich gerade befand. Schließlich schlief Großpapa die erste Nacht in den Armen einer anderen Frau, und Margaritas Träume lösten sich im schwarzen Nichts auf.

Sie finden das ein bisschen übertrieben? Sie wissen ja noch nicht, wie das mit Großpapa und Margarita war. Die Dinge haben sich so schnell entwickelt, dass ich noch gar nicht dazugekommen bin, Ihnen alles zu erzählen.

Julian und Margarita hatten sich in Paris kennen gelernt und sich umgehend ineinander verliebt. Das ist erst ein paar Wochen her. Sie waren beide so hingerissen voneinander, und Julian war für Margarita der Größte.

Das war es, was ihn aus den Pantinen gekippt hat. Von zu Hause war er das nicht gewöhnt, die Bestätigung, dass er ein ganz Großer ist. Ganz im Gegenteil. Der Große in der Familie war schon immer und unermüdlich Großpapa, unbestritten.

Als Julian und Margarita dieses süße Gefühl kennen gelernt hatten, beschlossen sie, es nie mehr loszulassen. Die beiden kamen also in dem wunderbaren alten Haus auf dem Hügel an mit der Neuigkeit, dass sie baldigst heiraten werden. Julian war überglücklich. Margarita auch.

Das Schicksal schlug in dem Augenblick zu, als Margarita am folgenden Morgen Großpapas alten Garten betrat. Groß­papa ist Künstler und war gerade draußen, ein Stück hinter dem Haus, mit einem seiner Riesenprojekte – Großpapa gibt sich nie mit Kleinzeugs ab – zu Gange, ein überdimensionales Gebilde aus Metall, mit Stacheln und Hörner und mehreren Beinen und Armen, an dem er gerade Schweißarbeiten ausführte. Margarita sah ihm zu und sie bekam keine Luft mehr: Sie verliebte sich sofort und unsterblich in Großpapa.

Sie war berauscht von der Tatkraft, der Energie, dem Können von Großpapa. Er war der Mann, der die Dinge – sichtbar – in die Hand nahm. Nach so einem Mann hatte sich Margarita ein Leben lang gesehnt. Das war ihr schlagartig klar geworden, als sie vor Julians Vater stand. Zumal Julian, sobald er sich in der Nähe seines Vaters befand, wie gewohnt zusehends an Glanz verlor.

Großpapa war ein Mann, der Frauen liebte, die sich klein machten und ihn anhimmelten. Das war auch der Grund, warum er mit Cora nicht auskam. Margarita musste sich gar nicht erst verändern. Sie hatte tief in sich versteckt dieses kleine Mädchen, das sich immer arm und verloren vorkam. Im Grunde gehörte es nicht zu ihren Stärken, Ent­schei­dun­gen zu treffen. Und Großpapa sah genauso aus wie jemand, der prima Entscheidungen treffen konnte.

Großpapa merkte zuerst gar nicht, dass er Besuch bekommen hatte. Die Funken vom Schweißen zischten feurig und spritzten in die Gegend, und Großpapa schloss mit viel Feingefühl und Hingabe die Schweißnaht. Ich merkte natürlich, welche große Kunst dahinter steckte, da ich Großpapa schon viel zugeschaut habe bei seiner Arbeit. Wenn er schweißte, dann vergaß er die Welt um sich. Das einzige, das ihn dann interessierte, war eine perfekte Schweißnaht. Und ich kann ihnen sagen, das ist gar nicht so einfach. Um es so fertig zu bringen wie Großpapa, muss man ein Könner und ein Künstler sein. Beim Zuschauen sprangen jedoch nicht nur Funken vom Schweißen über, sondern auch Großpapas enorme Energie, die auf mich die gleiche Wirkung hatte wie ein warmer Frühlingsregen auf das Blumenbeet.

Dann hörte er auf – er hatte gerade ein Stück, das einer überdimensionalen Nase ähnelte, an etwas, das aussah wie ein Gesäß, geschweißt –, legte den Schweißapparat auf den Tisch neben seinem Kunstwerk, und nahm zufrieden stöhnend seine Schutzmaske ab. Er betrachtete seine noch unvollkommene Schöpfung inbrünstig, und als er fast unwillig den Blick von ihr zu lösen begann, fiel ihm erst auf, dass da noch jemand war.

Sein Gesicht fing an zu strahlen, auf seine eigene Art, erst ganz langsam, dann immer mehr, bis ein Lächeln über sein Gesicht ging, das alle Teile einschließlich der Augen mit hinein zog, und dann ließ er es ebenso langsam wieder verschwinden. Ohne Lächeln fragte er Margarita, wie es ihr gehe hier in seinem Haus und Margarita wurde ganz euphorisch. Er betrachtete seinen Gast aufmerksam, und auch ich konnte mich jetzt in Ruhe niederlassen und ebenfalls schauen. Hübsch war sie, Margarita, auf eine eigene Art. Ihre dichten rot-blonden Locken waren auf dem Hinterkopf zusammengebunden, sie trug leichte rosa Sommerhosen, flache weiße Schuhe und eine weite weiße Bluse. Sie hatte eine vom Grundansatz vollkommene Nase, die sich dann aber doch noch einen kleinen Ausrutscher an der Spitze erlaubte, ein Hauch von Sich-Nicht-Um-Regeln-Scheren, dazu strahlende graue Augen und schön geschwungene Lippen.

Ihr hübsches Kinn schien mir ein bisschen angespannt. Kein Wunder, denn schließlich veränderte sich in diesem Moment ihr ganzes Leben. Sie hatte es so gut geplant, zusammen mit Julian, Hochzeit, Haus, Kinder, Familie. Und nun verhakte sich ihr Leben an einem einzigen kurzen, völlig unvorhersehbaren Augenblick, wirbelte alle schönen Aus­sich­ten durcheinander und ließ sie in einer Leidenschaft versinken, die sich noch nicht kannte und der sie hoffnungslos ausgeliefert war.

Margarita war nicht klar, in was sie sich da hinein begab. Den ganzen Tag beobachtete sie Großpapa bei seiner Arbeit. Als dann bald Zeit zum Abendessen war, sagte Großpapa gutgelaunt zu ihr und zu Julian, der hinzugekommen war: „Jetzt setzen wir uns auf die Terrasse und trinken ein schönes Glas Wein.“ Julian wand ein, er würde zuerst gerne seine Sachen fertig auspacken, und Margarita nickte dazu. Aber Großpapa hatte sich bereits entschieden: „Keine Wider­rede!“, sagte er strahlend. „Zum Auspacken habt ihr später noch genügend Zeit.“

Es war noch richtig warm, und selbst mir lief bei dem Gedanken an ein kühles Getränk das Wasser im Mund zusammen. Julian gab nach, und Margarita sah aus wie ein Engel, als sie mit großem Augenaufschlag und süßem Lächeln auf Großpapas Vorschlag einging, nein, sich seinem Vorschlag unterwarf – ja, so war es besser.

Von jenem Augenblick an ließ Margarita mit Genuss das kleine Mädchen in sich frei, das nun in Hilflosigkeit schwelgen durfte, weil ja ein starker Mann da war, der schon alles regelte: Großpapa.

Für eine knapp Dreißigjährige wie Margarita konnte ein Mann wie Großpapa, vital, erfahren, attraktiv, braungebrannt, strahlend und sehr tatkräftig, schon eine gewisse Herausforderung darstellen. Und für Großpapa war es auf einmal eine ihn verjüngende Erfahrung. Margaritas offensichtliche und heftige Verliebtheit weckte in ihm Gefühle, die er eigentlich schon abgeschrieben hatte für sein Leben. Er fühlte und benahm sich wie ein eitler Gockel, und Julian ärgerte sich. Nur merkte es niemand. Denn Julian tat in dieser Situation das, womit er in dieser Familie am meisten Erfahrung hatte, weil er es schon immer so gemacht hatte: Er schwieg und zog sich zurück.

Julian war nicht mehr vorhanden. Margarita wurde immer mehr zum süßen, hilflosen, kleinen Mädchen. Großpapa schwoll der Hahnenkamm immer mehr. Friedrich ärgerte sich. Aber das war keine Besonderheit. Seit er auf der Welt war, ärgerte er sich. Diesmal ärgerte er sich über Margarita, die der Grund dafür war, dass sein Vater ihn völlig übersah. Cora schaute süffisant und verließ am liebsten das Zimmer, wenn Margarita auftauchte. Tante Emilia, die Schwester von Großpapas verstorbener Frau, amüsierte sich, wie meistens in der Familie. Holly sagte leise zu Marcus: „Mir scheint, Margarita geht es umso besser, je verblödeter sie sich gibt.“ Helena sagte bissig zu meinem Herrn: „Wieso sagt ihr mein Vater nicht, sie soll ihn gefälligst in Ruhe lassen.“

Aber der hatte anderes zu tun. Er schwebte immer mehr in höheren Sphären. Die Säfte der Jugend, die er schon auf immer verloren geglaubt hatte, stiegen in ihm empor. Er wurde immer lebendiger und charmanter, und immer zappeliger. Er wurde zappelig wie ein junger Mann, der seine Angebetete endlich einmal allein erwischen wollte, und dem das nicht gelang.