Joel im Spiegel - Klaus Hussi - E-Book

Joel im Spiegel E-Book

Klaus Hussi

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Beschreibung

HIER wird geschildert, wie Joel und Kaspar feststellen, dass die Wirklichkeit oft nicht der Wahrheit entspricht. Sie leben in realen, aber auch in irrealen Räumen und Zusammenhängen. Dabei sind sie auf der Suche nach sich selbst und ihrer eigenen Wahrheit. Sie entdecken, dass unfrei ist, wer nicht selber denkt. Um diese Erkenntnis unter die Menschen zu bringen, lassen sich die beiden allerhand Originelles einfallen.

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HIER wird geschildert, wie Joel und Kaspar feststellen, dass die Wirklichkeit oft nicht der Wahrheit entspricht. Sie leben in realen, aber auch in irrealen Räumen und Zusammenhängen. Dabei sind sie auf der Suche nach sich selbst und ihrer eigenen Wahrheit.

Sie entdecken, dass unfrei ist, wer nicht selber denkt. Um diese Erkenntnis unter die Menschen zu bringen, lassen sich die beiden allerhand Originelles einfallen.

KLAUS HUSSI hat nach der Veröffentlichung mehrerer Jugendbücher diesen Entwicklungs-Roman geschrieben, um die Leser anzuregen, dem Motto des Buches zu folgen: SELBER DENKEN!

Für Alice May Lin und Vincent Git Wing, und auch für Moritz

JOEL IM SPIEGEL -

Die Zeit nimmt uns mit, ob wir wollen oder nicht. Wir leben in ihr, sind Teil von ihr, werden von ihr getrieben.

Joel will weg, will aus der Zeit verschwinden. Er braucht Phantasie, um sich vorzustellen, einfach fort zu gehen, alles hinter sich zu lassen, sogar die Zeit. Joel unterliegt der Magie des Aufbruchs. Nicht ganz aus der Welt, das will Joel nicht. Vielleicht möchte er irgendwann wieder auftauchen, frei, unerwartet.

„Freiheit“, dieser Begriff geht ihm im Kopf herum. Er denkt an die innere Freiheit, nämlich das zu werden, was er aus sich selbst machen kann, – er will frei für etwas sein.

Es kommt die Stunde, da schlägt er die Wohnungstüre zu, stürzt die Treppe hinunter, verlässt das Haus, geht auf die lebendig vibrierende Straße. Im Treibsand des Lebens lässt er sich treiben. Dämmerung steigt herauf. Widerschein von Licht hängt in den Bäumen. Der Tag geht verloren an die Nacht. Am Bahnhof kauft Joel ein Billett und steigt in den ersten haltenden Zug. Er gelangt in eine Stadt, die zwischen Gebirgen liegt, und in der Dunkelheit nistet.

Er spürt, dass er an einem gedankenlosen Ort ist, – es gibt wenige eigene Gedanken der hier lebenden Menschen.

Joel versucht denen in die Augen zu schauen. Die Blicke, die er auffängt sind unbeteiligt.

Da gleitet ein Wagen heran. Einer springt raus, – mittelgroß, dunkle Jacke, Jeans, Sonnenbrille. Er läuft direkt auf Joel zu, der zwischen den Vielen steht.

„Du!“ sagt er, packt Joel am Arm und führt ihn zu dem Wagen.

„Ich?“

Durch die dunkle Brille sticht ihn ein Blick.

„Weil du,“ sagt der andere, und schiebt ihn ins Auto.

Das bringt Joel da hin, wo man nicht raus kommt. Der andere schließt ein Tor auf, sie gehen über einen Hof, dann durch Gänge. Türen fallen ins Schloss.

Dann in eine Zelle. Der andere schiebt ihn da rein.

Er bleibt ohne ein weiteres Wort.

„Wir leben doch...“

„in einem Zivilstaat?“ fragt der, der in ihm ist.

Sein Doppelgänger weiß mehr als er selber, aber hier?

Es Ist eine Einkerkerung, und sie umschließt Joels Körper, Seele und Geist.

Er hockt im Dämmern der Zelle nieder auf den kalten Boden, und stellt Stacheln aus.

Die Zeit vergeht nicht...

Doch! Sie rinnt langsam von den Wänden, zieht Spuren im bemoosten Beton.

Joel denkt...

Er hat oft das Richtige nicht getan, hat gedacht aber nicht gehandelt, er hat versäumt.

Ethik als Begriff allein taugt nichts, das wird ihm klar. Sie muss individualisiert werden. So entsteht Böses durch Versäumen.

Joel wird von dem Typen, der ihn ins Auto schob abgeholt. Der nimmt ihn am Arm eingehakt über Eisentreppen mit nach oben. Eine Tür steht offen.

Er stößt ihn in einen Raum, der leer und dunkel ist.

Neonlicht flackert auf, eine Stimme spricht:

„Wieso..., obwohl du doch gar nichts weißt?“

„Ich?“

„Was kommt eigentlich von dir?“

„Von mir?“ fragt Joel, guckt in das Licht.

„Du könntest wissen, aber... Du bleibst hier in Pension.“

Kontakte knacken, das Licht erstirbt. Joel steht im Dunkeln.

Der andere bringt ihn in die Zelle. Es überrascht ihn, dass er dort einen weiß gedeckten Tisch sieht, auf dem ein Glas Rotwein und Schüsseln mit Buletten, Gemüse und Kartoffeln stehen, Serviette sogar.

„Setz dich!“ befiehlt er dem, der in ihm ist. Es ist nur ein Schemel da, auf den er sich selber setzt, „die sprechen von Pension.“

Es ist Joel, der isst und trinkt.

Mit Hilfe des Rotweins findet Joel seine Lage..., na ja, aber er fragt sich, wie es so kommen konnte, dass es so gekommen ist.

„Himmel, warum? Ich weiß ja das eine und das andere, aber ich vergesse auch wieder. Ich wusste schon mal mehr als jetzt, wo ich..., ja, wo ich nichts weiß.“

„Bist du schuldig?“ fragt es in ihm.

„Jeder ist schuldig“ antwortet eine elektrische krächzende Stimme, ziemlich laut, von irgendwo her.

„Dann könnten ja alle...“ ruft Joel erschrocken.

„Sind alle eingesperrt“ krächzt die Stimme. „Das Gesetz des Netzes, der Materialität, es wirkt.“

„Was will, – von mir, was...?“ fragt Joel.

Keine Antwort.

Joel zuckt die Schultern, er hat gegessen und stellt Teller und Schüsseln in die Luke der Zellentür.

Das Netz!

Es hat mit Elektrizität und den elektronischen Wellen zu tun.

Die sind überall.

Sie sind um alle herum, gehen durch alles hindurch, – egal wo, auch in Wald und Heide. Das Netz überspannt die ganze Erde.

Die Menschen sind in diesem engmaschigen Netz Gefangene.

Die Gedanken liegen in der Sphäre und auf diesen Wellen. Die Menschen empfangen und senden, jeder macht das.

Die vom Netz haben Masten aufgestellt, haben an jeden Kästchen verkauft. Nun wissen sie alles.

Joel hockt auf dem Boden der Zelle bis ihm die Beine weh tun. Müde legt er sich auf die Pritsche, findet eine Baumwolldecke.

In der Nacht wird er wach.

„Oh ihr Himmel! Ich bin ja tatsächlich ein Gefangener im elektrischen Netz!“

Es blitzt dieser Gedanke in brutaler Klarheit in ihm auf.

Joel empfindet in dieser Nacht den Kosmos und das milliardenfache Wispern von Stimmen, Ideen, Gedanken...

Er erlebt die Kraft elektrischer Spannungen, die an ihm zerren. Er erfährt etwas von den sich verborgen haltenden Kräften.

Es sind Gewalten!

Irgendwann schläft er ein.

Der Typ holt ihn in den Raum mit der Neonröhre.

Joel weiß, die haben hier die Macht.

„Ja, die haben wir,“ krächzt eine Stimme.

„Ich bin unschuldig.“

„Unschuldig, glauben wir, na ja, ha ha, – glauben wir natürlich nicht. Alle Heuschrecken sind schuldig.“

Mehr nicht. Der Typ bringt ihn schon wieder in die Zelle, und da steht ein Frühstück mit Spiegelei und Stoffserviette.

Es schmeckt ihm, was er vorgesetzt bekommt.

Die schalten Licht ein. Bei Licht sieht alles anders aus. Joel erkennt Schattenhaftes an den Wänden.

„Ist das Realität? Wenn Licht darauf fällt bekommt es andere Konturen, vielleicht ist es was anderes.“

„Platons Höhlengleichnis“ murmelt der in ihm.

Joel fragt sich, was denn überhaupt Wahrheit ist.

Tatsachen sind etwas, aber die Wahrheit ist ja noch mal was ganz anderes...

„Zeit schwindet, und ich sitze hier fest.“

Ist es die Zeit? Die geht nur vorüber, aber nie zu Ende, sie ändert die Tatsachen nicht. Es sind die Tatsachen, die sich ändern. Die Zeit ist Bewegung, etwas. wie von Ort zu Ort, einen Moment lang nur Gegenwart. Es gibt nur ein Jetzt, das schon Vergangenheit ist. Was sein wird, – es ist die offene Zukunft, ein Alles, oder ein Nichts?

„Was hat Bedeutung?“ fragt der in ihm.

„Was jetzt geschieht, es IST.“

Joel ist jung, – zweiundzwanzig. Er kennt schon viele chaotische Plätze, wurde durch quirlige Höfe getrieben, kam aber auch durch stille Gärten. Da blieb er stehen, pflückte eine Blume, die dann bald wieder verdorrte.

Ein Schimmer sickert durch das Guckloch der Zelle, – Tageslicht.

Der Tag geht dahin, ohne dass man was von ihm will...

Das Abendessen wird durch die Luke gereicht, – wieder ein Glas Rotwein. Er isst und trinkt und wartet.

„Ich mache mich frei, wenn ich denke,“ überlegt Joel, „denn in meinem

Denken bin ich frei.“

Er wartet, bis es Nacht wird und kein Lichtschimmer mehr an der Innenwand der Zelle zittert.

Da richtet er sich auf und denkt..., und denkt sich in den Garten hinein, in dem er mal eine Blume pflückte. Wegen der Stille und Schönheit, die dort wohnt, und weil er dort eine Leere empfand, die ihn mit Ruhe erfüllt hat, mit einer Art von Seligkeit, deshalb denkt er mit aller Kraft an diesen Garten, – und dann..., – und jetzt ist er dort!

Joel geht beglückt im Dämmern zwischen den Beeten durch den Garten. Die Blumen sind Erscheinungen, farbige Ahnungen nur, weil es fast dunkel ist. Er klettert auf einen Kirschbaum und blickt von dort aus in die dunkelnde Gartenwelt. Er weidet sich lange an diesem verdämmernden Anblick bevor er wieder runter klettert. Dann kommt er zu einem kleinen Gartenhaus, dessen Türe offen ist. Da drin legt er sich auf eine Holzbank und starrt an die Decke, an der er im Schimmer der Nacht bizarre Ornamente von Muscheln und Dodekaedern erahnt.

Sein Doppelgänger ist da, das spürt Joel, „sag doch was, wozu hab ich dich.“

„Na, du bist draußen, obwohl du drinnen bist.“

„Ich bin doch...“

„Eigene Gedanken, sonst bist und bleibst du drin.“

Joel geht wieder aus dem Gartenhaus raus. Die Blume, die er gepflückt hat lässt er fallen, und so steht er selbst wie eine Pflanze in diesem Garten, paradiesisch heran gewachsen, getreu den Gesetzen des Lebens, den Gesetzen der Götter. In seinem Kopf rührt sich nichts. Diese Leere ist seine paradiesische Freiheit...

In dem Moment, wo er wieder denkt, ist diese Leere verschwunden.

Als das geschieht, weiß Joel, dass ihm das Paradies verloren gegangen ist.

Joel läuft durch den seligen Garten, – stolpert und findet sich in seiner Zelle wieder.

Die von der Netzagentur verstört es, dass er abhauen wollte.

Geht ja nicht, weil alles gesichert ist. Sind doch alle gefangen. Sie wissen es nur nicht, diese Heuschrecken.

„Wir sichern, was die gesagt haben. Diese Heuschrecken haben ja einiges an Wissen runter geholt, doch ja. Das müssen wir sichern.“

Dies sagt einer, der verantwortlich ist dafür, dass gesichert wird, was von den Schlauschrecken, – er nennt die manchmal so, die vielleicht etwas mehr drauf haben als die Heuschrecken im allgemeinen, – was von denen runter geholt wurde.

„Geht das nicht automatisch, – sichern?“ fragt einer.

„Ja-nein-doch, aber man will Supervision und alles in einen Topf.“

„Das Netz als Topf? Da holen die alles raus?

Zusammenhänge bleiben dann aber konfus.“

„Klar und konfus, so bleiben die gleichzeitig.“

„Ha! Wohin das führt, nämlich ins Chaos. Falsch verknüpft, konfus eben.“

Der eine lässt sich in einen Sessel fallen, der andere setzt sich auf die Lehne. Sie starren ins Nichts, das sie sehen, weil sie sonst nichts sehen, und haben sich nichts mehr..., nichts mehr haben sie sich zu sagen.

„Komm“, sagt Joel zum Doppelgänger.

Sie gehen in der Zelle hin und her, als ob...

Sie gehen in Gedanken über eine Straße ins Dunkle hinein, das von gelbem Licht, – von Elektrizität, schwach erleuchtet wird.

Joel setzt sich dort auf eine Bank unter einer Mauer, „Elektrizität ist nicht sichtbar, nicht sinnlich wahrnehmbar. Sie ist eine untersinnliche Kraft, sie wirkt unterhalb der Sinne. Das macht sie gefährlich.

Übersinnlich ist sie nicht, dazu ist sie zu irdisch.“

„Geistig?“

„Dämonisch-geistig. Die Energie der Sonne wird ja in die Elektrizität hinein gezwungen. Das Sonnenlicht ist absolut himmlisch. Die Kollektoren, Turbinen und Generatoren verschlucken dieses himmlisch-geistige Licht der Sonne und zwingen es in die irdische Dimension.“

„Lebendig?“

„Moralisch unsauber, nicht lebendig, nur zweckmäßig. So täuscht sie uns bezüglich dessen, was sie tatsächlich ist.“

„Bewusstsein!“ sagt der andere mit Nachdruck.

„Ja, ich muss mir bewusst werden, was da geschieht, wie es wirkt, wenn wir die Elektrizität gebrauchen, und das hat mit dem Denken zu tun.

Wenn ich weiß, was das ist, dann kann ich es bewusst gebrauchen, und es gebraucht nicht mich.

Im Denken bin ich nicht im Paradies. Das ist eine Gefühlssache, wenn ich im Paradies bin, oder wenn ich da sein möchte. Und das gelingt nur selten, denn die Gefühle, die kommen und gehen, die kann ich nicht steuern. Da muss was in mir vorgehen, so wie kürzlich, als ich aus dem Gefängnis raus wollte und dann auf dem Kirschbaum saß. Die Welt vom Kirschbaum aus, – ja, das war das Paradies.“

Es klopft an der Türe.

Joel staunt, – wer klopft hier?

Soll er „herein“ rufen? Hier reißen sie doch die Türe einfach auf, wenn sie rein wollen.

Noch mal klopft es. Da steht Joel auf, geht zu der eisernen Türe, von der er annimmt, dass sie verschlossen ist. Er drückt die Klinke, und die Türe öffnet sich. Draußen steht ein sehr alter Mann mit schwarzem breitrandigen Hut, der seine Augen im dunklen und alten Gesicht beschattet. Er trägt einen fast fußlangen lilafarbenen Kaftan und bittet bescheiden, indem er seine Hände aneinander legt und den Kopf neigt um Einlass.

Die Überraschung und diese Geste bewegen Joels Herz, er bittet herein.

Der Fremde dreht sich im engen Raum herum und besieht die Wände, an denen außer feuchtem Beton und Moos nichts zu sehen ist. Dann setzt er sich auf den Hocker.

„Die Freiheit deines Körpers ist sinnlos, wenn dein Geist besetzt ist,“ sagt er mit tiefer klangvoller Stimme.

Joel schüttelt sich, „wer bist du?“

„Ich bin ein sehr alter Gedanke.“

Joel setzt sich vor den Alten auf den Boden, „Wo kommst du her?“

Ein Lächeln erscheint um den Mund des Alten, „Wir Gedanken sind da seit wir gedacht wurden, wir vergehen nicht.“

„Kontrolliert ihr?“ Joel beugt den Kopf vor, was er hört, das fesselt ihn.

„Wir kontrollieren nicht. Du musst frei werden indem du Bewusstsein bildest, sonst ist die äußere Freiheit nutzlos.“

„Ja aber..., ich fühlte mich im Paradies.“

„Du warst nur wie in einem Garten, du warst nicht frei. Du bist immer noch hier, weil du keine eigenen Gedanken gedacht hast.“

„Ich denke aber doch.“

„Eigene Gedanken, das ist mehr.“ Es entsteht eine Pause, dann sagt der Alte mit leiser Stimme: „Ich habe überall Zugang, deshalb bin ich hier.“

Joel weiß nicht, ob er dem Alten trauen kann, obwohl er es möchte.

„Du hast..., als Gedanke hast du Zugang zu allem?“

„Ja, zu allem, zu allen, jeder kann mich denken. Ich bin schon lange da, so wie alle Gedanken, die einmal gedacht wurden für immer da sind,“ behauptet der Alte, der zusammengesunken vor ihm sitzt und vom lila Kaftan und seinem großen Hut fast zugedeckt wird.

Joel hat ihn gefunden, der alte Gedanke hat ihn gefunden. Er sitzt mit ihm in seiner Zelle. Dieser Gedanke gefällt ihm, – der, der da sitzt, und der, den er gerade denkt.

„Muss ich was Bedeutendes denken, um frei zu kommen?“ fragt Joel, – es würde ihm schwer fallen jetzt einen bedeutenden Gedanken zu denken.

„Nein und ja,“ sagt der Alte, dann sagt er nichts mehr.

Es entsteht eine längere Pause, und Joel wird unruhig. Was passiert, wenn die Netzleute ihn hier entdecken?

Der Alte sagt „ich bin ein eigenständiger Gedanke, das war ich immer schon. Du musst versuchen, so etwas wie mich neu zu finden, – neue Gedanken.“ Ist es denn Realität, was ich jetzt und hier erlebe?

fragt sich Joel.

„Gedanken sind Realitäten. Wir vergehen nicht, man muss uns suchen, dann findet man uns und wir können helfen.“

Joel wundert sich nicht, dass sein Gegenüber auf das, was er nicht laut sagte, antworten kann.

Der Alte erhebt sich, „ich lass dich allein, denn du musst es selbst tun.

Neue selbständige Gedanken denken, die du der Welt schenkst, nur so kannst du frei werden.“

Der Alte geht durch die Zelle, da ruft Joel „halt! Ich weiß ja nicht..., gibt es denn noch neue Gedanken, wenn alles schon gedacht ist?“

„Im Verknüpfen liegt das Neue, indem du, was du denkst in lebendiger Weise miteinander in Verbindung bringst entsteht etwas Neues, – so entsteht Erkenntnis.“

„Das ist aber...“

„Ja, es ist schwer. Wir Gedanken sind die unsichtbare Natur, die Natur ist der sichtbare Gedanke. Du siehst, was zu erkennen ist, wenn du die Gedanken in der richtigen Weise zusammen knüpfest.“

Der Alte im lila Kaftan mit dem großen Hut, dieser alte Gedanke geht zur Türe, die er öffnet, durch die er hindurch geht, und die er wieder hinter sich schließt.

Joel steht eine Weile wie angewurzelt, dann geht auch er zur Türe, versucht sie zu öffnen, – sie ist verschlossen.

Später wird er wieder von dem Typen nach oben gebracht. Da spricht ein unsichtbarer Lautsprecher.

An der Decke flackert eine Neonröhre, „Du wirst geduldet, aber wir dulden nicht, dass du...“

Joel erschrickt, – wissen die, über was er nachdenkt?

„Junger Mann,“ krächzt der Lautsprecher, „du hast hier Frühstück und Abendessen, und das auf einem Niveau, da träumen andere davon, also mal immer mit der Ruhe.“

„Nein, ja,“ flüstert Joel, „ich dachte...“

„Du denkst, aber...“

„Und meine Freiheit?“

„Das mit der Freiheit, hahaha, Freiheit..., hahaha...“

Der Lautsprecher knackt, das Licht geht aus, er steht im Dunkeln.

Nachdem er Abendessen und Rotwein zu sich genommen hat, bleibt Joel sitzen, lässt die Arme hängen, sein Geduldsfaden ist abgespult.

Später tritt die Nacht herein, sie befindet sich in seiner Zelle und schweigt vor sich hin. Müdigkeit überfällt Joel, er schläft ein.

Joel träumt...

Seele und Körper fahren hin über die Welt.

Wenig bekleidet, irgendwie nackt fühlt er sich.

Fremde wässrige Landschaften sieht er unten. Berge türmen sich, immer mehr, immer höher. Es war doch gerade noch überall Wasser...

Er klettert auf einen Gipfel, der weit weg schien, nun ist er nah. Er verliert etwas im karstigen Gelände und klettert weiter, – ohne den Schuh, den er verloren hat, und dann ist er oben. Er fühlt es, – jetzt ist er oben!

Joel schaut in die Weite, die sich um ihn herum ausbreitet, und aus ihr kommt ihm etwas entgegen...

Eine Ahnung, eine Erscheinung, eine Berührung, – oh! es ist eine heilige Gabe, – LICHT!

Licht kann nicht verschluckt werden, nicht einmal ein Schimmer kann verschluckt werden, weil Dunkelheit nur die Abwesenheit von Licht ist.

Was ihm entgegen kommt, ist es das Licht der Wahrheit?

Sein Traum vergeht...

Er erwacht und weiß: das, was ihn hier berührt hat, das war lebendiger Geist im Licht. Es sind die wesenhaften Kräfte in lebendiger Weise tätig. Eine Ahnung von dieser ewigen Wahrheit bleibt ihm, auch wenn er sie nicht erreichen kann.

Mit dem, was er gesehen hat geht er glücklich in den neuen Tag.

Am Abend kommt ihm der Alte in den Sinn, der ihm vielleicht helfen könnte Gedanken zu finden, alte und neue, rückwärts und vorwärts gerichtete.

„Wann sehe ich dich?“ denkt Joel in das Dunkel hinein.

„Denke mich,“ antwortet der, „dann bin ich bei dir.“

Da hat Joel eine Idee: Ich lege ein Wort oben in die Luke, und morgen früh sehe ich, was daraus geworden ist.

Als er am anderen Morgen aufwacht erinnert er sich an das Wort in der Luke. Es ist ein Wort, das es in sich hat. Worte sind wie Bienen, sie haben Honig und Stachel.

Ein Wort nur? Ein Wort, so dahin gesprochen?

„Sinn!“ flüstert es in ihm.

„Sinn hat es, aber Gehalt?“

„Du kannst auch Worte säen, die zu Unkraut werden, das du jäten musst.“

„Ich will Gehalt. Worte sind Werkzeuge, mit denen wir Gedanken bearbeiten, die wir in die Welt bringen.“

Hier ist es das Wort FREIHEIT. Das hat er dort oben abgelegt, und als er jetzt nachguckt, was daraus geworden ist, stellt er fest, dass es immer noch da liegt, – unbeschädigt, in gewisser Weise hilflos.

Was kann die Freiheit machen? Sie selbst kann gar nichts machen. Er muss für sie kämpfen.

Wieder sind Tag und Nacht vergangen. Nichts ist geschehen.

Joel hockt auf dem Zellenboden, fasst mit verschränkten Armen um seine Schultern, schließt die Augen.

Da ist auf einmal ein neuer Gedanke in ihm: Man löst sich doch los von der Tatsachenwelt, wenn man von jetzt aus rückwärts bis nach vorne denkt, also entgegen der äußeren Tatsachenfolge. Dadurch entwickelt man seinen Willen, er wird frei von der Tatsachenwelt.

„Jetzt gehe ich mit meinen Gedanken rückwärts, immer rückwärts, dann muss ich irgendwann an den Ausgang, – den Eingang zu diesem Gefängnis kommen, bis dahin, wo ich noch frei war.“

Joel steht auf, schüttelt sich, setzt sich wieder, konzentriert sich und beginnt das, was er erlebt hat an sich vorüber ziehen zu lassen, – er denkt alles rückwärts, – alles, alles, bis in jedes Detail.

Das ist mühsam, nach einer Weile droht er umzusinken, einzuschlafen...

Er gibt sich einen Ruck, folgt mit neuem Interesse den rückwärts gerichteten Gedanken. Es gelingt ihm über Stunden und mit eisernem Willen bis in jede auch scheinbare Kleinigkeit einzudringen, die er erlebt und erfahren hat.

...Die Zellentür – das Verhör – die Neonröhre an der Decke – die Speisen – der alte Gedanke – die Pritsche – das Tor – und, und ...

Dabei empfindet er sein ICH als einen großen stillen Innenraum, und er fühlt, wie ihm daraus eine Kraft zuströmt. Dieses Ich, das ihn leben lässt, ohne dass er darauf warten muss, ob und wie das äußere Leben zu ihm kommt.

„Oh!“

Joel glaubt es nicht sofort, – frei? – er fühlt sich frei, – plötzlich fühlt er sich frei!

In vibrierender Nacht, umgeben von leisen Geräuschen, erstem Tau und Resten von Sternenlicht, das noch über den Bäumen hängt, steht er auf der Straße.

„Bin ich...?“

Joel ist da, wo er weg gegangen ist.

Er geht ein paar Schritte, findet den Eingang zu dem Haus, in dem er wohnt, steigt die Treppen hoch und geht in die Wohnung hinein. Sie ist ihm etwas fremd, – stehen die Möbel anders?

Joel und die Heuschrecken...

Der Prophet Joel..., du findest diese Erzählung im alten Testament. Dort schildert er, den man den kleinen Propheten nennt, die Plagen, welche die Menschen durch Heuschrecken ertragen müssen, die durch sie verwüsteten Felder und die dadurch entstandene Not. Er hofft, dass alles vorbei gehen wird, – irgendwann, das habe ihm der Herr angesagt, und wie der sie wieder in ihre Rechte einsetzen wird, wenn sie sich richtig verhalten.

Kann man auf den Herrn warten, oder muss man schon vorher alles selber machen?

Joel trägt den Namen dieses Propheten. Auch er nennt die Menschen Heuschrecken, weil sie sich ähnlich verhalten, – leben, fressen, herum irren.

Er fragt sich, wann ist irgendwann, und ob er sich darauf verlassen kann, auf das, was der Herr gesagt hat, das dies alles wieder vorbei gehen wird.

Die Menschen sind nicht frei, sie wollen im Grunde auch nicht frei sein. Die wissen überhaupt gar nichts von dieser Freiheit, von der sie nur immer reden.

„Die Masse der Meinungen, der dadurch verformten Taten, der Nachrichten, der Drohungen, der Nichtigkeiten, – ha, Heuschrecken im Netz,“ sagt ihm der Doppelgänger.

„Heuschrecken überall.“

Wann denn richtet es der Herr?

Joel geht in der Wohnung herum, guckt in jeden Winkel. Er findet nichts, was ihm sagen könnte, dass hier jemand gewesen ist.

Vielleicht habe ich mich verändert, ohne dass sich etwas verändert hat?

Joel fragt sich, ob die Situation überhaupt wirklich ist, ob er sich nicht täuscht.

„Mit dem Netz leben, aber nicht im Netz gefangen sein.“

„Nichtwissen schützt nicht, und Wissen bedeutet Verantwortung murmelt der Doppelgänger.

Er weiß, dass alles auf das Individuum ankommt.

Er will nicht nach der Pfeife der anderen tanzen. Er will die Menschen ansehen, will wissen, ob die zu den Heuschrecken gehören, oder zu denen, die er anerkennen kann.

Ihm wird klar, dass nicht alles was geschieht auf Ursache und Wirkung beruht, sondern es sind die Ideen, – ja, Ideen sind es, die zuerst das Feuer zünden, das Feuer des Prometheus, – himmlisches Feuer!

Es klingelt. Vor der Türe steht Kaspar. Sie umarmen sich, und Joel freut sich.

„Na Kaspar.“

„Wo warst du?“

„Ich saß bisschen.“

„Sag bloß.“

„Die haben mich eingesperrt.“

„Wer die?“

„Vom Netz.“

„Hast du?“

„Gar nichts.“

„Die müssen doch.“

„Einfach so, und tagelang warten lassen.“

„Und dann?“

„Bin ich gegangen.“

„Versteh ich nicht.“ Kaspar lässt sich auf einen Stuhl fallen.

„Die vom Netz.“

„Jetzt mal der Reihe nach, ja?“ Kaspar setzt sich gerade hin.

Joel holt Gläser, eine Flasche Apfelsaft und gießt ein. Er setzt sich gegenüber an den kleinen Küchentisch.

„Also, mich geschnappt von sonem Typ, dann Verhör, aber eigentlich kein richtiges Verhör, dann Rotwein und morgens ein Ei, dann der alte Gedanke, und ja, der hat mich dann auf was gebracht.“

„Rotwein und Ei. Wie heißt die Pension?“

„Kaspar, es war ein Gefängnis!“

„Na, aber was für eins? Und warum denkst du da alte Gedanken?“

„Nein, der kam und sprach mit mir.“

Kaspar steht auf, „Joel, kein Mist jetzt, sonst rufe ich die Ambulanz.“ Er setzt sich wieder.

„Glaub mir: der alte Gedanke war ein alter Mann im Kaftan, der mit mir gesprochen hat und mir..., ja, inzwischen habe ich etwas erkannt, das ich ihm verdanke.“

„Joel, bist du noch ganz bei Trost?“

„Och, Mann! Du glaubst mir nicht!“ Joel steht auf und schüttet seinen Apfelsaft in den Abguss, der ist schon vom langen Stehen gekippt.

„Ja, aber es muss doch in die Welt passen, was du mir erzählst.“

„Du musst nur glauben was ich sage.“

„Sag´s noch mal.“

„Also: Ich wurde geschnappt, dann ins Gefängnis, Verhöre, graue Mauern, natürlich ganz alleine, und die wollen was von mir, aber sie sagen nicht was.

Die sind alle vom Netz, da sind wir nämlich drin, in diesem Netzgefängnis.“

„Wer ist drin?“ fragt Kaspar.

„Alle!“

„Und du ganz besonders?“

„Wir alle.“

„Und warum?“

„Ist so, unfreiwillig.“

„Haben die dir denn nicht was gesagt, – Anklage oder so?“

„Nichts.“

Joel nimmt auch Kaspars Glas und schüttet den Saft weg, spült es aus. Holt hinter dem Kleiderschrank eine Flasche Rotwein hervor, öffnet sie und gießt die Gläser wieder voll; sie prosten sich zu.

„Das ist unheimlich!“ sagt Kaspar nach einer Weile.

Sie sprechen darüber, und leeren die Flasche allmählich, darüber sprechen sie, dass ja alle Menschen unter diesem Netz von Elektrizität und in dieser von Nachrichten schwirrenden Atmosphäre leben, und das keiner eine Chance hat, davor zu fliehen, oder sich davon irgendwie zu befreien, – das Netz umspannt alles, es ist überall.

„Um sich davon frei zu machen, das weiß ich jetzt, da ist es wichtig, dass man eigene Gedanken denkt, neue Gedanken, die es noch nicht gibt, deshalb auch im Netz noch nicht gibt,“ Joel trinkt sein Glas in einem Zug leer.

„Nicht darauf hören, was an Meinungen breit getreten wird, wie beim Fernsehen,“ meint Kaspar.

„Ja,“ Joel füllt sein Glas wieder.

Sie müssen ein mehr selbständiges Leben führen, meint Joel.

„Versuchen, okay.“ Kaspar lacht seinen Freund an.

„Gut, jetzt weiß ich auch wieder, warum du mein Freund bist.“

„Zweifel gehabt?“ Kaspar prostet Joel zu.

„Keine Zweifel, es war bisher keine Frage.“

„Und du sollst was?“ Kaspar tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, fährt mit der Hand weit durch die Luft.

Joel stützt den Kopf, die Ellenbogen stehen auf dem Tisch, – er weiß es nicht.

Die beiden rücken die paar Möbel hin und her. Kein anderer war hier drin, das weiß Joel nun, – er ist zu hause.

Es gibt diese Unbequemlichkeiten im Leben, die lästig sind, weil man sie erledigen muss. Die tauchen immer wieder auf. Eigentlich möchte Joel ein leichteres Leben haben.

Als Kaspar fragt, was denn an Joels Leben so lästig ist, da meint der, dass es immer was im Täglichen gibt, das davon abhält über den Dingen zu stehen.

„Ich wünsche mir das anders.“

„Na klar, und deshalb bist du weg.“ Kaspar guckt in Joels unmaskierte Augen.

„Und mit der Elektrizität, mit dieser elektrischen Kraft, das muss ich jetzt sagen, wie klar mir die totale Abhängigkeit von der Elektrizität geworden ist. Wenn das Stromnetz zusammen bricht... Alle Steuerungen, alle Informationen gehen auf Null.

Die Lebens- und Arbeitswelt kollabiert. Das würde Revolution bedeuten!“

Sie essen in einem holzgetäfeltem Restaurant und lehnen sich zurück. Joel findet, zusammen zu essen und zu trinken sei viel besser als nur dieses Glas Rotwein in dem Bunker da.

Was wollen die? Wenn sie das Netz beherrschen, wollen sie doch nicht, dass er heraus findet wie man davon frei kommt.

Joel kriegt das nicht auf die Reihe. Ob Kaspar ihm nicht mal helfen kann, das auf die Reihe zu bringen.

„Wieso bin ich jetzt frei, obwohl alle im Netzgefängnis sind?“ fragt Joel als sie aus dem Restaurant kommen und runter ans Ufer des träge fließenden Stromes gehen.

Das Leben ist wie ein Fluss. Es fließt wie der Fluss seit undenklichen Zeiten in epischer Breite mit dunklen, spiraligen Windungen, den Bewegungen des lebendigen Wassers, den geheimnisvollen Bewegungen des Lebens...

„Wir sind in diesem Strom, machen eine kleine Welle, bleiben aber im Strom der Zeiten gefangen.“

„Resigniert?“

„Nein! Wir bewegen uns, wir denken,“ Joels Augen leuchten, „wir folgen nicht, wir ändern die Richtung!“

„Ist das möglich?“

„Du kannst denken. Du bringst Neues in die Welt, und das ist so, wie wenn du die Strömung in eine neue Richtung leitest.“

Dieser Kasten, in dem ich saß...

„Kaspar, hilf mir doch mal! Du merkst doch, dass ich da nichts weiß.“

„Was du erlebt hast war eine Fiktion.“

Kaspar gibt Joel einen Schubs. Der strauchelt und muss seinen Platz auf der Erde neu finden, indem er seine Gedanken und seine Beine sortiert.